Gertrud - 05

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daß eine schöne und liebende Frau mir mit Mitleid und merkwürdigem
Vertrauen entgegenkam, und es tat mir auch diesmal so wohl wie weh,
doch kannte ich diese Melodie nun schon ein wenig und nahm sie nicht zu
ernsthaft. Es ist mir noch manchmal begegnet, daß eine verliebte Frau
mich besonderer Freundschaft würdigte. Sie hielten mich alle wie der
Liebe so der Eifersucht für unfähig, dazu kam das leidige Mitleid, und
so vertrauten sie mir in halb mütterlicher Freundschaft.
Leider hatte ich in solchen Verhältnissen noch keine Übung und konnte
einem Liebesglück noch nicht aus der Nähe zusehen, ohne ein wenig an
mich selber zu denken, und daß ich eigentlich auch gerne einmal so
etwas erlebt hätte. Das beschnitt mir die Freude einigermaßen, doch
war es ein guter Abend bei der hingegebenen schönen Frau und dem
dunkelglühenden, kraftvollen und schroffen Manne, der mich lieb hatte
und für mich sorgte und mir doch seine Liebe nicht anders zeigen konnte
als er sie den Frauen zeigte, gewalttätig und launisch.
Als wir mit dem letzten Becher vor dem Abschied anstießen, nickte er
mir zu und sagte: »Eigentlich sollte ich Ihnen jetzt Brüderschaft
anbieten, gelt? Ich täte es auch gern. Aber wir wollen es lassen, es
geht auch so. Früher, wissen Sie, hab ich jedem, der mir gefiel, gleich
du gesagt, aber das tut nicht gut, am wenigsten unter Kollegen. Ich
habe noch mit allen Händel gekriegt.«
Diesmal hatte ich nicht das bittersüße Glück, die Geliebte meines
Freundes nach Hause begleiten zu dürfen, sie blieb da, und es war mir
lieber so. Die Reise, der Besuch beim Kapellmeister, die Spannung auf
morgen, der neue Verkehr mit Muoth, alles hatte mir gut getan. Ich sah
erst jetzt, wie vergessen und verblödet und menschenfremd ich während
des langen, einsam verwarteten Jahres geworden war, und fühlte mich mit
Behagen und wohliger Spannung endlich wieder erregt und tätig unter
Menschen, der Welt wieder angehörig.
Zeitig am nächsten Morgen fand ich mich beim Kapellmeister Rößler
ein. Ich fand ihn im Schlafrock und unfrisiert, doch hieß er mich
willkommen und forderte mich, freundlicher als gestern, zum Spielen
auf, indem er mir geschriebene Noten vorlegte und sich ans Klavier
setzte. Ich spielte möglichst tapfer, doch machte mir das Lesen der
schlecht geschriebenen Noten einige Mühe. Als wir fertig waren, legte
er schweigend ein anderes Blatt auf, das ich ohne Begleitung spielen
sollte, und dann ein drittes.
»Es ist gut«, sagte er. »An das Notenlesen müssen Sie sich noch mehr
gewöhnen, sie sind nicht immer wie gestochen. Kommen Sie heut abend ins
Theater, ich mache Platz, dann können Sie ihre Stimme neben dem anderen
spielen, der den Platz einstweilen zur Not versah. Es wird ein wenig
eng hergehen. Sehen Sie sich die Noten vorher gut an, Probe ist heut
keine. Ich gebe Ihnen einen Zettel mit, damit gehen Sie nach elf Uhr
ins Theater und holen sich die Noten.«
Ich wußte noch nicht recht, wo ich dran sei, sah aber, daß dieser Mann
das Fragen nicht liebe, und ging. Im Theater wollte niemand von den
Noten wissen und mich hören, ich war an das Getriebe dort noch nicht
gewöhnt und kam aus der Fassung. Dann sandte ich einen Eilboten an
Muoth, er kam, und sogleich ging alles prächtig. Und am Abend spielte
ich zum erstenmal im Theater, wo ich mich vom Kapellmeister scharf
beobachtet sah. Andern Tages erhielt ich die Anstellung.
So wunderlich ist der Mensch, daß ich mitten im neuen Leben und
erfüllten Wünschen manchmal merkwürdig von einem flüchtigen, nur leise
und unter Schleiern empfundenen Heimweh nach Einsamkeit, ja Langeweile
und Leere der Tage befallen wurde. Dann erschien mir die vergangene
Zeit in der Heimatstadt, deren trister Ereignislosigkeit ich so dankbar
entronnen war, wie etwas Ersehnenswertes, namentlich aber dachte ich an
die Wochen im Gebirge vor zwei Jahren mit wahrem Heimweh. Ich glaubte
zu fühlen, daß ich nicht zu Wohlergehen und Glück bestimmt sei, sondern
zu Schwäche und Unterliegen im Leben, und daß ohne diese Schatten und
Opfer mir der Quell des Schaffens trüber und ärmer fließen müsse.
Wirklich war zunächst von stillen Stunden und von schöpferischer Arbeit
keine Rede. Und während es mir wohl ging und ich ein reiches Leben
führte, meinte ich in der Tiefe immer den verschütteten Born leise
rauschen und klagen zu hören.
Das Geigen im Orchester machte mir Freude, ich saß viel über Partituren
und tastete mit Verlangen vorwärts in diese Welt hinein. Langsam lernte
ich, was ich nur theoretisch und aus der Ferne gekannt hatte, die Art
und Farbe und Bedeutung der einzelnen Instrumente von unten herauf
verstehen, sah und studierte daneben die Bühnenmusik und hoffte immer
ernsthafter auf die Zeit, wo ich mich an eine eigene Oper würde wagen
dürfen.
Mein vertrauter Umgang mit Muoth, der eine der ersten und ehrenvollsten
Stellen an der Oper einnahm, brachte mir das Ganze rasch näher und
nützte mir viel. Bei meinesgleichen aber, bei den Kollegen vom
Orchester, schadete mir das sehr, es kam nicht zu dem freundschaftlich
offenen Verhältnis, zu dem ich gewillt war. Nur unser erster Geiger,
ein Steiermärker namens Teiser, kam mir entgegen und wurde mein Freund.
Er war wohl zehn Jahre älter als ich, ein schlichter offener Mann
mit einem feinen, zarten, leicht errötenden Gesicht und erstaunlich
musikalisch, namentlich von einem unglaublich zarten und scharfen
Gehör. Er war einer von denen, die in ihrer Kunst Genüge finden,
ohne selber eine Rolle spielen zu wollen. Er war kein Virtuos und hat
auch nie komponiert, er spielte zufrieden seine Geige und hatte seine
Herzensfreude daran, das Handwerk im Grunde zu kennen. Jede Ouvertüre
kannte er wie kaum ein Dirigent durch und durch, und wo eine Finesse
und Glanzstelle kam, wo der Einsatz eines Instrumentes schön und
originell hervorleuchtete, da strahlte er und genoß es wie niemand im
ganzen Hause. Er spielte fast alle Instrumente, so daß ich täglich von
ihm lernen und ihn fragen konnte.
Monatelang sprachen wir kein Wort miteinander als vom Handwerk, aber
ich hatte ihn lieb und er sah, daß ich mit Ernst dabei war, etwas zu
lernen, so entstand ein unberedetes Einvernehmen, dem nicht viel mehr
zur Freundschaft fehlte. Da erzählte ich ihm schließlich von meiner
Violinsonate und bat ihn, sie einmal mit mir zu spielen. Er sagte
freundlich zu und kam am bestimmten Tag in meine Wohnung. Da hatte ich,
um ihm eine Freude zu machen, einen Wein aus seiner Heimat besorgt, von
dem tranken wir ein Glas, dann legte ich die Noten auf und wir fingen
an. Er spielte vorzüglich vom Blatt, aber plötzlich hörte er auf und
ließ den Bogen sinken.
»Sie, Kuhn,« sagte er, »das ist ja eine verdammt schöne Musik. Die
spiel' ich nicht so herunter, die wird zuerst studiert. Ich nehme sie
mit heim. Darf ich?«
Ja, und als er wiederkam, spielten wir die Sonate durch, zweimal, und
als das fertig war, schlug er mir auf die Schulter und rief: »Sie
Duckmäuser, Sie! Da tun Sie immer wie ein kleiner Bub, und heimlich
machen Sie solche Sachen! Ich will ja nicht viel sagen, ich bin kein
Professor, aber sakrisch schön ist's!«
Das war das erstemal, daß jemand meine Arbeit lobte, zu dem ich
wirklich Vertrauen hatte. Ich zeigte ihm alles, auch die Lieder, die
gerade im Druck waren und bald darauf erschienen. Aber daß ich so kühn
war, an eine Oper zu denken, wagte ich ihm doch nicht zu sagen.
In dieser guten Zeit erschreckte mich ein kleines Erlebnis, das ich
nimmer vergessen konnte. Bei Muoth, zu dem ich häufig kam, hatte ich
die schöne Lotte seit einiger Zeit nicht mehr angetroffen, mir aber
keine Gedanken darüber gemacht, denn in seine Liebesgeschichten mochte
ich mich nicht mischen, sie am liebsten gar nicht kennen. Darum hatte
ich nie nach ihr gefragt, und er sprach mit mir ohnehin nie von diesen
Sachen.
Nun saß ich eines Nachmittags in meiner Stube und studierte eine
Partitur. Am Fenster lag meine schwarze Katze im Sonnenschein und
schlief, es war im ganzen Hause still. Da ging draußen die Türe, jemand
kam herein, ward von der Wirtin begrüßt und aufgehalten, machte sich
los und kam auf meine Türe zu, an der auch sofort gepocht wurde. Ich
ging hin und machte auf, da kam eine große, elegante Frauensperson mit
verschleiertem Gesicht herein und schloß die Türe hinter sich. Sie
tat ein paar Schritte ins Zimmer, holte tief Atem und nahm endlich
den Schleier ab. Ich erkannte Lotte. Sie sah erregt aus und ich ahnte
gleich, warum sie gekommen sei. Auf meine Bitte setzte sie sich, sie
hatte mir die Hand gegeben, aber noch kein Wort gesagt. Da sie meine
Befangenheit merkte, schien sie erleichtert, als habe sie gefürchtet,
ich möchte sie gleich wieder fortschicken.
»Ist es wegen Heinrich Muoth?« fragte ich endlich.
Sie nickte. »Haben Sie etwas gewußt?«
»Ich weiß nichts, ich dachte es mir nur.«
Sie sah mir ins Gesicht, wie ein Kranker dem Arzt, schwieg und zog
langsam die Handschuhe aus. Plötzlich stand sie auf, legte mir beide
Hände auf die Schultern und starrte mich aus großen Augen an.
»Was soll ich tun? Er ist nie zu Haus, er schreibt mir nimmer, er macht
nicht einmal meine Briefe auf! Seit drei Wochen hab ich ihn nimmer
sprechen können. Gestern war ich dort, ich weiß, daß er daheim war,
aber er hat nicht aufgemacht. Nicht einmal dem Hund hat er gepfiffen,
er hat mir das Kleid zerrissen, der will mich auch schon nimmer kennen.«
»Haben Sie denn Streit mit ihm gehabt?« fragte ich, um nicht gar so
stumm dabei zu sitzen.
Sie lachte. »Streit? Ach, Streit haben wir genug gehabt, von Anfang an!
An das war ich schon gewöhnt. Nein, in der letzten Zeit ist er sogar
höflich gewesen, es wollte mir gleich nicht gefallen. Einmal war er
nicht da, wenn er mich bestellt hatte; einmal meldete er sich an und
kam nicht. Schließlich sagte er auf einmal Sie zu mir! Ach, wenn er
mich lieber wieder geschlagen hätte!«
Ich erschrak heftig. »Geschlagen...?«
Wieder lachte sie. »Wissen Sie das nicht? O, er hat mich oft
geschlagen, aber jetzt schon lang nicht mehr. Er ist höflich geworden,
er hat Sie zu mir gesagt, und jetzt kennt er mich nimmer. Er hat eine
andere, glaube ich. Darum bin ich gekommen. Sagen Sie mirs, ich bitte!
Hat er eine andere? Sie wissen es! Sie müssen es wissen!«
Ehe ich abwehren konnte, hatte sie meine beiden Hände gefaßt. Ich war
wie erstarrt, und so sehr ich abzulehnen und die ganze Szene zu kürzen
wünschte, war ich doch fast froh, daß sie mich gar nicht zu Worte
kommen ließ, denn ich hätte nicht gewußt, was sagen.
Sie, in Hoffnung und Jammer, war zufrieden, daß ich sie anhörte, und
bat und erzählte und klagte mit ausbrechender Leidenschaft. Ich aber
sah ihr immerzu in das tränenvolle, reife, schöne Gesicht und konnte
nichts anderes denken als: »Er hat sie geschlagen!« Ich meinte seine
Faust zu sehen, und mir graute vor ihm und vor ihr, die nach Schlägen
und Verachtung und Abweisung keinen andern Gedanken und Wunsch zu haben
schien als den Weg zu ihm und zu den alten Demütigungen zurückzufinden.
Endlich versiegte die Flut, Lotte redete langsamer, schien befangen und
der Situation bewußt zu werden, und verstummte. Zugleich ließ sie meine
Hände los.
»Er hat keine andere,« sagte ich leise, »wenigstens weiß ich nichts
davon und glaube es nicht.«
Sie schaute mich dankbar an.
»Aber helfen kann ich Ihnen nicht,« fuhr ich fort. »Ich rede nie mit
ihm über solche Sachen.«
Wir waren beide eine Weile still. Ich mußte an Marion denken, an die
schöne Marion und an jenen Abend, da ich mit ihr durch die Föhnluft
gegangen war, an ihrem Arm, und sie sich so tapfer zu ihrem Geliebten
bekannt hatte. Hatte er die auch geschlagen? Und lief auch die ihm noch
nach?
»Warum sind Sie denn zu mir gekommen?« fragte ich.
»Ich weiß nicht, ich mußte doch etwas tun. Glauben Sie nicht, daß er
noch an mich denkt? Sie sind ein guter Mensch, Sie helfen mir! Sie
könnten es doch versuchen, ihn einmal fragen, einmal von mir reden....«
»Nein, das kann ich nicht. Wenn er Sie noch liebt, wird er von selber
wieder zu Ihnen kommen. Und wenn nicht, dann -- --.«
»Was dann?«
»Dann sollten Sie ihn eben laufen lassen, er verdient es nicht, daß Sie
sich so weit demütigen.«
Da lächelte sie plötzlich.
»O, Sie! Was wissen Sie von der Liebe!«
Sie hat recht, dachte ich, aber es tat mir doch weh. Wenn schon die
Liebe nicht zu mir kommen wollte, wenn ich schon nebendraußen stand,
warum sollte ich den Vertrauten und Helfer machen bei anderen? Ich
hatte Mitleid mit der Frau, aber ich verachtete sie noch mehr. Wenn das
die Liebe war, Grausamkeit hier und Erniedrigung dort, dann ließ sich
ohne Liebe besser leben.
»Ich will nicht streiten,« sagte ich kühl. »Ich verstehe diese Art von
Liebe nicht.«
Lotte band ihren Schleier wieder um.
»Ja, ich gehe schon.«
Nun tat sie mir wieder leid, doch mochte ich die törichte Szene nicht
von vorn anfangen lassen, darum schwieg ich und öffnete ihr die Tür,
auf die sie zuschritt. Ich begleitete sie, an der neugierigen Wirtin
vorbei, bis zur Treppe; da verbeugte ich mich, und sie ging, ohne mehr
etwas zu sagen oder mich anzusehen.
Traurig sah ich ihr nach und ward den Anblick lange Zeit nicht los.
War ich wirklich ein ganz anderer Mensch als diese alle, als Marion,
als Lotte, als Muoth? War das wirklich die Liebe? Ich sah sie alle,
diese Menschen der Leidenschaft, wie von Stürmen getrieben taumeln und
ins Ungewisse wehen, den Mann von Verlangen heute, von Überdruß morgen
gepeinigt, düster liebend und brutal abbrechend, keiner Neigung sicher
und keiner Liebe froh, und die Frauen hingerissen, Beleidigung, Schläge
tragend, endlich verstoßen und doch an ihm hängend, von Eifersucht und
verschmähter Liebe entwürdigt, hundetreu. An jenem Tage geschah es seit
sehr langer Zeit zum erstenmal, daß ich weinte. Ich weinte unwillige,
zornige Tränen um diese Menschen, um meinen Freund Muoth, um das Leben
und die Liebe, und stillere, heimliche Tränen um mich selber, der ich
zwischen alle dem lebte, wie auf einem andern Sterne, der das Leben
nicht begriff, der nach Liebe verschmachtete und sie doch fürchten
mußte.
Zu Heinrich Muoth ging ich lange nicht mehr. Er feierte in jener Zeit
Triumphe als Wagnersänger und begann für einen »Stern« zu gelten.
Zugleich trat auch ich bescheidentlich an die Öffentlichkeit. Es
erschienen meine Lieder im Druck und fanden freundliche Aufnahme, und
zwei meiner Sachen für Kammermusik wurden in Konzerten aufgeführt. Es
war noch eine stille, ermunternde Anerkennung unter Freunden, die
Kritik hielt sich abwartend still oder ließ mich zunächst als einen
Anfänger schonend gelten.
Ich war viel mit dem Geiger Teiser zusammen, er hatte mich gern und
lobte meine Arbeiten in kameradschaftlicher Freude, prophezeite mir
große Erfolge und war immer bereit, mit mir zu musizieren. Dennoch
fehlte mir etwas. Es zog mich zu Muoth, doch mied ich ihn immer noch.
Von Lotte hörte ich nichts mehr. Warum war ich nicht zufrieden? Ich
schalt mich selber, daß ich bei dem treuen, prächtigen Teiser nicht
mein Genügen fand. Aber auch bei ihm fehlte mir etwas. Er war mir zu
heiter, zu sonnig, zu sehr zufrieden, er schien keine Abgründe zu
kennen. Auf Muoth war er nicht gut zu sprechen. Manchmal im Theater,
wenn Muoth sang, sah er mich an und flüsterte: »Da, wie der wieder
pfuscht! Das ist schon ein ganz Verwöhnter! Mozart singt er keinen, er
weiß warum.« Ich mußte ihm recht geben, und tat es doch nicht mit dem
Herzen, ich hing an Muoth, und mochte ihn doch nicht verteidigen. Muoth
hatte etwas, was Teiser nicht hatte und nicht kannte und was mich mit
ihm verband. Das war das ewige Begehren, die Sehnsucht und Ungenüge.
Die trieben mich zu Studium und Arbeit, die ließen mich nach Menschen
greifen, die mir entglitten, gerade wie Muoth, den dieselbe Ungenüge
auf andere Weise stachelte und peinigte. Musik würde ich immer machen,
das wußte ich, aber mich verlangte danach, auch einmal aus Glück
und Überfluß und ungebrochener Freude zu schaffen, statt immer aus
Sehnsucht und Mangel des Herzens. Ach, warum wurde ich nicht durch das
glücklich, was ich zu eigen hatte, durch meine Musik? Und warum wurde
Muoth es nicht durch das, was er besaß, durch seine wilde Lebenskraft
und seine Frauen?
Teiser war glücklich, ihn quälte kein Verlangen nach Unerreichbarem.
Er hatte seine zarte, selbstlose Freude an der Kunst, von der er
nicht mehr verlangte, als sie ihm gab, und außerhalb der Kunst war er
noch genügsamer, da brauchte er nur ein paar freundliche Menschen,
gelegentlich ein gutes Glas Wein und an freien Tagen einen Ausflug
in die Landschaft, denn er war ein Wanderer und Luftfreund. Wenn an
der Lehre der Theosophen etwas war, dann mußte dieser Mann schon
nahezu ein Vollendeter sein, so gut war sein Wesen und so wenig ließ
er Leidenschaft und Unzufriedenheit in sein Herz kommen. Dennoch
wünschte ich, wenn ich es auch vielleicht mir vorsagte, nicht zu sein
wie er. Ich wollte kein andrer sein, ich wollte in meiner Haut bleiben,
die mir doch oft zu eng war. Ich begann Macht in mir zu spüren, seit
meine Arbeiten leise zu wirken anfingen, und ich war schon im Begriff,
stolz zu werden. Irgendeine Brücke zu den Menschen mußte ich finden,
ich mußte auf irgendeine Weise mit ihnen leben können, ohne stets
der Unterliegende zu sein. Gab es nun keinen andern Weg, so führte
vielleicht doch meine Musik dahin. Wenn sie mich nicht lieben wollten,
so würden sie mein Werk lieben müssen.
Solche törichte Gedanken ward ich nicht los. Und doch war ich bereit,
mich hinzugeben und zum Opfer zu bringen, wenn nur jemand mich wollte,
wenn nur jemand mich wirklich verstünde. War nicht Musik das geheime
Gesetz der Welt, gingen nicht die Erden und Sterne harmonisch im
Reigen? Und ich sollte allein bleiben und die Menschen nicht finden,
deren Wesen mit meinem rein und schön zusammenklang?
Ein Jahr war mir in der fremden Stadt vergangen. Außer mit Muoth,
Teiser und unserm Kapellmeister Rößler hatte ich zu Anfang sehr
wenig Umgang gehabt, in letzter Zeit aber war ich in eine größere
Geselligkeit hineingeraten, die mir nicht lieb und nicht leid war.
Durch die Aufführung meiner Stücke für Kammermusik war ich mit den
Musikern der Stadt auch außerhalb des Theaters bekanntgeworden, ich
trug jetzt die leichte, angenehme Bürde eines sachte ansetzenden Ruhmes
im kleinen Kreise, ich merkte, daß man mich kannte und beobachtete.
Von allem Ruhm ist das der süßeste, der noch nicht auf große Erfolge
blickt, noch keinen Neid erregen kann, noch nicht absondert. Man
geht umher mit dem Gefühl, da und dort betrachtet, genannt, gelobt
zu werden, man begegnet freundlichen Gesichtern, sieht Anerkannte
wohlwollend nicken und Jüngere mit Achtung grüßen, und immer trägt man
das heimliche Gefühl, daß das Beste noch komme, wie es ja aller Jugend
geht, bis sie sieht, das Beste liegt schon dahinten. Beeinträchtigt
wurde mein Wohlgefühl am meisten dadurch, daß ich immer etwas Mitleid
in der Anerkennung fühlte. Oft kam es mir sogar vor, man schone mich
und sei so freundlich, weil ich eben ein armer Kerl und Krüppel sei,
dem man gern etwas Tröstliches gönne.
Nach einem Konzert, in dem ein Geigenduo von mir gespielt worden war,
machte ich die Bekanntschaft des reichen Fabrikanten Imthor, der für
einen eifrigen Musikfreund und Gönner junger Talente galt. Es war ein
ziemlich kleiner, ruhiger Mann mit grau werdenden Haaren, dem man weder
seinen Reichtum noch sein inniges Verhältnis zur Kunst ansah. Aus dem,
was er mir sagte, konnte ich aber wohl merken, wie viel er von Musik
verstand; er lobte nicht in den Tag hinein, sondern gab einen ruhigen,
sachverständigen Beifall, der mehr wert war. Er erzählte mir, was ich
von andrer Seite längst wußte, daß in seinem Hause manchen Abend Musik
gemacht werde, alte und neue. Er lud mich ein, und sagte zum Schluß:
»Ihre Lieder liegen auch bei uns, wir haben sie gern. Auch meine
Tochter wird sich freuen.«
Noch ehe ich dazu kam, ihm einen Besuch zu machen, erhielt ich eine
Einladung. Herr Imthor bat um die Erlaubnis, mein Trio in Es-Dur in
seinem Hause aufführen zu lassen. Ein Geiger und Cellist, tüchtige
Dilettanten, stünden zur Verfügung, und die erste Geige sei mir
vorbehalten, falls ich Lust hätte, mitzuspielen. Ich wußte, daß Imthor
die Berufsmusiker, die bei ihm spielten, stets sehr gut honoriere.
Das hätte ich ungern angenommen, und doch wußte ich nicht, wie die
Einladung gemeint sei. Schließlich nahm ich doch an, die beiden
Mitspieler fanden sich bei mir ein und holten ihre Stimmen, wir hatten
einige Proben. Inzwischen machte ich meinen Besuch bei Imthor, traf
aber niemand an. So kam der bestimmte Abend.
Imthor war Witwer, er wohnte in einem der alten, einfach stattlichen
Bürgerhäuser, einem der wenigen, die noch mitten in der großgewordenen
Stadt ihre alten Gärten unverkürzt um sich hatten. Vom Garten sah ich
wenig, als ich abends kam, nur eine kurze Allee von hohen Platanen,
deren Stämme im Laternenlicht die hellen Flecken zeigten, und
dazwischen ein paar alte, dunkelgewordene Steinbilder. Hinter den
großen Bäumen lag bescheiden das alte, breit und nieder gebaute Haus,
in dem von der Eingangstür weg durch die Korridore, Treppen und alle
Räume hindurch die Wände dicht voll alter Bilder hingen, Mengen von
Familienbildnissen und schwarzgewordenen Landschaften, altmodische
Veduten und Tierstücke. Ich kam gleichzeitig mit andern Gästen an, wir
wurden von einer Hausdame empfangen und eingeführt.
Die Gesellschaft war nicht gar groß, doch drängte sie sich in den
mäßigen Räumen etwas eng, bis die Türen zum Musikraum geöffnet wurden.
Hier war es weit und alles sah neu aus, der Flügel, die Notenschränke,
die Lampen, die Stühle, nur die Bilder an den Wänden waren auch hier
alle alt.
Meine Mitspieler waren schon da, wir stellten unsre Pulte auf, schauten
nach den Lichtern und begannen zu stimmen. Da ging zuhinterst im
Saal eine Türe und es kam durch den erst halb erleuchteten Raum eine
hellgekleidete Dame geschritten. Die beiden Herren begrüßten sie mit
Auszeichnung, ich sah, daß es die Tochter Imthors sei. Sie sah mich
einen Augenblick fragend an, dann bot sie mir, ehe ich noch vorgestellt
war, die Hand und sagte: »Ich kenne Sie schon, Sie sind Herr Kuhn?
Willkommen!«
Das schöne Mädchen hatte mir gleich bei ihrem Eintritt Eindruck
gemacht, nun klang ihre Stimme so hell und gut, daß ich die dargebotene
Hand herzhaft drückte und dem Fräulein vergnügt in die Augen sah, die
mich lieb und freundschaftlich begrüßten.
»Ich freu' mich auf das Trio,« sagte sie lächelnd, als habe sie mich so
erwartet, wie ich nun war, und sei befriedigt.
»Ich auch,« sagte ich, ohne zu wissen, was ich sage, und sah sie
wieder an, und sie nickte. Dann ging sie weiter und aus dem Saal, und
ich sah ihr nach. Bald darauf kam sie wieder, an der Hand ihres Vaters,
und hinter ihnen die Gesellschaft. Wir drei saßen schon an den Pulten
und waren bereit. Die Leute nahmen Platz, einige Bekannte nickten mir
zu, der Hausherr gab mir die Hand, und als alle saßen, erloschen die
elektrischen Lichter und brannten nur die hohen Kerzen über unsern
Noten weiter.
Ich hatte meine Musik beinahe vergessen. Ich suchte hinten im Saal das
Fräulein Gertrud, das an ein Büchergestell gelehnt in der Dämmerung
saß. Ihr dunkelblondes Haar sah beinahe schwarz aus, ihre Augen sah ich
nicht. Nun zählte ich leise den Takt, und nickte, und wir stimmten mit
breitem Strich das Andante an.
Jetzt während des Spielens ward mir wohl und innig, ich wiegte mich im
Takte mit und schwebte frei im Zusammenklang der Tonströme, die mir
alle völlig neu und wie in diesem Augenblick erfunden vorkamen. Meine
Gedanken an die Musik und meine Gedanken an Gertrud Imthor flossen
rein und ohne Störung zusammen, ich zog meinen Geigenbogen und gab mit
den Augen meine Anweisungen, schön und stetig floß die Musik dahin
und nahm mich mit, einen goldenen Weg zu Gertrud hin, die ich nicht
mehr sehen konnte, und jetzt auch gar nicht mehr zu sehen begehrte.
Ich gab ihr meine Musik und meinen Atem, meine Gedanken und meinen
Herzschlag hin, wie sich ein Morgenwanderer dem lichten Blau und
klaren Wiesenglanz der Frühe hingibt, ungefragt und ohne sich selbst
zu verlieren. Zugleich mit dem Wohlgefühl und wachsenden Schwall der
Töne trug und erhob mich ein verwundertes Glück darüber, daß ich nun
so plötzlich wisse, was Liebe sei. Es war kein neues Gefühl, nur eine
Klärung und Entschleierung uralter Ahnungen, Rückkehr in ein altes
Vaterland.
Der erste Satz war zu Ende; ich gönnte nur eine Minute Pause. Leise
klang das Stimmen der Saiten in mildem Durcheinander, über gespannte
und zunickende Gesichter hinweg konnte ich einen Augenblick den
dunkelblonden Kopf sehen, die zarte, helle Stirn und den hellroten
strengen Mund, dann klopfte ich sacht auf mein Pult und wir strichen
den zweiten Satz, der sich wohl hören lassen darf. Die Spieler wurden
warm, die ansteigende Sehnsucht des Liedes hob unruhige Schwingen,
kreiste in unbefriedigten Flügen empor, suchte und verlor sich in
klagender Bangigkeit. Tief und warm übernahm das Cello die Melodie,
hob sie stark und dringlich heraus, trug sie verklingend in die neue,
dunklere Tonart hinüber und löste sie verzweifelnd im halb zornigen
Basse auf.
Dieser zweite Satz war meine Beichte, ein Bekenntnis meiner Sehnsucht
und meines Unbefriedigtseins. Der dritte sollte die Erlösung und
Erfüllung sein. Ich wußte aber seit diesem Abend, daß er nichts
war, und ich spielte ihn sorglos hin als eine Sache, die hinter mir
lag. Denn ich meinte jetzt genau zu wissen, wie die Befreiung hätte
klingen sollen, wie aus dem stürmenden Stimmenbrausen der Glanz und
Friede brechen müsse, Licht aus schwerem Gewölk. Das alles war in
meinem dritten Satze nicht, er war nur ein linderndes Auflösen der
angewachsenen Dissonanzen und ein Versuch, die alte Grundmelodie ein
wenig zu läutern und zu steigern. Von dem, was in mir selber jetzt
glänzte und sang, war kein Ton und kein Strahl darin, und ich wunderte
mich, daß niemand es merkte.
Mein Trio war aus. Ich nickte den Spielern zu und legte meine Violine
weg. Die Lichter flammten wieder auf, die Gesellschaft kam in
Bewegung, manche kamen mit den gewohnten Artigkeiten, Lobsprüchen und
Kritiken zu mir, um sich als Kenner auszuweisen. Den Hauptmangel der
Arbeit warf keiner mir vor.
Man verteilte sich in mehrere Zimmer, es gab Thee, Wein und Gebäck,
im Herrenzimmer wurde geraucht. Eine Stunde verging und noch eine. Da
geschah es endlich, von mir kaum mehr erwartet, daß Gertrud bei mir
stand und mir die Hand gab.
»Hat es Ihnen gefallen?« fragte ich.
»Ja, es war schön,« sagte sie nickend. Ich sah aber, daß sie mehr
wußte. Darum sagte ich: »Sie meinen den zweiten Satz. Das andere ist ja
nichts.«
Da schaute sie mir wieder neugierig in die Augen, mit einer gütigen
Klugheit wie eine reife Frau und sagte ganz fein: »Sie wissen es also
selber. Der erste Satz, nicht wahr, ist gute Musik. Der zweite wird
groß und weit und verlangt vom dritten zu viel. Man hat es Ihnen auch
beim Spielen angesehen, wo Sie wirklich drin waren und wo nicht.«
Mir war es lieb, zu hören, daß ihre klaren guten Augen mich betrachtet
hatten, ohne daß ich es wußte. Und ich dachte schon an diesem ersten
Abend unserer Bekanntschaft, es müßte gut und selig sein, ein
ganzes Leben unter dem Blick dieser schönen und aufrichtigen Augen
hinzubringen, und es müßte dann unmöglich sein, jemals Schlechtes zu
tun oder zu denken. Und von jenem Abend an wußte ich, daß irgendwo
meinem Verlangen nach Einheit und zartester Harmonie Stillung zu finden
wäre, und daß jemand auf der Erde lebe, auf dessen Blick und Stimme
jeder Puls und jeder Atemzug in mir rein und innig Antwort gab.
Auch sie spürte unverweilt in mir den freundschaftlich reinen
Widerklang ihres Wesens und hatte von der ersten Stunde an das ruhige
Vertrauen, sich mir eröffnen und unverstellt zeigen zu können und
weder Mißverständnis noch Vertrauensbruch fürchten zu müssen. Sie
war mir sogleich nah befreundet, wie es in solcher Schnelle und
Selbstverständlichkeit nur jungen und wenig verdorbenen Menschen
möglich ist. Bis dahin war ich zwar schon je und je verliebt gewesen,
doch stets -- und namentlich seit meiner Entstellung -- mit einem
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