Gerhart Hauptmann - 3

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genauer. »Nein,« sagte er dann, »nein, es ist vorbei.«
»Vorbei, vorbei,« stöhnte der Wärter. Dann aber richtete er sich hoch
auf und schrie, die rollenden Augen an die Decke geheftet, die erhobenen
Hände unbewußt zur Faust ballend und mit einer Stimme, als müsse der
enge Raum davon zerbersten: »Er muß, muß leben, ich sage dir, er muß,
muß leben.« Und schon stieß er die Tür des Häuschens von neuem auf,
durch die das rote Feuer des Abends hereinbrach, und rannte mehr als er
ging nach der Barriere zurück. Hier blieb er eine Weile wie betroffen
stehen und schritt dann plötzlich, beide Arme ausbreitend, bis in die
Mitte des Dammes, als wenn er etwas aufhalten wollte, das aus der
Richtung des Personenzuges kam. Dabei machten seine weit offenen Augen
den Eindruck der Blindheit.
Während er, rückwärts schreitend, vor etwas zu weichen schien, stieß er
in einem fort halbverständliche Worte zwischen den Zähnen hervor: »Du --
hörst du -- bleib doch -- du -- hör doch -- bleib -- gib ihn wieder --
er ist braun und blau geschlagen -- ja ja -- gut -- ich will sie wieder
braun und blau schlagen -- hörst du? bleib doch -- gib ihn mir wieder.«
Es schien, als ob etwas an ihm vorüberwandle, denn er wandte sich und
bewegte sich, wie um es zu verfolgen, nach der anderen Richtung.
»Du, Minna« -- seine Stimme wurde weinerlich, wie die eines kleinen
Kindes. »Du, Minna, hörst du? -- gib ihn wieder -- ich will ...« Er
tastete in die Luft, wie um jemand festzuhalten. »Weibchen -- ja -- und
da will ich sie ... und da will ich sie auch schlagen -- braun und blau
-- auch schlagen -- und da will ich mit dem Beil -- siehst du? --
Küchenbeil -- mit dem Küchenbeil will ich sie schlagen, und da wird sie
verrecken.«
»Und da ... ja mit dem Beil -- Küchenbeil ja -- schwarzes Blut!« Schaum
stand vor seinem Munde, seine gläsernen Pupillen bewegten sich
unaufhörlich.
Ein sanfter Abendhauch strich leis und nachhaltig über den Forst, und
rosaflammiges Wolkengelock hing über dem westlichen Himmel.
Etwa hundert Schritt hatte er so das unsichtbare Etwas verfolgt, als er
anscheinend mutlos stehenblieb, und mit entsetzlicher Angst in den
Mienen streckte der Mann seine Arme aus, flehend, beschwörend. Er
strengte seine Augen an und beschattete sie mit der Hand, wie um noch
einmal in weiter Ferne das Wesenlose zu entdecken. Schließlich sank die
Hand, und der gespannte Ausdruck seines Gesichts verkehrte sich in
stumpfe Ausdruckslosigkeit; er wandte sich und schleppte sich den Weg
zurück, den er gekommen.
Die Sonne goß ihre letzte Glut über den Forst, dann erlosch sie. Die
Stämme der Kiefern streckten sich wie bleiches, verwestes Gebein
zwischen die Wipfel hinein, die wie grauschwarze Moderschichten auf
ihnen lasteten. Das Hämmern eines Spechtes durchdrang die Stille. Durch
den kalten, stahlblauen Himmelsraum ging ein einziges verspätetes
Rosengewölk. Der Windhauch wurde kellerkalt, so daß es den Wärter
fröstelte. Alles war ihm neu, alles fremd. Er wußte nicht, was das war,
worauf er ging, oder das, was ihn umgab. Da huschte ein Eichhorn über
die Strecke, und Thiel besann sich. Er mußte an den lieben Gott denken,
ohne zu wissen warum. »Der liebe Gott springt über den Weg, der liebe
Gott springt über den Weg.« Er wiederholte diesen Satz mehrmals,
gleichsam um auf etwas zu kommen, das damit zusammenhing. Er unterbrach
sich, ein Lichtschein fiel in sein Hirn, »aber mein Gott, das ist ja
Wahnsinn.« Er vergaß alles und wandte sich gegen diesen neuen Feind. Er
suchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen, vergebens! Es war ein
haltloses Streifen und Schweifen. Er ertappte sich auf den unsinnigsten
Vorstellungen und schauderte zusammen im Bewußtsein seiner
Machtlosigkeit.
Aus dem nahen Birkenwäldchen kam Kindergeschrei. Es war das Signal zur
Raserei. Fast gegen seinen Willen mußte er darauf zueilen und fand das
Kleine, um welches sich niemand mehr gekümmert hatte, weinend und
strampelnd ohne Bettchen im Wagen liegen. Was wollte er tun? Was trieb
ihn hierher? Ein wirbelnder Strom von Gefühlen und Gedanken verschlang
diese Fragen.
»Der liebe Gott springt über den Weg,« jetzt wußte er, was das bedeuten
wollte. »Tobias« -- sie hatte ihn gemordet -- Lene -- ihr war er
anvertraut -- »Stiefmutter, Rabenmutter,« knirschte er, »und ihr Balg
lebt.« Ein roter Nebel umwölkte seine Sinne, zwei Kinderaugen
durchdrangen ihn; er fühlte etwas Weiches, Fleischiges zwischen seinen
Fingern. Gurgelnde und pfeifende Laute, untermischt mit heiseren
Ausrufen, von denen er nicht wußte, wer sie ausstieß, trafen sein Ohr.
Da fiel etwas in sein Hirn wie Tropfen heißen Siegellacks, und es hob
sich wie eine Starre von seinem Geist. Zum Bewußtsein kommend, hörte er
den Nachhall der Meldeglocke durch die Luft zittern.
Mit eins begriff er, was er hatte tun wollen: seine Hand löste sich von
der Kehle des Kindes, welches sich unter seinem Griffe wand. -- Es rang
nach Luft, dann begann es zu husten und zu schreien.
»Es lebt! Gott sei Dank, es lebt!« Er ließ es liegen und eilte nach dem
Übergange. Dunkler Qualm wälzte sich fernher über die Strecke, und der
Wind drückte ihn zu Boden. Hinter sich vernahm er das Keuchen einer
Maschine, welches wie das stoßweise gequälte Atmen eines kranken Riesen
klang.
Ein kaltes Zwielicht lag über der Gegend.
Nach einer Weile, als die Rauchwolken auseinandergingen, erkannte Thiel
den Kieszug, der mit geleerten Loren zurückging und die Arbeiter mit
sich führte, welche tagsüber auf der Strecke gearbeitet hatten.
Der Zug hatte eine reichbemessene Fahrzeit und durfte überall anhalten,
um die hie und da noch beschäftigten Arbeiter aufzunehmen, andere
hingegen abzusetzen. Ein gutes Stück vor Thiels Bude begann man zu
bremsen. Ein lautes Quietschen, Schnarren, Rasseln und Klirren
durchdrang weithin die Abendstille, bis der Zug unter einem einzigen
schrillen, langgedehnten Ton stillstand.
Etwa fünfzig Arbeiter und Arbeiterinnen waren in den Loren verteilt.
Fast alle standen aufrecht, einige unter den Männern mit entblößtem
Kopfe. In ihrer aller Wesen lag eine rätselhafte Feierlichkeit. Als sie
des Wärters ansichtig wurden, erhob sich ein Flüstern unter ihnen. Die
Alten zogen die Tabakspfeifen zwischen den gelben Zähnen hervor und
hielten sie respektvoll in den Händen. Hie und da wandte sich ein
Frauenzimmer, um sich zu schneuzen. Der Zugführer stieg auf die Strecke
herunter und trat auf Thiel zu. Die Arbeiter sahen, wie er ihm feierlich
die Hand schüttelte, worauf Thiel mit langsamem, fast militärisch-steifem
Schritt auf den letzten Wagen zuschritt.
Keiner der Arbeiter wagte ihn anzureden, obgleich sie ihn alle kannten.
Aus dem letzten Wagen hob man soeben das kleine Tobiäschen.
Es war tot.
Lene folgte ihm; ihr Gesicht war bläulich-weiß, braune Kreise lagen um
ihre Augen.
Thiel würdigte sie keines Blickes; sie aber erschrak beim Anblick ihres
Mannes. Seine Wangen waren hohl, Wimpern und Barthaare verklebt, der
Scheitel, so schien es ihr, ergrauter als bisher. Die Spuren
vertrockneter Tränen überall auf dem Gesicht; dazu ein unstetes Licht in
seinen Augen, davor sie ein Grauen ankam.
Auch die Tragbahre hatte man wieder mitgebracht, um die Leiche
transportieren zu können.
Eine Weile herrschte unheimliche Stille. Eine tiefe, entsetzliche
Versonnenheit hatte sich Thiels bemächtigt. Es wurde dunkler. Ein Rudel
Rehe setzte seitab auf den Bahndamm. Der Bock blieb stehen mitten
zwischen den Geleisen. Er wandte seinen gelenken Hals neugierig herum,
da pfiff die Maschine, und blitzartig verschwand er samt seiner Herde.
In dem Augenblick, als der Zug sich in Bewegung setzen wollte, brach
Thiel zusammen.
Der Zug hielt abermals, und es entspann sich eine Beratung über das, was
nun zu tun sei. Man entschied sich dafür, die Leiche des Kindes
einstweilen im Wärterhaus unterzubringen und statt ihrer den durch kein
Mittel wieder ins Bewußtsein zu rufenden Wärter mittelst der Bahre nach
Hause zu bringen.
Und so geschah es. Zwei Männer trugen die Bahre mit dem Bewußtlosen,
gefolgt von Lene, die, fortwährend schluchzend, mit tränenüberströmtem
Gesicht den Kinderwagen mit dem Kleinsten durch den Sand stieß.
Wie eine riesige purpurglühende Kugel lag der Mond zwischen den
Kieferschäften am Waldesgrund. Je höher er rückte um so kleiner schien
er zu werden, um so mehr verblaßte er. Endlich hing er, einer Ampel
vergleichbar, über dem Forst, durch alle Spalten und Lücken der Kronen
einen matten Lichtdunst drängend, welcher die Gesichter der
Dahinschreitenden leichenhaft anmalte.
Rüstig, aber vorsichtig schritt man vorwärts, jetzt durch enggedrängtes
Jungholz, dann wieder an weiten hochwaldumstandenen Schonungen entlang,
darin sich das bleiche Licht wie in großen, dunklen Becken angesammelt
hatte.
Der Bewußtlose röchelte von Zeit zu Zeit oder begann zu phantasieren.
Mehrmals ballte er die Fäuste und versuchte mit geschlossenen Augen sich
emporzurichten.
Es kostete Mühe, ihn über die Spree zu bringen; man mußte ein zweites
Mal übersetzen, um die Frau und das Kind nachzuholen.
Als man die kleine Anhöhe des Ortes emporstieg, begegnete man einigen
Einwohnern, welche die Botschaft des geschehenen Unglücks sofort
verbreiteten.
Die ganze Kolonie kam auf die Beine.
Angesichts ihrer Bekannten brach Lene in erneutes Klagen aus.
Man beförderte den Kranken mühsam die schmale Stiege hinauf in seine
Wohnung und brachte ihn sogleich zu Bett. Die Arbeiter kehrten sogleich
um, um Tobiäschens Leiche nachzuholen.
Alte erfahrene Leute hatten kalte Umschläge angeraten, und Lene befolgte
ihre Weisung mit Eifer und Umsicht. Sie legte Handtücher in eiskaltes
Brunnenwasser und erneuerte sie, sobald die brennende Stirn des
Bewußtlosen sie durchhitzt hatte. Ängstlich beobachtete sie die Atemzüge
des Kranken, welche ihr mit jeder Minute regelmäßiger zu werden
schienen.
Die Aufregungen des Tages hatten sie doch stark mitgenommen und sie
beschloß, ein wenig zu schlafen, fand jedoch keine Ruhe. Gleichviel ob
sie die Augen öffnete oder schloß, unaufhörlich zogen die Ereignisse der
Vergangenheit daran vorüber. Das Kleine schlief. Sie hatte sich entgegen
ihrer sonstigen Gewohnheit wenig darum bekümmert. Sie war überhaupt eine
andere geworden. Nirgend eine Spur des früheren Trotzes. Ja, dieser
kranke Mann mit dem farblosen, schweißglänzenden Gesicht regierte sie im
Schlaf.
Eine Wolke verdeckte die Mondkugel, es wurde finster im Zimmer, und Lene
hörte nur noch das schwere, aber gleichmäßige Atemholen ihres Mannes.
Sie überlegte, ob sie Licht machen sollte. Es wurde ihr unheimlich im
Dunkeln. Als sie aufstehen wollte, lag es ihr bleiern in allen Gliedern,
die Lider fielen ihr zu, sie entschlief.
Nach Verlauf von einigen Stunden, als die Männer mit der Kindesleiche
zurückkehrten, fanden sie die Haustüre weit offen. Verwundert über
diesen Umstand stiegen sie die Treppe hinauf, in die obere Wohnung,
deren Tür ebenfalls weit geöffnet war.
Man rief mehrmals den Namen der Frau, ohne eine Antwort zu erhalten.
Endlich strich man ein Schwefelholz an der Wand, und der aufzuckende
Lichtschein enthüllte eine grauenvolle Verwüstung.
»Mord, Mord!«
Lene lag in ihrem Blut, das Gesicht unkenntlich, mit zerschlagener
Hirnschale.
»Er hat seine Frau ermordet, er hat seine Frau ermordet!«
Kopflos lief man umher. Die Nachbarn kamen, einer stieß an die Wiege.
»Heiliger Himmel« und er fuhr zurück, bleich, mit entsetzensstarrem
Blick. Da lag das Kind mit durchschnittenem Halse.
Der Wärter war verschwunden; die Nachforschungen, welche man noch in
derselben Nacht anstellte, blieben erfolglos. Den Morgen darauf fand ihn
der diensttuende Wärter zwischen den Bahngeleisen und an der Stelle
sitzend, wo Tobiäschen überfahren worden war.
Er hielt das braune Pudelmützchen im Arm und liebkoste es ununterbrochen
wie etwas, das Leben hat.
Der Wärter richtete einige Fragen an ihn, bekam jedoch keine Antwort und
bemerkte bald, daß er es mit einem Irrsinnigen zu tun habe.
Der Wärter am Block, davon in Kenntnis gesetzt, erbat telegraphische
Hilfe.
Nun versuchten mehrere Männer ihn durch gutes Zureden von den Geleisen
fortzulocken; jedoch vergebens.
Der Schnellzug, der um diese Zeit passierte, mußte anhalten, und erst
der Übermacht seines Personales gelang es, den Kranken, der alsbald
furchtbar zu toben begann, mit Gewalt von der Strecke zu entfernen.
Man mußte ihm Hände und Füße binden, und der inzwischen requirierte Gendarm
überwachte seinen Transport nach dem Berliner Untersuchungsgefängnisse,
von wo aus er jedoch schon am ersten Tage nach der Irrenabteilung der
Charité überführt wurde. Noch bei der Einlieferung hielt er das braune
Mützchen in Händen und bewachte es mit eifersüchtiger Sorgfalt und
Zärtlichkeit.


Der Apostel

Spät am Abend war er in Zürich angelangt. Eine Dachkammer in der
»Taube«, ein wenig Brot und klares Wasser, bevor er sich niederlegte:
das genügte ihm.
Er schlief unruhig wenige Stunden. Schon kurz nach vier erhob er sich.
Der Kopf schmerzte ihn. Er schob es auf die lange Eisenbahnfahrt vom
gestrigen Tage. Um so etwas auszuhalten mußte man Nerven wie Seile
haben. Er haßte diese Bahnen mit ihrem ewigen Gerüttel, Gestampf und
Gepolter, mit ihren jagenden Bildern; -- er haßte sie und mit ihnen die
meisten anderen der sogenannten Errungenschaften dieser sogenannten
Kultur.
Durch den Gotthard allein ... es war wirklich eine Tortur, durch den
Gotthard zu fahren: dazusitzen, beim Scheine eines zuckenden Lämpchens,
mit dem Bewußtsein, diese ungeheure Steinmasse über sich zu haben. Dazu
dieses markerschütternde Konzert von Geräuschen im Ohr. Es war eine
Tortur, es war zum Verrücktwerden! In einen Zustand war er
hineingeraten, in eine Angst, kaum zu glauben. Wenn das nahe Rauschen so
zurücksank und dann wieder daherkam, daherfuhr wie die ganze Hölle und
so tosend wurde, daß es alles in einem förmlich zerschlug ... nie und
nimmer würde er nochmals durch den Gotthard fahren!
Man hatte nur einen Kopf. Wenn der einmal aufgestört war -- der
Bienenschwarm da drinnen -- da mochte der Teufel wieder Ruhe schaffen:
alles brach durch seine Grenzen, verlor die natürlichen Dimensionen,
dehnte sich hoch auf und hatte einen eigenen Willen.
Die Nacht hatte es ihn noch geplagt, nun sollte es damit ein Ende haben.
Der kalte, klare Morgen mußte das seinige tun. Übrigens würde er von
hier ab nach Deutschland hinein zu Fuße reisen.
Er wusch sich und zog die Kleider über. Als er die Sandalen unterband,
tauchte ihm flüchtig auf, wie er zu dem Kostüm, das er trug und das ihn
von allen übrigen Menschen unterschied, gekommen war: die Gestalt
Meister Diefenbachs ging vorüber. -- Dann war es ein Sprung in frühe
Jahre: er sah sich selbst in der sogenannten Normaltracht zur Schule
gehen -- der Glatzkopf des Vaters blickte hinter dem Ladentische der
Apotheke hervor, die Tracht des Sohnes milde bespöttelnd. Die Mutter
hatte doch immer gesagt, er sei kein Hypochonder. Der Glatzkopf und das
junge Frauengesicht schoben sich nebeneinander. Welch ein ungeheurer
Unterschied! Daß er das früher nie bemerkt hatte.
Die Sandalen saßen fest. Er legte den Strick, der die weiße Frieskutte
zusammenhielt, um die Hüften und eine Schnur rund um den Kopf.
Auf dem Hausflur der Herberge war ein alter Spiegel angebracht. Einen
Augenblick im Vorübergehen hielt er inne, um sich zu mustern. Wirklich!
-- er sah aus wie ein Apostel. Das heilige Blond der langen Haare, der
starke, rote, keilförmige Bart, das kühne, feste und doch so unendlich
milde Gesicht, die weiße Mönchskutte, die seine schöne, straffe Gestalt,
seinen elastischen, soldatisch geschulten Körper zu voller Geltung
brachte.
Mit Wohlgefallen spiegelte er sich. Warum sollte er es auch nicht? Warum
sollte er sich selbst nicht bewundern, da er doch nicht aufhörte, die
Natur zu bestaunen in allem, was sie hervorbrachte? Er lief ja durch
die Welt von Wunder zu Wunder, und Dinge, von anderen nicht beachtet,
erzeugten in ihm religiöse Schauer. Übrigens nahm sie sich gut aus --
die Neuerung dieses Morgens: man konnte ja denken, diese Schnur um den
Kopf habe den Zweck, das Haar zusammenzuhalten. Daß sie einem
Heiligenscheine ähnelte, hatte nichts auf sich. Heilige gab es nicht
mehr, oder besser: der Heiligenschein kam jedem Naturerzeugnis, auch dem
kleinsten Blümchen oder Käferchen zu, und dessen Auge war ein profanes
Auge, der nicht über allem solche Heiligenscheine schweben sah. -- --
Auf der Straße war noch niemand: einsamer Sonnenschein lag darauf; hie
und da der lange, ein wenig schräge Schatten eines Hauses. Er bog in ein
Seitengäßchen, das bergan stieg, und klomm bald zwischen Wiesen und
Obstgärten hin aufwärts.
Bisweilen ein hochgiebliges, altväterisches Häuschen, ein enges, mit
Blumen vollgepfropftes Hausgärtchen, dann wieder eine Wiese oder ein
Weinberg. Der Ruch des weißen Jasmins, des blauen Flieders und des
dunkelbrennenden Goldlacks erfüllte stellenweise die reine und starke
Luft, daß er sie wohlig in sich sog wie einen gewürzten Wein.
Er fühlte sich freier nach jedem Schritt.
Wie wenn ein Dorn aus seinem Herzen sich löste, war ihm zu Sinn, als es
ihm das Auge so still und unwiderstehlich nach außen zog. Das Dunkel in
ihm ward aufgesogen von all dem Licht. Die Köpfchen des gelben
Löwenzahns, gleich unzähligen, kleinen Sonnen in das sprießende Grün des
Wegrandes gelegt, blendeten ihn fast. Durch den schweren Blütenregen der
Obstbäume schossen die Sonnenstrahlen schräg in den wiesigen Grund, ihn
mit goldigen Tupfen überdeckend. So honigsüß dufteten die Birken. Und so
viel Leben, Behaglichkeit und Fleiß sprach aus dem verlorenen Sumsen
früher Bienen.
Sorgfältig vermied er im Aufsteigen irgend etwas zu beschädigen oder gar
zu vernichten, was Leben hatte. Das kleinste Käferchen wurde umgangen,
die zudringliche Wespe vorsichtig verscheucht. Er liebte die Mücken und
Fliegen brüderlich, und zu töten, -- auch nur den allergewöhnlichsten
Kohlweißling -- schien ihm das schwerste aller Verbrechen.
Blumen, halbwelk, von Kinderhänden ausgerauft, hob er vom Wege auf, um
sie irgendwo ins Wasser zu werfen. Er selbst pflückte niemals Veilchen
oder Rosen, um sich damit zu schmücken. Er verabscheute Sträuße und
Kränze; er wollte alles an seinem Ort.
Ihm war wohl und zufrieden. Nur, daß er sich selbst nicht sehen konnte,
bedauerte er. Er selbst mit seinem edlen Gange, einsam in der Frühe auf
die Berge steigend: das hätte ein Motiv abgegeben für einen großen
Maler --: und das Bild stand vor seiner Phantasie.
Dann sah er sich um, ob nicht doch vielleicht irgendeine menschliche
Seele bereits wach sei und ihn sehen könne. Niemand war zu erblicken.
Übrigens fing das merkwürdige Schwatzen -- im Ohr oder gar im Kopf
drinnen, er wußte nicht wo -- wieder an. Seit einigen Wochen plagte es
ihn. Sicherlich waren es Blutstockungen. Man mußte laufen, sich
anstrengen, das Blut in schnelleren Umlauf versetzen --
Und er beschleunigte seine Schritte.
Allmählich war er so über die Dächer der Häuser hinausgekommen. Er stand
ruhend still und hatte alle Pracht unter sich. Eine Erschütterung
überkam ihn. Ein Gefühl tiefer Zerknirschung brannte in ihm angesichts
dieser wundervollen Tiefe. -- Lange ließ er das verzückte Auge
umherschwelgen: -- über alles hin, zu der Spitze des jenseitigen
Berges, dessen schründige Hänge zartes, wolliges Grün umzog. --
Hinunter, wo die veilchenfarbne Fläche des Sees den Talgrund ausfüllte,
wo die weichen, grasigen Uferhügel daraus hervorstiegen, grüne Polster,
überschüttet, soweit die Sehkraft reichte, mit Blüten und wieder Blüten.
Dazwischen Häuschen, Villen und Dörfer, deren Fenster elektrisch
aufblitzten, deren rote Dächer und Türme leuchteten.
Nur im Süden, fern, verband ein grauer, silberiger Duft See und Himmel
und verdeckte die Landschaft; aber über ihm, fein und weiß leuchtend,
auf das blasse Blau der Luft gelegt, schemenhaft tauchten sie auf --
einem ungeheuren Silberschatz vergleichbar -- in langer sich
verlierender Reihe: die Spitzen der Schneeberge.
Dort haftete sein Blick -- starr -- lange. Als es ihn los ließ, blieb
nichts Festes mehr in ihm. Alles weich, aufgelöst. Tränen und
Schluchzen.
Er ging weiter.
Von oben her, wo die Buchen anfingen, traf das Geschrei des Kuckucks
sein Ohr: jene zwei Noten, die sich wiederholen, aussetzen, um dann
wieder und wieder zu beginnen. Er ging weiter, nunmehr für sich und
grüblerisch.
Mysteriöse Rührungen waren ihm angesichts der Natur nichts
Ungewöhnliches, so stark und jäh wie diesmal indes hatten sie ihn noch
niemals befallen. -- Es war eben sein Naturgefühl, das stärker und
tiefer wurde. Nichts war begreiflicher, und es tat nicht not, sich
darüber hypochondrische Gedanken zu machen. Übrigens fing es an, sich in
ihm zu verdichten, zu gestalten, zu erbauen. Kaum daß Minuten vergingen,
und alles in ihm war gebunden und fest.
Er stand still, wieder schauend. Nun war es die Stadt unten, die ihn
anzog und abstieß. Wie ein grauer, widerlicher Schorf erschien sie ihm,
wie ein Grind, der weiter fressen würde, in dies Paradies hineingeimpft:
Steinhaufen an Steinhaufen, spärliches Grün dazwischen. Er begriff, daß
der Mensch das allergefährlichste Ungeziefer sei. Jawohl, das stand
außer Zweifel: Städte waren nicht besser als Beulen, Auswüchse der
Kultur. Ihr Anblick verursachte ihm Ekel und Weh.
Zwischen den Buchen angelangt, ließ er sich nieder. Lang ausgestreckt,
den Kopf dicht an der Erde, Humus- und Grasgeruch einziehend, die
transparenten, grünen Halme dicht vor den Augen, lag er da. Ein Behagen
erfüllte ihn so, eine schwellende Liebe, eine taumelnde Glückseligkeit.
Wie Silbersäulen die Buchenstämme. Der wogende und rauschende,
sonnengolddurchschlagene, grüne Baldachin darüber, der Gesang, die
Freude, der eifrige und lachende Jubel der Vögel. Er schloß die Augen,
er gab sich ganz hin. -- --
Dabei stieg ihm der Traum der Nacht auf: eine fremde Stimmung zuerst,
ein Herzklopfen, eine Gehobenheit, die eine Vorstellung mitbrachte, über
deren Ursprung er grübeln mußte. Endlich kam die Erinnerung --: zwischen
Tag und Abend. Eine endlose, staubige, italienische Landstraße, noch
erhitzt, flimmernde Wärme ausströmend. Landleute kommen vom Felde,
braun, bunt, zerlumpt. Männer, Weiber und Kinder mit schwarzen,
stechenden und glaubenskranken Augen. Ärmliche Hütten schräg drüben.
Über sie her einfältiges, katholisches Aveglockengebimmel. Er selbst
bestaubt, müde, hungernd, dürstend. Er schreitet langsam, die Leute
knien am Wegrand, sie falten die Hände, sie beten ihn an. Ihm ist weich,
ihm ist groß.
Er lag und hing an dem Bilde. Fieber, Wollust, göttliche Hoheitsschauer
wühlten in ihm. Er erhob sich Gott gleich.
Nun war er bestürzt, als er die Augen auftat. Wie eine Säule aus Wasser
brach es zusammen und verrann.
Sich selbst fragend und zur Rede stellend, drang er ins Waldinnere. Er
machte sich Vorwürfe über sein verzücktes Träumen; es kam wider seinen
Willen und Entschluß. Die Wucht seiner Gefühle machte ihm bange, dennoch
aber: es konnte sein, daß seine nagende Angst ohne Grund war.
Übrigens wuchs die Angst, obgleich es ihm jetzt gerade ganz klar wurde,
daß sie grundlos war.
Sie hatten ihn wirklich verehrt, die Italiener, deren Dörfer er zu Fuß
durchzogen hatte. Sie waren gekommen, um ihre Kinder von ihm segnen zu
lassen. Warum sollte er nicht segnen, wenn andere Priester segnen
durften? Er hatte etwas -- er hatte mehr mitzuteilen als sie. Es gab ein
Wort, ein einziges wundervolles Wortjuwel: Friede! Darin lag es, was er
brachte, darin lag alles verschlossen -- alles -- alles.
Blutgeruch lag über der Welt. Das fließende Blut war das Zeichen des
Kampfes. Diesen Kampf hörte er toben, unaufhörlich, im Wachen und
Schlafen. Es waren Brüder und Brüder, Schwestern und Schwestern, die
sich erschlugen. Er liebte sie alle, er sah ihr Wüten und rang die
Hände in Schmerz und Verzweiflung.
Mit der Stimme des Donners reden zu können wünschte er glühend.
Angesichts der tosenden Schlacht, auf einem Felsblock, allen sichtbar,
stehend, mußte man rufen und winken. Zu warnen vor dem Bruder- und
Schwestermord, hinzuweisen auf den Weg zum Frieden war eine Forderung
des Gewissens.
Er kannte diesen Weg. Man betrat ihn durch ein Tor mit der Aufschrift:
Natur.
Mut und Eifer hatte die Angst seiner Seele allmählich wieder verdrängt.
Er ging, nicht wissend wohin, predigend im Geiste und bei sich selbst zu
allem Volke redend: ihr seid Fresser und Weinsäufer. Auf euren Tafeln
prangen kannibalisch Tierkadaver. Laßt ab vom Schlemmen! Laßt ab vom
ruchlosen Morde der Kreaturen! Früchte des Feldes seien eure Nahrung!
Eure seidnen Betten, eure Polster, eure kostbaren Möbel und Kleider,
tragt alles zusammen, werft die Fackeln hinein, daß die Flamme himmelan
schlage und es verzehre! Habt ihr das getan, dann kommt -- kommt alle,
die ihr mühselig und beladen seid und folgt mir nach! In ein Land will
ich euch führen, wo Tiger und Büffel nebeneinander weiden, wo die
Schlangen ohne Gift und die Bienen ohne Stachel sind. Dort wird der Haß
in euch sterben und die ewige Liebe lebendig werden.
Ihm schwoll das Herz. Wie ein reißender Strom stürzte der Schwall
strafender, tröstender und ermahnender Worte. Sein ganzer Körper bebte
in Leidenschaft. Mit hinreißender Stärke überkam ihn der Drang, seine
ganze Liebe und Sehnsucht auszuströmen. Als müsse er den Bäumen und
Vögeln predigen, war ihm zumut. Die Kraft seiner Rede mußte
unwiderstehlich sein. Er hätte das Eichhorn, welches in Bogensprüngen
zwischen den Stämmen hinhuschte, mit einem einzigen Worte bannen und zu
sich rufen können. Er wußte es, wußte es sicher, wie man weiß, daß der
Stein fällt. Eine Allmacht war in ihm: die Allmacht der Wahrheit.
Plötzlich hörte der Wald auf. Fast erschreckt, geblendet, wie jemand,
der aus einem tiefen Schacht aufsteigt, sah er die Welt. Aber es hörte
nicht auf in ihm zu wirken. Mit eins kam Richtung in seine Schritte. Er
stieg niederwärts, den abschüssigen Weg laufend und springend.
Wie ein Soldat, der stürmt, das Ziel im Auge, kam er sich nun vor.
Einmal im Laufen, war es schwer sich aufzuhalten. Die schnelle, heftige
Bewegung aber weckte etwas: eine Lust, eine Art Begeisterung, eine
Tollheit.
Das Bewußtsein kam, und mit Grausen sah er sich selbst in großen Sätzen
bergab eilen. Etwas in ihm wollte hastig hemmen, Einhalt tun, aber schon
war es ein Meer, das die Dämme durchbrochen hatte. Ein lähmender Schreck
blieb geduckt im Grunde seiner Seele und ein entsetztes, namenloses
Staunen dazu.
Sein Körper indes, wie etwas Fremdes, tobte entfesselt. Er schlug mit
den Händen, knirschte mit den Zähnen und stampfte den Boden. Er lachte
-- lachte lauter und lauter, ohne daß es abriß.
Als er zu sich kam, zitterte er. Fast gelähmt vor Entsetzen, hielt er
den Stamm einer jungen Linde umklammert. Nur mit Vorsicht und stets in
Angst vor der Wiederkehr des Unbekannten, Fürchterlichen ging er dann
weiter. Aber er wurde doch wieder frei und sicher, so daß er am Ende
über seine Angst lächeln konnte.
Nun, unter dem festen Gleichmaß seiner Schritte, angesichts der ersten
Häuser, kam die Erinnerung seiner Soldatenzeit. Wie oft, das Herz mit
dem tauben Hochgefühl befriedigter Eitelkeit zum Bersten gefüllt, hatte
er als Leutnant, an der Seite der Truppe, unter klingendem Spiele Einzug
gehalten. Er dachte es kaum, und schon hatte in seinem Kopfe die
markige, feurige Marschmusik eingesetzt, durch die er so oft fanatisiert
worden war. Sie klang in seinem Ohr und bewirkte, daß er die Füße in
Takt setzte und Kopf und Brust ungewöhnlich stolz trug. Sie legte das
sieghafte Lächeln um seine Lippen und den lebendigen Glanz in seine
Augen. So marschierend lauschte er zugleich in sich hinein, verwundert,
daß er so jeden Ton, jeden Akkord, jedes Instrument scharf unterschied,
bis auf das Nachschüttern des Zusammenschlags von Pauke und Becken. Er
wußte nicht, sollte ihn die Stärke seiner Vorstellungskraft beunruhigen
oder erfreuen. Ohne Zweifel war es eine Fähigkeit. Er hatte die
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  • Gerhart Hauptmann - 4
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