Gerhart Hauptmann - 2

Total number of words is 4305
Total number of unique words is 1667
34.7 of words are in the 2000 most common words
47.8 of words are in the 5000 most common words
53.9 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Der Wind hatte sich erhoben und trieb leise Wellen den Waldrand hinunter
und in die Ferne hinein. Aus den Telegraphenstangen, die die Strecke
begleiteten, tönten summende Akkorde. Auf den Drähten, die sich wie das
Gewebe einer Riesenspinne von Stange zu Stange fortrankten, klebten in
dichten Reihen Scharen zwitschernder Vögel. Ein Specht flog lachend über
Thiels Kopf weg, ohne daß er eines Blickes gewürdigt wurde.
Die Sonne, welche soeben unter dem Rande mächtiger Wolken herabhing, um
in das schwarzgrüne Wipfelmeer zu versinken, goß Ströme von Purpur über
den Forst. Die Säulenarkaden der Kiefernstämme jenseit des Dammes
entzündeten sich gleichsam von innen heraus und glühten wie Eisen.
Auch die Geleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen gleich, aber sie
erloschen zuerst. Und nun stieg die Glut langsam vom Erdboden in die
Höhe, erst die Schäfte der Kiefern, weiter den größten Teil ihrer Kronen
in kaltem Verwesungslichte zurücklassend, zuletzt nur noch den äußersten
Rand der Wipfel mit einem rötlichen Schimmer streifend. Lautlos und
feierlich vollzog sich das erhabene Schauspiel. Der Wärter stand noch
immer regungslos an der Barriere. Endlich trat er einen Schritt vor. Ein
dunkler Punkt am Horizonte, da wo die Geleise sich trafen, vergrößerte
sich. Von Sekunde zu Sekunde wachsend, schien er doch auf einer Stelle
zu stehen. Plötzlich bekam er Bewegung und näherte sich. Durch die
Geleise ging ein Vibrieren und Summen, ein rhythmisches Geklirr, ein
dumpfes Getöse, das, lauter und lauter werdend, zuletzt den Hufschlägen
eines heranbrausenden Reitergeschwaders nicht unähnlich war.
Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann
plötzlich zerriß die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den
Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte -- ein starker Luftdruck
-- eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende
Ungetüm war vorüber. So wie sie anwuchsen, starben nach und nach die
Geräusche. Der Dunst verzog sich. Zum Punkte eingeschrumpft, schwand der
Zug in der Ferne, und das alte heilge Schweigen schlug über dem
Waldwinkel zusammen.
* * * * *
»Minna,« flüsterte der Wärter wie aus einem Traum erwacht und ging nach
seiner Bude zurück. Nachdem er sich einen dünnen Kaffee aufgebrüht, ließ
er sich nieder und starrte, von Zeit zu Zeit einen Schluck zu sich
nehmend, auf ein schmutziges Stück Zeitungspapier, das er irgendwo an
der Strecke aufgelesen.
Nach und nach überkam ihn eine seltsame Unruhe. Er schob es auf die
Backofenglut, welche das Stübchen erfüllte, und riß Rock und Weste auf,
um sich zu erleichtern. Wie das nichts half, erhob er sich, nahm einen
Spaten aus der Ecke und begab sich auf das geschenkte Äckerchen.
Es war ein schmaler Streifen Sandes, von Unkraut dicht überwuchert. Wie
schneeweißer Schaum lag die junge Blütenpracht auf den Zweigen der
beiden Zwergobstbäumchen, welche darauf standen.
Thiel wurde ruhig und ein stilles Wohlgefallen beschlich ihn.
Nun also an die Arbeit.
Der Spaten schnitt knirschend in das Erdreich; die nassen Schollen
fielen dumpf zurück und bröckelten auseinander.
Eine Zeitlang grub er ohne Unterbrechung. Dann hielt er plötzlich inne
und sagte laut und vernehmlich vor sich hin, indem er dazu bedenklich
den Kopf hin und her wiegte: »Nein, nein, das geht ja nicht,« und
wieder: »nein, nein, das geht ja gar nicht.«
Es war ihm plötzlich eingefallen, daß ja nun Lene des öftern
herauskommen würde, um den Acker zu bestellen, wodurch dann die
hergebrachte Lebensweise in bedenkliche Schwankungen geraten mußte. Und
jäh verwandelte sich seine Freude über den Besitz des Ackers in
Widerwillen. Hastig, wie wenn er etwas Unrechtes zu tun im Begriff
gestanden hätte, riß er den Spaten aus der Erde und trug ihn nach der
Bude zurück. Hier versank er abermals in dumpfe Grübelei. Er wußte kaum
warum, aber die Aussicht, Lene ganze Tage lang bei sich im Dienst zu
haben, wurde ihm, so sehr er auch versuchte, sich damit zu versöhnen,
immer unerträglicher. Es kam ihm vor, als habe er etwas ihm Wertes zu
verteidigen, als versuchte jemand sein Heiligstes anzutasten, und
unwillkürlich spannten sich seine Muskeln in gelindem Krampfe, während
ein kurzes herausforderndes Lachen seinen Lippen entfuhr. Vom Widerhall
dieses Lachens erschreckt, blickte er auf und verlor dabei den Faden
seiner Betrachtungen. Als er ihn wiedergefunden, wühlte er sich
gleichsam in den alten Gegenstand.
Und plötzlich zerriß etwas wie ein dichter, schwarzer Vorhang in zwei
Stücke, und seine umnebelten Augen gewannen einen klaren Ausblick. Es
war ihm auf einmal zumute, als erwache er aus einem zweijährigen
totenähnlichen Schlaf und betrachte nun mit ungläubigem Kopfschütteln
all das Haarsträubende, welches er in diesem Zustand begangen haben
sollte. Die Leidensgeschichte seines Ältesten, welche die Eindrücke der
letzten Stunden nur noch hatten besiegeln können, trat deutlich vor
seine Seele. Mitleid und Reue ergriff ihn, sowie auch eine tiefe Scham
darüber, daß er diese ganze Zeit in schmachvoller Duldung hingelebt
hatte, ohne sich des lieben, hilflosen Geschöpfes anzunehmen, ja, ohne
nur die Kraft zu finden, sich einzugestehen, wie sehr dieses litt.
Über den selbstquälerischen Vorstellungen all seiner Unterlassungssünden
überkam ihn eine schwere Müdigkeit, und so entschlief er mit gekrümmtem
Rücken, die Stirn auf die Hand, diese auf den Tisch gelegt.
Eine Zeitlang hatte er so gelegen, als er mit erstickter Stimme mehrmals
den Namen »Minna« rief.
Ein Brausen und Sausen füllte sein Ohr, wie von unermeßlichen
Wassermassen; es wurde dunkel um ihn, er riß die Augen auf und erwachte.
Seine Glieder flogen, der Angstschweiß drang ihm aus allen Poren, sein
Puls ging unregelmäßig, sein Gesicht war naß von Tränen.
Es war stockdunkel. Er wollte einen Blick nach der Tür werfen, ohne zu
wissen, wohin er sich wenden sollte. Taumelnd erhob er sich, noch immer
währte seine Herzensangst. Der Wald draußen rauschte wie Meeresbrandung,
der Wind warf Hagel und Regen gegen die Fenster des Häuschens. Thiel
tastete ratlos mit den Händen umher. Einen Augenblick kam er sich vor
wie ein Ertrinkender -- da plötzlich flammte es bläulich blendend auf,
wie wenn Tropfen überirdischen Lichtes in die dunkle Erdatmosphäre
herabsänken, um sogleich von ihr erstickt zu werden.
Der Augenblick genügte, um den Wärter zu sich selbst zu bringen. Er
griff nach seiner Laterne, die er auch glücklich zu fassen bekam, und in
diesem Augenblick erwachte der Donner am fernsten Saume des märkischen
Nachthimmels. Erst dumpf und verhalten grollend, wälzte er sich näher in
kurzen, brandenden Erzwellen, bis er, zu Riesenstößen anwachsend, sich
endlich, die ganze Atmosphäre überflutend, dröhnend, schütternd und
brausend entlud.
Die Scheiben klirrten, die Erde erbebte.
Thiel hatte Licht gemacht. Sein erster Blick, nachdem er die Fassung
wieder gewonnen, galt der Uhr. Es lagen kaum fünf Minuten zwischen jetzt
und der Ankunft des Schnellzuges. Da er glaubte, das Signal überhört zu
haben, begab er sich, so schnell als Sturm und Dunkelheit erlaubten,
nach der Barriere. Als er noch damit beschäftigt war, diese zu
schließen, erklang die Signalglocke. Der Wind zerriß ihre Töne und warf
sie nach allen Richtungen auseinander. Die Kiefern bogen sich und rieben
unheimlich knarrend und quietschend ihre Zweige aneinander. Einen
Augenblick wurde der Mond sichtbar, wie er gleich einer blaßgoldenen
Schale zwischen den Wolken lag. In seinem Lichte sah man das Wühlen des
Windes in den schwarzen Kronen der Kiefern. Die Blattgehänge der Birken
am Bahndamm wehten und flatterten wie gespenstige Roßschweife. Darunter
lagen die Linien der Geleise, welche, vor Nässe glänzend, das blasse
Mondlicht in einzelnen Flecken aufsogen.
Thiel riß die Mütze vom Kopfe. Der Regen tat ihm wohl und lief vermischt
mit Tränen über sein Gesicht. Es gärte in seinem Hirn; unklare
Erinnerungen an das, was er im Traum gesehen, verjagten einander. Es war
ihm gewesen, als würde Tobias von jemand mißhandelt und zwar auf eine so
entsetzliche Weise, daß ihm noch jetzt bei dem Gedanken daran das Herz
stille stand. Einer anderen Erscheinung erinnerte er sich deutlicher. Er
hatte seine verstorbene Frau gesehen. Sie war irgendwoher aus der Ferne
gekommen, auf einem der Bahngeleise. Sie hatte recht kränklich
ausgesehen und statt der Kleider hatte sie Lumpen getragen. Sie war an
Thiels Häuschen vorübergekommen, ohne sich danach umzuschauen und
schließlich -- hier wurde die Erinnerung undeutlich -- war sie aus
irgend welchem Grunde nur mit großer Mühe vorwärts gekommen und sogar
mehrmals zusammengebrochen.
Thiel dachte weiter nach, und nun wußte er, daß sie sich auf der Flucht
befunden hatte. Es lag außer allem Zweifel, denn weshalb hätte sie sonst
diese Blicke voll Herzensangst nach rückwärts gesandt und sich weiter
geschleppt, obgleich ihr die Füße den Dienst versagten. O diese
entsetzlichen Blicke!
Aber es war etwas, das sie mit sich trug, in Tücher gewickelt, etwas
Schlaffes, Blutiges, Bleiches, und die Art, mit der sie darauf
niederblickte, erinnerte ihn an Szenen der Vergangenheit.
Er dachte an eine sterbende Frau, die ihr kaum geborenes Kind, das sie
zurücklassen mußte, unverwandt anblickte, mit einem Ausdruck tiefsten
Schmerzes, unfaßbarer Qual, jenem Ausdruck, den Thiel ebensowenig
vergessen konnte, als daß er einen Vater und eine Mutter habe.
Wo war sie hingekommen? Er wußte es nicht. Das aber trat ihm klar vor
die Seele: sie hatte sich von ihm losgesagt, ihn nicht beachtet, sie
hatte sich fortgeschleppt immer weiter und weiter durch die stürmische,
dunkle Nacht. Er hatte sie gerufen: »Minna, Minna,« und davon war er
erwacht.
Zwei rote, runde Lichter durchdrangen wie die Glotzaugen eines riesigen
Ungetüms die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen her, der die
Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen verwandelte. Es war, als
fiele ein Blutregen vom Himmel.
Thiel fühlte ein Grauen, und je näher der Zug kam, eine um so größere
Angst; Traum und Wirklichkeit verschmolzen ihm in eins. Noch immer sah
er das wandernde Weib auf den Schienen, und seine Hand irrte nach der
Patronentasche, als habe er die Absicht, den rasenden Zug zum Stehen zu
bringen. Zum Glück war es zu spät, denn schon flirrte es vor Thiels
Augen von Lichtern, und der Zug raste vorüber.
Den übrigen Teil der Nacht fand Thiel wenig Ruhe mehr in seinem Dienst.
Es drängte ihn daheim zu sein. Er sehnte sich, Tobiäschen wiederzusehen.
Es war ihm zumute, als sei er durch Jahre von ihm getrennt gewesen.
Zuletzt war er in steigender Bekümmernis um das Befinden des Jungen
mehrmals versucht, den Dienst zu verlassen.
Um die Zeit hinzubringen beschloß Thiel, sobald es dämmerte, seine
Strecke zu revidieren. In der Linken einen Stock, in der Rechten einen
langen, eisernen Schraubschlüssel schritt er denn auch alsbald auf dem
Rücken einer Bahnschiene in das schmutzig graue Zwielicht hinein.
Hin und wieder zog er mit dem Schraubschlüssel einen Bolzen fest oder
schlug an eine der runden Eisenstangen, welche die Geleise untereinander
verbanden.
Regen und Wind hatten nachgelassen, und zwischen zerschlissenen
Wolkenschichten wurden hie und da Stücke eines blaßblauen Himmels
sichtbar.
Das eintönige Klappen der Sohlen auf dem harten Metall, verbunden mit
dem schläfrigen Geräusch der tropfenschüttelnden Bäume beruhigte Thiel
nach und nach.
Um sechs Uhr früh wurde er abgelöst und trat ohne Verzug den Heimweg an.
Es war ein herrlicher Sonntagmorgen.
Die Wolken hatten sich zerteilt und waren mittlerweile hinter den
Umkreis des Horizontes hinabgesunken. Die Sonne goß, im Aufgehen gleich
einem ungeheuren blutroten Edelstein funkelnd, wahre Lichtmassen über
den Forst.
In scharfen Linien schossen die Strahlenbündel durch das Gewirr der
Stämme, hier eine Insel zarter Farnkräuter, deren Wedel feingeklöppelten
Spitzen glichen, mit Glut behauchend, dort die silbergrauen Flechten
des Waldgrundes zu roten Korallen umwandelnd.
Von Wipfeln, Stämmen und Gräsern floß der Feuertau. Eine Sintflut von
Licht schien über die Erde ausgegossen. Es lag eine Frische in der Luft,
die bis ins Herz drang, und auch hinter Thiels Stirn mußten die Bilder
der Nacht allmählich verblassen.
Mit dem Augenblick jedoch, wo er in die Stube trat und Tobiäschen
rotwangiger als je im sonnenbeschienenen Bette liegen sah, waren sie
ganz verschwunden.
Wohl wahr! Im Verlauf des Tages glaubte Lene mehrmals etwas
Befremdliches an ihm wahrzunehmen; so im Kirchstuhl, als er, statt ins
Buch zu schauen, sie selbst von der Seite betrachtete, und dann auch um
die Mittagszeit, als er, ohne ein Wort zu sagen, das Kleine, welches
Tobias wie gewöhnlich auf die Straße tragen sollte, aus dessen Arm nahm
und ihr auf den Schoß setzte. Sonst aber hatte er nicht das geringste
Auffällige an sich.
Thiel, der den Tag über nicht dazu gekommen war, sich niederzulegen,
kroch, da er die folgende Woche Tagdienst hatte, bereits gegen neun Uhr
abends ins Bett. Gerade als er im Begriff war einzuschlafen, eröffnete
ihm die Frau, daß sie am folgenden Morgen mit nach dem Walde gehen
werde, um das Land umzugraben und Kartoffeln zu stecken.
Thiel zuckte zusammen; er war ganz wach geworden, hielt jedoch die Augen
fest geschlossen.
Es sei die höchste Zeit, meinte Lene, wenn aus den Kartoffeln noch etwas
werden sollte, und fügte bei, daß sie die Kinder werde mitnehmen müssen,
da vermutlich der ganze Tag draufgehen würde. Der Wärter brummte einige
unverständliche Worte, die Lene weiter nicht beachtete. Sie hatte ihm
den Rücken gewandt und war beim Scheine eines Talglichtes damit
beschäftigt, das Mieder aufzunesteln und die Röcke herabzulassen.
Plötzlich fuhr sie herum, ohne selbst zu wissen aus welchem Grunde, und
blickte in das von Leidenschaften verzerrte, erdfarbene Gesicht ihres
Mannes, der sie, halb aufgerichtet, die Hände auf der Bettkante, mit
brennenden Augen anstarrte.
»Thiel!« -- schrie die Frau halb zornig, halb erschreckt, und wie ein
Nachtwandler, den man bei Namen ruft, erwachte er aus seiner Betäubung,
stotterte einige verwirrte Worte, warf sich in die Kissen zurück und zog
das Deckbett über die Ohren.
Lene war die erste, welche sich am folgenden Morgen vom Bett erhob. Ohne
dabei Lärm zu machen, bereitete sie alles Nötige für den Ausflug vor.
Der Kleinste wurde in den Kinderwagen gelegt, darauf Tobias geweckt und
angezogen. Als er erfuhr, wohin es gehen sollte, mußte er lächeln.
Nachdem alles bereit war und auch der Kaffee fertig auf dem Tisch stand,
erwachte Thiel. Mißbehagen war sein erstes Gefühl beim Anblick all der
getroffenen Vorbereitungen. Er hätte wohl gern ein Wort dagegen gesagt,
aber er wußte nicht, womit beginnen. Und welche für Lene stichhaltigen
Gründe hätte er auch angeben sollen?
Allmählich begann dann das mehr und mehr strahlende Gesichtchen seinen
Einfluß auf Thiel zu üben, so daß er schließlich schon um der Freude
willen, welche dem Jungen der Ausflug bereitete, nicht daran denken
konnte, Widerspruch zu erheben. Nichtsdestoweniger blieb Thiel während
der Wanderung durch den Wald nicht frei von Unruhe. Er stieß das
Kinderwägelchen mühsam durch den tiefen Sand und hatte allerhand Blumen
darauf liegen, die Tobias gesammelt hatte.
Der Junge war ausnehmend lustig. Er hüpfte in seinem braunen
Plüschmützchen zwischen den Farnkräutern umher und suchte auf eine
freilich etwas unbeholfene Art die glasflügligen Libellen zu fangen, die
darüber hingaukelten. Sobald man angelangt war, nahm Lene den Acker in
Augenschein. Sie warf das Säckchen mit Kartoffelstücken, welches sie zur
Saat mitgebracht hatte, auf den Grasrand eines kleinen Birkengehölzes,
kniete nieder und ließ den etwas dunkel gefärbten Sand durch ihre harten
Finger laufen.
Thiel beobachtete sie gespannt: »Nun, wie ist er?«
»Reichlich so gut wie die Spree-Ecke!« Dem Wärter fiel eine Last von der
Seele. Er hatte gefürchtet, sie würde unzufrieden sein, und kratzte
beruhigt seine Bartstoppeln.
Nachdem die Frau hastig eine dicke Brotkante verzehrt hatte, warf sie
Tuch und Jacke fort und begann zu graben, mit der Geschwindigkeit und
Ausdauer einer Maschine. In bestimmten Zwischenräumen richtete sie sich
auf und holte in tiefen Zügen Luft, aber es war jeweilig nur ein
Augenblick, wenn nicht etwa das Kleine gestillt werden mußte, was mit
keuchender, schweißtropfender Brust hastig geschah.
»Ich muß die Strecke belaufen, ich werde Tobias mitnehmen,« rief der
Wärter nach einer Weile von der Plattform vor der Bude aus zu ihr
herüber.
»Ach was -- Unsinn!« schrie sie zurück, »wer soll bei dem Kleinen
bleiben?« -- »Hierher kommst du!« setzte sie noch lauter hinzu, während
der Wärter, als ob er sie nicht hören könne, mit Tobiäschen davonging.
Im ersten Augenblick erwog sie, ob sie nicht nachlaufen solle, und nur
der Zeitverlust bestimmte sie, davon abzustehen. Thiel ging mit Tobias
die Strecke entlang. Der Kleine war nicht wenig erregt; alles war ihm
neu, fremd. Er begriff nicht, was die schmalen, schwarzen, vom
Sonnenlicht erwärmten Schienen zu bedeuten hatten. Unaufhörlich tat er
allerhand sonderbare Fragen. Vor allem verwunderlich war ihm das Klingen
der Telegraphenstangen. Thiel kannte den Ton jeder einzelnen seines
Reviers, so daß er mit geschlossenen Augen stets gewußt haben würde, in
welchem Teil der Strecke er sich gerade befand.
Oft blieb er, Tobiäschen an der Hand, stehen, um den wunderbaren Lauten
zu lauschen, die aus dem Holze wie sonore Choräle aus dem Innern einer
Kirche hervorströmten. Die Stange am Südende des Reviers hatte einen
besonders vollen und schönen Akkord. Es war ein Gewühl von Tönen in
ihrem Innern, die ohne Unterbrechung gleichsam in einem Atem
fortklangen, und Tobias lief rings um das verwitterte Holz, um, wie er
glaubte, durch eine Öffnung die Urheber des lieblichen Getöns zu
entdecken. Der Wärter wurde weihevoll gestimmt, ähnlich wie in der
Kirche. Zudem unterschied er mit der Zeit eine Stimme, die ihn an seine
verstorbene Frau erinnerte. Er stellte sich vor, es sei ein Chor seliger
Geister, in den sie ja auch ihre Stimme mische, und diese Vorstellung
erweckte in ihm eine Sehnsucht, eine Rührung bis zu Tränen.
Tobias verlangte nach den Blumen, die seitab standen, und Thiel wie
immer gab ihm nach.
Stücke blauen Himmels schienen auf den Boden des Haines herabgesunken,
so wunderbar dicht standen kleine, blaue Blüten darauf. Farbigen Wimpeln
gleich flatterten und gaukelten die Schmetterlinge lautlos zwischen dem
leuchtenden Weiß der Stämme, indes durch die zartgrünen Blätterwolken
der Birkenkronen ein sanftes Rieseln ging.
Tobias rupfte Blumen und der Vater schaute ihm sinnend zu. Zuweilen auch
erhob sich der Blick des letzteren und suchte durch die Lücken der
Blätter den Himmel, der wie eine riesige, makellos blaue Kristallschale
das Goldlicht der Sonne auffing.
»Vater, ist das der liebe Gott?« fragte der Kleine plötzlich, auf ein
braunes Eichhörnchen deutend, das unter kratzenden Geräuschen am Stamme
einer alleinstehenden Kiefer hinanhuschte.
»Närrischer Kerl,« war alles, was Thiel erwidern konnte, während
losgerissene Borkenstückchen den Stamm herunter vor seine Füße fielen.
Die Mutter grub noch immer, als Thiel und Tobias zurückkamen. Die Hälfte
des Ackers war bereits umgeworfen.
Die Bahnzüge folgten einander in kurzen Zwischenräumen, und Tobias sah
sie jedesmal mit offenem Munde vorübertoben.
Die Mutter selbst hatte ihren Spaß an seinen drolligen Grimassen.
Das Mittagessen, bestehend aus Kartoffeln und einem Restchen kalten
Schweinebraten, verzehrte man in der Bude. Lene war aufgeräumt, und auch
Thiel schien sich in das Unvermeidliche mit gutem Anstand fügen zu
wollen. Er unterhielt seine Frau während des Essens mit allerlei Dingen,
die in seinen Beruf schlugen. So fragte er sie, ob sie sich denken
könne, daß in einer einzigen Bahnschiene sechsundvierzig Schrauben
säßen und anderes mehr.
Am Vormittage war Lene mit Umgraben fertig geworden; am Nachmittag
sollten die Kartoffeln gesteckt werden. Sie bestand darauf, daß Tobias
jetzt das Kleine warte und nahm ihn mit sich.
»Paß auf ...« rief Thiel ihr nach, von plötzlicher Besorgnis ergriffen,
»paß auf, daß er den Geleisen nicht zu nahe kommt.«
Ein Achselzucken Lenes war die Antwort.
* * * * *
Der schlesische Schnellzug war gemeldet und Thiel mußte auf seinen
Posten. Kaum stand er dienstfertig an der Barriere, so hörte er ihn auch
schon heranbrausen.
Der Zug wurde sichtbar -- er kam näher -- in unzählbaren, sich
überhastenden Stößen fauchte der Dampf aus dem schwarzen
Maschinenschlote. Da: ein -- zwei -- drei milchweiße Dampfstrahlen
quollen kerzengrade empor, und gleich darauf brachte die Luft den Pfiff
der Maschine getragen. Dreimal hintereinander, kurz, grell,
beängstigend. Sie bremsen, dachte Thiel, warum nur? Und wieder gellten
die Notpfiffe schreiend, den Widerhall weckend, diesmal in langer,
ununterbrochener Reihe.
Thiel trat vor, um die Strecke überschauen zu können. Mechanisch zog er
die rote Fahne aus dem Futteral und hielt sie gerade vor sich hin über
die Geleise. -- Jesus Christus! war er blind gewesen? »Jesus Christus --
o Jesus, Jesus, Jesus Christus! was war das? Dort! -- dort zwischen den
Schienen ... Ha--alt!« schrie der Wärter aus Leibeskräften. Zu spät.
Eine dunkle Masse war unter den Zug geraten und wurde zwischen den
Rädern wie ein Gummiball hin und her geworfen. Noch einige Augenblicke,
und man hörte das Knarren und Quietschen der Bremsen. Der Zug stand.
Die einsame Strecke belebte sich. Zugführer und Schaffner rannten über
den Kies nach dem Ende des Zuges. Aus jedem Fenster blickten neugierige
Gesichter und jetzt -- die Menge knäulte sich und kam nach vorn.
Thiel keuchte; er mußte sich festhalten, um nicht umzusinken wie ein
gefällter Stier. Wahrhaftig, man winkt ihm -- »nein!«
Ein Aufschrei zerreißt die Luft von der Unglücksstelle her, ein Geheul
folgt, wie aus der Kehle eines Tieres kommend. Wer war das?! Lene?! Es
war nicht ihre Stimme und doch ...
Ein Mann kommt in Eile die Strecke herauf.
»Wärter!!«
»Was gibt's?«
»Ein Unglück!« ... Der Bote schrickt zurück, denn des Wärters Augen
spielen seltsam. Die Mütze sitzt schief, die roten Haare scheinen sich
aufzubäumen.
»Er lebt noch, vielleicht ist noch Hilfe.«
Ein Röcheln ist die einzige Antwort.
»Kommen Sie schnell, schnell!«
Thiel reißt sich auf mit gewaltiger Anstrengung. Seine schlaffen Muskeln
spannen sich; er richtet sich hoch auf, sein Gesicht ist blöd und tot.
Er rennt mit dem Boten, er sieht nicht die todbleichen, erschreckten
Gesichter der Reisenden in den Zugfenstern. Eine junge Frau schaut
heraus, ein Handlungsreisender im Fes, ein junges Paar, anscheinend auf
der Hochzeitsreise. Was geht's ihn an? Er hat sich nie um den Inhalt
dieser Polterkasten gekümmert; -- sein Ohr füllt das Geheul Lenens. Vor
seinen Augen schwimmt es durcheinander, gelbe Punkte, Glühwürmchen
gleich, unzählig. Er schrickt zurück -- er steht. Aus dem Tanze der
Glühwürmchen tritt es hervor, blaß, schlaff, blutrünstig. Eine Stirn,
braun und blau geschlagen, blaue Lippen, über die schwarzes Blut
tröpfelt. Er ist es.
Thiel spricht nicht. Sein Gesicht nimmt eine schmutzige Blässe an. Er
lächelt wie abwesend; endlich beugt er sich; er fühlt die schlaffen,
toten Gliedmaßen schwer in seinen Armen; die rote Fahne wickelt sich
darum.
Er geht.
Wohin?
»Zum Bahnarzt, zum Bahnarzt,« tönt es durcheinander.
»Wir nehmen ihn gleich mit,« ruft der Packmeister und macht in seinem
Wagen aus Dienströcken und Büchern ein Lager zurecht. »Nun also?«
Thiel macht keine Anstalten, den Verunglückten loszulassen. Man drängt
in ihn. Vergebens. Der Packmeister läßt eine Bahre aus dem Packwagen
reichen und beordert einen Mann, dem Vater beizustehen.
Die Zeit ist kostbar. Die Pfeife des Zugführers trillert. Münzen regnen
aus den Fenstern.
Lene gebärdet sich wie wahnsinnig. »Das arme, arme Weib,« heißt es in
den Kupees, »die arme, arme Mutter.«
Der Zugführer trillert abermals -- ein Pfiff -- die Maschine stößt
weiße, zischende Dämpfe aus ihren Zylindern und streckt ihre eisernen
Sehnen; einige Sekunden und der Kurierzug braust mit wehender Rauchfahne
in doppelter Geschwindigkeit durch den Forst.
Der Wärter, anderen Sinnes geworden, legt den halbtoten Jungen auf die
Bahre. Da liegt er da in seiner verkommenen Körpergestalt, und hin und
wieder hebt ein langer, rasselnder Atemzug die knöcherne Brust, welche
unter dem zerfetzten Hemd sichtbar wird. Die Ärmchen und Beinchen, nicht
nur in den Gelenken gebrochen, nehmen die unnatürlichsten Stellungen
ein. Die Ferse des kleinen Fußes ist nach vorn gedreht. Die Arme
schlottern über den Rand der Bahre.
Lene wimmert in einem fort; jede Spur ihres einstigen Trotzes ist aus
ihrem Wesen gewichen. Sie wiederholt fortwährend eine Geschichte, die
sie von jeder Schuld an dem Vorfall reinwaschen soll.
Thiel scheint sie nicht zu beachten; mit entsetzlich bangem Ausdruck
haften seine Augen an dem Kinde.
Es ist still ringsum geworden, totenstill; schwarz und heiß ruhen die
Geleise auf dem blendenden Kies. Der Mittag hat die Winde erstickt, und
regungslos wie aus Stein steht der Forst.
Die Männer beraten sich leise. Man muß, um auf dem schnellsten Wege nach
Friedrichshagen zu kommen, nach der Station zurück, die nach der
Richtung Breslau liegt, da der nächste Zug, ein beschleunigter
Personenzug, auf der Friedrichshagen nähergelegenen nicht anhält.
Thiel scheint zu überlegen, ob er mitgehen solle. Augenblicklich ist
niemand da, der den Dienst versteht. Eine stumme Handbewegung bedeutet
seiner Frau, die Bahre aufzunehmen; sie wagt nicht, sich zu widersetzen,
obgleich sie um den zurückbleibenden Säugling besorgt ist. Sie und der
fremde Mann tragen die Bahre. Thiel begleitet den Zug bis an die Grenze
seines Reviers, dann bleibt er stehen und schaut ihm lange nach.
Plötzlich schlägt er sich mit der flachen Hand vor die Stirn, daß es
weithin schallt.
Er meint sich zu erwecken, »denn es wird ein Traum sein, wie der
gestern,« sagt er sich. -- Vergebens. -- Mehr taumelnd als laufend
erreichte er sein Häuschen. Drinnen fiel er auf die Erde, das Gesicht
voran. Seine Mütze rollte in die Ecke, seine peinlich gepflegte Uhr fiel
aus der Tasche, die Kapsel sprang, das Glas zerbrach. Es war, als hielt
ihn eine eiserne Faust im Nacken gepackt, so fest, daß er sich nicht
bewegen konnte, so sehr er auch unter Ächzen und Stöhnen sich frei zu
machen suchte. Seine Stirn war kalt, seine Augen trocken, sein Schlund
brannte.
Die Signalglocke weckte ihn. Unter dem Eindruck jener sich
wiederholenden drei Glockenschläge ließ der Anfall nach. Thiel konnte
sich erheben und seinen Dienst tun. Zwar waren seine Füße bleischwer,
zwar kreiste um ihn die Strecke wie die Speiche eines ungeheuren Rades,
dessen Achse sein Kopf war; aber er gewann doch wenigstens so viel
Kraft, sich für einige Zeit aufrechtzuerhalten.
Der Personenzug kam heran. Tobias mußte darin sein. Je näher er rückte,
um so mehr verschwammen die Bilder vor Thiels Augen. Am Ende sah er nur
noch den zerschlagenen Jungen mit dem blutigen Munde. Dann wurde es
Nacht.
Nach einer Weile erwachte er aus einer Ohnmacht. Er fand sich dicht an
der Barriere im heißen Sande liegen. Er stand auf, schüttelte die
Sandkörner aus seinen Kleidern und spie sie aus seinem Munde. Sein Kopf
wurde ein wenig freier, er vermochte ruhiger zu denken.
In der Bude nahm er sogleich seine Uhr vom Boden auf und legte sie auf
den Tisch. Sie war trotz des Falles nicht stehengeblieben. Er zählte
während zweier Stunden die Sekunden und Minuten, indem er sich
vorstellte, was indes mit Tobias geschehen mochte: Jetzt kam Lene mit
ihm an; jetzt stand sie vor dem Arzte. Dieser betrachtete und betastete
den Jungen und schüttelte den Kopf.
»Schlimm, sehr schlimm -- aber vielleicht ... wer weiß?« Er untersuchte
You have read 1 text from German literature.
Next - Gerhart Hauptmann - 3
  • Parts
  • Gerhart Hauptmann - 1
    Total number of words is 4173
    Total number of unique words is 1696
    36.7 of words are in the 2000 most common words
    48.2 of words are in the 5000 most common words
    54.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gerhart Hauptmann - 2
    Total number of words is 4305
    Total number of unique words is 1667
    34.7 of words are in the 2000 most common words
    47.8 of words are in the 5000 most common words
    53.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gerhart Hauptmann - 3
    Total number of words is 4357
    Total number of unique words is 1739
    35.7 of words are in the 2000 most common words
    47.5 of words are in the 5000 most common words
    53.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Gerhart Hauptmann - 4
    Total number of words is 3170
    Total number of unique words is 1318
    38.4 of words are in the 2000 most common words
    50.6 of words are in the 5000 most common words
    57.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.