Gerhart Hauptmann - 1

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Fischers Bibliothek
zeitgenössischer Romane


Bahnwärter Thiel
von
Gerhart Hauptmann

S. Fischer, Verlag, Berlin


Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung, vorbehalten


Inhalt

Bahnwärter Thiel 7
Der Apostel 71


Bahnwärter Thiel

1
Allsonntäglich saß der Bahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau,
ausgenommen die Tage, an denen er Dienst hatte oder krank war und zu
Bette lag. Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen;
das eine Mal infolge eines vom Tender einer Maschine während des
Vorbeifahrens herabgefallenen Stückes Kohle, welches ihn getroffen
und mit zerschmettertem Bein in den Bahngraben geschleudert hatte;
das andere Mal einer Weinflasche wegen, die aus dem vorüberrasenden
Schnellzuge mitten auf seine Brust geflogen war. Außer diesen beiden
Unglücksfällen hatte nichts vermocht, ihn, sobald er frei war, von der
Kirche fernzuhalten.
Die ersten fünf Jahre hatte er den Weg von Schön-Schornstein, einer
Kolonie an der Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen müssen.
Eines schönen Tages war er dann in Begleitung eines schmächtigen und
kränklich aussehenden Frauenzimmers erschienen, die, wie die Leute
meinten, zu seiner herkulischen Gestalt wenig gepaßt hatte. Und wiederum
eines schönen Sonntag Nachmittags reichte er dieser selben Person am
Altare der Kirche feierlich die Hand zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre
nun saß das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der Kirchenbank; zwei
Jahre blickte ihr hohlwangiges, feines Gesicht neben seinem vom Wetter
gebräunten in das uralte Gesangbuch --; und plötzlich saß der Bahnwärter
wieder allein wie zuvor.
An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet:
das war das Ganze.
An dem Wärter hatte man, wie die Leute versicherten, kaum eine
Veränderung wahrgenommen. Die Knöpfe seiner sauberen Sonntagsuniform
waren so blank geputzt als je zuvor, seine roten Haare so wohl geölt und
militärisch gescheitelt wie immer, nur daß er den breiten, behaarten
Nacken ein wenig gesenkt trug und noch eifriger der Predigt lauschte
oder sang, als er es früher getan hatte. Es war die allgemeine Ansicht,
daß ihm der Tod seiner Frau nicht sehr nahe gegangen sei; und diese
Ansicht erhielt eine Bekräftigung, als sich Thiel nach Verlauf eines
Jahres zum zweiten Male, und zwar mit einem dicken und starken
Frauenzimmer, einer Kuhmagd aus Alte-Grund, verheiratete.
Auch der Pastor gestattete sich, als Thiel die Trauung anmelden kam,
einige Bedenken zu äußern:
»Ihr wollt also schon wieder heiraten?«
»Mit der Toten kann ich nicht wirtschaften, Herr Prediger!«
»Nun ja wohl -- aber ich meine -- Ihr eilt ein wenig.«
»Der Junge geht mir drauf, Herr Prediger.«
Thiels Frau war im Wochenbett gestorben, und der Junge, welchen sie zur
Welt gebracht, lebte und hatte den Namen Tobias erhalten.
»Ach so, der Junge,« sagte der Geistliche und machte eine Bewegung, die
deutlich zeigte, daß er sich des Kleinen erst jetzt erinnere. »Das ist
etwas andres -- wo habt Ihr ihn denn untergebracht, während Ihr im
Dienst seid?«
Thiel erzählte nun, wie er Tobias einer alten Frau übergeben, die ihn
einmal beinahe habe verbrennen lassen, während er ein anderes Mal von
ihrem Schoß auf die Erde gekugelt sei, ohne glücklicherweise mehr als
eine große Beule davonzutragen. Das könne nicht so weiter gehen, meinte
er, zudem da der Junge, schwächlich wie er sei, eine ganz besondere
Pflege benötige. Deswegen und ferner weil er der Verstorbenen in die
Hand gelobt, für die Wohlfahrt des Jungen zu jeder Zeit ausgiebig Sorge
zu tragen, habe er sich zu dem Schritte entschlossen. --
Gegen das neue Paar, welches nun allsonntäglich zur Kirche kam, hatten
die Leute äußerlich durchaus nichts einzuwenden. Die frühere Kuhmagd
schien für den Wärter wie geschaffen. Sie war kaum einen halben Kopf
kleiner wie er und übertraf ihn an Gliederfülle. Auch war ihr Gesicht
ganz so grob geschnitten wie das seine, nur daß ihm im Gegensatz zu dem
des Wärters die Seele abging.
Wenn Thiel den Wunsch gehegt hatte, in seiner zweiten Frau eine
unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin zu haben, so
war dieser Wunsch in überraschender Weise in Erfüllung gegangen. Drei
Dinge jedoch hatte er, ohne es zu wissen, mit seiner Frau in Kauf
genommen: eine harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale
Leidenschaftlichkeit. Nach Verlauf eines halben Jahres war es
ortsbekannt, wer in dem Häuschen des Wärters das Regiment führte. Man
bedauerte den Wärter.
Es sei ein Glück für »das Mensch«, daß sie ein so gutes Schaf wie den
Thiel zum Manne bekommen habe, äußerten die aufgebrachten Ehemänner; es
gäbe welche, bei denen sie greulich anlaufen würde. So ein »Tier« müsse
doch kirre zu machen sein, meinten sie, und wenn es nicht anders ginge,
denn mit Schlägen. Durchgewalkt müsse sie werden, aber dann gleich so,
daß es zöge.
Sie durchzuwalken aber war Thiel trotz seiner sehnigen Arme nicht der
Mann. Das, worüber sich die Leute ereiferten, schien ihm wenig
Kopfzerbrechen zu machen. Die endlosen Predigten seiner Frau ließ er
gewöhnlich wortlos über sich ergehen, und wenn er einmal antwortete, so
stand das schleppende Zeitmaß, sowie der leise, kühle Ton seiner Rede in
seltsamstem Gegensatz zu dem kreischenden Gekeif seiner Frau. Die
Außenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war, als trüge er etwas
in sich, wodurch er alles Böse, was sie ihm antat, reichlich mit Gutem
aufgewogen erhielt.
Trotz seines unverwüstlichen Phlegmas hatte er doch Augenblicke, in
denen er nicht mit sich spaßen ließ. Es war dies immer anläßlich
solcher Dinge, die Tobiäschen betrafen. Sein kindgutes, nachgiebiges
Wesen gewann dann einen Anstrich von Festigkeit, dem selbst ein so
unzähmbares Gemüt wie das Lenes nicht entgegenzutreten wagte.
Die Augenblicke indes, darin er diese Seite seines Wesens herauskehrte,
wurden mit der Zeit immer seltener und verloren sich zuletzt ganz. Ein
gewisser leidender Widerstand, den er der Herrschsucht Lenens während
des ersten Jahres entgegengesetzt, verlor sich ebenfalls im zweiten. Er
ging nicht mehr mit der früheren Gleichgültigkeit zum Dienst, nachdem er
einen Auftritt mit ihr gehabt, wenn er sie nicht vorher besänftigt
hatte. Er ließ sich am Ende nicht selten herab, sie zu bitten, doch
wieder gut zu sein. -- Nicht wie sonst mehr war ihm sein einsamer Posten
inmitten des märkischen Kiefernforstes sein liebster Aufenthalt. Die
stillen, hingebenden Gedanken an sein verstorbenes Weib wurden von denen
an die Lebende durchkreuzt. Nicht widerwillig, wie die erste Zeit, trat
er den Heimweg an, sondern mit leidenschaftlicher Hast, nachdem er
vorher oft Stunden und Minuten bis zur Zeit der Ablösung gezählt hatte.
Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe
verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt
seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr
abhängig. -- Zuzeiten empfand er Gewissensbisse über diesen Umschwung
der Dinge und er bedurfte einer Anzahl außergewöhnlicher Hilfsmittel, um
sich darüber hinweg zu helfen. So erklärte er sein Wärterhäuschen und
die Bahnstrecke, die er zu besorgen hatte, insgeheim gleichsam für
geheiligtes Land, welches ausschließlich den Manen der Toten gewidmet
sein sollte. Mit Hilfe von allerhand Vorwänden war es ihm in der Tat
bisher gelungen, seine Frau davon abzuhalten, ihn dahin zu begleiten.
Er hoffte es auch fernerhin tun zu können. Sie hätte nicht gewußt,
welche Richtung sie einschlagen sollte, um seine »Bude«, deren Nummer
sie nicht einmal kannte, aufzufinden.
Dadurch, daß er die ihm zu Gebote stehende Zeit somit gewissenhaft
zwischen die Lebende und Tote zu teilen vermochte, beruhigte Thiel sein
Gewissen in der Tat.
Oft freilich und besonders in Augenblicken einsamer Andacht, wenn er
recht innig mit der Verstorbenen verbunden gewesen war, sah er seinen
jetzigen Zustand im Lichte der Wahrheit und empfand davor Ekel.
Hatte er Tagdienst, so beschränkte sich sein geistiger Verkehr mit der
Verstorbenen auf eine Menge lieber Erinnerungen aus der Zeit seines
Zusammenlebens mit ihr. Im Dunkel jedoch, wenn der Schneesturm durch die
Kiefern und über die Strecke raste, in tiefer Mitternacht beim Scheine
seiner Laterne, da wurde das Wärterhäuschen zur Kapelle.
Eine verblichene Photographie der Verstorbenen vor sich auf dem Tisch,
Gesangbuch und Bibel aufgeschlagen, las und sang er abwechselnd die
lange Nacht hindurch, nur von den in Zwischenräumen vorbeitobenden
Bahnzügen unterbrochen, und geriet hierbei in eine Ekstase, die sich zu
Gesichten steigerte, in denen er die Tote leibhaftig vor sich sah.
Der Posten, den der Wärter nun schon zehn volle Jahre ununterbrochen
innehatte, war aber in seiner Abgelegenheit dazu angetan, seine
mystischen Neigungen zu fördern.
Nach allen vier Windrichtungen mindestens durch einen
dreiviertelstündigen Weg von jeder menschlichen Wohnung entfernt, lag
die Bude inmitten des Forstes dicht neben einem Bahnübergang, dessen
Barrieren der Wärter zu bedienen hatte.
Im Sommer vergingen Tage, im Winter Wochen, ohne daß ein menschlicher
Fuß, außer denen des Wärters und seines Kollegen, die Strecke passierte.
Das Wetter und der Wechsel der Jahreszeiten brachten in ihrer
periodischen Wiederkehr fast die einzige Abwechslung in diese Einöde.
Die Ereignisse, welche im übrigen den regelmäßigen Ablauf der Dienstzeit
Thiels außer den beiden Unglücksfällen unterbrochen hatten, waren
unschwer zu überblicken. Vor vier Jahren war der kaiserliche Extrazug,
der den Kaiser nach Breslau gebracht hatte, vorübergejagt. In einer
Winternacht hatte der Schnellzug einen Rehbock überfahren. An einem
heißen Sommertage hatte Thiel bei seiner Streckenrevision eine verkorkte
Weinflasche gefunden, die sich glühend heiß anfaßte und deren Inhalt
deshalb von ihm für sehr gut gehalten wurde, weil er nach Entfernung des
Korkes einer Fontäne gleich herausquoll, also augenscheinlich gegoren
war. Diese Flasche, von Thiel in den seichten Rand eines Waldsees
gelegt, um abzukühlen, war von dort auf irgend welche Weise abhanden
gekommen, so daß er noch nach Jahren ihren Verlust bedauern mußte.
Einige Zerstreuung vermittelte dem Wärter ein Brunnen dicht hinter
seinem Häuschen. Von Zeit zu Zeit nahmen in der Nähe beschäftigte Bahn-
oder Telegraphenarbeiter einen Trunk daraus, wobei natürlich ein kurzes
Gespräch mit unterlief. Auch der Förster kam zuweilen, um seinen Durst
zu löschen.
Tobias entwickelte sich nur langsam: erst gegen Ablauf seines zweiten
Lebensjahres lernte er notdürftig sprechen und gehen. Dem Vater bewies
er eine ganz besondere Zuneigung. Wie er verständiger wurde, erwachte
auch die alte Liebe des Vaters wieder. In dem Maße, wie diese zunahm,
verringerte sich die Liebe der Stiefmutter zu Tobias und schlug sogar in
unverkennbare Abneigung um, als Lene nach Verlauf eines neuen Jahres
ebenfalls einen Jungen gebar.
Von da ab begann für Tobias eine schlimme Zeit. Er wurde besonders in
Abwesenheit des Vaters unaufhörlich geplagt und mußte ohne die geringste
Belohnung dafür seine schwachen Kräfte im Dienste des kleinen
Schreihalses einsetzen, wobei er sich mehr und mehr aufrieb. Sein Kopf
bekam einen ungewöhnlichen Umfang; die brandroten Haare und das kreidige
Gesicht darunter machten einen unschönen und im Verein mit der übrigen
kläglichen Gestalt erbarmungswürdigen Eindruck. Wenn sich der
zurückgebliebene Tobias solchergestalt, das kleine, von Gesundheit
strotzende Brüderchen auf dem Arme, hinunter zur Spree schleppte, so
wurden hinter den Fenstern der Hütten Verwünschungen laut, die sich
jedoch niemals hervorwagten. Thiel aber, welchen die Sache doch vor
allem anging, schien keine Augen für sie zu haben und wollte auch die
Winke nicht verstehen, welche ihm von wohlmeinenden Nachbarsleuten
gegeben wurden.

2
An einem Junimorgen gegen sieben Uhr kam Thiel aus dem Dienst. Seine
Frau hatte nicht so bald ihre Begrüßung beendet, als sie schon in
gewohnter Weise zu lamentieren begann. Der Pachtacker, welcher bisher
den Kartoffelbedarf der Familie gedeckt hatte, war vor Wochen gekündigt
worden, ohne daß es Lenen bisher gelungen war, einen Ersatz dafür
ausfindig zu machen. Wenngleich nun die Sorge um den Acker zu ihren
Obliegenheiten gehörte, so mußte doch Thiel einmal übers andre hören,
daß niemand als er daran schuld sei, wenn man in diesem Jahre zehn Sack
Kartoffeln für schweres Geld kaufen müsse. Thiel brummte nur und begab
sich, Lenens Reden wenig Beachtung schenkend, sogleich an das Bett
seines Ältesten, welches er in den Nächten, wo er nicht im Dienst war,
mit ihm teilte. Hier ließ er sich nieder und beobachtete mit einem
sorglichen Ausdruck seines guten Gesichts das schlafende Kind, welches
er, nachdem er die zudringlichen Fliegen eine Weile von ihm abgehalten,
schließlich weckte. In den blauen, tiefliegenden Augen des Erwachenden
malte sich eine rührende Freude. Er griff hastig nach der Hand des
Vaters, indes sich seine Mundwinkel zu einem kläglichen Lächeln
verzogen. Der Wärter half ihm sogleich beim Anziehen der wenigen
Kleidungsstücke, wobei plötzlich etwas wie ein Schatten durch seine
Mienen lief, als er bemerkte, daß sich auf der rechten, ein wenig
angeschwollenen Backe einige Fingerspuren weiß in rot abzeichneten.
Als Lene beim Frühstück mit vergrößertem Eifer auf vorberegte
Wirtschaftsangelegenheit zurückkam, schnitt er ihr das Wort ab mit der
Nachricht, daß ihm der Bahnmeister ein Stück Land längs des Bahndammes
in unmittelbarer Nähe des Wärterhauses umsonst überlassen habe,
angeblich weil es ihm, dem Bahnmeister, zu abgelegen sei.
Lene wollte das anfänglich nicht glauben. Nach und nach wichen jedoch
ihre Zweifel, und nun geriet sie in merklich gute Laune. Ihre Fragen
nach Größe und Güte des Ackers sowie andre mehr verschlangen sich
förmlich, und als sie erfuhr, daß bei alledem noch zwei Zwergobstbäume
darauf stünden, wurde sie rein närrisch. Als nichts mehr zu erfragen
übrigblieb, zudem die Türglocke des Krämers, die man, beiläufig gesagt,
in jedem einzelnen Hause des Ortes vernehmen konnte, unaufhörlich
anschlug, schoß sie davon, um die Neuigkeit im Örtchen auszusprengen.
Während Lene in die dunkle, mit Waren überfüllte Kammer des Krämers kam,
beschäftigte sich der Wärter daheim ausschließlich mit Tobias. Der Junge
saß auf seinen Knien und spielte mit einigen Kieferzapfen, die Thiel mit
aus dem Walde gebracht hatte.
»Was willst du werden?« fragte ihn der Vater, und diese Frage war
stereotyp wie die Antwort des Jungen: »ein Bahnmeister.« Es war keine
Scherzfrage, denn die Träume des Wärters verstiegen sich in der Tat in
solche Höhen, und er hegte allen Ernstes den Wunsch und die Hoffnung,
daß aus Tobias mit Gottes Hilfe etwas Außergewöhnliches werden sollte.
Sobald die Antwort »ein Bahnmeister« von den blutlosen Lippen des
Kleinen kam, der natürlich nicht wußte, was sie bedeuten sollte, begann
Thiels Gesicht sich aufzuhellen, bis es förmlich strahlte von innerer
Glückseligkeit.
»Geh, Tobias, geh spielen!« sagte er kurz darauf, indem er eine Pfeife
Tabak mit einem im Herdfeuer entzündeten Span in Brand steckte, und der
Kleine drückte sich alsbald in scheuer Freude zur Türe hinaus. Thiel
entkleidete sich, ging zu Bett und entschlief, nachdem er geraume Zeit
gedankenvoll die niedrige und rissige Stubendecke angestarrt hatte.
Gegen zwölf Uhr mittags erwachte er, kleidete sich an und ging, während
seine Frau in ihrer lärmenden Weise das Mittagbrot bereitete, hinaus auf
die Straße, wo er Tobiäschen sogleich aufgriff, der mit den Fingern Kalk
aus einem Loche in der Wand kratzte und in den Mund steckte. Der Wärter
nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm an den etwa acht Häuschen des
Ortes vorüber bis hinunter zur Spree, die schwarz und glasig zwischen
schwach belaubten Pappeln lag. Dicht am Rande des Wassers befand sich
ein Granitblock, auf welchen Thiel sich niederließ.
Der ganze Ort hatte sich gewöhnt, ihn bei nur irgend erträglichem Wetter
an dieser Stelle zu erblicken. Die Kinder besonders hingen an ihm,
nannten ihn »Vater Thiel« und wurden von ihm besonders in mancherlei
Spielen unterrichtet, deren er sich aus seiner Jugendzeit erinnerte. Das
Beste jedoch von dem Inhalt seiner Erinnerungen war für Tobias. Er
schnitzelte ihm Fitschepfeile, die höher flogen wie die aller anderen
Jungen. Er schnitt ihm Weidenpfeifchen und ließ sich sogar herbei, mit
seinem verrosteten Baß das Beschwörungslied zu singen, während er mit
dem Horngriff seines Taschenmessers die Rinde leise klopfte.
Die Leute verübelten ihm seine Läppschereien; es war ihnen unerfindlich,
wie er sich mit den Rotznasen so viel abgeben konnte. Im Grunde durften
sie jedoch damit zufrieden sein, denn die Kinder waren unter seiner
Obhut gut aufgehoben. Überdies nahm Thiel auch ernste Dinge mit ihnen
vor, hörte den Großen ihre Schulaufgaben ab, half ihnen beim Lernen der
Bibel- und Gesangbuchverse und buchstabierte mit den Kleinen »a« -- »b«
-- »ab«, »d« -- »u« -- »du« und so fort.
Nach dem Mittagessen legte sich der Wärter abermals zu kurzer Ruhe
nieder. Nachdem sie beendigt war, trank er den Nachmittagskaffee und
begann gleich darauf sich für den Gang in den Dienst vorzubereiten. Er
brauchte dazu, wie zu allen seinen Verrichtungen, viel Zeit; jeder
Handgriff war seit Jahren geregelt; in stets gleicher Reihenfolge
wanderten die sorgsam auf der kleinen Nußbaumkommode ausgebreiteten
Gegenstände: Messer, Notizbuch, Kamm, ein Pferdezahn, die alte
eingekapselte Uhr in die Taschen seiner Kleider. Ein kleines, in rotes
Papier eingeschlagenes Büchelchen wurde mit besonderer Sorgfalt
behandelt. Es lag während der Nacht unter dem Kopfkissen des Wärters und
wurde am Tage von ihm stets in der Brusttasche des Dienstrockes
herumgetragen. Auf der Etikette unter dem Umschlag stand in
unbeholfenen, aber verschnörkelten Schriftzügen, von Thiels Hand
geschrieben: Sparkassenbuch des Tobias Thiel.
Die Wanduhr mit dem langen Pendel und dem gelbsüchtigen Zifferblatt
zeigte dreiviertel fünf, als Thiel fortging. Ein kleiner Kahn, sein
Eigentum, brachte ihn über den Fluß. Am jenseitigen Spreeufer blieb er
einige Male stehen und lauschte nach dem Ort zurück. Endlich bog er in
einen breiten Waldweg und befand sich nach wenigen Minuten inmitten des
tiefaufrauschenden Kiefernforstes, dessen Nadelmassen einem
schwarzgrünen, wellenwerfenden Meere glichen. Unhörbar wie auf Filz
schritt er über die feuchte Moos- und Nadelschicht des Waldbodens. Er
fand seinen Weg ohne aufzublicken, hier durch die rostbraunen Säulen des
Hochwaldes, dort weiterhin durch dicht verschlungenes Jungholz, noch
weiter über ausgedehnte Schonungen, die von einzelnen hohen und
schlanken Kiefern überschattet wurden, welche man zum Schutze für den
Nachwuchs aufbehalten hatte. Ein bläulicher, durchsichtiger, mit
allerhand Düften geschwängerter Dunst stieg aus der Erde auf und ließ
die Formen der Bäume verwaschen erscheinen. Ein schwerer, milchiger
Himmel hing tief herab über die Baumwipfel. Krähenschwärme badeten
gleichsam im Grau der Luft, unaufhörlich ihre knarrenden Rufe
ausstoßend. Schwarze Wasserlachen füllten die Vertiefungen des Weges und
spiegelten die trübe Natur noch trüber wider.
»Ein furchtbares Wetter,« dachte Thiel, als er aus tiefem Nachdenken
erwachte und aufschaute.
Plötzlich jedoch bekamen seine Gedanken eine andere Richtung. Er fühlte
dunkel, daß er etwas daheim vergessen haben müsse, und wirklich vermißte
er beim Durchsuchen seiner Taschen das Butterbrot, welches er der langen
Dienstzeit halber stets mitzunehmen genötigt war. Unschlüssig blieb er
eine Weile stehen, wandte sich dann aber plötzlich und eilte in der
Richtung des Dorfes zurück.
In kurzer Zeit hatte er die Spree erreicht, setzte mit wenigen kräftigen
Ruderschlägen über und stieg gleich darauf, am ganzen Körper schwitzend,
die sanft ansteigende Dorfstraße hinauf. Der alte, schäbige Pudel des
Krämers lag mitten auf der Straße. Auf dem geteerten Plankenzaune eines
Kossätenhofes saß eine Nebelkrähe. Sie spreizte die Federn, schüttelte
sich, nickte, stieß ein ohrenzerreißendes »krä«, »krä« aus und erhob
sich mit pfeifendem Flügelschlag, um sich vom Winde in der Richtung des
Forstes davontreiben zu lassen.
Von den Bewohnern der kleinen Kolonie, etwa zwanzig Fischern und
Waldarbeitern mit ihren Familien, war nichts zu sehen.
Der Ton einer kreischenden Stimme unterbrach die Stille so laut und
schrill, daß der Wärter unwillkürlich mit Laufen innehielt. Ein Schwall
heftig herausgestoßener, mißtönender Laute schlug an sein Ohr, die aus
dem offenen Giebelfenster eines niedrigen Häuschens zu kommen schienen,
welches er nur zu wohl kannte.
Das Geräusch seiner Schritte nach Möglichkeit dämpfend, schlich er sich
näher und unterschied nun ganz deutlich die Stimme seiner Frau. Nur noch
wenige Bewegungen, und die meisten ihrer Worte wurden ihm verständlich.
»Was, du unbarmherziger, herzloser Schuft! Soll sich das elende Wurm die
Plautze ausschreien vor Hunger? -- wie? Na wart nur, wart, ich will
dich lehren aufpassen! -- Du sollst dran denken.« Einige Augenblicke
blieb es still; dann hörte man ein Geräusch, wie wenn Kleidungsstücke
ausgeklopft würden; unmittelbar darauf entlud sich ein neues Hagelwetter
von Schimpfworten.
»Du erbärmlicher Grünschnabel,« scholl es im schnellsten Tempo herunter,
»meinst du, ich sollte mein leibliches Kind wegen solch einem
Jammerlappen, wie du bist, verhungern lassen?« »Halts Maul!« schrie es,
als ein leises Wimmern hörbar wurde, »oder du sollst eine Portion
kriegen, an der du acht Tage zu fressen hast.«
Das Wimmern verstummte nicht.
Der Wärter fühlte, wie sein Herz in schweren, unregelmäßigen Schlägen
ging. Er begann leise zu zittern. Seine Blicke hingen wie abwesend am
Boden fest, und die plumpe und harte Hand strich mehrmals ein Büschel
nasser Haare zur Seite, das immer von neuem in die sommersprossige
Stirne hinein fiel.
Einen Augenblick drohte es ihn zu überwältigen. Es war ein Krampf, der
die Muskeln schwellen machte und die Finger der Hand zur Faust
zusammenzog. Es ließ nach, und dumpfe Mattigkeit blieb zurück.
Unsicheren Schrittes trat der Wärter in den engen, ziegelgepflasterten
Hausflur. Müde und langsam erklomm er die knarrende Holzstiege.
»Pfui, pfui, pfui!« hob es wieder an; dabei hörte man, wie jemand
dreimal hintereinander mit allen Zeichen der Wut und Verachtung ausspie.
»Du erbärmlicher, niederträchtiger, hinterlistiger, hämischer, feiger,
gemeiner Lümmel.« Die Worte folgten einander in steigender Betonung, und
die Stimme, welche sie herausstieß, schnappte zuweilen über vor
Anstrengung. »Meinen Buben willst du schlagen, was? Du elende Göre
unterstehst dich, das arme, hilflose Kind aufs Maul zu schlagen? -- wie?
-- he, wie? -- Ich will mich nur nicht dreckig machen an dir, sonst ...«
In diesem Augenblick öffnete Thiel die Tür des Wohnzimmers, weshalb der
erschrockenen Frau das Ende des begonnenen Satzes in der Kehle stecken
blieb. Sie war kreidebleich vor Zorn; ihre Lippen zuckten bösartig; sie
hatte die Rechte erhoben, senkte sie und griff nach dem Milchtopf, aus
dem sie ein Kinderfläschchen voll zu füllen versuchte. Sie ließ jedoch
diese Arbeit, da der größte Teil der Milch über den Flaschenhals auf den
Tisch rann, halb verrichtet, griff vollkommen fassungslos vor Erregung
bald nach diesem, bald nach jenem Gegenstand, ohne ihn länger als einige
Augenblicke festhalten zu können und ermannte sich endlich soweit, ihren
Mann heftig anzulassen: was es denn heißen solle, daß er um diese
ungewöhnliche Zeit nach Hause käme, er würde sie doch nicht etwa gar
belauschen wollen; »das wäre noch das Letzte,« meinte sie, und gleich
darauf: sie habe ein reines Gewissen und brauche vor niemand die Augen
niederzuschlagen.
Thiel hörte kaum, was sie sagte. Seine Blicke streiften flüchtig das
heulende Tobiäschen. Einen Augenblick schien es, als müsse er gewaltsam
etwas Furchtbares zurückhalten, was in ihm aufstieg; dann legte sich
über die gespannten Mienen plötzlich das alte Phlegma, von einem
verstohlnen begehrlichen Aufblitzen der Augen seltsam belebt.
Sekundenlang spielte sein Blick über den starken Gliedmaßen seines
Weibes, das, mit abgewandtem Gesicht herumhantierend, noch immer nach
Fassung suchte. Ihre vollen, halbnackten Brüste blähten sich vor
Erregung und drohten das Mieder zu sprengen, und ihre aufgerafften Röcke
ließen die breiten Hüften noch breiter erscheinen. Eine Kraft schien von
dem Weibe auszugehen, unbezwingbar, unentrinnbar, der Thiel sich nicht
gewachsen fühlte.
Leicht gleich einem feinen Spinngewebe und doch fest wie ein Netz von
Eisen legte es sich um ihn, fesselnd, überwindend, erschlaffend. Er
hätte in diesem Zustand überhaupt kein Wort an sie zu richten vermocht,
am allerwenigsten ein hartes, und so mußte Tobias, der in Tränen gebadet
und verängstet in einer Ecke hockte, sehen, wie der Vater, ohne sich
auch nur weiter nach ihm umzuschauen, das vergessene Brot von der
Ofenbank nahm, es der Mutter als einzige Erklärung hinhielt und mit
einem kurzen, zerstreuten Kopfnicken sogleich wieder verschwand.

3
Obgleich Thiel den Weg in seine Waldeinsamkeit mit möglichster Eile
zurücklegte, kam er doch erst fünfzehn Minuten nach der ordnungsmäßigen
Zeit an den Ort seiner Bestimmung.
Der Hilfswärter, ein infolge des bei seinem Dienst unumgänglichen,
schnellen Temperaturwechsels schwindsüchtig gewordener Mensch, der mit
ihm im Dienst abwechselte, stand schon fertig zum Aufbruch auf der
kleinen, sandigen Plattform des Häuschens, dessen große Nummer schwarz
auf weiß weithin durch die Stämme leuchtete.
Die beiden Männer reichten sich die Hände, machten sich einige kurze
Mitteilungen und trennten sich. Der eine verschwand im Innern der Bude,
der andere ging quer über die Strecke, die Fortsetzung jener Straße
benutzend, welche Thiel gekommen war. Man hörte sein krampfhaftes Husten
erst näher, dann ferner durch die Stämme, und mit ihm verstummte der
einzige menschliche Laut in dieser Einöde. Thiel begann wie immer so
auch heute damit, das enge, viereckige Steingebauer der Wärterbude auf
seine Art für die Nacht herzurichten. Er tat es mechanisch, während sein
Geist mit dem Eindruck der letzten Stunden beschäftigt war. Er legte
sein Abendbrot auf den schmalen, braungestrichenen Tisch an einem der
beiden schlitzartigen Seitenfenster, von denen aus man die Strecke
bequem übersehen konnte. Hierauf entzündete er in dem kleinen, rostigen
Öfchen ein Feuer und stellte einen Topf kalten Wassers darauf. Nachdem
er schließlich noch in die Gerätschaften Schaufel, Spaten, Schraubstock
usw. einige Ordnung gebracht hatte, begab er sich ans Putzen seiner
Laterne, die er zugleich mit frischem Petroleum versorgte.
Als dies geschehen war, meldete die Glocke mit drei schrillen Schlägen,
die sich wiederholten, daß ein Zug in der Richtung von Breslau her aus
der nächstliegenden Station abgelassen sei. Ohne die mindeste Hast zu
zeigen, blieb Thiel noch eine gute Weile im Innern der Bude, trat
endlich, Fahne und Patronentasche in der Hand, langsam ins Freie und
bewegte sich trägen und schlürfenden Ganges über den schmalen Sandpfad,
dem etwa zwanzig Schritt entfernten Bahnübergang zu. Seine Barrieren
schloß und öffnete Thiel vor und nach jedem Zuge gewissenhaft, obgleich
der Weg nur selten von jemand passiert wurde.
Er hatte seine Arbeit beendet und lehnte jetzt wartend an der
schwarzweißen Sperrstange.
Die Strecke schnitt rechts und links gradlinig in den unabsehbaren,
grünen Forst hinein; zu ihren beiden Seiten stauten die Nadelmassen
gleichsam zurück, zwischen sich eine Gasse freilassend, die der
rötlichbraune, kiesbestreute Bahndamm ausfüllte. Die schwarzen
parallellaufenden Geleise darauf glichen in ihrer Gesamtheit einer
ungeheuren, eisernen Netzmasche, deren schmale Strähne sich im äußersten
Süden und Norden in einem Punkte des Horizontes zusammenzogen.
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