Gertrud - 02

Total number of words is 4537
Total number of unique words is 1560
42.3 of words are in the 2000 most common words
56.6 of words are in the 5000 most common words
61.7 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Da fiel mir diese ganze Zeit der Entfremdung und Enttäuschung wieder
ein. Ich versuchte der Mutter zu erzählen, wie es mir gegangen war, und
sie schien es zu begreifen. Nun aber, meinte ich, sei ich meiner Sache
wieder sicherer geworden und jedenfalls wolle ich nicht so davonlaufen,
sondern erst zu Ende studieren. Dabei blieb es einstweilen. Im Grunde
meiner Seele, wohin die Frau nicht blicken konnte, war lauter Musik. Ob
es nun mit dem Geigen glückte oder nicht, ich hörte wieder die Welt wie
ein gutes Kunstwerk klingen und wußte, es sei außerhalb der Musik kein
Heil für mich. Erlaubte mein Zustand das Geigen nimmer, so mußte ich
darauf verzichten, vielleicht mußte ich einen andern Beruf suchen und
etwa Kaufmann werden; aber das alles war nicht allzu wichtig, ich würde
als Kaufmann oder was sonst nicht weniger Musik empfinden und in Musik
leben und atmen. Ich würde wieder komponieren! Es war nicht, wie ich
meiner Mutter gesagt hatte, das Geigen, worauf ich mich freute, sondern
es war das Musikmachen, das Schaffen, nach dem mir die Hände zitterten.
Schon fühlte ich zu manchen Zeiten wieder die lauteren Schwingungen
klarer Lüfte, die gespannte Kühle der Gedanken, wie früher in meinen
besten Stunden, und fühlte auch, daß daneben ein lahmes Bein und andre
Übel von geringer Bedeutung seien.
Von da an war ich Sieger, und so oft auch seither meine Wünsche ins
Land der Gesundheit und Jugendlust hinüberliefen, und so oft ich mit
Bitterkeit und zorniger Scham mein Krüppeltum haßte und verfluchte, es
ging mir dieses Leid doch nimmer so leicht über die Kraft; es war etwas
da, zu trösten und zu verklären.
Ab und zu kam mein Vater hergereist, die Mutter und mich zu besuchen,
und eines Tages, da es mir längst erträglich ging, nahm er sie wieder
mit sich nach Hause. Die ersten Tage fühlte ich mich etwas vereinsamt,
schämte mich auch, daß ich mit der Mutter zu wenig herzlich gesprochen
hatte und zu wenig auf ihre Gedanken und Sorgen eingegangen war. Doch
füllte mich jenes andere Gefühl zu sehr aus, als daß diese Gedanken
über wohlgemeinte Spielereien und Rührungen hinaus geraten wären.
Nun kam unerwartet jemand mich zu besuchen, der sich während der
Anwesenheit meiner Mutter nicht herbeigewagt hatte. Das war Liddy. Ich
war sehr erstaunt sie zu sehen. Es fiel mir im ersten Augenblick gar
nicht ein, wie nah ich ihr vor kurzem gestanden und wie sehr ich in sie
verliebt gewesen war. Sie kam in großer Verlegenheit, die sie schlecht
verbarg, hatte sich vor meiner Mutter und sogar vor dem Gericht
gefürchtet, da sie sich an meinem Unglück schuldig wußte, und begriff
nur langsam, daß die Sache nicht so schlimm war und sie im Grunde gar
nichts angehe. Nun atmete sie auf, doch war eine leise Enttäuschung
nicht zu verkennen. Das Mädchen hatte, bei allem bösen Gewissen, doch
im Grund ihres guten Weiberherzens sich an der ganzen Geschichte, an so
viel ergreifendem und rührendem Unglück, innigst erlabt. Sie brauchte
sogar mehrmals das Wort »tragisch«, worüber ich kaum das Lachen
verhalten konnte. Überhaupt war sie nicht darauf gefaßt gewesen, mich
so munter und so wenig in Respekt vor meinem Unglück zu finden. Sie
hatte im Sinn gehabt, mich um Verzeihung zu bitten, deren Gewährung
mir als Verliebtem eine gewaltige Genugtuung schaffen müsse, und sich
auf Grund dieser rührenden Szene meines Herzens von neuem siegreich zu
bemächtigen.
Nun war es dem törichten Kinde zwar keine kleine Erleichterung, mich
so vergnügt und sich selbst aller Schuld und Anklage ledig zu finden.
Sie wurde aber dieser Erleichterung nicht froh, sondern je mehr ihr
Gewissen sich beruhigte und ihre mitgebrachte Angst verflog, desto
stiller und kühler sah ich sie werden. Es beleidigte sie nachträglich
doch nicht wenig, daß ich ihren Anteil an der Sache so gering anschlug,
ja vergessen zu haben schien, daß ich die Rührung und Abbitte im Keim
unterdrückt und sie um die ganze schöne Szene gebracht hatte. Daß ich
vollends gar nicht mehr in sie verliebt war, merkte sie trotz meiner
großen Höflichkeit sehr wohl, und das war das Schlimmste. Mochte ich
Arme und Beine verloren haben, ich war doch immer ein Anbeter gewesen,
den sie zwar nicht geliebt und nie beglückt, an dessen Schmachten sie
aber, je elender er war, desto größere Genugtuung gefunden hätte.
Nun war es damit nichts, wie sie sehr deutlich merkte, und ich sah
auf ihrem hübschen Gesicht die Wärme und Teilnahme der mitleidigen
Krankenbesucherin mehr und mehr erlöschen und erkühlen. Schließlich
ging sie nach einem phrasenhaften Abschied und kam nie wieder, obwohl
sie es heilig versprochen hatte.
So peinlich es mir war und so sehr es mir wider das Selbstgefühl ging,
meine frühere Verliebtheit so ins Kleine und Lächerliche gefallen zu
sehen, so tat der Besuch mir doch wohl. Ich war sehr verwundert, das
schöne begehrte Fräulein zum erstenmal ohne Leidenschaft und Brille
zu sehen und wahrzunehmen, daß ich sie gar nicht gekannt habe. Hätte
man mir die Puppe gezeigt, die ich als Dreijähriger umarmt und geliebt
hatte, so hätte mich die Entfremdung und Änderung des Gefühls nicht
mehr verwundern können als hier, wo ich ein vor Wochen noch heiß
begehrtes Mädchen als eine völlig Fremde vor mir sah.
Von den Kameraden, die auf jenem Sonntagsausflug im Winter dabei
gewesen waren, besuchten zwei mich einigemal, doch fanden wir wenig
miteinander zu reden und ich bemerkte ihr Aufatmen wohl, als es mir
besser ging und ich sie bat, mir keine Opfer mehr zu bringen. Später
trafen wir einander nicht mehr. Es war merkwürdig und machte mir einen
wehmütig sonderbaren Eindruck: alles fiel von mir ab, ward fremd und
ging mir verloren, was in diesen Jünglingsjahren zu meinem Leben gehört
hatte. Ich sah plötzlich, wie falsch und traurig ich diese ganze Zeit
gelebt hatte, da nun Liebe, Freunde, Gewohnheiten und Freuden dieser
Jahre von mir abfielen wie schlechte Kleider, sich ohne Schmerz von mir
trennten, so daß es nur zu verwundern blieb, wie ich es bei ihnen so
lang habe aushalten können oder sie bei mir.
Dagegen überraschte mich ein andrer Besuch, an den ich nie gedacht
hätte. Es kam eines Tages mein Klavierlehrer, der strenge und
spöttische Herr. Er behielt den Stock in der Hand und die Handschuhe
an den Händen, sprach in seinem gewohnten herben, fast bissigen Ton,
nannte jene böse Schlittenfahrt eine »Weiberkutschiererei« und schien
mir, dem Ton seiner Worte nach, das erlebte Pech durchaus zu gönnen.
Trotzdem war es merkwürdig, daß er sich eingefunden hatte, und es
zeigte sich denn auch, obwohl er den Ton nicht änderte, daß er nicht
in böser Absicht gekommen war, sondern um mir zu sagen, er halte mich
trotz meiner Schwerfälligkeit für einen leidlichen Schüler, sein
Kollege, der Violinlehrer, sei derselben Meinung, und sie hofften also,
ich komme bald gesund wieder und mache ihnen Freude. Obwohl diese
Rede, die fast wie eine Abbitte für frühere rüde Behandlung aussah,
durchaus im selben bitter scharfen Tone wie alles Frühere vorgetragen
ward, klang sie mir doch wie eine Liebeserklärung. Ich streckte dem
unbeliebten Lehrer dankbar die Hand hin, und um ihm Vertrauen zu
zeigen, versuchte ich ihm klarzumachen, wie es mir diese Jahre her
gegangen sei und wie jetzt mein altes Herzensverhältnis zur Musik
wieder aufzuleben beginne.
Der Professor schüttelte den Kopf und pfiff vor Hohn, als er fragte:
»Aha, Sie wollen Komponist werden?«
»Womöglich«, sagte ich bedrückt.
»Ja, da wünsche ich Glück. Ich hatte gedacht, Sie würden jetzt
vielleicht mit neuem Eifer ans Üben gehen, aber als Komponist haben Sie
das freilich nicht nötig.«
»O, so ist es nicht gemeint.«
»Ja wie denn? Wissen Sie, wenn ein Musikschüler faul ist und nicht
recht arbeiten mag, dann legt er sich immer aufs Komponieren. Das kann
jeder, und ein Genie ist ja bekanntlich auch jeder.«
»So meine ich's wirklich nicht. Soll ich denn Klavierspieler werden?«
»Nein, lieber Herr, dazu würde es Ihnen doch nicht reichen. Aber
anständig geigen lernen könnten Sie schon noch.«
»Nun, das will ich auch.«
»Hoffentlich ist's Ihnen Ernst. Möchte mich nicht länger aufhalten.
Gute Besserung, Herr, und auf Wiedersehen!«
Damit ging er davon und ließ mich erstaunt zurück. Ich hatte an die
Rückkehr zu den Studien noch wenig gedacht. Nun fürchtete ich doch,
es möchte wieder schwer und mißlich gehen und am Ende alles wieder
werden wie es vorher gewesen war. Doch hielten solche Gedanken nicht
lange Stand, und es zeigte sich auch, daß der Besuch des mürrischen
Professors wirklich gut gemeint und ein Zeichen redlichen Wohlwollens
war.
Nach meiner Genesung sollte ich eine Erholungsreise machen, doch zog
ich vor, damit bis zu den großen Ferien zu warten und lieber jetzt
gleich wieder ins Zeug zu gehen. Da empfand ich zum erstenmal, wie
erstaunlich eine Ruhezeit, namentlich eine unfreiwillige, wirken
kann. Ich begann meine Stunden und Übungen mit Mißtrauen, aber alles
ging besser als zuvor. Allerdings sah ich jetzt auch deutlich, daß
nie ein Virtuose aus mir werden würde; doch tat diese Erkenntnis mir
bei meinem jetzigen Zustande nicht weh. Im übrigen ging es gut, und
namentlich hatte sich in der langen Pause das unheimliche Gestrüpp der
Musiktheorie, der Harmonie- und Kompositionslehre in einen durchaus
zugänglichen, heiteren Garten verwandelt. Ich fühlte, daß die Einfälle
und Versuche meiner guten Stunden nicht mehr außerhalb aller Regeln
und Gesetze lagen, daß innerhalb des strengen Schülergehorsams ein
schmaler, doch deutlich erkennbarer Weg zur Freiheit führe. Wohl gab
es noch Stunden und Tage und Nächte, da alles wie ein Stachelzaun vor
mir lag und ich mit wundem Gehirn mich an Widersprüchen und Lücken
abquälte; aber die Verzweiflung kam nicht wieder, und der schmale Pfad
wurde deutlicher und gangbarer vor meinen Augen.
Am Schlusse des Semesters sagte mir zu meiner Überraschung unser
Theorielehrer bei der Verabschiedung vor den Ferien: »Sie sind der
einzige Schüler dies Jahr, der wirklich etwas von Musik zu verstehen
scheint. Wenn Sie einmal etwas komponiert haben, würde ich's gerne
ansehen.«
Mit diesem tröstlichen Wort im Ohr reiste ich in die Ferien ab. Ich
war längere Zeit nicht mehr zu Hause gewesen, nun trat während der
Bahnfahrt die Heimat wieder vor mein Herz, verlangte meine Liebe und
rief die Flut halbverlorener Erinnerungen an Kinderzeiten und erste
Jünglingsjahre herauf. Am Bahnhof der Heimatstadt empfing mich der
Vater und wir fuhren in einer Droschke nach Hause. Doch trieb es mich
gleich am andern Morgen hinaus, einen Gang durch die alten Straßen
zu tun. Da umfing mich zum erstenmal die Trauer um meine verlorene
aufrechte Jugend. Es war mir eine Qual, mit meinem gekrümmten und
steifen Bein am Stock durch diese Gassen zu hinken, wo jede Ecke an
Knabenspiele und untergegangene Freuden erinnerte. Ich kam schwermütig
nach Hause zurück, und wen ich sah und wessen Stimme ich hörte und
woran ich dachte, alles mahnte mich bitter an früher und an mein
Krüppeltum. Dabei litt ich darunter, daß meine Mutter offenbar mit
meiner Berufswahl weniger als je einverstanden war, obgleich sie das
nicht deutlich sagte. Einen Musiker, der schlankbeinig als Virtuos oder
schneidiger Dirigent sich zeigen konnte, hätte sie etwa noch gelten
lassen; wie aber ein Halblahmer mit mäßigen Zeugnissen und scheuem
Wesen als Geiger sich weiterbringen wolle, war ihr unverständlich.
In diesen Gedanken wurde sie von einer alten Freundin und entfernten
Verwandten unterstützt, der mein Vater einmal das Haus verboten hatte,
was sie ihm mit bitterem Haß vergalt, ohne freilich wegzubleiben,
denn sie kam während der Kontorstunden des Vaters häufig zu meiner
Mutter. Sie mochte mich, mit dem sie seit meinen Knabenjahren kaum
ein Wort gewechselt hatte, nicht leiden und sah in meiner Berufswahl
ein bedauerliches Zeichen von Entartung, in meinem Unglück aber eine
offensichtliche Strafe und Mahnung der Vorsehung.
Um mir eine Freude zu machen, hatte mein Vater es vorbereitet, daß
ich zum Solospielen in einem Konzert des städtischen Musikvereins
aufgefordert wurde. Aber ich konnte nicht, ich lehnte ab und zog
mich tagelang in meine kleine Stube zurück, in der ich schon als
Knabe gewohnt hatte. Besonders quälte mich das ewige Gefragtwerden
und Redestehenmüssen, so daß ich gar nimmer ausging. Dabei ertappte
ich mich dabei, daß ich aus dem Fenster dem Leben der Straße, den
Schulkindern und vor allem den jungen Mädchen mit unglücklichem Neide
nachsah.
Wie durfte ich denn hoffen, dachte ich, je wieder einem Mädchen Liebe
zeigen zu können! Ich würde immer nebendraußen stehen, wie beim Tanzen,
und zusehen müssen und den Mädchen nicht für voll gelten, und wenn
je eine freundlich mit mir wäre, so würde es Mitleid sein! Ach, das
Bemitleidetwerden hatte ich schon satt bis zum Ekel.
Unter diesen Umständen konnte meines Bleibens daheim nicht sein. Auch
die Eltern litten unter meiner reizbaren Schwermut nicht wenig und
redeten kaum dagegen, als ich mir die Erlaubnis erbat, gleich jetzt die
längst geplante Reise anzutreten, die der Vater mir versprochen hatte.
Es hat auch später noch mein Gebrechen mir zu schaffen gemacht und mir
Wünsche und Hoffnungen zerstört, an denen mein Herz hing; aber so heiß
und quälend habe ich meine Schwäche und Verunstaltung wohl nie mehr
empfunden wie damals, wo der Anblick jedes gesunden jungen Mannes und
jeder hübschen Frauengestalt mich demütigte und mir wehtat. Wie ich
mich langsam an den Stock und das Hinken gewöhnt hatte, bis es mich
kaum mehr störte, so mußte ich mich mit den Jahren daran gewöhnen,
meines Schadens ohne Bitterkeit bewußt zu bleiben und ihn mit Ergebung
oder Humor zu tragen.
Zum Glück konnte ich allein reisen und bedurfte keiner besonderen
Wartung mehr; jede Begleitung wäre mir zuwider gewesen und hätte meine
innere Heilung gestört. Mir ward schon leichter, als ich im Zuge saß
und niemand mehr mich auffällig und mitleidig betrachtete. Ich fuhr
ohne Pausen Tag und Nacht, in einem wahren Fluchtgefühl, und atmete
tief auf, als ich am zweiten Abend durch trübe Fenster spitze hohe
Berge erblickte. Mit dem Dunkelwerden erreichte ich die letzte Station,
ging müde und froh durch dunkle Gassen eines Graubündner Städtchens dem
ersten Gasthause zu und schlief nach einem Becher tiefroten Weines mir
in zehn Stunden die Reisemüdigkeit und schon auch einen guten Teil der
mitgebrachten Bedrängnis vom Halse.
Am Morgen stieg ich in die kleine Bergbahn, die durch enge Täler an
weißen schäumenden Bächen hin bergeinwärts führte, und dann an einem
kleinen einsamen Bahnhöflein in einen Wagen, und um Mittag war ich
droben in einem der höchstgelegenen Dörfer des Landes.
Im einzigen kleinen Gasthaus des stillen armen Dorfes wohnte ich nun,
zeitweise als einziger Gast, bis in den Herbst hinein. Ich hatte im
Sinn gehabt, hier eine kleine Weile auszuruhen und dann weiter durch
die Schweiz zu reisen, ein Stück Welt und Fremde zu sehen. Es ging aber
in jener Höhe ein Wind und wehte eine Luft voll herber Klarheit und
Größe, die ich nimmer verlassen mochte. Die eine Seite des Hochtales
war mit Tannenwald bewachsen, fast bis zur Höhe, die andere Lehne
war felsig kahl. Hier brachte ich meine Tage zu, im sonnenbraunen
Gestein oder an einem der kraftvollen wilden Bäche, deren Lied bei
Nacht durchs ganze Dorf tönte. In den ersten Tagen genoß ich die
Einsamkeit wie einen kühlen Heiltrank, niemand sah mir nach, niemand
zeigte mir Neugierde oder Mitleid, ich war frei und allein wie ein
Vogel in der Höhe und vergaß bald meinen Schmerz und mein kränkliches
Neidgefühl. Zuweilen tat es mir leid, daß ich nicht weit in die Berge
gehen, unbekannte Täler und Alpen besuchen, gefährliche Wege steigen
konnte. Doch war mir im Grunde herrlich wohl, nach den Erlebnissen und
Erregungen der vergangenen Monate umfing mich die Stille der Einsamkeit
wie eine sichere Burg, ich fand die gestörte Seelenruhe wieder und
lernte mich in meine körperliche Schwäche wenn nicht mit Heiterkeit, so
doch mit Resignation finden.
Die Wochen dort oben sind beinahe die schönsten in meinem Leben
gewesen. Ich atmete die reine helle Luft, trank das eisige Wasser
der Bäche, sah an den steilen Hängen die Ziegenherden grasen, von
schwarzhaarigen, träumerisch stillen Hirten bewacht, hörte zuweilen
Stürme durchs Tal gehen, sah Nebeln und Gewölk aus ungewohnter Nähe
ins Gesicht. In Steinspalten beobachtete ich die kleine, zarte,
farbenkräftige Blumenwelt und die vielen herrlichen Moose, und
an klaren Tagen stieg ich gern eine Stunde bergan, bis ich über
die jenseitige Höhe hinweg die fernen rein gezeichneten Spitzen
hoher Berge mit blauen Schatten und selig leuchtenden, silbernen
Schneefeldern sehen konnte. An einer Stelle des Fußpfades, wo von einer
armen kleinen Quelle her ihn ein dünnes Wassergerinsel feucht erhielt,
fand ich an jedem hellen Tag einen Schwarm von Hunderten kleiner blauer
Schmetterlinge trinkend sitzen, die kaum vor meinen Schritten auswichen
und mich, wenn ich sie aufstörte, mit einem winzigen, seidenzarten
Flügelgesumme umtaumelten. Seit ich sie kannte, ging ich diesen Weg
nur an sonnigen Tagen, und jedesmal war die dichte blaue Schar da, und
jedesmal war es ein Feiertag.
Besinne ich mich genauer, so war allerdings jene Zeit nicht ganz
so vollkommen blau und sonnig und feiertäglich, wie sie mir im
Gedächtnis steht. Es gab nicht nur Nebeltage und Regentage, sogar
Schnee und Kälte, es gab auch in mir Unwetter und böse Tage. Ich war
das Alleinsein nicht gewohnt, und als das erste Ausruhen und Schwelgen
vorüber war, sah mich zuweilen das Leid, dem ich entronnen, plötzlich
wieder aus schrecklicher Nähe an. Manchen kalten Abend saß ich in
meiner winzigen Stube, die Reisedecke auf den Knien, müde und wehrlos
törichten Gedanken hingegeben. Alles was das junge Blut begehrt und
hofft, Feste und tanzende Fröhlichkeit, Frauenliebe und Abenteuer,
Triumph der Kraft und der Liebe, das lag drüben am andern Ufer, für
immer von mir abgetrennt und für immer unerreichbar. Sogar jene trotzig
ausgelassene Zeit einer halb erzwungenen Lustigkeit, deren Ende mein
Sturz im Schlitten gewesen war, erschien in meiner Erinnerung dann
schön und paradiesisch gefärbt als ein verlorenes Land der Freude,
deren Nachhall mir nur noch von ferne her mit verklingendem bacchischem
Taumel herüberklang. Und wenn zuweilen nachts die Stürme gingen, wenn
das kalte stetige Geräusch der stürzenden Gewässer vom leidenschaftlich
wehklagenden Rauschen des zerwühlten Tannenwaldes übertönt wurde
oder im Dachgebälk des gebrechlichen Hauses die tausend unerklärten
Geräusche der schlaflosen Sommernacht laut wurden, dann lag ich in
hoffnungslosen heißen Träumen von Leben und Liebessturm, wütend und
Gott lästernd, und kam mir als ein ärmlicher Dichter und Träumer vor,
dessen schönster Traum doch nur ein dünnes Seifenblasenschillern ist,
während tausend andere rings in der Welt, ihrer Jugendkräfte froh,
jubelnde Hände nach allen Kronen des Lebens ausstreckten.
Wie ich jedoch die heilige Schönheit der Berge und alles, was meine
Sinne täglich genossen, nur durch einen Schleier zu mir herblicken
und nur aus einer seltsamen Ferne zu mir reden fühlte, so trat auch
zwischen mich und jenes oft so wild ausbrechende Leid ein Schleier
und eine leise Fremdheit, und bald war es so weit, daß ich beides,
den Glanz der Tage und den Jammer der Nächte, wie Stimmen von außen
vernahm, denen ich mit unverletztem Herzen zuhören konnte. Ich sah
und fühlte mich selbst als einen Himmel mit ziehendem Gewölk, als
ein Feld voll kämpfender Scharen, und ob es Lust und Genuß oder Leid
und Schwermut war, es tönte beides klarer und verständlicher, löste
sich aus meiner Seele und trat mich von außen an, in Harmonien und
Tonreihen, die ich wie im Schlafe vernahm und die ohne mein Wollen von
mir Besitz ergriffen.
Es war in einer Abendstille bei der Heimkehr aus den Felsen, als ich
das alles zum erstenmal deutlich empfand, und als ich daran grübelte
und mir selber ein Rätsel war, fiel es mir unversehens ein, was das
alles bedeute, und daß es die Wiederkehr jener fremden, entrückten
Stunden sei, die ich in frühern Jahren ahnungsweise vorgekostet hatte.
Und mit dieser Erinnerung kam jene herrliche Klarheit wieder, die fast
gläserne Helligkeit und Durchsichtigkeit der Gefühle, deren jedes ohne
Maske dastand und deren keines mehr Schmerz oder Glück hieß, sondern
nur Kraft und Klang und Strom bedeutete. Aus dem Treiben, Schillern und
Kämpfen meiner gesteigerten Empfindungen war Musik geworden.
Nun sah ich an meinen hellen Tagen die Sonne und den Wald, die braunen
Felsen und die fernen silbernen Berge mit doppeltem Gefühl von Glück
und Schönheit und Empfängnis, und ich fühlte in den dunklen Stunden
mein krankes Herz mit doppelter Glut sich dehnen und empören, und ich
unterschied nicht mehr Genuß und Weh, sondern eines war dem andern
gleich, und beides tat weh, und beides war köstlich. Und während es mir
innen wohl oder weh erging, stand meine Kraft doch in Ruhe darüber,
schaute zu und erkannte das Helle und Dunkle als geschwisterlich
zusammengehörend, das Leid und den Frieden als Takte und Kräfte und
Teile derselben großen Musik.
Ich konnte diese Musik nicht aufschreiben, sie war mir selber noch
fremd und ihre Grenzen mir unbekannt. Aber ich konnte sie hören, ich
konnte die Welt in mir als Vollkommenheit empfinden. Und etwas konnte
ich auch festhalten, einen kleinen Teil und Widerklang, verkleinert und
übersetzt. Daran dachte ich und sog ich nun tagelang und fand, daß es
mit zwei Geigen auszudrücken war, und fing, wie ein junger Vogel das
Fliegen wagt, in aller Unschuld an meine erste Sonate aufzuschreiben.
Als ich den ersten Satz eines Morgens in meiner Kammer auf der
Geige spielte, fühlte ich wohl die Schwäche und Unfertigkeit und
Unsicherheit, aber es lief mir doch jeder Takt wie ein Schauer übers
Herz. Ich wußte nicht, ob diese Musik gut war; ich wußte aber, daß es
meine eigene Musik war, in mir erlebt und geboren und nirgends vorher
gehört.
Unten in der Gaststube saß, unbeweglich und weiß wie ein Eiszapfen,
jahraus, jahrein der Vater des Wirts, ein Mann von mehr als achtzig
Jahren, der nie ein Wort sprach und nur aus ruhigen Augen sorgsam um
sich blickte. Es war ein Geheimnis, ob der feierlich Schweigende im
Besitz übermenschlicher Weisheit und Seelenstille sei oder ob die
Geisteskräfte ihn verlassen hatten. Zu diesem Greise stieg ich an jenem
Morgen hinab, meine Geige unter dem Arm, denn ich hatte bemerkt, daß
er meinem Spiel und jeder Musik immer mit Aufmerksamkeit zuhörte. Da
ich ihn allein fand, stellte ich mich vor ihm auf, stimmte die Violine
und spielte ihm meinen ersten Satz vor. Der uralte Mann hielt seine
stillen Augen, deren Weißes gelblich und deren Lidränder rot waren,
auf mich gerichtet und hörte zu, und wenn ich an jene Musik denke, so
sehe ich auch den Alten wieder und sein regungslos steinernes Gesicht,
aus dem die ruhigen Augen mich betrachten. Als ich fertig war, nickte
ich ihm zu, er blinzelte listig und schien alles zu begreifen, seine
gelblichen Augen erwiderten meinen Blick, dann wandte er sie ab, ließ
den Kopf ein wenig sinken und erlosch wieder zu seiner alten Starre.
Früh begann der Herbst in jener Höhe und als ich eines Morgens
abreiste, lag dicker Nebel und fiel in staubzarten Tropfen sprühend
ein kalter Regen. Ich nahm aber die Sonne der guten Tage und außer der
dankbaren Erinnerung auch einen frohen Mut für meine nächsten Wege mit.


Während meines letzten Semesters am Konservatorium lernte ich den
Sänger Muoth kennen, der in der Stadt einen gewissen ehrenvollen Ruf
besaß. Er war vor vier Jahren mit seinen Studien fertig und sogleich
an der Hofoper angestellt worden, wo er zwar einstweilen noch mit
mittleren Rollen auftrat und neben beliebten älteren Kollegen nicht
recht zu Glanze kam, aber bei vielen für einen zukünftigen Stern galt,
den der nächste Schritt zum Ruhm führen müsse. Mir war er von der
Bühne her aus einigen Rollen bekannt und hatte mir immer einen starken
Eindruck gemacht, wennschon keinen reinen.
Unsere Bekanntschaft entstand so. Ich hatte nach meiner Rückkehr zur
Schule jenem Lehrer, der mir so freundliche Teilnahme gezeigt hatte,
meine Violinsonate und zwei von mir komponierte Lieder gebracht. Er
versprach, die Arbeiten durchzusehen und mir seine Meinung darüber zu
sagen. Nun dauerte es lange, bis er es tat, und ich konnte ihm eine
gewisse Verlegenheit anmerken, so oft ich ihm inzwischen begegnete.
Endlich rief er mich eines Tages zu sich und gab mir meine Noten zurück.
»Da sind Ihre Arbeiten wieder«, sagte er etwas befangen. »Hoffentlich
haben Sie sich nicht gar zu große Hoffnungen gemacht! Es ist etwas
daran, ohne Zweifel, und es kann etwas aus Ihnen werden. Aber offen
gesagt, ich hatte Sie schon für reifer und ruhiger gehalten, überhaupt
Ihrer Natur nicht so viel Leidenschaft zugetraut. Ich hatte etwas
Stilleres und Gefälligeres erwartet, was technisch sicherer wäre und
was sich technisch beurteilen ließe. Nun ist aber Ihre Arbeit technisch
mißglückt, so daß ich wenig dazu sagen kann, und ist dafür ein kecker
Versuch, den ich nicht bewerten kann, aber als Ihr Lehrer nicht loben
möchte. Sie haben weniger und mehr gegeben, als ich erwartet hatte, und
mich damit in Verlegenheit gebracht. Ich bin zu sehr Schulmeister, um
die Stilsünden übersehen zu können, und ob sie durch die Originalität
aufgewogen werden, mag ich erst recht nicht entscheiden. Ich will also
warten, bis ich wieder etwas von Ihnen sehe, und wünsche Glück dazu.
Weiterkomponieren werden Sie ja doch, soviel habe ich gemerkt.«
Damit war ich abgezogen und hatte nicht gewußt, was mit dem Bescheid
anfangen, der keiner war. Mir hatte es geschienen, man müsse einer
Arbeit ohne weiteres ansehen, ob sie aus Spielerei und zum Zeitvertreib
oder ob sie aus Bedürfnis und aus dem Herzen entstanden sei. Ich legte
die Noten weg und nahm mir vor, das alles einstweilen zu vergessen, um
in diesen letzten Lernmonaten recht fleißig zu sein.
Da war ich einmal von einer Familie eingeladen, wo viel Musik getrieben
wurde und wo ich, als bei Bekannten meiner Eltern, ein- oder zweimal
im Jahr meinen Besuch zu machen pflegte. Es war ein Gesellschaftsabend
wie alle, nur daß ein paar Berühmtheiten von der Oper dabei waren, die
ich vom Sehen alle kannte. Auch der Sänger Muoth war da, der mich von
allen am meisten interessierte, und ich sah ihn zum erstenmal so nahe.
Er war groß und schön, ein imponierender dunkler Mann mit sichern und
vielleicht schon etwas verwöhnten Manieren, man sah ihm an, daß er den
Frauen gefiel. Doch sah er, von den Gebärden abgesehen, weder stolz
noch vergnügt aus, sondern hatte in Blick und Mienen viel Suchendes und
Unbefriedigtes. Als ich ihm vorgestellt wurde, grüßte er mit einem
kurzen steifen Kompliment, ohne mit mir zu sprechen. Nach einer Weile
kam er aber plötzlich zu mir her und sagte: »Heißen Sie nicht Kuhn?
-- Dann kenne ich Sie schon ein wenig. Der Professor S. hat mir Ihre
Arbeiten gezeigt. Sie dürfen es ihm nicht übel nehmen, er ist nicht
indiskret. Aber ich kam gerade dazu, und weil ein Lied dabei war, sah
ich mirs mit seiner Erlaubnis an.«
Ich war erstaunt und verlegen. »Warum sprechen Sie davon?« fragte ich.
»Es hat dem Professor nicht gefallen, glaube ich.«
»Tut Ihnen das weh? Nun, mir hat das Lied sehr gefallen; ich könnte es
singen, wenn ich nur die Begleitung hätte. Die möchte ich mir von Ihnen
erbitten.«
»Es hat Ihnen gefallen? Ja, kann man es denn singen?«
»Das kann man schon, freilich nicht in jedem Konzert. Ich möchte es
aber gern für mich haben, für den Hausbrauch.«
»Ich will es Ihnen abschreiben. Aber warum wollen Sie es haben?«
»Weil es mich interessiert. Es ist ja wirklich Musik, das Lied, das
wissen Sie doch selber!«
Er sah mich an und mich plagte seine Art, Leute anzusehen. Er blickte
mir ganz gerade ins Gesicht, völlig unbekümmert studierend, und seine
Augen waren voll Neugierde.
»Sie sind jünger als ich gedacht hätte. Sie müssen doch schon viel
Schmerz erfahren haben.«
»Ja,« sagte ich, »aber ich kann nicht davon sprechen.«
»Das sollen Sie auch nicht, ich will Sie doch nicht ausfragen.«
Sein Blick verwirrte mich, auch war er eine Art von Berühmtheit und
You have read 1 text from German literature.
Next - Gertrud - 03
  • Parts
  • Gertrud - 01
    Total number of words is 4435
    Total number of unique words is 1597
    40.1 of words are in the 2000 most common words
    54.6 of words are in the 5000 most common words
    60.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 02
    Total number of words is 4537
    Total number of unique words is 1560
    42.3 of words are in the 2000 most common words
    56.6 of words are in the 5000 most common words
    61.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 03
    Total number of words is 4650
    Total number of unique words is 1424
    44.5 of words are in the 2000 most common words
    57.3 of words are in the 5000 most common words
    63.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 04
    Total number of words is 4581
    Total number of unique words is 1460
    44.2 of words are in the 2000 most common words
    57.4 of words are in the 5000 most common words
    63.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 05
    Total number of words is 4656
    Total number of unique words is 1447
    46.5 of words are in the 2000 most common words
    59.6 of words are in the 5000 most common words
    64.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 06
    Total number of words is 4644
    Total number of unique words is 1470
    43.5 of words are in the 2000 most common words
    56.0 of words are in the 5000 most common words
    61.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 07
    Total number of words is 4614
    Total number of unique words is 1449
    45.3 of words are in the 2000 most common words
    59.3 of words are in the 5000 most common words
    65.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 08
    Total number of words is 4606
    Total number of unique words is 1443
    45.7 of words are in the 2000 most common words
    58.6 of words are in the 5000 most common words
    64.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 09
    Total number of words is 4570
    Total number of unique words is 1466
    47.5 of words are in the 2000 most common words
    60.8 of words are in the 5000 most common words
    66.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 10
    Total number of words is 4592
    Total number of unique words is 1446
    45.4 of words are in the 2000 most common words
    58.5 of words are in the 5000 most common words
    65.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 11
    Total number of words is 4593
    Total number of unique words is 1442
    46.0 of words are in the 2000 most common words
    58.8 of words are in the 5000 most common words
    65.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 12
    Total number of words is 4714
    Total number of unique words is 1415
    46.8 of words are in the 2000 most common words
    61.6 of words are in the 5000 most common words
    67.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gertrud - 13
    Total number of words is 317
    Total number of unique words is 195
    64.6 of words are in the 2000 most common words
    74.6 of words are in the 5000 most common words
    76.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.