Gertrud - 03

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ich noch ein Schüler, so daß ich mich nur schwach und schüchtern
zur Wehr setzen konnte, obgleich mir seine Art zu fragen gar nicht
gefiel. Hochmütig war er nicht, aber irgendwie verletzte er mir das
Schamgefühl, ohne daß ich mehr als leise abwehren konnte, denn es kam
doch auch kein rechter Widerwille in mir auf. Ich hatte das Gefühl, er
sei unglücklich und habe eine ungewollt gewaltsame Art die Menschen
anzufassen, als wolle er ihnen etwas entreißen, was ihn trösten könne.
Sein dunkel forschendes Auge war so frech wie traurig, und sein Gesicht
viel älter als er sein konnte.
Bald darauf, während mir seine Anrede noch die Gedanken beschäftigte,
sah ich ihn höflich und lustig mit einer Tochter des Hauses plaudern,
die ihm entzückt zuhörte und ihn wie ein Meerwunder anschaute.
Ich lebte seit meinem Ungeschick so einsam, daß diese Begegnung mir
noch tagelang nachklang und mich störte. Ich war meiner selbst nicht
sicher genug, um den überlegenen Mann nicht zu fürchten, und doch zu
einsam und bedürftig, um nicht von seiner Annäherung geschmeichelt zu
sein. Schließlich dachte ich, er habe mich und seine Laune von jenem
Abend vergessen. Da erschien er zu meiner Verwirrung in meiner Wohnung.
Das war an einem Dezemberabend, schon bei voller Dunkelheit. Der Sänger
klopfte an und trat herein, als sei nichts Merkwürdiges an seinem
Besuch, und sprang sogleich, ohne alle Einleitungen und Höflichkeiten,
mitten in das Gespräch. Ich mußte ihm das Lied geben, und da er mein
Mietklavier im Zimmer sah, wollte er es sogleich singen. Ich mußte
hinsitzen und begleiten, und so hörte ich zum erstenmal mein Lied
richtig gesungen. Es war traurig und ergriff mich wider meinen Willen,
denn er sang es nicht sängermäßig, sondern leise und wie für sich
allein. Der Text, den ich im vorigen Jahr in einer Zeitschrift gelesen
und mir abgeschrieben hatte, hieß so:
Daß bei jedem Föhn
Vom Berg die Lawine rollt
Mit Sausen und Todesgetön,
Hat das Gott gewollt?
Daß ich ohne Gruß
Durch der Menschen Land
Fremd wandern muß,
Kommt das von Gottes Hand?
Sieht Er in Herzensnot
Und Qual mich schweben?
Ach, Gott ist tot!
-- Und ich soll leben?
Wie ich's ihn singen hörte, begriff ich, daß das Lied ihm gefallen
hatte.
Wir waren eine kleine Weile still, dann fragte ich ihn, ob er mir nicht
Fehler sagen und Korrekturen vorschlagen könne.
Muoth sah mich mit seinem dunklen, starren Blick an und schüttelte den
Kopf.
»Da ist nichts zu korrigieren,« sagte er. »Ich weiß nicht, ob die
Komposition gut ist, ich verstehe davon gar nichts. Es ist Erlebnis
und Herz in dem Lied, und weil ich selber nicht dichte und nicht
komponiere, freut es mich, wenn ich einmal etwas finde, das mir wie
eigen vorkommt und das ich mir selber vorsingen mag.«
»Der Text ist aber nicht von mir,« warf ich ein.
»Nicht? Nun, einerlei, der Text ist auch Nebensache. Sie müssen ihn
doch erlebt haben, sonst hätten Sie das nicht komponiert.«
Ich bot ihm nun die Abschrift an, die ich schon seit Tagen bereit
hatte. Er nahm die Blätter an sich, rollte sie ein und zwängte sie in
die Manteltasche.
»Kommen Sie auch einmal zu mir, wenn Sie mögen,« sagte er und gab mir
die Hand. »Sie leben einsam, das will ich Ihnen nicht verderben. Aber
hie und da sieht man doch gern einem anständigen Menschen ins Gesicht.«
Da er fortging, blieb sein letztes Wort und Lächeln bei mir zurück, es
klang mit dem Lied zusammen, das er gesungen hatte, und mit allem was
ich bis jetzt von dem Mann wußte. Und je länger ich das alles bei mir
trug und betrachtete, desto deutlicher wurde es, und am Ende verstand
ich diesen Menschen. Ich verstand warum er zu mir gekommen war, warum
mein Lied ihm gefiel, warum er so fast unbescheiden in mich drang und
mir halb scheu, halb frech erschienen war. Er litt, er trug einen
schweren Schmerz, und er war von Einsamkeit ausgehungert wie ein Wolf.
Dieser Leidende hatte es mit dem Stolz und dem Alleinsein versucht
und es nicht ausgehalten, er lag auf der Lauer nach Menschen, nach
einem guten Blick und einem Hauch von Verständnis, und war bereit sich
wegzuwerfen dafür. So dachte ich es mir damals.
Mein Gefühl gegen Heinrich Muoth war nicht klar. Ich spürte wohl sein
Verlangen und seine Not, doch hatte ich Furcht vor ihm als einem
überlegenen und grausamen Menschen, der mich verbrauchen und liegen
lassen könnte. Ich war zu jung und hatte zu wenig Menschliches erlebt,
um das zu verstehen und zu billigen, wie er sich gleichsam nackt hingab
und kaum die Scham des Schmerzes zu kennen schien. Doch sah ich auch,
daß hier ein glühender und inniger Mensch litt und verlassen war. Es
fielen mir ungesucht die Gerüchte ein, die ich über Muoth gehört hatte,
undeutliches ängstliches Schülergerede, dessen eigentlicher Inhalt
mir verloren gegangen war, dessen Farbe und Ton aber mein Gedächtnis
wohl bewahrt hatte. Man erzählte von ihm tolle Frauengeschichten und
Abenteuer, und ohne daß mir das einzelne erinnerlich gewesen wäre,
glaubte ich doch noch irgend etwas Blutiges zu wissen, als sei er in
die Geschichte eines Mordes oder Selbstmordes verwickelt gewesen.
Als ich bald darauf meine Scheu bezwang und einen Kameraden darüber
fragte, zeigte sich die Sache harmloser als sie mir erschienen war.
Muoth hatte, wie es hieß, ein Liebesverhältnis mit einer jungen
Dame aus der guten Gesellschaft unterhalten, und diese hatte sich
allerdings vor zwei Jahren das Leben genommen, doch ohne daß man
von einer Verwicklung des Sängers in diese Geschichte mehr als in
vorsichtigen Andeutungen zu reden wagen durfte. Vermutlich hatte meine
eigene Phantasie, durch die Begegnung mit dem eigenartigen und mir
leise unheimlichen Menschen erregt, jenen Duft von Schrecken um ihn
geschaffen. Doch mußte er immerhin mit jener Liebe Böses erlebt haben.
Ich hatte nicht den Mut, zu ihm zu gehen. Wohl konnte ich mir
nicht verbergen, daß Heinrich Muoth ein leidender und vielleicht
verzweifelnder Mensch sei, der nach mir griffe und begehre, und
manchmal schien mir, ich müsse dem Ruf folgen und wäre ein Schelm,
wenn ich es nicht täte. Dennoch ging ich nicht hin, ein anderes Gefühl
hinderte mich. Was Muoth bei mir suchte, konnte ich ihm nicht geben,
ich war ein ganz anderer Mensch als er, und wenn ich auch in mancher
Hinsicht einsam und nicht recht verstanden unter den Leuten stand, wenn
ich auch vielleicht anders war als jedermann, durch Schicksal und
durch Veranlagung von den meisten getrennt, so wollte ich doch davon
kein Aufhebens machen. Mochte der Sänger ein dämonischer Mensch sein,
ich war keiner, und mich hielt ein inneres Bedürfnis vom Auffallenden
und Besonderen ab. Ich hatte eine Abneigung und einen Widerwillen gegen
Muoths heftige Gebärde, er war ein Mann der Bühne und der Abenteuer,
schien mir, und vielleicht dazu bestimmt, ein tragisches und weithin
sichtbares Schicksal zu leben. Ich hingegen wollte in der Stille
bleiben, mir standen Gebärden und kühne Worte nicht an, ich war zur
Resignation bestimmt. So rätselte ich hin und wieder, im Bedürfnis nach
Beruhigung. Es hatte ein Mensch an meine Türe geklopft, der mir leid
tat und den ich vielleicht gerechterweise über mich stellen mußte, aber
ich wollte Ruhe haben und ihn nicht einlassen. Eifrig warf ich mich auf
die Arbeit und ward die plagende Vorstellung nicht los, es stehe hinter
mir einer, der nach mir greife.
Da ich nicht kam, nahm Muoth die Sache wieder selber in die Hand.
Ich erhielt ein Brieflein von ihm, das war in großen stolzen Zügen
geschrieben und lautete:
»Lieber Herr! Am elften Januar pflege ich mit einigen Freunden meinen
Geburtstag zu feiern. Darf ich Sie dazu einladen? Schön wäre es, wenn
wir bei diesem Anlaß Ihre Violinsonate hören könnten. Was meinen Sie
dazu? Haben Sie einen Kollegen, mit dem Sie sie spielen können, oder
soll ich Ihnen jemand schicken? Stefan Kranzl wäre bereit. Sie würden
eine Freude machen Ihrem
Heinrich Muoth.«
Das hatte ich nicht erwartet. Ich sollte meine Musik, um die noch
niemand wußte, vor Kennern spielen, und ich sollte mit Kranzl zusammen
geigen! Beschämt und dankbar sagte ich zu und wurde schon nach zwei
Tagen von Kranzl aufgefordert, ihm die Noten zu schicken. Und wieder
nach ein paar Tagen lud er mich ein. Der beliebte Geiger war noch jung,
ein Mann vom Virtuosenzuschnitt, sehr schmal und schlank und blaß.
»So,« sagte er gleich bei meinem Eintreten, »Sie sind also der Freund
von Muoth. Ja, da wollen wir gleich anfangen. Wenn wir aufpassen,
wird's nach zwei-, dreimal schon gehen.«
Damit setzte er mir einen Stuhl hin, legte mir die zweite Geigenstimme
vor, markierte den Takt und fing an, mit seinem leichten empfindlichen
Strich, daß ich daneben ganz zusammensank.
»Nur nit so schüchtern!« rief er mir zu, ohne das Spiel zu
unterbrechen, und wir spielten das Ganze durch.
»So, es geht ja?« sagte er. »Schad, daß Sie keine bessere Geigen haben.
Tut aber nichts. Das Allegro nehmen wir dann aber ein bissel schneller,
daß man's nit für einen Trauermarsch anschaut. Los!«
Und da spielte ich nun neben dem Virtuosen ganz zutraulich meine Noten
herunter, meine einfache Geige klang mit seiner kostbaren zusammen als
müsse es so sein, und ich war erstaunt, den apart aussehenden Herrn so
zwanglos, ja naiv zu finden. Als ich warm geworden und etwas zu Mut
gekommen war, fragte ich ihn zögernd nach seinem Urteil über meine
Komposition.
»Da müssen's ein' andern fragen, lieber Herr, ich versteh' nit viel
davon. Ein bissel sonderbar ist's schon, aber des haben die Leut ja
gern. Wann's dem Muoth gefallt, können's sich schon was einbilden, der
frißt nit alles.«
Er gab mir Ratschläge wegen des Spiels und zeigte mir einige Stellen,
denen Änderungen nottaten. Dann wurde auf morgen eine weitere Probe
verabredet und ich konnte gehen.
Es war mir ein Trost, diesen Geigenmann so einfach und bieder zu
finden. Wenn der zu Muoths Freunden gehörte, konnte ich dort zur Not
auch bestehen. Freilich war er ein fertiger Künstler und ich ein
Anfänger ohne große Aussichten. Leid tat mir nur, daß niemand sich
offen über meine Arbeit äußern wollte. Das härteste Urteil wäre mir
lieber gewesen als diese gutmütigen Sprüche, die nichts sagten.
Es war in jenen Tagen bitter kalt, man konnte es kaum erheizen. Meine
Kameraden liefen eifrig Schlittschuh, es jährte sich seit unserem
Ausflug mit Liddy. Für mich war das keine gute Zeit und ich freute mich
auf den Abend bei Muoth, ohne mir sonst viel davon zu versprechen, nur
weil ich so lang keine Freunde und keine Fröhlichkeit mehr gesehen
hatte. In der Nacht vor dem elften Januar erwachte ich an einem
ungewohnten Geräusch und einer fast erschreckenden Wärme der Luft. Ich
stand auf und ging ans Fenster, verwundert, daß es nimmer kalt war. Da
war plötzlich der Südwind gekommen, es wehte gewaltig feucht und lau,
in der Höhe schob der Sturm große schwerfällige Wolkenzüge vor sich
über den Himmel, an dem in schmalen Lücken einzelne Sterne sonderbar
groß und blendend strahlten. Die Dächer hatten schon schwarze Flecken,
und am Morgen, als ich ausging, war aller Schnee vergangen. Die Straßen
und Gesichter sahen seltsam verändert aus und über allem schwamm ein
verfrühter Hauch von Frühling.
Ich ging an jenem Tage in einem leisen fieberhaften Rausch umher, teils
wegen des Südwindes und der gärenden Luft, teils in großer Erregung und
Erwartung des Abends. Oftmals nahm ich meine Sonate vor und spielte
Stücke daraus, und warf sie wieder weg. Bald fand ich sie wahrhaft
schön und hatte meine stolze Freude an ihr, bald kam sie mir plötzlich
kleinlich, zerrissen und unklar vor. Ich hätte diese Aufregung und
Bangigkeit nicht lange ertragen. Schließlich wußte ich nimmer, ob ich
mich auf den herankommenden Abend freue oder fürchte.
Er kam dennoch, ich zog den Gehrock an, nahm meinen Geigenkasten
mit und suchte Muoths Wohnung auf. Weit in der Vorstadt in einer
unbekannten und unbegangenen Straße fand ich in der Dunkelheit mit
Mühe das Haus, es lag allein in einem großen Garten, der verfallen und
ungepflegt erschien, hinter der unverschlossenen Gartentür fiel ein
großer Hund mich an, der von einem Fenster her zurückgepfiffen wurde
und murrend mich zum Eingang begleitete. Hier empfing mich eine alte
kleine Frau mit ängstlichen Augen, nahm mir den Mantel ab und führte
mich durch einen hell erleuchteten Korridor hinein.
Der Geigenspieler Kranzl wohnte sehr nobel, und ich hatte erwartet, es
auch bei Muoth, der für reich galt, ziemlich glänzend zu finden. Nun
sah ich zwar große weite Räume, viel zu groß für einen Junggesellen,
der wenig zu Hause ist, sonst aber alles sehr einfach, oder eigentlich
nicht einfach, sondern zufällig und ungeordnet. Die Möbel waren zum
Teil alt und schienen zum Hause zu gehören, dazwischen standen neue
Sachen, wahllos gekauft und ohne Sorgfalt aufgestellt. Glänzend war nur
die Beleuchtung. Es brannte kein Gas, statt dessen eine große Menge
weißer Kerzen in einfachen, schönen Zinnleuchtern, im Hauptraume auch
eine Art Kronleuchter, ein schlichter Messingring mit vielen Kerzen
besteckt. Hier stand als Hauptstück ein sehr schöner Flügel.
In dem Zimmer, in das ich geführt wurde, standen einige Herren im
Gespräch beisammen. Ich stellte meinen Kasten ab und grüßte, einige
nickten und wandten sich wieder zueinander, ich stand fremd da. Nun
kam Kranzl, der bei ihnen war und mich nicht gleich beachtet hatte,
zu mir, gab mir die Hand, stellte mich seinen Bekannten vor und sagte:
»Das ist unser neuer Geiger. Haben's auch die Geigen mitbracht?« Dann
rief er ins Nebenzimmer hinüber: »Du, Muoth, der mit der Sonaten ist
da.«
Jetzt kam Heinrich Muoth herein, begrüßte mich sehr freundlich und
nahm mich mit ins Flügelzimmer, wo es festlich und warm aussah und
eine schöne Frau im weißen Kleid mir ein Glas Sherry einschenkte. Es
war eine Schauspielerin vom Hoftheater, übrigens sah ich zu meinem
Erstaunen sonst keinen Kollegen des Hausherrn eingeladen, auch war sie
die einzige Dame.
Als ich mein Gläschen halb in Verlegenheit, halb in unwillkürlichem
Wärmebedürfnis nach dem feuchten Nachtgang rasch ausgetrunken hatte,
schenkte sie mir wieder ein und ließ meine Abwehr nicht gelten. »Nehmen
Sie nur, es kann nichts schaden. Wir kriegen nämlich erst nach der
Musik etwas zu essen. Sie haben doch die Geige mitgebracht, und die
Sonate?«
Ich gab spröde Antwort und war befangen, wußte auch nicht, in welchem
Verhältnis sie zu Muoth stehe. Sie schien die Hausfrau zu machen und
war übrigens eine Augenweide, wie ich denn auch in der Folge meinen
neuen Freund stets nur mit exemplarisch schönen Frauen Umgang pflegen
sah.
Indessen sammelten sich alle im Musikzimmer, Muoth stellte ein
Notenpult auf, man setzte sich, und bald war ich mit Kranzl mitten in
der Musik. Ich spielte, ohne es zu fühlen, es kam mir miserabel vor,
und nur wie jagendes Wetterleuchten überflog mich zwischenein je und
je für Sekunden das Bewußtsein, daß ich hier mit Kranzl spiele, und
daß das der zag erwartete große Abend sei, und daß da eine kleine
Gesellschaft von Kennern und verwöhnten Musikern sitze, denen wir
meine Sonate vorspielten. Erst während des Rondo begann ich zu hören,
daß Kranzl herrlich spielte, doch war ich immer noch so befangen und
außerhalb der Musik, daß ich ununterbrochen an anderes dachte und
mir plötzlich einfiel, daß ich Muoth noch gar nicht zum Geburtstag
gratuliert habe.
Nun war die Sonate ausgespielt, die schöne Dame erhob sich, gab mir und
Kranzl die Hand und öffnete die Tür zu einem kleineren Zimmer, wo uns
ein gedeckter Tisch mit Blumen und Weinflaschen erwartete.
»Endlich!« rief einer von den Herren, »ich bin schier verhungert.«
Die Dame meinte: »Sie sind doch ein Scheusal. Was soll der Komponist
denken?«
»Welcher Komponist, ist er denn da?«
Sie zeigte auf mich. »Da sitzt er.«
Er sah mich an und lachte. »Das hättet ihr mir auch vorher sagen
können. Übrigens, die Musik war recht schön. Nur, wenn man Hunger hat
--.«
Wir begannen zu essen, und kaum war die Suppe weg und der weiße Wein
eingeschenkt, da tat Kranzl einen Trinkspruch auf den Hausherrn und
dessen Geburtstag. Muoth erhob sich gleich nach dem Anstoßen: »Lieber
Kranzl, wenn du gedacht hast, ich würde jetzt eine Rede auf dich
halten, hast du dich getäuscht. Wir wollen überhaupt keine Reden mehr
halten, ich bitte drum. Die einzige, die vielleicht nötig ist, nehme
ich hiermit auf mich. Ich danke unserem jungen Freund für seine Sonate,
die ich famos finde. Vielleicht wird unser Kranzl einmal froh sein,
wenn er Sachen von ihm zu spielen kriegt, was er übrigens nur tun soll,
denn er hat die Sonate wirklich kapiert. Ich trinke auf den Komponisten
und auf gute Freundschaft mit ihm.«
Man stieß an, lachte, zog mich ein wenig auf, und bald kam eine von
gutem Wein erhöhte Tafelfröhlichkeit zustande, der ich mich erlöst
hingab. Ich war lange nimmer auf diese Weise vergnügt und entlastet
gewesen, eigentlich seit einem Jahre nicht mehr. Jetzt tat mir
Gelächter und Wein, Gläsergeläut, Stimmenwirrnis und der Anblick einer
schönen fröhlichen Frau verschüttete Tore zur Freude auf und ich glitt
weich hinüber in die losgebundene Heiterkeit leichter und lebhafter
Gespräche und lachender Mienen.
Früh stand man von der Tafel auf und kehrte ins Musikzimmer zurück,
wo sich das Gelage mit Wein und Zigarren in alle Ecken verteilte.
Ein stiller Herr, der wenig geredet hatte und dessen Namen ich nicht
wußte, kam zu mir und sagte mir freundliche Worte über die Sonate,
die ich ganz vergessen hatte. Dann zog mich die Schauspielerin ins
Gespräch, und zu uns setzte sich Muoth. Wir tranken abermals auf gute
Freundschaft, und plötzlich sagte er, funkelnd mit seinen düster
lachenden Augen: »Ich weiß jetzt Ihre Geschichte.« Und zu der Schönen:
»Er hat sich beim Rodeln die Knochen gebrochen, einem hübschen Mädel
zulieb.« Und wieder zu mir: »Das ist schön. Im Augenblick, wo die Liebe
am schönsten ist und noch keinen Fleck hat, kopfüber den Berg hinunter.
Das ist schon ein gesundes Bein wert.« Lachend leerte er sein Glas und
sah alsofort wieder dunkel und grübelnd aus, als er sagte: »Wie sind
Sie zum Komponieren gekommen?«
Ich erzählte, von den Knabenzeiten her, wie es mir mit der Musik
gegangen war, und erzählte vom vergangenen Sommer, von meiner Flucht in
die Berge und von dem Lied und der Sonate.
»Ja,« sagte er langsam. »Aber warum macht Ihnen das nun Freude? Man
kann einen Schmerz doch nicht aufs Papier schreiben und damit los sein.«
»Das will ich auch nicht,« meinte ich. »Ich möchte gar nichts hergeben
und los sein als die Schwäche und Unfreiheit. Ich möchte empfinden,
daß der Schmerz und die Freude aus der gleichen Quelle kommen und
Bewegungen derselben Kraft und Takte derselben Musik sind, jedes schön
und notwendig.«
»Mann,« rief er heftig, »Sie haben doch ein Bein verloren! Können Sie
denn das über der Musik vergessen?«
»Nein, warum? Anders machen kann ich es doch nimmer.«
»Und macht Sie das nicht verzweifelt?«
»Es freut mich nicht, das können Sie glauben, aber ich hoffe, zum
Verzweifeln bringt es mich nimmer.«
»Dann sind Sie glücklich. Ich gäbe zwar kein Bein her um so ein Glück.
Also so ist das mit Ihrer Musik? Sieh, Marion, das ist der Zauber der
Kunst, von dem so viel in Büchern steht.«
Zornig rief ich ihn an: »Reden Sie doch nicht so! Sie selber singen
doch auch nicht bloß um Ihre Gage, sondern haben eine Freude und einen
Trost daran! Warum verspotten Sie mich und sich selber? Ich finde das
roh.«
»Still, still!« machte Marion, »sonst wird er bös.«
Muoth sah mich an. »Ich werde nicht böse. Er hat ja ganz recht. Aber
das mit dem Bein kann nicht so schlimm sein, sonst würde Sie das
Musikmachen nicht drüber trösten. Sie sind ein zufriedener Mensch,
denen kann passieren was will und sie bleiben doch zufrieden. Aber ich
habe nicht daran geglaubt.«
Und er sprang auf, ganz zornig. »Und es ist auch nicht wahr! Sie
haben ja das Lawinenlied komponiert, das ist kein Trost und keine
Zufriedenheit, sondern Verzweiflung. Hören Sie!«
Er war plötzlich am Flügel, es wurde stiller im Zimmer. Er fing zu
spielen an, verwirrte sich, ließ dann die Einleitung weg und sang das
Lied. Er sang es jetzt anders als damals bei mir und ich konnte sehen,
daß er es seither manchmal vorgehabt habe. Auch sang er diesmal mit
voller Stimme, mit seinem hohen Bariton, den ich von der Bühne kannte
und dessen Kraft und strömende Leidenschaft die ungeklärte Härte seines
Gesangs vergessen machte.
»Das hat dieser Mann, wie er sagt, rein zum Vergnügen geschrieben,
er weiß nichts von Verzweiflung und ist mit seinem Los unendlich
zufrieden!« rief er und zeigte auf mich, und ich hatte Tränen der Scham
und des Zorns in den Augen, sah alles in Schleiern wanken und stand
auf, um ein Ende zu machen und fortzugehen.
Da hielt mich eine feine, doch kräftige Hand, und drückte mich in den
Sessel zurück, und strich mir leise und zärtlich über das Haar, daß
mich feine heiße Wellen bespülten, daß ich die Augen schloß und die
Tränen verbiß. Aufschauend sah ich alsdann Heinrich Muoth vor mir
stehen, die andern schienen meine Bewegung und die ganze Szene nicht
beachtet zu haben, sie tranken Wein und lachten durcheinander.
»Sie Kind!« sagte Muoth leise. »Wenn man solche Lieder geschrieben
hat, ist man doch über so etwas hinaus. Aber es tut mir leid. Da hat
man einen Menschen gern, und kaum ist man mit ihm zusammen, so fängt
man Händel mit ihm an.«
»Es ist gut,« sagte ich befangen. »Aber ich möchte jetzt heimgehen, das
Schönste von heute haben wir doch gehabt.«
»Gut, ich will Sie nicht nötigen. Wir andern betrinken uns jetzt noch,
denke ich. Dann seien Sie so gut und nehmen Sie die Marion mit heim,
gelt? Sie wohnt am innern Graben, das ist für Sie kein Umweg.«
Die schöne Frau sah ihn einen Augenblick prüfend an. »Ja, wollen Sie?«
sagte sie dann zu mir, und ich stand auf. Wir nahmen nur von Muoth
Abschied, im Vorzimmer half uns ein Lohndiener in die Mäntel, dann
erschien verschlafen auch die kleine Alte und leuchtete mit einer
großen Laterne durch den Garten zur Pforte. Der Wind ging immer noch
weich und laulich, trieb lange schwarze Wolkenzüge dahin und wühlte in
kahlen Baumkronen.
Ich wagte nicht, der Marion den Arm zu geben, sie aber hängte ungefragt
bei mir ein, sog die Nachtluft mit zurückgeworfenem Kopfe ein und sah
dann aus solcher Höhe fragend und vertraulich auf mich herab. Mir war,
ich fühle immer noch ihre leichte Hand auf meinen Haaren, sie ging
langsam und schien mich führen zu wollen.
»Dort stehen Droschken,« sagte ich, denn es war mir peinlich, daß sie
sich meinem lahmen Schritt anbequemen sollte, und ich litt darunter,
neben der warmen, kraftvoll schlanken Frau einher zu hinken.
»Nein,« meinte sie, »wir wollen noch eine Straße weit gehen.« Und
sie gab sich Mühe, recht langsam zu gehen, und wenn es nur auf mein
Verlangen angekommen wäre, ich hätte sie noch enger an mich gezogen.
So aber zerriß mich Qual und Zorn, ich machte ihren Arm aus meinem
los, und als sie mich erstaunt ansah, sagte ich: »Es geht nicht gut
so, ich muß allein gehen, verzeihen Sie.« Und sie ging sorgsam und
mitleidig neben mir, und mir fehlte nichts als ein aufrechter Gang und
das Bewußtsein der körperlichen Sicherheit, so hätte ich von allem,
was ich tat und sagte, das Gegenteil gesagt und getan. Ich wurde still
und schroff, es war nicht anders zu machen, sonst hätte ich wieder
Tränen in die Augen bekommen und mich danach gesehnt, ihre Hand auf
meinem Kopf zu fühlen. Am liebsten wäre ich in die nächste Seitengasse
entflohen. Ich wollte nicht, daß sie langsam ging, daß sie mich
schonte, daß sie Mitleid mit mir hatte.
»Sind Sie ihm böse?« fing sie schließlich an.
»Nein. Es war dumm von mir. Ich kannte ihn ja noch kaum.«
»Er tut mir leid, wenn er so ist. Er hat Tage, wo man ihn fürchten muß.«
»Sie auch?«
»Ich am meisten. Dabei tut er niemand weher als sich selber. Er haßt
sich manchmal.«
»Ach, er macht sich interessant!«
»Was sagen Sie?« rief sie erschrocken.
»Daß er ein Komödiant ist. Was braucht er sich und andere zu
verhöhnen? Was braucht er die Erlebnisse und Geheimnisse eines Fremden
hervorzuziehen und lächerlich zu machen, das Lästermaul!«
Mein Zorn von vorher kehrte mir im Reden wieder, ich war gewillt den
Mann zu beschimpfen und herabzuziehen, der mir weh getan hatte und den
ich leider beneidete. Auch war meine Achtung vor der Dame gesunken,
da sie ihn in Schutz nahm und sich offen vor mir zu ihm bekannte.
War es nicht schon schlimm, daß sie es auf sich genommen hatte, bei
diesem weinfrohen Junggesellenabend die einzige Frau zu sein? In diesen
Dingen war ich wenig Freiheit gewöhnt, und da ich mich schämte, nach
dieser schönen Frau trotzdem Sehnsucht zu haben, fing ich in meiner
Hitze lieber Streit an als daß ich länger ihr Mitleid spürte. Mochte
sie mich roh finden und mir davonlaufen, es war mir besser als daß sie
bei mir blieb und freundlich war.
Sie legte mir aber die Hand auf den Arm. »Halt,« rief sie warm, daß
ihre Stimme mir trotz allem ins Herz ging, »reden Sie nicht weiter! Was
tun Sie denn? Sie sind durch zwei Worte von Muoth verletzt, weil Sie
nicht geschickt oder mutig genug waren sie zu parieren, und jetzt, wo
Sie fort sind, fallen Sie vor mir mit häßlichen Worten über ihn her!
Ich sollte gehen und Sie allein lassen.«
»Bitte. Ich habe nur gesagt, was ich meine.«
»Lügen Sie doch nicht! Sie sind seiner Einladung gefolgt, Sie haben
bei ihm musiziert, Sie haben gesehen wie er Ihre Musik liebt, und
haben sich darüber gefreut und daran aufgerichtet, und jetzt, wo Sie
ärgerlich sind und ein Wort von ihm nicht ertragen können, fangen Sie
zu schimpfen an. Das dürfen Sie nicht, und ich will es dem Wein zu gut
halten.«
Mir schien, sie merkte plötzlich wie es mit mir stand und daß nicht der
Wein mich plagte; sie änderte ihren Ton, ohne daß ich den mindesten
Versuch einer Rechtfertigung gemacht hatte. Ich war wehrlos.
»Sie kennen Muoth noch nicht,« fuhr sie fort. »Haben Sie ihn denn nicht
singen hören? So ist er, gewalttätig und grausam, aber am meisten gegen
sich selber. Er ist ein armer, stürmender Mensch, der lauter Kräfte
und keine Ziele hat. In jedem Augenblick möchte er die ganze Welt
austrinken und was er hat und was er tut, ist immer nur ein Tropfen. Er
trinkt und ist nie betrunken, er hat Frauen und ist nie glücklich, er
singt so herrlich und will doch kein Künstler sein. Er hat jemand lieb
und tut ihm weh, er stellt sich als verachte er alle Zufriedenen, aber
es ist Haß gegen ihn selber, weil er nicht zufrieden sein kann. So ist
er. Und Ihnen hat er Freundlichkeit gezeigt, so gut er es eben kann.«
Ich schwieg hartnäckig.
»Sie brauchen ihn vielleicht nicht,« fing sie nochmals an, »Sie haben
andere Freunde. Aber wenn wir jemand sehen, der leidet und im Leiden
ungebärdig ist, so sollen wir ihn schonen und ihm etwas zu gut halten.«
Ja, dachte ich, das sollte man, und allmählich, wie das Gehen in der
Nacht mich kühlte, lag zwar die eigene Wunde noch offen und rief nach
Hilfe, aber mehr und mehr mußte ich den Worten der Marion und meinen
Dummheiten von heut abend nachdenken, mich als einen traurigen Hund
erkennen und in der Stille Abbitte tun. Es ergriff mich, da der Weinmut
verflogen war, eine unangenehme Rührung, mit der ich abwehrend kämpfte,
ohne mehr viel zu der schönen Frau zu sagen, die nun selber erregt und
ungewissen Herzens neben mir durch die halbdunkeln Straßen lief, wo da
und dort in der toten, schwarzen Fläche plötzlich ein Laternenspiegel
aus dem nassen Boden aufblickte. Ich dachte daran, daß ich meine Geige
bei Muoth hatte liegen lassen; und zwischenein erwachte ich wieder
zum Erstaunen und Schrecken über alles. Da war diesen Abend so vieles
anders geworden. Dieser Heinrich Muoth, und der Violinist Kranzl, und
wieder die herrliche Marion, die Königinnen spielte, die waren alle
von ihren Sockeln herabgestiegen. An ihrem olympischen Tische saßen
nicht Götter und Selige, sondern arme Menschen, der eine klein und
komisch, der andere bedrückt und eitel, Muoth elend und fieberhaft in
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