Gertrud - 01

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Gertrud
Roman
von
Hermann Hesse
[Illustration]
München, bei Albert Langen
1910
Elfte Auflage


Copyright 1910 by
Albert Langen, Munich


Wenn ich, von außen her, über mein Leben weg schaue, sieht es nicht
besonders glücklich aus. Doch darf ich es noch weniger unglücklich
heißen, trotz aller Irrtümer. Es ist am Ende auch ganz töricht, so nach
Glück und Unglück zu fragen, denn mir scheint, die unglücklichsten
Tage meines Lebens gäbe ich schwerer hin als alle heiteren. Wenn es in
einem Menschenleben darauf ankommt, das Unabwendbare mit Bewußtsein
hinzunehmen, das Gute und Üble recht auszukosten und sich neben dem
äußeren ein inneres, eigentlicheres, nicht zufälliges Schicksal zu
erobern, so war mein Leben nicht arm und nicht schlecht. Ist das äußere
Schicksal über mich hingegangen wie über alle, unabwendbar und von
Göttern verhängt, so ist mein inneres Geschick doch mein eigenes Werk
gewesen, dessen Süße oder Bitterkeit mir zukommt und für das ich die
Verantwortung allein auf mich zu nehmen denke.
Manchmal in früheren Jahren habe ich gewünscht, ein Dichter zu sein.
Wäre ich einer, so widerstünde ich der Lockung nicht, meinem Leben bis
in die zarten Schatten der Kinderzeit und bis zu den lieben, zärtlich
gehüteten Quellen meiner frühesten Erinnerungen nachzugehen. So aber
ist mir dieser Besitz allzu lieb und heilig, als daß ich ihn mir etwa
selber verderben möchte. Von meiner Kindheit ist nur zu sagen, daß sie
schön und heiter war; man ließ mir die Freiheit, meine Neigungen und
Gaben selber zu entdecken, mir meine innigsten Freuden und Schmerzen
selber zu schaffen und die Zukunft nicht als eine fremde Macht von
oben, sondern als die Hoffnung und den Erwerb meiner eigenen Kräfte
anzusehen. So ging ich unberührt durch die Schulen, als ein unbeliebter
und wenig begabter, doch ruhiger Schüler, den man am Ende gewähren
ließ, da er keine starken Einflüsse zu dulden schien.
Etwa von meinem sechsten oder siebenten Jahr an begriff ich, daß von
allen unsichtbaren Mächten die Musik mich am stärksten zu fassen und
zu regieren bestimmt sei. Von da an hatte ich meine eigene Welt, meine
Zuflucht und meinen Himmel, den mir niemand nehmen oder schmälern
konnte und den ich mit niemand zu teilen begehrte. Ich war Musiker,
obwohl ich vor meinem zwölften Jahre kein Instrument spielen lernte
und nicht daran dachte, später mein Brot mit Musikmachen verdienen zu
wollen.
Dabei ist es seither geblieben, ohne daß etwas Wesentliches sich
geändert hat, und darum erscheint mir beim Rückblick mein Leben nicht
bunt und vielgestaltig, sondern von Anfang an auf einen Grundton
gestimmt und auf einen einzigen Stern gestellt. Mochte es sonst wohl
oder übel gehen, mein innerstes Leben blieb unverändert. Ich mochte
lange Zeiten auf fremden Wassern treiben, kein Notenheft und kein
Instrument anrühren, eine Melodie lag mir doch zu jeder Stunde im Blut
und auf den Lippen, ein Takt und Rhythmus im Atemholen und Leben. So
begierig ich auf manchen anderen Wegen nach Erlösung, nach Vergessen
und Befreiung suchte, so sehr ich nach Gott, nach Erkenntnis und
Frieden dürstete, gefunden habe ich das alles immer nur in der Musik.
Es brauchte nicht Beethoven oder Bach zu sein: -- daß überhaupt Musik
in der Welt ist, daß ein Mensch zuzeiten bis ins Herz von Takten
bewegt und von Harmonien durchflutet werden kann, das hat für mich
immer wieder einen tiefen Trost und eine Rechtfertigung alles Lebens
bedeutet. O Musik! Eine Melodie fällt dir ein, du singst sie ohne
Stimme, nur innerlich, durchtränkst dein Wesen mit ihr, sie nimmt von
allen deinen Kräften und Bewegungen Besitz -- und für die Augenblicke,
die sie in dir lebt, löscht sie alles Zufällige, Böse, Rohe, Traurige
in dir aus, läßt die Welt mitklingen, macht das Schwere leicht und das
Starre beflügelt! Das alles kann die Melodie eines Volksliedes tun!
Und erst die Harmonie! Schon jeder wohllautende Zusammenklang rein
gestimmter Töne, etwa in einem Geläut, sättigt das Gemüt mit Anmut
und Genuß, und steigert sich mit jedem hinzuklingenden Ton, und kann
zuweilen das Herz entzünden und vor Wonne zittern machen, wie keine
andere Wollust es vermag.
Von allen Vorstellungen reiner Seligkeit, die sich Völker und
Dichter erträumt haben, schien mir immer die höchste und innigste
jene vom Erlauschen der Sphärenharmonie. Daran haben meine tiefsten
und goldensten Träume gestreift -- einen Herzschlag lang den Bau
des Weltalls und die Gesamtheit alles Lebens in ihrer geheimen,
eingeborenen Harmonie tönen zu hören. Ach, und wie kann denn das Leben
so wirr und verstimmt und verlogen sein, wie kann nur Lüge, Bosheit,
Neid und Haß unter Menschen sein, da doch jedes kleinste Lied und jede
bescheidenste Musik so deutlich predigt, daß Reinheit, Harmonie und
brüderliches Spiel klargestimmter Töne den Himmel öffnet! Und wie mag
ich selber schelten und zürnen, da ich selber, mit allem guten Willen,
aus meinem Leben kein Lied und keine reine Musik habe machen können!
Im Innersten spüre ich wohl den unabweislichen Mahner, das dürstende
Verlangen nach einem reinen, wohlgefälligen, in sich seligen Tönen und
Verklingen; meine Tage aber sind voll Zufall und Mißklang, und wohin
ich mich wende und wo ich poche, es tönt mir nirgends lauter und klar
zurück.
Nichts mehr davon, ich will erzählen. Wenn ich mich nun besinne, für
wen ich diese Blätter beschreibe, wer eigentlich so viel Macht über
mich hat, daß er Bekenntnisse von mir fordern und meine Einsamkeit
durchbrechen kann, so muß ich einen lieben Frauennamen sagen, der mir
nicht nur ein großes Stück Erleben und Schicksal umfaßt, sondern wohl
auch als Stern und hohes Sinnbild über allem stehen mag.
* * * * *
Erst während der letzten Schuljahre, als alle meine Kameraden von
ihren künftigen Berufen zu reden begannen, fing auch ich an hierüber
nachzudenken. Die Musik zu meinem Beruf und Erwerb zu machen, lag
mir eigentlich fern; doch konnte ich mir keinen andern Beruf denken,
der mir Freude gemacht hätte. Ich hatte gegen den Handel oder andre
Gewerbe, die mein Vater mir vorschlug, keinen Widerwillen, sie waren
mir nur gleichgültig. Aber da meine Kameraden so stolz auf die von
ihnen gewählten Berufe taten, vielleicht auch eine Stimme in mir dafür
eintrat, schien es mir doch gut und richtig, das zu meinem Beruf zu
machen, was ohnehin meine Gedanken ausfüllte und mir allein rechte
Freude machte. Es kam mir zustatten, daß ich seit meinem zwölften Jahr
das Violinspielen begonnen und unter einem guten Lehrer etwas Rechtes
gelernt hatte. So sehr nun mein Vater sich wehrte und davor bangte,
seinen einzigen Sohn die ungewisse Laufbahn eines Künstlers einschlagen
zu sehen, gerade an seinem Widerstand wuchs mein Wille, und der Lehrer,
der mich gern hatte, trat für meinen Wunsch nach Kräften ein. Am Ende
gab mein Vater nach, es wurde mir nur zur Prüfung meiner Ausdauer und
in der Hoffnung auf eine Sinnesänderung noch ein Schuljahr zudiktiert,
das ich mit leidlicher Geduld absaß und währenddessen ich meines
Begehrens nur sicherer wurde.
Während dieses letzten Schuljahres verliebte ich mich zum erstenmal,
in ein hübsches junges Fräulein unsrer Bekanntschaft. Ohne sie viel
zu sehen und auch ohne dies stark zu begehren, genoß und durchlitt
ich die süßen Bewegungen der ersten Liebe wie in einem Traume. Und in
dieser Zeit, da ich den ganzen Tag ebensosehr an meine Musik wie an
meine Liebe dachte und nachts vor herrlicher Erregung nicht schlafen
konnte, hielt ich zum erstenmal mit Bewußtsein Melodien fest, die mir
einfielen, zwei kleine Lieder, und versuchte sie aufzuschreiben. Das
erfüllte mich mit einem schamhaften, doch durchdringenden Vergnügen,
über dem ich meine spielerische Liebesnot fast ganz vergaß. Inzwischen
hörte ich, daß meine Geliebte Singstunden nehme, und war sehr begierig,
sie einmal singen zu hören. Nach Monaten ward mein Wunsch erfüllt, bei
einer Abendgesellschaft im Haus meiner Eltern. Das hübsche Mädchen ward
aufgefordert zu singen, wehrte sich heftig und mußte am Ende doch, und
ich wartete darauf mit einer ungeheuren Spannung. Ein Herr begleitete
an unsrem kleinen schmalen Klavierchen, er spielte ein paar Takte und
sie begann. Ach, sie sang schlecht, traurig schlecht, und noch während
sie sang, verwandelte sich meine Bestürzung und Qual zu Mitleid und
dann zu Humor, und künftig war ich dieser Verliebtheit ledig.
Ich war ein geduldiger und nicht gerade unfleißiger, aber kein guter
Schüler, und im letzten Jahr gab ich mir vollends wenig Mühe mehr.
Daran war nicht Trägheit und auch nicht meine Verliebtheit schuld,
sondern ein Zustand jünglinghafter Träumerei und Gleichgültigkeit,
eine Dumpfheit der Sinne und des Kopfes, die nur zuweilen plötzlich
und heftig unterbrochen ward, wenn eine von den wunderbaren Stunden
verfrühter schöpferischer Lust mich wie in Äther hüllte. Dann fühlte
ich mich von einer überklaren, kristallnen Luft umgeben, in der kein
Träumen und Vegetieren möglich war, wo alle Sinne sich geschärft
und wachsam auf die Lauer legten. Was in diesen Stunden entstand,
war wenig, vielleicht zehn Melodien und einige Anfänge harmonischer
Gestaltungen; aber die Luft dieser Stunden vergaß ich nimmer, diese
überklare fast kalte Luft und diese gespannte Zusammenfassung der
Gedanken, um einer Melodie die rechte, einzige, nicht mehr zufällige
Bewegung und Lösung zu geben. Zufrieden war ich mit diesen kleinen
Leistungen nicht und hielt sie nie für etwas Gültiges und Gutes, aber
das wurde mir klar, daß in meinem Leben nichts so begehrenswert und
wichtig sein werde wie die Wiederkehr solcher Stunden der Klarheit und
des Schaffens.
Daneben kannte ich auch Tage des Schwärmens, wo ich auf der Geige
phantasierte und den Rausch flüchtiger Einfälle und farbiger Stimmungen
genoß. Nur wußte ich bald, daß das kein Schaffen war, sondern ein
Spielen und Schwelgen, vor dem ich mich zu hüten habe. Ich merkte,
daß es ein andres Ding ist seinen Träumen nachzugehen und berauschte
Stunden auszukosten, als unerbittlich und klar mit den Geheimnissen
der Form wie mit Feinden zu ringen. Und ich merkte schon damals
etwas davon, daß ein rechtes Schaffen einsam macht und etwas von uns
verlangt, was wir dem Behagen des Lebens abbrechen müssen.
Endlich war ich frei, hatte die Schule hinter mir, den Eltern Lebewohl
gesagt und ein neues Leben als Schüler des Konservatoriums in der
Hauptstadt begonnen. Ich tat dies mit großen Erwartungen und war
überzeugt gewesen, ich würde in der Musikschule ein guter Schüler sein.
Zu meinem peinlichen Erstaunen kam es aber anders. Ich hatte Mühe dem
Unterricht überall zu folgen, fand in Klavierunterricht, den ich jetzt
nehmen mußte, nur eine große Plage und sah bald mein ganzes Studium wie
einen unersteiglichen Berg vor mir liegen. Wohl war ich nicht gesonnen
nachzugeben, doch war ich enttäuscht und befangen. Ich sah jetzt, daß
ich bei aller Bescheidenheit mich doch für eine Art von Genie gehalten
und die Mühen und Schwierigkeiten des Weges zur Kunst bedenklich
unterschätzt hatte. Dazu ward mir das Komponieren gründlich entleidet,
da ich jetzt bei der geringsten Aufgabe nur Berge von Schwierigkeiten
und Regeln sah, meinem Gefühl durchaus mißtrauen lernte und nicht
mehr wußte, ob überhaupt ein Funke von eigener Kraft in mir sei. So
beschied ich mich, wurde klein und traurig, ich tat meine Arbeit wenig
anders als ich die in einem Kontor oder in einer andern Schule getan
hätte, fleißig und freudlos. Klagen durfte ich nicht, am wenigsten in
meinen Briefen nach Hause, sondern ging den begonnenen Weg in stiller
Enttäuschung weiter und nahm mir vor, wenigstens ein ordentlicher
Geiger zu werden. Ich übte und übte, steckte Grobheiten und Spott der
Lehrer ein, sah manche andere, denen ich es nicht zugetraut hätte,
leicht vorwärtskommen und Lob ernten, und steckte meine Ziele immer
niedriger. Denn auch mit dem Geigen stand und ging es nicht so, daß
ich darauf hätte stolz sein können und etwa an ein Virtuosentum denken
dürfen. Es sah ganz so aus, als könne aus mir bei gutem Fleiß zur Not
ein brauchbarer Handwerker werden, der in irgendeinem kleinen Orchester
seine bescheidene Geige ohne Schande und ohne Ehre spielt und dafür
sein Brot bekommt.
So war diese Zeit, die ich so sehr ersehnt und von der ich mir alles
versprochen hatte, die einzige in meinem Leben, in der ich vom Geist
der Musik verlassen freudlose Wege ging und Tage ohne Klang und Takt
dahinlebte. Wo ich Genuß, Erhebung, Glanz und Schönheit gesucht hatte,
fand ich nur Forderungen, Regeln, Pflichten, Schwierigkeiten und
Gefahren. Fiel mir etwas Musikalisches ein, so war es entweder banal
und hundertmal dagewesen, oder es stand sichtlich mit allen Gesetzen
der Kunst in Widerspruch und konnte also nichts wert sein. Da packte
ich alle großen Gedanken und Hoffnungen ein. Ich war einer von den
Tausenden, die mit jugendlicher Frechheit zur Kunst gekommen sind und
deren Kraft versagt, wenn es Ernst werden soll.
Dieser Zustand dauerte wohl etwa drei Jahre. Ich war nun über zwanzig
Jahre alt, hatte offenbar meinen Beruf verfehlt und ging den begonnenen
Weg nur aus Scham und Pflichtgefühl weiter. Ich wußte nichts mehr von
Musik, nur noch von Fingerübungen, schweren Aufgaben, Widersprüchen in
der Harmonielehre, drückenden Klavierlektionen bei einem spöttischen
Lehrer, der in allen meinen Bemühungen nur eine Zeitvergeudung sah.
Wäre das alte Ideal nicht doch noch heimlich in mir lebendig gewesen,
so hätte ich es in diesen Jahren recht gut haben können. Ich war frei
und hatte Freunde, war ein hübscher und blühender junger Mensch, ein
Sohn wohlhabender Eltern. Für Augenblicke genoß ich alles das, es gab
vergnügte Tage, Liebeleien, Zechereien, Ferienfahrten. Aber es war mir
nicht möglich mich dabei zu trösten, meine Pflicht in Kürze abzutun und
vor allem meiner jungen Tage froh zu werden. Ohne daß ich davon wußte,
blickte mein Heimweh doch noch in allen unbewachten Stunden nach dem
untergegangenen Stern der Künstlerschaft aus, es war mir unmöglich die
Enttäuschung zu vergessen und zu betäuben. Nur einmal gelang es mir
gründlich.
Es war der törichtste Tag meiner törichten Jugend. Ich lief damals
einer Schülerin des berühmten Gesanglehrers H. nach. Ihr schien es
ähnlich zu gehen wie mir, sie war mit großen Hoffnungen gekommen, hatte
strenge Lehrer gefunden, war die Arbeit nicht gewohnt und glaubte
schließlich sogar ihre Stimme zu verlieren. Sie legte sich auf die
leichte Seite, flirtete mit uns Kollegen und wußte uns alle toll zu
machen, wozu freilich nicht gar viel gehörte. Sie hatte die feurige,
lebhaft farbige Schönheit, die bald verblüht.
Diese schöne Liddy nahm mich mit ihrer naiven Koketterie immer wieder
gefangen, wenn ich sie sah. Ich war nie lange Zeit in sie verliebt,
ich vergaß sie oft völlig, aber wenn ich bei ihr war, schlug jedesmal
die Verliebtheit wieder über mir zusammen. Sie spielte mit mir wie mit
andern, reizte uns, genoß ihre Macht und war selber dabei nur mit der
neugierigen Sinnlichkeit ihrer Jugend beteiligt. Sie war sehr schön,
aber nur wenn sie sprach und in Bewegung war, wenn sie mit ihrer warmen
tiefen Stimme lachte, wenn sie tanzte oder sich an der Eifersucht ihrer
Liebhaber ergötzte. So oft ich von einer Gesellschaft heimkam, in der
ich sie gesehen hatte, lachte ich mich selber aus und bewies mir, daß
ein Mensch von meiner Art unmöglich diese gefällige Lebenskünstlerin
im Ernst lieben könne. Manchmal aber gelang es ihr wieder, mich durch
eine Geste, durch ein geflüstertes warmes Wort so zu erregen, daß ich
die halbe Nacht heiß und wild in der Nähe ihrer Wohnung unterwegs blieb.
Ich hatte damals eine kurze Periode der Wildheit und eines halb
erzwungenen Übermutes. Nach Tagen der Niedergeschlagenheit und
dumpfen Stille forderte meine Jugend stürmisch Bewegung und Rausch,
und ich ging dann mit einigen gleichaltrigen Kameraden Lustbarkeiten
und Streichen nach. Wir galten für lebenslustige, ausgelassene, ja
gefährliche Tumultuanten, was bei mir nicht zutraf, und genossen
bei Liddy und ihrem kleinen Kreise einen zweifelhaften, doch süßen
Heldenruhm. Wie viel von diesem Treiben echte Jugendlust und wieviel
gewollte Betäubung war, kann ich heute nimmer entscheiden, da ich jenen
Zuständen und aller äußerlichen Jugendlichkeit längst völlig entwachsen
bin. Wenn ein Zuviel dabei war, so habe ich es gebüßt.
An einem Wintertage, da kein Unterricht war, zogen wir miteinander
vor die Stadt hinaus, acht oder zehn junge Leute, darunter Liddy mit
drei Freundinnen. Wir hatten Rodelschlitten mit, deren Benützung
damals noch für ein Kindervergnügen galt, und suchten in der
bergigen Umgebung der Stadt die Straßen und Wiesenhänge nach guten
Schlittenbahnen ab. Ich erinnere mich des Tages genau, es war mäßig
kalt, zuweilen kam die Sonne für Viertelstunden hervor, die kräftige
Luft roch herrlich nach Schnee. Die Mädchen standen mit ihren farbigen
Kleidern und Tüchern prächtig im weißen Grunde, die herbe Luft war
berauschend und die heftige Bewegung in dieser Frische eine Lust. Unsre
kleine Gesellschaft war in fröhlichster Laune, Ulknamen und Hänseleien
flogen hin und wider, wurden durch Schneeballen beantwortet und führten
zu kleinen Kriegen, bis wir alle heiß und voll Schnee dastanden und
eine Weile veratmen mußten, ehe wir von neuem begannen. Es wurde eine
große Schneeburg gebaut, belagert und erstürmt, dazwischen fuhren wir
da und dort einmal einen kleinen Wiesenabhang auf unseren Schlitten
hinunter.
Um Mittag, als wir alle von dem Gestürme grimmig hungrig geworden
waren, suchten und fanden wir ein Dorf und ein gutes Wirtshaus, ließen
sieden und braten, bemächtigten uns des Klavieres, sangen, schrien,
bestellten Wein und Grog. Das Essen kam und wurde festlich begangen,
der gute Wein floß reichlich, danach begehrten die Mädchen Kaffee,
während wir die Liköre versuchten. Es war ein Geschrei und Festlärm
in der kleinen Stube, daß uns allen die Köpfe rauchten. Ich war immer
in Liddys Nähe, die mich heute in gnädiger Laune durch besondre Gunst
auszeichnete. Sie blühte in dieser Luft voll Lustbarkeit und Rausch
gar prächtig auf, ließ ihre hübschen Augen blitzen und duldete manche
halb kühn, halb ängstlich gewagte Zärtlichkeit. Ein Pfänderspiel wurde
begonnen, wobei die Pfänder am Klavier durch Nachahmung irgendeines
unsrer Lehrer eingelöst werden mußten, manche aber auch durch Küsse,
deren Zahl und Beschaffenheit genau beobachtet wurde.
Als wir glühend und lärmend das Haus verließen und den Heimweg
antraten, war es noch früh am Nachmittag, doch begann es schon ein
wenig zu dämmern. Wieder tollten wir wie ausgelassene Kinder durch
den Schnee, ohne Eile durch den leis herankommenden Abend nach der
Stadt zurückkehrend. Es gelang mir, an Liddys Seite zu bleiben, zu
deren Ritter ich mich nun aufwarf, nicht ohne Widerspruch der andern.
Ich zog sie streckenweise auf meinem Schlitten und schützte sie nach
Kräften vor den immer wieder versuchten Angriffen mit Schneeballen.
Schließlich ließ man uns gewähren, jedes der Mädchen fand seinen
Genossen, und nur zwei ledig gebliebene Herrlein zogen neckend und
kriegslustig nebenher. Ich war nie so erregt und toll verliebt
gewesen wie in jenen Stunden, Liddy hatte meinen Arm genommen und
duldete es, daß ich sie im Gehen leise an mich zog. Dabei plauderte
sie bald geschwätzig in den Abend hinein, bald schwieg sie glücklich
und, wie mir schien, verheißungsvoll an meiner Seite. Ich brannte
und war entschlossen, diese Gelegenheit nach Kräften zu benützen,
zumindest aber diesen traulich zärtlichen Zustand so lange als möglich
festzuhalten. Es hatte auch niemand etwas dagegen, als ich kurz vor
der Stadt noch einen Umweg vorschlug und in einen schönen Höhenweg
einbog, der steil über dem Tale im Halbkreis hinlief, reich an weiten
Aussichten auf das Flußtal und die Stadt, die schon mit blitzenden
Laternenreihen und tausend roten Lichtern aus der Tiefe glänzte.
Liddy hing noch immer an meinem Arm und ließ mich reden, nahm meine
glühenden Überschwänglichkeiten lachend hin und schien doch selber tief
erregt zu sein. Als ich sie aber mit leiser Gewalt an mich zog und
küssen wollte, machte sie sich los und sprang beiseite.
»Schauen Sie«, rief sie aufatmend, »die Wiese da hinunter müssen wir
schlitteln! Oder haben Sie Angst, Sie Held?«
Ich schaute hinunter und war erstaunt, denn der Abhang war so jäh, daß
mir wirklich einen Augenblick vor dieser frechen Fahrt graute.
»Das geht nicht«, sagte ich leichthin, »es ist schon viel zu dunkel.«
Sofort fiel sie mit Spott und Entrüstung über mich her, nannte mich
einen Hasenfuß und verschwor sich, den Hang allein hinab zu fahren,
wenn ich zu feig sei mitzukommen.
»Umwerfen werden wir natürlich«, meinte sie lachend, »aber das ist ja
doch das Lustigste bei der ganzen Fahrerei.«
Da sie mich so reizte, kam mir ein Einfall.
»Liddy«, sagte ich leise, »wir fahren. Wenn wir umwerfen, dürfen Sie
mich mit Schnee einreiben, aber wenn wir glatt hinunterkommen, will ich
auch meinen Lohn haben.«
Sie lachte nur und setzte sich auf den Schlitten. Ich sah ihr in die
Augen, die glühten warm und lustig, da nahm ich ganz vorn Platz, hieß
sie sich an mich klammern und fuhr ab. Ich spürte wie sie mich umfaßte,
ihre Hände auf meiner Brust kreuzend, und ich wollte ihr noch etwas
zurufen, konnte aber nicht mehr. Die Steile war so jäh, daß ich das
Gefühl hatte in die leere Luft zu stürzen. Sofort suchte ich mit beiden
Sohlen den Boden, um anzuhalten oder doch umzuwerfen, denn plötzlich
war mir eine Todesangst um Liddy ins Herz gefahren. Es war jedoch zu
spät. Der Schlitten sauste unaufhaltsam bergab, ich fühlte nur einen
kalten beißenden Schwall aufgewühlten Schneestaubes im Gesicht, dann
hörte ich Liddy angstvoll schreien, dann nichts mehr. Ein ungeheurer
Hieb wie von einem Schmiedehammer traf meinen Kopf, irgendwo tat es mir
schneidend weh. Das letzte Gefühl, das ich hatte, war das der Kälte.
Mit dieser kurzen flotten Schlittenfahrt habe ich meine Jugendlust und
Torheit gebüßt. Nachher war mit vielem andrem auch meine Liebe zu Liddy
ganz verflogen.
Dem Tumult und ängstlichen Getriebe, das auf den Unfall folgte, war ich
enthoben. Für die andern war es eine peinliche Stunde. Sie hörten Liddy
schreien, lachten und neckten von oben herab in die Dunkelheit hinein,
erkannten endlich, daß etwas Böses geschehen sei, stiegen mühsam herab
und brauchten eine Weile, bis sie aus dem Rausch und Übermut heraus
zur Überlegung kamen. Liddy war bleich und halb ohnmächtig, jedoch
durchaus unverletzt, nur ihre Handschuhe waren zerrissen und ihre
feinen weißen Hände etwas zerschunden und blutig. Mich trugen sie für
tot hinweg. Den Apfel- oder Birnbaum, an dem der Schlitten und meine
Knochen zerschellt waren, habe ich später vergeblich wieder zu finden
versucht.
Man dachte, ich sei einer Gehirnerschütterung erlegen, doch stand es
nicht so schlimm. Kopf und Gehirn waren zwar mitgenommen und es dauerte
sehr lange, bis ich im Spital wieder zur Besinnung kam, aber die Wunde
heilte und das Gehirn ruhte sich aus. Dagegen wollte das mehrfach
gebrochene linke Bein nicht wieder ganz in Ordnung kommen. Ich bin
seither ein Krüppel, der nur hinken, nicht mehr schreiten oder gar
laufen und tanzen kann. Damit war meiner Jugend unversehens ein Weg
in stillere Lande gewiesen, den ich nicht ohne Scham und Widerstreben
einschlug. Aber ich schlug ihn doch ein, und manchmal scheint es
mir, als möchte ich jene abendliche Schlittenfahrt und ihre Folgen
keineswegs in meinem Leben missen.
Freilich denke ich dabei weniger an das zerbrochene Bein als an die
andern Folgen jenes Unfalls, die weit freundlicher und freudiger
waren. War es das Unglück selbst mit seinem Schrecken und Blick in
das Dunkel oder war es das lange Liegen und monatelange Stillsein und
Besinnen, die Kur tat mir gut.
Der Beginn jener langen Liegezeit, etwa die erste Woche, ist ganz aus
meiner Erinnerung verschwunden. Ich war viel bewußtlos und auch nach
dem endgültigen Erwachen geschwächt und gleichgültig. Meine Mutter
war gekommen und saß alle Tage getreulich im Spital an meinem Bett.
Wenn ich sie ansah und ein paar Worte mit ihr sprach, schien sie
freundlich und fast heiter, obwohl sie, wie ich später erfuhr, Angst um
mich hatte, und zwar nicht um mein Leben, sondern um meinen Verstand.
Zuweilen plauderten wir in dem stillen, hellen Krankenzimmerchen
lange miteinander. Doch war unser Verhältnis nie sehr innig gewesen;
ich hatte stets mehr zum Vater gehalten. Nun war sie vom Mitleid und
ich von Dankbarkeit erweicht und zur Versöhnung gestimmt, wir waren
aber beide allzulange an ein gegenseitiges Zuwarten und lässiges
Geltenlassen gewöhnt, als daß nun die erwachende Herzlichkeit den Weg
in unsre Worte hätte finden mögen. Wir sahen einander zufrieden an und
ließen die Dinge unbesprochen. Sie war wieder meine Mutter, da sie
mich krank liegen hatte und pflegen konnte; und ich sah sie wieder mit
Knabengefühlen an und vergaß einstweilen alles andere. Später freilich
kehrte das alte Verhältnis wieder und wir vermieden es von diesem
Krankenlager viel zu reden, da es uns beide verlegen machte.
Allmählich begann ich meine Lage zu übersehen, und da ich die
Fieberzeit überwunden hatte und ruhig schien, machte der Arzt nicht
länger ein Geheimnis daraus, daß mir wohl für immer ein Andenken an
diesen Sturz bleiben werde. Ich sah meine Jugend, die ich noch kaum mit
einigem Bewußtsein genossen hatte, empfindlich beschnitten und verarmt
und hatte alle Zeit, mich mit dieser Sache abzufinden, denn das Liegen
dauerte noch wohl ein Vierteljahr.
Ich suchte denn auch eifrig in Gedanken meine Lage zu fassen und mir
ein Bild der Zukunft zu machen, doch kam ich damit nicht weit. Viel
Denken war noch nichts für mich, ich ermüdete immer bald und sank
in ein ausruhendes Hinträumen, womit mich die Natur vor Angst und
Verzweiflung bewahrte und mir die Ruhe zur Heilung erzwang. Immerhin
plagte mich mein Unglück manche Stunde und halbe Nacht, ohne daß ich
einen nennenswerten Trost hätte erdenken können.
Da war es in einer Nacht, daß ich nach wenigen Stunden leichten
Schlummers erwachte. Mir schien, ich habe etwas Gutes geträumt, und
ich strebte mich dessen wieder zu erinnern, doch vergebens. Es war
mir merkwürdig wohl und frei zumute, als habe ich alles Unangenehme
überwunden und hinter mir. Und wie ich lag und sann und leise Ströme
der Genesung und Erlösung um mich fühlte, trat mir eine Melodie auf die
Lippen, fast lautlos, die summte ich weiter und hörte nimmer auf, und
unversehens schaute mich wie ein enthüllter Stern die Musik wieder an,
der ich so lange fremd gewesen war, und mein Herz schlug ihren Takt,
und mein ganzes Wesen blühte auf und atmete neue reine Lüfte. Es kam
mir nicht zum Bewußtsein, es war nur da und durchdrang mich still, als
sängen leise Chöre von fern zu mir herein.
In diesem innig frischen Gefühl schlief ich wieder ein. Am Morgen war
ich froh und unbedrückt wie lang nicht mehr. Die Mutter merkte es und
fragte, was mich freue. Da besann ich mich, und nach einer Weile sagte
ich ihr, ich habe so lang nimmer an meine Geige gedacht, die sei mir
nun wieder eingefallen und ich freue mich auf sie.
»Du wirst aber noch lang nicht wieder spielen dürfen«, sagte sie etwas
ängstlich.
»Das schadet nichts, und wenn ich auch gar nimmer spielen könnte.«
Sie verstand mich nicht und ich konnte es ihr nicht erklären. Aber
sie merkte, daß es mir besser gehe und daß kein Feind hinter dieser
grundlosen Fröhlichkeit laure. Nach einigen Tagen fing sie vorsichtig
wieder davon an.
»Du, wie ist das nun eigentlich mit deiner Musik? Wir haben fast
geglaubt, sie sei dir verleidet, und der Vater hat mit deinen Lehrern
gesprochen. Wir wollen dir ja nicht dreinreden, am wenigsten jetzt
-- -- aber wir meinen, wenn du dich getäuscht hättest und es lieber
aufgeben möchtest, so solltest du es tun und nicht aus Trotz oder Scham
dabeibleiben. Was meinst du?«
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