Gertrud - 04

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törichter Selbstquälerei, die hohe Frau klein und arm als Geliebte
eines stürmenden Genießers ohne Heiterkeit, dabei still und gütig
und des Leidens kundig. Ich selber schien mir verändert, war nicht
mehr ein einfacher Mensch, sondern war allen verwandt, hatte an jedem
brüderliche und an jedem feindliche Züge gesehen, konnte hier nicht
lieben und dort nicht verabscheuen, sondern schämte mich meines wenigen
Verstehens und spürte zum erstenmal in meiner leichten Jugend so
deutlich, daß man durchs Leben und durch die Menschen nicht so einfach
gehen könne, da mit Haß und da mit Liebe, da mit Verehrung und dort
mit Verachtung, sondern daß alles durcheinander und beieinander wohne,
kaum getrennt und in Augenblicken kaum unterscheidbar. Ich sah die Frau
an, die an meiner Seite ging und nun auch ganz still geworden war, als
fände sie im Herzen nun doch auch manches anders beschaffen, als sie es
gemeint und gesagt hatte.
Am Ende kamen wir vor ihr Haus, sie streckte mir die Hand her, die ich
leise nahm und küßte. »Schlafen Sie gut!« sagte sie freundlich, aber
ohne Lächeln.
Das tat ich auch, ich kam nach Hause und ins Bett, ich weiß nicht wie,
und schlief sofort und schlief noch ein ungewohntes Stück in den
Morgen hinein. Dann stand ich auf wie das Männlein aus der Schachtel,
machte meine Turnübung, wusch mich und griff nach den Kleidern; und
erst wie ich am Stuhl den Gehrock hängen sah und meinen Geigenkasten
vermißte, fiel mir gestern wieder ein. Ich war indes ausgeschlafen und
anderen Sinnes als in der Nacht, und konnte an die Gedanken der Nacht
nicht anknüpfen; es blieb mir nur die Erinnerung an sonderbar kleine,
nur nach innen wirksame Erlebnisse, und ein Erstaunen darüber, daß ich
nun doch unverwandelt und derselbe wie immer dastand.
Ich wollte arbeiten, aber meine Geige war nicht da. So ging ich
aus, anfangs noch unentschlossen, dann entschieden in der gestrigen
Richtung, und kam an Muoths Wohnung. Schon vom Gartentor aus hörte ich
ihn singen, der Hund fiel mich an und ward von der alten Frau, die
schnell herauskam, mit Mühe zurückgeführt. Mich ließ sie eintreten, ich
sagte ihr, ich wolle nur meine Geige holen und den Herrn nicht stören.
Im Vorzimmer stand mein Geigenkasten und die Geige lag darin, auch die
Noten waren dazugelegt. Das mußte Muoth getan haben, er hatte an mich
gedacht. Nebenan sang er laut, ich hörte ihn weich wie auf Filzsohlen
hin und wieder gehen, zuweilen Töne am Flügel anschlagend. Seine Stimme
klang frisch und hell, beherrschter als ich sie oft auf der Bühne
gehört hatte, er sang eine mir unbekannte Rolle, wiederholte häufig und
ging rasch im Zimmer auf und ab.
Ich hatte meine Sachen an mich genommen und wollte gehen. Ich war ruhig
und fühlte mich von der Erinnerung an gestern kaum berührt. Doch war
ich neugierig, ihn zu sehen, ob auch er sich verändert habe, und trat
näher, und ohne es ganz zu wollen, hatte ich auf einmal den Türgriff in
der Hand, und hatte darauf gedrückt, und stand in der offenen Türe.
Muoth drehte sich im Singen um. Er war im Hemde, in einem sehr langen
weißen feinen Hemd, und sah frisch aus, als habe er eben gebadet. Ich
erschrak nun, zu spät, daß ich ihn so überrascht habe. Er schien jedoch
weder verwundert, daß ich ohne Klopfen eingetreten war, noch schien er
zu wissen, daß er keine Kleider anhatte. Als wäre alles wie es sein
müsse, bot er mir die Hand und fragte: »Haben Sie schon gefrühstückt?«
Dann, da ich ja gesagt hatte, nahm er am Flügel Platz.
»Die Rolle soll ich singen! Da hören Sie die Arie! Das ist ein Gemüse!
Wird in der königlichen Hofoper aufgeführt, mit Büttner und der Duelli!
Aber das interessiert Sie nicht, und mich eigentlich auch nicht. Wie
geht's denn? Haben Sie ausgeruht? Sie haben kaput ausgesehen, als Sie
gestern gingen. Und bös waren Sie mir auch. Nun ja. Wir wollen die
Dummheiten nicht gleich wieder anfangen.«
Und gleich darauf, ohne daß ich etwas dazwischen sagen konnte: »Wissen
Sie, der Kranzl ist ein Langweiler. Er will Ihre Sonate nicht spielen.«
»Er hat sie doch gestern gespielt.«
»Im Konzert, meine ich. Ich wollte sie ihm aufhängen, aber er mag
nicht. Es wäre gut gewesen, wenn sie nächsten Winter in so eine Matinee
gekommen wäre. Der Kranzl ist nicht so dumm, wissen Sie, aber faul. Er
spielt immerzu diese polakischen Musiken von insky und owsky, was Neues
lernt er nicht gern.«
»Ich glaube nicht,« fing ich nun an, »daß die Sonate in ein Konzert
paßt, das habe ich mir auch nie eingebildet. Sie ist technisch noch gar
nicht sauber.«
»Das ist doch Wurst! Ihr mit Eurem Künstlergewissen! Wir sind doch
keine Schulmeister, und es werden ohne Zweifel schlechtere Sachen
gespielt, gerade von Kranzl. Aber ich weiß was anderes. Das Lied müssen
Sie mir geben, und machen Sie doch bald noch mehr! Ich gehe im Frühjahr
hier weg, ich habe gekündigt, und mache lange Ferien. In der Zeit
möchte ich ein paar Konzerte geben, aber was Neues, nicht mit Schubert
und Wolf und Löwe und dem, was man alle Abend hört, sondern neue und
unbekannte Sachen, ein paar wenigstens, solche wie das Lawinenlied. Was
meinen Sie?«
Für mich war die Aussicht, meine Lieder von Muoth öffentlich gesungen
zu sehen, ein Tor in die Zukunft, durch dessen Spalt ich lauter
Herrlichkeiten sah. Eben deswegen wollte ich vorsichtig sein und weder
Muoths Freundlichkeit mißbrauchen noch mich ihm allzusehr verpflichten.
Es schien mir, er wolle mich gar zu gewaltsam an sich ziehen, blenden
und vielleicht irgendwie vergewaltigen. Darum ging ich kaum darauf ein.
»Ich will sehen,« sagte ich. »Sie sind sehr gütig mit mir, das sehe
ich, aber ich kann nichts versprechen. Ich bin am Ende meiner Studien
und muß jetzt an gute Zeugnisse denken. Ob ich einmal als Komponist
auftreten kann, ist ungewiß, einstweilen bin ich Geiger und muß sehen,
wie ich beizeiten zu einer Stellung komme.«
»Ach ja, das alles können Sie ja tun. Darum kann Ihnen doch einmal
wieder ein solches Lied einfallen, das Sie mir dann geben, nicht?«
»Ja, das wohl. Ich weiß freilich nicht, warum Sie sich meiner so
annehmen.«
»Haben Sie Angst vor mir? Mir gefällt einfach Ihre Musik, ich möchte
Sachen von Ihnen singen und verspreche mir davon etwas, es ist reiner
Eigennutz.«
»Wohl, aber warum reden Sie so mit mir, so wie gestern meine ich?«
»Ach, sind Sie noch beleidigt? Was habe ich denn eigentlich gesagt?
Ich weiß es rein nimmer. Jedenfalls wollte ich Sie nicht schlecht
behandeln, wie ich es scheints getan habe. Sie können sich ja wehren!
Es redet und ist jeder, wie er ist und sein muß, und man muß einander
gelten lassen.«
»Das meine ich auch, aber Sie tun das Gegenteil, Sie reizen mich und
lassen nichts gelten, was ich sage. Sie ziehen das, woran ich selber
ungern denke und was mein Geheimnis ist, hervor und werfen es mir hin,
wie einen Vorwurf. Sie spotten sogar über mein steifes Bein!«
Heinrich Muoth sagte langsam: »Ja, ja, ja. Die Leute sind eben
verschieden. Den einen macht es wild, wenn man Wahrheiten sagt, und der
andere kann keine Phrasen vertragen. Sie hat es geärgert, daß ich Sie
nicht wie einen Intendanten behandle, und mich hat es geärgert, daß Sie
sich vor mir versteckten und mir die Sprüche über den Trost der Kunst
anhängen wollten.«
»Das war gemeint wie ich es sagte; ich bin nur nicht gewohnt über diese
Sachen zu reden. Und über das andere *will* ich eben nicht reden. Wie
es in mir aussieht und ob ich traurig bin oder verzweifelt, und wie
mein Bein mir vorkommt und meine Krüppelschaft, das will ich für mich
behalten und mir von niemand herausdrohen und herausspotten lassen.«
Er stand auf.
»Ich habe ja noch gar nichts an, ich will das schnell besorgen. Sie
sind ein anständiger Mensch, das bin ich leider nicht. Wir wollen
darüber nimmer so viel reden. Haben Sie denn gar nichts davon gemerkt,
daß ich Sie gern habe? Warten Sie ein wenig, setzen Sie sich ans
Klavier, bis ich angezogen bin. Singen Sie nicht? -- Nicht? Nun, es
dauert nur sechs Minuten.«
Wirklich kam er sehr bald angekleidet aus dem Nebenzimmer zurück.
»Jetzt gehen wir in die Stadt und essen miteinander,« sagte er
behaglich. Er fragte nicht, ob es mir auch passe, er sagte: »Wir
gehen,« und wir gingen. Denn so empfindlich seine Art mich ärgerte, sie
imponierte mir doch, er war der Stärkere. Daneben zeigte er im Gespräch
und Benehmen eine launenhafte Kindlichkeit, die oft entzückend war und
ganz mit ihm versöhnte.
Von da an sah ich Muoth oft, er sandte mir häufig Billette für die
Oper, bat mich manchmal bei ihm zu geigen, und wenn mir nicht alles an
ihm gefiel, so ließ er sich doch auch von mir nicht wenig gefallen.
Es entstand eine Freundschaft, damals meine einzige, und ich begann
mich beinahe auf die Zeit zu fürchten, wo er nicht mehr da sein würde.
Er hatte wirklich gekündigt und ließ sich, trotz einiger Bemühungen
und Zugeständnisse, nicht halten. Zuweilen deutete er an, er werde im
Herbst vielleicht einen Ruf an eine große Bühne haben, doch blieb das
vorläufig unbesprochen. Inzwischen kam der Frühling heran.
Eines Tages fand ich mich zum letzten Herrenabend bei Muoth ein, wir
stießen auf Wiedersehen und Zukunft an, es war diesmal keine Frau
dabei. Muoth begleitete uns in der Morgenfrühe an die Gartenpforte,
winkte uns nach und kehrte fröstelnd im Morgennebel in seine schon halb
ausgeräumte Wohnung zurück, von dem springenden und bellenden Hunde
begleitet. Mir aber schien ein Stück Leben und Erfahrung nun abgetan;
ich glaubte Muoth genug zu kennen, um sicher zu sein, daß er uns alle
bald vergessen werde, und erst jetzt fühlte ich ganz klar und unbeirrt,
daß ich den dunklen, launischen, herrischen Mann doch richtig lieb
hatte.
Indessen kam auch für mich der Abschied. Ich tat meine letzten Gänge
nach Orten und Menschen, die ich in gutem Gedächtnis zu behalten
gesonnen war, ich ging auch noch einmal auf den Höhenweg hinauf und
schaute den Hang hinunter, den ich ohnehin nicht vergessen hätte.
Und ich reiste ab, nach Hause, einer unbekannten und wahrscheinlich
langweiligen Zukunft entgegen. Eine Stellung hatte ich nicht,
selbständig Konzerte geben konnte ich nicht, in der Heimat erwarteten
mich nur, zu meinem Schrecken, einige Schüler, denen ich Violinstunden
geben sollte. Wohl erwarteten mich auch die Eltern, und sie waren reich
genug, daß ich ohne Sorgen sein konnte, auch fein und gütig genug, daß
sie mich nicht drängten und fragten, was nun aus mir werden solle. Aber
daß ich es hier nicht lange aushalten würde, wußte ich von Anfang an.
Von den zehn Monaten, in denen ich nun zu Hause saß, drei Schülern
Stunden gab und trotz allem gar nicht unglücklich war, weiß ich nichts
zu erzählen. Es lebten auch hier Menschen, es geschah auch hier täglich
irgend etwas, aber mein Verhältnis zu alle dem bestand nur in einer
freundlich höflichen Gleichgültigkeit. Nichts ging mir ans Herz, nichts
nahm mich mit. Dagegen lebte ich in aller Stille, entrückte seltsame
Stunden der Musik, wo mein ganzes Leben erstarrt und mir entfremdet
schien und nur ein Hunger nach Musik übrig blieb, der mich während
der Violinstunden oft unerträglich peinigte und gewiß zu einem bösen
Lehrer machte. Nachher aber, wenn meine Pflicht getan war, oder ich
mit List und Lüge mich um meine Stunden gedrückt hatte, sank ich tief
in herrlich unwirkliche Träume, baute nachtwandlerisch an kühnen
Tongebäuden, trieb freche Türme in die Lüfte, wölbte tiefschattende
Kuppeln und ließ spielende Ornamente leicht und genußvoll wie
Seifenblasen steigen.
Während ich in einer Betäubung und Fremdheit herumging, die meine
früheren Bekannten vertrieb und meinen Eltern Sorge machte, ging
noch weit heftiger und reicher als vor einem Jahr in den Bergen
der verschüttete Born in mir wieder auf; die Früchte verträumter,
verarbeiteter, scheinbar verlorener Jahre, unsichtbar gereift, fielen
still und sachte, eine um die andere, und hatten Duft und Glanz und
umgaben mich mit einem fast schmerzlichen Reichtum, den ich nur zögernd
und mit Mißtrauen an mich nahm. Es begann mit einem Liede, dem folgte
eine Geigenphantasie, der folgte ein Streichquartett, und als in
wenigen Monaten noch einige Lieder und manche Entwürfe zu symphonischen
Sachen dazugekommen waren, empfand ich das alles nur als einen Anfang
und Versuch, und im Herzen dachte ich an eine große Symphonie, in
den frechsten Stunden auch schon an eine Oper! Zwischenein schrieb
ich von Zeit zu Zeit demütige Briefe an Kapellmeister und Theater,
legte die Empfehlungen meiner Lehrer bei und brachte mich bescheiden
für die nächste bessere Geigerstelle in Erinnerung, die frei werde.
Es kamen dann kurze höfliche Antworten, die mit »sehr geehrter Herr«
begannen, manchmal auch keine, aber eine Anstellung kam nicht. Dann
war ich einen Tag oder zwei klein und kroch zusammen, gab sorgfältigen
Unterricht und schrieb neue demütige Briefe. Allein gleich darauf fiel
mir wieder ein, daß ich noch einen Kopf voll Musik aufzuschreiben
habe, und kaum hatte ich wieder begonnen, so sanken die Briefe und die
Theater und Orchester, die Kapellmeister und sehr geehrten Herren auf
Nichtmehrsehen hinab und ich fand mich allein, vollauf beschäftigt und
begnügt.
Nun, das sind Erinnerungen, die man nicht erzählen kann, wie die
meisten. Was ein Mensch für sich ist und erlebt, wie er wird und wächst
und krankt und stirbt, das alles ist unerzählbar. Das Leben arbeitender
Menschen ist langweilig, interessant sind die Lebensführungen und
Schicksale der Taugenichtse. So reich mir jene Zeit im Gedächtnis
liegt, ich kann nichts über sie sagen, denn ich stand außerhalb des
menschlichen und geselligen Lebens. Nur einmal kam ich für Augenblicke
wieder einem Menschen nahe, den ich nicht vergessen darf. Das war der
Präzeptor Lohe.
Ich ging einmal, schon im Spätherbst, spazieren. Es war im Süden der
Stadt ein bescheidenes Villenviertel entstanden, wo keine reichen
Leute wohnten, sondern kleine Sparer und Rentenverzehrer kleine
wohlfeile Häuslein mit einfachen Gärten bewohnten. Ein geschickter
junger Baumeister hatte hier viel Hübsches gebaut, was ich mir nun auch
einmal ansehen wollte.
Es war ein warmer Nachmittag, da und dort wurden späte Nußbäume
geleert, die Gärten und kleinen neuen Häuser lagen fröhlich in der
Sonne. Die hübschen einfachen Bauten gefielen mir, ich beschaute sie
mit dem oberflächlich behaglichen Interesse, das junge Leute für so
etwas haben, welchen der Gedanke an Haus und Heim und Familie, Rast und
Feierabend noch im Weiten liegt. Die friedliche Gartenstraße machte
einen lieben, behaglichen Eindruck, ich spazierte langsam dahin, und im
Gehen verfiel ich darauf, die Namen der Hausbesitzer auf den kleinen
blanken Messingschildchen an den Gartentoren zu lesen.
Auf einem dieser Schildchen stand »Konrad Lohe«, und im Lesen wollte
der Name mir bekannt vorkommen. Ich blieb stehen und besann mich,
und es fiel mir ein, daß einer meiner Lehrer in der Lateinschule so
geheißen hatte. Und für Sekunden stieg die alte Zeit herauf, sah
mich verwundert an und wälzte auf flüchtiger Welle einen Schwarm
von Gesichtern herauf, von Lehrern und Kameraden, Spitznamen und
Geschichten. Und während ich stand und auf das Messingtäfelein sah
und lächelte, erhob sich hinterm nächsten Johannisbeerstrauch, wo er
gebückt gearbeitet hatte, ein Mann, trat dicht heran und sah mir ins
Gesicht.
»Wollen Sie zu mir?« fragte er, und es war Lohe, der Präzeptor Lohe,
den wir Lohengrin geheißen hatten.
»Eigentlich nicht,« sagte ich und zog den Hut. »Ich wußte nicht, daß
Sie hier wohnen. Ich bin einmal Ihr Schüler gewesen.«
Er blickte schärfer, sah an mir hinab bis zum Stock, besann sich und
nannte dann meinen Namen. Er hatte mich nicht am Gesicht erkannt,
sondern am steifen Bein, da er natürlich von meinem Unfall wußte. Nun
ließ er mich eintreten.
Er war in Hemdärmeln und hatte eine grüne Gartenschürze vorgebunden,
er schien gar nicht älter geworden und sah prächtig blühend aus. Wir
schritten in dem kleinen sauberen Garten hin und her, dann führte er
mich an eine offene Veranda, wo wir uns setzten.
»Ja, ich hätte Sie nimmer gekannt,« sagte er aufrichtig. »Hoffentlich
haben Sie mich in guter Erinnerung von früher her.«
»Nicht ganz,« sagte ich lächelnd. »Sie haben mich einmal für etwas
bestraft, was ich nicht getan hatte, und haben meine Beteuerungen für
Lügen erklärt. Es war in der vierten Klasse.«
Bekümmert schaute er auf. »Das dürfen Sie mir nimmer übel nehmen, es
tut mir auch leid. Lehrern passiert es beim besten Willen immer wieder,
daß etwas nicht stimmt, und eine Ungerechtigkeit ist bald angerichtet.
Ich weiß schlimmere Fälle. Zum Teil deswegen bin ich denn auch
gegangen.«
»So, sind Sie nimmer im Amt?«
»Schon lang nicht mehr. Ich wurde krank, und als ich wieder geheilt
war, hatten sich meine Ansichten so sehr geändert, daß ich den Abschied
nahm. Ich hatte mir Mühe gegeben, ein guter Lehrer zu sein, aber ich
war keiner, dazu muß man geboren sein. So gab ich es auf, und seither
ist mir wohl.«
Das konnte man ihm ansehen. Ich fragte weiter, doch wollte er nun meine
Geschichte hören, die bald erzählt war. Daß ich Musiker geworden sei,
gefiel ihm nicht ganz, dagegen hatte er für mein Pech ein freundliches
und zartes Mitleid, das mir nicht wehtat. Vorsichtig suchte er zu
erforschen, wie es mir gelinge mich zu trösten und war von meinen
halb ausweichenden Antworten nicht befriedigt. Unter geheimnisvollen
Gebärden gab er zögernd und doch ungeduldig mit schüchternen
Umschweifen kund, er wisse einen Trost, eine vollkommene Weisheit, die
jedem ernstlich Suchenden offen stehe.
»Ich weiß schon,« sagte ich, »Sie meinen die Bibel.«
Herr Lohe lächelte schlau. »Die Bibel ist gut, sie ist ein Weg zum
Wissen. Aber sie ist nicht das Wissen selbst.«
»Und wo ist das, das Wissen selbst?«
»Das werden Sie leicht finden, wenn Sie wollen. Ich gebe Ihnen etwas
zum Lesen mit, das gibt Ihnen die Elemente. Haben Sie schon von der
Lehre vom Karma gehört?«
»Vom Karma? Nein, was ist das?«
»Das werden Sie sehen, warten Sie!« Er lief weg und blieb eine Weile
aus, während ich erstaunt in ungewisser Erwartung saß und in den Garten
hinunter sah, wo Zwergobstbäume in tadellosen Reihen standen. Bald kam
Lohe wieder gelaufen. Strahlend sah er mich an und streckte mir ein
Büchlein entgegen, das trug inmitten einer geheimnisvollen Linienkunst
die Aufschrift: »Theosophischer Katechismus für Anfänger«.
»Nehmen Sie das mit!« bat er. »Sie können es behalten, und wenn Sie
weiter studieren wollen, kann ich Ihnen noch mehr leihen. Das hier ist
nur zur Einführung. Ich verdanke dieser Lehre alles. Ich bin durch sie
gesund geworden an Leib und Seele, und hoffe es wird auch Ihnen so
gehen.«
Ich nahm das kleine Buch hin und steckte es ein. Der Mann begleitete
mich durch den Garten zur Straße hinab, nahm freundlich Abschied
und bat mich bald wieder zu kommen. Ich sah ihm ins Gesicht, das
war gut und froh, und mir schien, es könne nicht schaden den Weg zu
solchem Glück einmal zu versuchen. So ging ich heim, das Büchlein
in der Tasche, neugierig auf die ersten Schritte dieses Pfades zur
Glückseligkeit.
Doch beschritt ich ihn erst nach einigen Tagen. Bei der Heimkehr
zogen die Noten mich wieder heftig an sich, ich stürzte mich darein
und schwamm in Musik, schrieb und spielte, bis der Sturm für diesmal
verrauscht war und ich ernüchtert ins Tagesleben zurückkehrte. Da
empfand ich alsbald das Bedürfnis, die neue Lehre zu studieren, und
setzte mich hinter das kleine Buch, das ich bald erschöpfen zu können
glaubte.
Es ging aber nicht so leicht. Das kleine Büchlein schwoll mir unter den
Händen und zeigte sich am Ende unüberwindlich. Es begann mit einer
hübschen und anziehenden Einleitung über die vielen Wege zur Weisheit,
deren jeder seine Geltung habe, und über die theosophische Brüderschaft
derer, die in Freiheit nach Wissen und innerer Vollkommenheit
streben wollen, denen jeder Glaube heilig und jeder Pfad zum Lichte
willkommen ist. Alsdann kam eine Kosmogonie, die ich nicht verstand,
eine Einteilung der Welt in verschiedene »Ebenen« und der Geschichte
in merkwürdige, mir unbekannte Zeitalter, wobei auch das versunkene
Land Atlantis eine Rolle spielte. Ich ließ dieses einstweilen auf
sich beruhen und machte mich an die anderen Kapitel, wo die Lehre
von der Wiedergeburt dargestellt war, die ich besser verstand. Doch
wurde mir nicht recht klar, ob das alles eine Mythologie und poetische
Fabel, oder wörtliche Wahrheit zu sein begehre. Es schien das letztere
der Fall zu sein, was mir nicht eingehen wollte. Nun kam die Lehre
vom Karma. Sie zeigte sich mir als eine religiöse Verehrung des
Kausalitätsgesetzes, die mir nicht übel gefiel. Und so ging es weiter.
Ich sah bald gar wohl ein, daß diese ganze Lehre nur für den ein Trost
und ein Schatz sein könne, der sie möglichst wörtlich und tatsächlich
hinnehme und innig glaube. Wem sie, wie mir, ein zum Teil schönes, zum
Teil krauses Sinnbild, der Versuch einer mythologischen Welterklärung
war, der konnte zwar von ihr lernen und ihr Achtung gönnen, nicht aber
Leben und Kraft von ihr haben. Man konnte vielleicht Theosoph sein mit
Geist und Würde, aber jener endgültige Trost winkte nur denen, die
es ohne viel Geist in einfältigem Glauben waren. Das war einstweilen
nichts für mich.
Doch ging ich noch mehrmals zu dem Präzeptor hin, der vor zwölf Jahren
mich und sich mit dem Griechischen geplagt hatte und nun auf so andere
Weise, und doch ebenso erfolglos, mein Lehrer und Führer zu sein
strebte. Freunde wurden wir nicht, aber ich kam gerne zu ihm, er war
einige Zeit hindurch der einzige Mensch, mit dem ich über wichtige
Fragen meines Lebens redete. Dabei machte ich zwar die Erfahrung, daß
dieses Reden keinen Wert hat und im besten Fall zu gescheiten Sprüchen
führt; doch war mir dieser gläubige Mann, den Kirche und Wissenschaft
kühl gelassen hatten und der nun in der späteren Hälfte des Lebens im
naiven Glauben an eine merkwürdig ausgeklügelte Lehre den Frieden und
die Herrlichkeit der Religion erlebte, rührend und beinahe ehrwürdig.
Mir ist, bei allem Bemühen, dieser Weg bis heute unzugänglich
geblieben, und ich habe zu frommen und in irgend einem Glauben
befestigten und befriedigten Menschen eine bewundernde Hinneigung, die
sie mir nicht erwidern können.


Während der kurzen Zeit meiner Besuche bei dem frommen Theosophen
und Obstzüchter erhielt ich eines Tags eine kleine Geldanweisung,
deren Herkunft mir dunkel war. Abgesandt war sie von einem bekannten
norddeutschen Konzertagenten, mit dem ich jedoch niemals zu tun gehabt
hatte. Auf meine Frage ward mir die Antwort, der Betrag sei im Auftrag
des Herrn Heinrich Muoth angewiesen und stelle mein Honorar dafür vor,
daß Muoth in sechs Konzerten ein von mir komponiertes Lied gesungen
habe.
Nun schrieb ich an Muoth, dankte ihm und bat um Bericht. Vor allem
hätte ich gern gewußt, wie mein Lied in den Konzerten aufgenommen
worden war. Von Muoths Konzertreise hatte ich wohl gehört und ein- oder
zweimal Zeitungsnotizen gelesen, von meinem Lied war aber da nicht die
Rede gewesen. Ich berichtete in meinem Brief mit der Ausführlichkeit
des Einsamen von meinem Leben und von meiner Arbeit, legte auch eines
der neuen Lieder bei. Dann wartete ich zwei, drei, vier Wochen auf
Antwort, und dann, da sie ausblieb, vergaß ich die ganze Sache wieder.
Immer noch schrieb ich fast alle Tage an meiner Musik, die mir wie im
Traume quoll. In den Pausen aber war ich schlaff und unzufrieden, das
Stundengeben fiel mir furchtbar schwer, ich fühlte, daß ich es nimmer
lang aushalten werde.
Es war mir daher wie die Erlösung aus einem Bann, als endlich doch ein
Brief von Muoth kam. Er schrieb:
Lieber Herr Kuhn! Ich bin kein Briefschreiber, darum ließ ich Ihren
Brief liegen, auf den ich nichts Rechtes zu antworten wußte. Jetzt
aber kann ich mit wirklichen Vorschlägen kommen. Ich bin jetzt am
Opernhaus hier in R. angestellt und es wäre schön, wenn Sie auch
kämen. Sie könnten fürs erste als zweiter Geiger bei uns unterkommen,
der Kapellmeister ist ein vernünftiger und freier Mann, wenn auch ein
Grobian. Wahrscheinlich findet sich auch Gelegenheit, bald etwas von
Ihnen hier zu spielen, wir haben gute Kammermusik. Wegen der Lieder
wäre auch einiges zu sagen, unter anderem ist ein Verleger da, der sie
haben will. Aber das Schreiben ist so langweilig, kommen Sie selber!
Aber schnell, und telegraphieren Sie wegen der Stelle, es hat Eile.
Ihr Muoth.
Da war ich plötzlich aus meiner Einsiedelei und Nutzlosigkeit gerissen
und trieb wieder im Strom des Lebens, hatte Hoffnungen und Sorgen,
bangte und freute mich. Es gab nichts, was mich hielt, und meine Eltern
waren froh, mich auf die Bahn kommen und einen ersten entschiedenen
Schritt ins Leben tun zu sehen. Ich telegraphierte unverweilt, und drei
Tage später war ich schon in R. und bei Muoth.
Ich war in einem Hotel abgestiegen, hatte ihn besuchen wollen und nicht
gefunden. Nun kam er in den Gasthof und stand unvermutet vor mir. Er
gab mir die Hand, fragte nach nichts und erzählte nichts und teilte
meine Erregung nicht im mindesten. Er war gewohnt, sich treiben zu
lassen und immer nur den gegenwärtigen Augenblick ernst zu nehmen und
auszuleben. Er ließ mir kaum Zeit, mich umzukleiden, und brachte mich
zum Kapellmeister Rößler.
»Das ist Herr Kuhn,« sagte er.
Rößler nickte kurz. »Freut mich. Was wünschen Sie?«
»Nun,« rief Muoth, »das ist der Geiger.«
Der Kapellmeister sah mich erstaunt an, wandte sich wieder zu dem
Sänger und meinte grob: »Davon haben Sie mir nichts gesagt, daß der
Herr lahm ist. Ich muß Leute mit geraden Gliedern haben.«
Mir stieg das Blut ins Gesicht, aber Muoth blieb ruhig. Er lachte nur.
»Soll er denn tanzen, Rößler? Ich meinte, er solle geigen. Wenn er das
nicht kann, so müssen wir ihn wieder schicken. Aber das wollen wir doch
zuerst probieren.«
»Also meinetwegen, Leute. Herr Kuhn, kommen Sie morgen früh zu mir, so
nach neune! Hier in die Wohnung. Sind Sie bös, wegen dem Fuß? Ja, das
hätt' mir der Muoth auch vorher sagen können. Na, wir werden sehen. Auf
Wiederschauen.«
Im Weggehen machte ich Muoth Vorwürfe deswegen. Er zuckte die Achseln
und meinte, wenn er gleich anfangs von meinem Gebrechen gesprochen
hätte, würde der Kapellmeister schwerlich zugestimmt haben; nun aber
sei ich einmal da und, wenn Rößler halbwegs mit mir zufrieden sei,
werde ich ihn bald von besseren Seiten kennen lernen.
»Aber wie haben Sie mich überhaupt empfehlen können,« fragte ich, »Sie
wissen ja gar nicht, ob ich was kann.«
»Ja, das ist Ihre Sache. Ich dachte mir, es werde schon gehen, und es
wird auch. Sie sind ein so bescheidenes Kaninchen, daß Sie es nie zu
etwas bringen würden, wenn man Ihnen nicht zuzeiten einen Stoß gäbe.
Das war einer, nun taumeln Sie weiter! Angst brauchen Sie nicht zu
haben. Ihr Vorgänger hat nicht viel getaugt.«
Wir brachten den Abend in seiner Wohnung zu. Auch hier hatte er einige
Zimmer weit draußen gemietet, in Gärten und Stille, und sein gewaltiger
Hund sprang ihm entgegen, und kaum saßen wir und wurden warm, so ging
die Glocke und es kam eine sehr schöne, hoch gewachsene Dame und
leistete uns Gesellschaft. Es war dieselbe Atmosphäre wie damals, und
seine Geliebte war wieder eine tadelfreie, fürstliche Figur. Er schien
die schönen Frauen mit großer Selbstverständlichkeit zu verbrauchen,
und ich sah diese neue mit Teilnahme und mit der Befangenheit an,
die ich in der Nähe von liebefähigen Frauen stets empfand und die
wohl nicht ohne Neid war, da ich mit meinem lahmen Beine immer noch
hoffnungslos und ungeliebt einherging.
Wie früher ward auch diesmal bei Muoth gut und viel getrunken, er
tyrannisierte uns mit seiner gewalttätigen, heimlich schwülen
Lustigkeit, und riß uns doch hin. Er sang wundervoll, und er sang auch
ein Lied von mir, und wir drei befreundeten uns, wurden warm und kamen
uns nahe, sahen einander in unverhüllte Augen und blieben beisammen,
solange die Wärme in uns brannte. Die große Frau, die Lotte hieß, zog
mich mit sanfter Freundlichkeit an. Es war nun nicht mehr das erstemal,
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