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Frau Jenny Treibel: Roman aus der Berliner Gesellschaft - 10

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  »Und nun stehen sie vor dem Altar, und nach dem Ringewechsel wird der
  Segen gesprochen und ein Lied gesungen oder doch der letzte Vers. Und
  nun geht es wieder zurück, an demselben breiten Wasser entlang, aber
  nicht dem Stadthause zu, von dem sie ausgefahren waren, sondern immer
  weiter ins Freie, bis sie vor einer Cottagevilla halten ...«
  »Ja, Korinna, so soll es sein ...«
  »Bis sie vor einer Cottagevilla halten und vor einem Triumphbogen, an
  dessen oberster Wölbung ein Riesenkranz hängt, und in dem Kranze
  leuchten die beiden Anfangsbuchstaben: L und H.«
  »L und H?«
  »Ja, Leopold, L und H. Und wie könnte es auch anders sein? Denn die
  Brautkutsche kam ja von der Uhlenhorst her und fuhr die Alster entlang
  und nachher die Elbe hinunter, und nun halten sie vor der Munkschen
  Villa draußen in Blankenese, und L heißt Leopold und H heißt Hildegard.«
  Einen Augenblick überkam es Leopold wie wirkliche Verstimmung. Aber,
  sich rasch besinnend, gab er der vorgeblichen Seherin einen kleinen
  Liebesklaps und sagte: »Sie sind immer dieselbe, Korinna. Und wenn
  der gute Nelson, der der beste Mensch und mein einziger Vertrauter
  ist, wenn er dies alles gehört hätte, so würd' er begeistert sein und
  von >_capital fun_< sprechen, weil Sie mir so gnädig die Schwester
  meiner Schwägerin zuwenden wollen.«
  »Ich bin eben eine Prophetin,« sagte Korinna.
  »Prophetin,« wiederholte Leopold. »Aber diesmal eine falsche. Hildegard
  ist ein schönes Mädchen, und Hunderte würden sich glücklich schätzen.
  Aber Sie wissen, wie meine Mama zu dieser Frage steht; sie leidet unter
  dem beständigen sich Besserdünken der dortigen Anverwandten und hat es
  wohl hundertmal geschworen, daß ihr =eine= Hamburger Schwiegertochter,
  =eine= Repräsentantin aus dem großen Hause Thompson-Munk, gerade genug
  sei. Sie hat ganz ehrlich einen halben Haß gegen die Munks, und wenn ich
  mit Hildegard so vor sie hinträte, so weiß ich nicht, was geschähe; sie
  würde >nein< sagen, und wir hätten eine furchtbare Szene.«
  »Wer weiß,« sagte Korinna, die jetzt das entscheidende Wort ganz nahe
  wußte.
  »... Sie würde >nein< sagen und immer wieder >nein<, das ist so sicher
  wie Amen in der Kirche,« fuhr Leopold mit gehobener Stimme fort. »Aber
  dieser Fall kann sich gar nicht ereignen. Ich werde nicht mit Hildegard
  vor sie hintreten und werde statt dessen näher und besser wählen ... Ich
  weiß, und Sie wissen es auch, das Bild, das Sie da gemalt haben, es war
  nur Scherz und Übermut, und vor allem wissen Sie, wenn mir Armen
  überhaupt noch eine Triumphpforte gebaut werden soll, daß der Kranz, der
  dann zu Häupten hängt, einen ganz anderen Buchstaben als das Hildegard-H
  in hundert und tausend Blumen tragen müßte. Brauch' ich zu sagen
  welchen? Ach, Korinna, ich kann ohne Sie nicht leben, und diese Stunde
  muß über mich entscheiden. Und nun sagen Sie ja oder nein.« Und unter
  diesen Worten nahm er ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. Denn sie
  gingen im Schutz einer Haselnußhecke.
  Korinna -- nach Confessions, wie diese, die Verlobung mit gutem Recht
  als ein _fait accompli_ betrachtend -- nahm klugerweise von jeder
  weiteren Auseinandersetzung Abstand und sagte nur kurzerhand: »Aber
  eines, Leopold, dürfen wir uns nicht verhehlen, uns stehen noch schwere
  Kämpfe bevor. Deine Mama hat an einer Munk genug, das leuchtet mir ein;
  aber ob ihr eine Schmidt recht ist, ist noch sehr die Frage. Sie hat
  zwar mitunter Andeutungen gemacht, als ob ich ein Ideal in ihren Augen
  wäre, vielleicht weil ich das habe, was dir fehlt, und vielleicht auch
  was Hildegard fehlt. Ich sage >vielleicht< und kann dies einschränkende
  Wort nicht genug betonen. Denn die Liebe, das seh' ich klar, ist
  demütig, und ich fühle, wie meine Fehler von mir abfallen. Es soll dies
  ja ein Kennzeichen sein. Ja, Leopold, ein Leben voll Glück und Liebe
  liegt vor uns, aber es hat deinen Mut und deine Festigkeit zur
  Voraussetzung, und hier unter diesem Waldesdom, drin es geheimnisvoll
  rauscht und dämmert, hier, Leopold, mußt du mir schwören, ausharren zu
  wollen in deiner Liebe.«
  Leopold beteuerte, daß er nicht bloß wolle, daß er es auch werde. Denn,
  wenn die Liebe demütig und bescheiden mache, was gewiß richtig sei, so
  mache sie sicherlich auch stark. Wenn Korinna sich geändert habe, =er=
  fühle sich auch ein anderer. »Und,« so schloß er, »das eine darf ich
  sagen, ich habe nie große Worte gemacht und Prahlereien werden mir auch
  meine Feinde nicht nachsagen; aber glaube mir, mir schlägt das Herz so
  hoch, so glücklich, daß ich mir Schwierigkeiten und Kämpfe beinah'
  herbeiwünsche. Mich drängt es, dir zu zeigen, daß ich deiner wert
  bin ...«
  In diesem Augenblicke wurde die Mondsichel zwischen den Baumkronen
  sichtbar, und von Schloß Grunewald her, vor dem das Quartett eben
  angekommen war, klang es über den See herüber:
   Wenn nach =Dir= ich oft vergebens
   In die Nacht gesehn.
   Scheint der dunkle Strom des Lebens
   Trauernd still zu stehn ...
  Und nun schwieg es, oder der Abendwind, der sich aufmachte, trug die
  Töne nach der anderen Seite hin.
   * * * * *
  Eine Viertelstunde später hielt alles vor Paulsborn, und nachdem man
  sich daselbst wieder begrüßt und bei herumgereichtem Creme de Cacao
  (Treibel selbst machte die Honneurs) eine kurze Rast genommen hatte,
  brach man -- die Wagen waren von Halensee her gefolgt -- nach einigen
  Minuten endgültig auf, um die Rückfahrt anzutreten. Die Felgentreus
  nahmen bewegten Abschied von dem Quartett, jetzt lebhaft beklagend, den
  von Treibel vorgeschlagenen Kremser abgelehnt zu haben.
  Auch Leopold und Korinna trennten sich, aber doch nicht eher, als bis
  sie sich, im Schatten des hochstehenden Schilfes, noch einmal fest und
  verschwiegen die Hände gedrückt hatten.
  
  
  Elftes Kapitel
  
  Leopold, als man zur Abfahrt sich anschickte, mußte sich mit einem Platz
  vorn auf dem Bock des elterlichen Landauers begnügen, was ihm, alles in
  allem, immer noch lieber war als innerhalb des Wagens selbst, en vue
  seiner Mutter zu sitzen, die doch vielleicht, sei's im Wald, sei's bei
  der kurzen Rast in Paulsborn, etwas bemerkt haben mochte; Schmidt
  benutzte wieder den Vorortszug, während Korinna bei den Felgentreus mit
  einstieg. Man placierte sie, so gut es ging, zwischen das den Fond des
  Wagens redlich ausfüllende Ehepaar, und weil sie nach all dem
  Voraufgegangenen eine geringere Neigung zum Plaudern als sonst wohl
  hatte, so kam es ihr außerordentlich zu paß, sowohl Elfriede wie Blanka
  doppelt redelustig und noch ganz voll und beglückt von dem Quartett zu
  finden. Der Jodler, eine sehr gute Partie, schien über die freilich nur
  in Zivil erschienenen Sommerleutnants einen entschiedenen Sieg
  davongetragen zu haben. Im übrigen ließen es sich die Felgentreus nicht
  nehmen, in der Adlerstraße vorzufahren und ihren Gast daselbst
  abzusetzen. Korinna bedankte sich herzlich und stieg, noch einmal
  grüßend, erst die drei Steinstufen und gleich danach vom Flur aus die
  alte Holztreppe hinauf.
  Sie hatte den Drücker zum Entree nicht mitgenommen, und so blieb ihr
  nichts anderes übrig, als zu klingeln, was sie nicht gerne tat. Alsbald
  erschien denn auch die Schmolke, die die Abwesenheit der »Herrschaft«,
  wie sie mitunter mit Betonung sagte, dazu benutzt hatte, sich ein
  bißchen sonntäglich herauszuputzen. Das Auffallendste war wieder die
  Haube, deren Rüschen eben aus dem Tolleisen zu kommen schienen.
  »Aber liebe Schmolke,« sagte Korinna, während sie die Tür wieder ins
  Schloß zog, »was ist denn los? Ist Geburtstag? Aber nein, den kenn' ich
  ja. Oder seiner?«
  »Nein,« sagte die Schmolke, »seiner is auch nich. Und da werd' ich auch
  nicht solchen Schlips umbinden und solch Band.«
  »Aber wenn kein Geburtstag ist, was ist dann?«
  »Nichts, Korinna. Muß denn immer was sein, wenn man sich mal ordentlich
  macht? Sieh, du hast gut reden; du sitzt jeden Tag, den Gott werden
  läßt, eine halbe Stunde vorm Spiegel, und mitunter auch noch länger, und
  brennst dir dein Wuschelhaar ...«
  »Aber, liebe Schmolke ...«
  »Ja, Korinna, du denkst, ich seh' es nicht. Aber ich sehe alles und seh'
  noch vielmehr ... Und ich kann dir auch sagen, Schmolke sagte mal, er
  fänd' es eigentlich hübsch, solch Wuschelhaar ...«
  »Aber war denn Schmolke so?«
  »Nein, Korinna, Schmolke war nich so. Schmolke war ein sehr anständiger
  Mann, und wenn man so was Sonderbares und eigentlich Unrechtes sagen
  darf, er war beinah' zu anständig. Aber nun gib erst deinen Hut und
  deine Mantille. Gott, Kind, wie sieht denn das alles aus? Is denn solch
  furchtbarer Staub? Un noch ein Glück, daß es nich gedrippelt hat, denn
  is der Samt hin. Un so viel hat ein Professor auch nich, un wenn er auch
  nich geradezu klagt, Seide spinnen kann er nich.«
  »Nein, nein,« lachte Korinna.
  »Nu höre, Korinna, da lachst du nu wieder. Das ist aber gar nicht zum
  Lachen. Der Alte quält sich genug, und wenn er so die Bündel ins Haus
  kriegt und die Strippe mitunter nich ausreicht, so viele sind es, denn
  tut es mir mitunter ordentlich weh hier. Denn Papa is ein sehr guter
  Mann, und seine Sechzig drücken ihn nu doch auch schon ein bißchen. Er
  will es freilich nich wahr haben und tut immer noch so, wie wenn er
  zwanzig wäre. Ja, hat sich was. Un neulich ist er von der Pferdebahn
  'runtergesprungen, un ich muß auch gerade dazu kommen; na, ich dachte
  doch gleich, der Schlag soll mich rühren ... Aber nu sage, Korinna, was
  soll ich dir bringen? Oder hast du schon gegessen und bist froh, wenn du
  nichts siehst ...«
  »Nein, ich habe nichts gegessen. Oder doch so gut wie nichts; die
  Zwiebacke, die man kriegt, sind immer so alt. Und dann in Paulsborn
  einen kleinen süßen Likör. Das kann man doch nicht rechnen. Aber ich
  habe auch keinen rechten Appetit, und der Kopf ist mir so benommen; ich
  werde am Ende krank ...«
  »Ach, dummes Zeug, Korinna. Das ist auch eine von deinen Nücken; wenn du
  mal Ohrensausen hast oder ein bißchen heiße Stirn, dann redest du immer
  gleich von Nervenfieber. Un das is eigentlich gottlos, denn man muß den
  Teufel nich an die Wand malen. Es wird wohl ein bißchen feucht gewesen
  sein, ein bißchen neblig und Abenddunst.«
  »Ja, neblig war es gerade, wie wir neben dem Schilf standen, und der See
  war eigentlich gar nicht mehr zu sehen. Davon wird es wohl sein. Aber
  der Kopf ist mir wirklich benommen, und ich möchte zu Bett gehen und
  mich einmummeln. Und dann mag ich auch nicht mehr sprechen, wenn Papa
  nach Hause kommt. Und wer weiß wann, und ob es nicht zu spät wird.«
  »Warum ist er denn nich gleich mitgekommen?«
  »Er wollte nicht und hat ja auch seinen >Abend< heut. Ich glaube bei
  Kuhs. Und da sitzen sie meist lange, weil sich die Kälber mit
  einmischen. Aber mit Ihnen, liebe, gute Schmolke, möchte ich wohl noch
  eine halbe Stunde plaudern. Sie haben ja immer so was Herzliches ...«
  »Ach, rede doch nich, Korinna. Wovon soll ich denn 'was Herzliches
  haben? Oder eigentlich, wovon soll ich denn 'was Herzliches nich haben.
  Du warst ja noch so, als ich ins Haus kam.«
  »Nun also 'was Herzliches oder nicht 'was Herzliches,« sagte Korinna,
  »gefallen wird es mir schon. Und wenn ich liege, liebe Schmolke, dann
  bringen Sie mir meinen Tee ans Bett, die kleine Meißner Kanne und die
  andere kleine Kanne, die nehmen Sie sich; und bloß ein paar Teebrötchen,
  recht dünn geschnitten und nicht zuviel Butter. Denn ich muß mich mit
  meinem Magen in acht nehmen, sonst wird es gastrisch, und man liegt
  sechs Wochen.«
  »Is schon gut,« lachte die Schmolke und ging in die Küche, um den Kessel
  noch wieder in die Glut zu setzen. Denn heißes Wasser war immer da, und
  es bullerte nur noch nicht.
   * * * * *
  Eine Viertelstunde später trat die Schmolke wieder ein und fand ihren
  Liebling schon im Bette. Korinna saß mehr auf als sie lag und empfing
  die Schmolke mit der trostreichen Versicherung, »es sei ihr schon viel
  besser«; was man so immer zum Lobe der Bettwärme sage, das sei doch
  wahr, und sie glaube jetzt beinahe, daß sie noch mal durchkommen und
  alles glücklich überstehen werde.
  »Glaub' ich auch,« sagte die Schmolke, während sie das Tablett auf den
  kleinen, am Kopfende stehenden Tisch setzte. »Nun, Korinna, von welchem
  soll ich dir einschenken? Der hier, mit der abgebrochenen Tülle, hat
  länger gezogen, und ich weiß, du hast ihn gern stark und bitterlich, so
  daß er schon ein bißchen nach Tinte schmeckt ...«
  »Versteht sich, ich will von dem starken. Und dann ordentlich Zucker;
  aber ganz wenig Milch, Milch macht immer gastrisch.«
  »Gott, Korinna, laß doch das Gastrische. Du liegst da wie ein Borsdorfer
  Apfel und redst immer, als ob dir der Tod schon um die Nase säße. Nein,
  Korinnchen, so schnell geht es nich. Un nu nimm dir ein Teebrötchen. Ich
  habe sie so dünn geschnitten, wie's nur gehen wollte ...«
  »Das ist recht. Aber da haben Sie ja eine Schinkenstulle mit
  'reingebracht.«
  »Für mich, Korinnchen. Ich will doch auch 'was essen.«
  »Ach, liebe Schmolke, da möcht' ich mich aber doch zu Gaste laden. Die
  Teebrötchen sehen ja nach gar nichts aus, und die Schinkenstulle lacht
  einen ordentlich an. Und alles schon so appetitlich durchgeschnitten.
  Nun merk' ich erst, daß ich eigentlich hungrig bin. Geben Sie mir ein
  Schnittchen ab, wenn es Ihnen nicht sauer wird.«
  »Wie du nur redest, Korinna. Wie kann es mir denn sauer werden. Ich
  führe ja bloß die Wirtschaft und bin bloß eine Dienerin.«
  »Ein Glück, daß Papa das nicht hört. Sie wissen doch, das kann er nicht
  leiden, daß Sie so von Dienerin reden, und er nennt es eine falsche
  Bescheidenheit ...«
  »Ja, ja, so sagt er. Aber Schmolke, der auch ein ganz kluger Mann war,
  wenn er auch nicht studiert hatte, der sagte immer, >höre, Rosalie,
  Bescheidenheit ist gut, und eine falsche Bescheidenheit (denn die
  Bescheidenheit ist eigentlich immer falsch) ist immer noch besser als
  gar keine<.«
  »Hm,« sagte Korinna, die sich etwas getroffen fühlte, »das läßt sich
  hören. Überhaupt, liebe Schmolke, Ihr Schmolke muß eigentlich ein
  ausgezeichneter Mann gewesen sein. Und Sie sagten ja auch vorhin schon,
  er habe so etwas Anständiges gehabt und beinah' zu anständig. Sehen Sie,
  so was höre ich gern, und ich möchte mir wohl etwas dabei denken können.
  Worin war er denn nun eigentlich so sehr anständig ... Und dann, er war
  ja doch bei der Polizei. Nun, offen gestanden, ich bin zwar froh, daß
  wir eine Polizei haben, und freue mich immer über jeden Schutzmann, an
  den ich herantreten und den ich nach dem Weg fragen und um Auskunft
  bitten kann, und das muß wahr sein, alle sind artig und manierlich,
  wenigstens hab' ich es immer so gefunden. Aber das von der Anständigkeit
  und von zu anständig ...«
  »Ja, liebe Korinna, das is schon richtig. Aber da sind ja
  Unterschiedlichkeiten, und was sie Abteilungen nennen. Und Schmolke war
  bei solcher Abteilung.«
  »Natürlich. Er kann doch nicht überall gewesen sein.«
  »Nein, nicht überall. Und er war gerade bei der allerschwersten, die für
  den Anstand und die gute Sitte zu sorgen hat.«
  »Und so was gibt es?«
  »Ja, Korinna, so was gibt es und muß es auch geben. Und wenn nu -- was
  ja doch vorkommt, und auch bei Frauen und Mädchen vorkommt, wie du ja
  wohl gesehen und gehört haben wirst, denn Berliner Kinder sehen und
  hören alles -- wenn nu solch armes und unglückliches Geschöpf (denn
  manche sind wirklich bloß arm und unglücklich) etwas gegen den Anstand
  und die gute Sitte tut, dann wird sie vernommen und bestraft. Und da, wo
  die Vernehmung is, da gerade saß Schmolke ...«
  »Merkwürdig. Aber davon haben Sie mir ja noch nie was erzählt. Und
  Schmolke, sagen Sie, war mit dabei? Wirklich, sehr sonderbar. Und Sie
  meinen, daß er gerade deshalb so sehr anständig und so solide war?«
  »Ja, Korinna, das mein' ich.«
  »Nun, wenn Sie's sagen, liebe Schmolke, so will ich es glauben. Aber ist
  es nicht eigentlich zum Verwundern? Denn Ihr Schmolke war ja damals noch
  jung oder so ein Mann in seinen besten Jahren. Und viele von unserem
  Geschlecht, und gerade solche, sind ja doch oft bildhübsch. Und da sitzt
  nun einer, wie Schmolke da gesessen, und muß immer streng und ehrbar
  aussehen, bloß weil er da zufällig sitzt. Ich kann mir nicht helfen, ich
  finde das schwer. Denn das ist ja gerade so wie der Versucher in der
  Wüste: >Dies alles schenke ich dir<.«
  Die Schmolke seufzte. »Ja, Korinna, daß ich es dir offen gestehe, ich
  habe auch manchmal geweint, und mein furchtbares Reißen, hier gerad' im
  Nacken, das is noch von der Zeit her. Und zwischen das zweite und dritte
  Jahr, daß wir verheiratet waren, da hab' ich beinah' elf Pfund
  abgenommen, und wenn wir damals schon die vielen Wiegewagen gehabt
  hätten, da wär' es wohl eigentlich noch mehr gewesen, denn als ich zu's
  Wiegen kam, da setzte ich schon wieder an.«
  »Arme Frau,« sagte Korinna. »Ja, das müssen schwere Tage gewesen sein.
  Aber wie kamen Sie denn darüber hin? Und wenn Sie wieder ansetzten, so
  muß doch so was von Trost und Beruhigung gewesen sein.«
  »War auch, Korinnchen. Und weil du ja nu alles weißt, will ich dir auch
  erzählen, wie's kam, un wie ich meine Ruhe wieder kriegte. Denn ich kann
  dir sagen, es war schlimm, und ich habe mitunter viele Wochen lang kein
  Auge zugetan. Na, zuletzt schläft man doch ein bißchen; die Natur will
  es un is auch zuletzt noch stärker als die Eifersucht. Aber Eifersucht
  ist sehr stark, viel stärker als Liebe. Mit Liebe is es nich so schlimm.
  Aber was ich sagen wollte, wie ich nu so ganz 'runter war und man bloß
  noch soviel Kraft hatte, daß ich ihm doch sein Hammelfleisch und seine
  Bohnen vorsetzen konnte, das heißt geschnitzelte mocht' er nich un sagte
  immer, sie schmeckten nach Messer, da sah er doch wohl, daß er mal mit
  mir reden müsse. Denn ich red'te nich, dazu war ich viel zu stolz. Also
  er wollte reden mit mir, und als es nu soweit war und er die Gelegenheit
  auch ganz gut abgepaßt hatte, nahm er einen kleinen vierbeinigen
  Schemel, der sonst immer in der Küche stand, un is mir, als ob es
  gestern gewesen wäre, un rückte den Schemel zu mir 'ran und sagte:
  >Rosalie, nu sage mal, was hast du denn eigentlich<.«
  Um Korinnas Mund verlor sich jeder Ausdruck von Spott; sie schob das
  Tablett etwas beiseite, stützte sich, während sie sich aufrichtete, mit
  dem rechten Arm auf den Tisch und sagte: »Nun weiter, liebe Schmolke.«
  »Also, was hast du eigentlich? sagte er zu mir. Na, da stürzten mir denn
  die Tränen man so pimperlings 'raus, und ich sagte: >Schmolke,
  Schmolke,< und dabei sah ich ihn an, als ob ich ihn ergründen wollte. Un
  ich kann wohl sagen, es war ein scharfer Blick, aber doch immer noch
  freundlich. Denn ich liebte ihn. Und da sah ich, daß er ganz ruhig blieb
  und sich gar nicht verfärbte. Un dann nahm er meine Hand, streichelte
  sie ganz zärtlich un sagte: >Rosalie, das is alles Unsinn. Davon
  verstehst du nichts, weil du nicht in der >Sitte< bist. Denn ich sage
  dir, wer da so tagaus tagein in der Sitte sitzen muß, dem vergeht es,
  dem stehen die Haare zu Berge über all das Elend und all den Jammer, und
  wenn dann welche kommen, die nebenher auch noch ganz verhungert sind,
  was auch vorkommt, und wo wir ganz genau wissen, da sitzen nu die Eltern
  zu Hause un grämen sich Tag und Nacht über die Schande, weil sie das
  arme Wurm, das mitunter sehr merkwürdig dazu gekommen ist, immer noch
  lieb haben und helfen und retten möchten, wenn zu helfen und zu retten
  noch menschenmöglich wäre -- ich sage dir, Rosalie, wenn man das jeden
  Tag sehen muß, un man hat ein Herz im Leibe un hat bei's erste
  Garderegiment gedient un is für Proppertät und Strammheit und
  Gesundheit, na, ich sage dir, denn is es mit Verführung un all so was
  vorbei, un man möchte 'rausgehn und weinen, un ein paarmal hab' ich's
  auch, alter Kerl der ich bin, und von Karessieren und >Fräuleinchen<
  steht nichts mehr drin, un man geht nach Hause und is froh, wenn man
  sein Hammelfleisch kriegt un eine ordentliche Frau hat, die Rosalie
  heißt. Bist du nu zufrieden, Rosalie?< Und dabei gab er mir einen Kuß
  ...«
  Die Schmolke, der bei der Erzählung wieder ganz weh ums Herz geworden
  war, ging an Korinnas Schrank, um sich ein Taschentuch zu holen. Und als
  sie sich nun wieder zurecht gemacht hatte, so daß ihr die Worte nicht
  mehr in der Kehle blieben, nahm sie Korinnas Hand und sagte: »Sieh', so
  war Schmolke. Was sagst du dazu?«
  »Ein sehr anständiger Mann.«
  »Na ob.«
   * * * * *
  In diesem Augenblicke hörte man die Klingel. »Der Papa,« sagte Korinna,
  und die Schmolke stand auf, um dem Herrn Professor zu öffnen. Sie war
  auch bald wieder zurück und erzählte, daß sich der Papa nur gewundert
  habe, Korinnchen nicht mehr zu finden; was denn passiert sei? Wegen ein
  bißchen Kopfweh gehe man doch nicht gleich zu Bett. Und dann habe er
  sich eine Pfeife angesteckt und die Zeitung in die Hand genommen und
  habe dabei gesagt: »Gott sei Dank, liebe Schmolke, daß ich wieder da
  bin; alle Gesellschaften sind Unsinn; diesen Satz vermache ich Ihnen auf
  Lebenszeit.« Er habe aber ganz fidel dabei ausgesehen und sie sei
  überzeugt, daß er sich eigentlich sehr gut amüsiert habe. Denn er habe
  den Fehler, den so viele hätten, und die Schmidts voran: sie redeten
  über alles und wüßten alles besser. »Ja, Korinnchen, in diesem Belange
  bist du auch ganz Schmidtsch.«
  Korinna gab der guten Alten die Hand und sagte: »Sie werden wohl recht
  haben, liebe Schmolke, und es ist ganz gut, daß Sie mir's sagen. Wenn
  Sie nicht gewesen wären, wer hätte mir denn überhaupt was gesagt?
  Keiner. Ich bin ja wie wild aufgewachsen, und ist eigentlich zu
  verwundern, daß ich nicht noch schlimmer geworden bin als ich bin. Papa
  ist ein guter Professor, aber kein guter Erzieher, und dann war er immer
  zu sehr von mir eingenommen und sagte: >das Schmidtsche hilft sich
  selbst< oder >es wird schon zum Durchbruch kommen<.«
  »Ja, so was sagt er immer. Aber mitunter ist eine Maulschelle besser.«
  »Um Gotteswillen, liebe Schmolke, sagen Sie doch so was nicht. Das
  ängstigt mich.«
  »Ach, du bist närrisch, Korinna. Was soll dich denn ängstigen? Du bist
  ja nun eine große, forsche Person und hast die Kinderschuhe längst
  ausgetreten und könntest schon sechs Jahre verheiratet sein.«
  »Ja,« sagte Korinna, »das könnt' ich, wenn mich wer gewollt hätte. Aber
  dummerweise hat mich noch keiner gewollt. Und da habe ich denn für mich
  selber sorgen müssen ...«
  Die Schmolke glaubte nicht recht gehört zu haben und sagte: »Du hast für
  dich selber sorgen müssen? Was meinst du damit, was soll das heißen?«
  »Es soll heißen, liebe Schmolke, daß ich mich heut' abend verlobt habe.«
  »Himmlischer Vater, is es möglich. Aber sei nich böse, daß ich mich so
  verfiere ... Denn es is ja doch eigentlich was Gutes. Na, mit wem denn?«
  »Rate.«
  »Mit Marcell.«
  »Nein, mit Marcell nicht.«
  »Mit Marcell nich? Ja, Korinna, dann weiß ich es nich und will es auch
  nich wissen. Bloß wissen muß ich es am Ende doch. Wer is es denn?«
  »Leopold Treibel.«
  »Herr, du meine Güte ...«
  »Findest du's so schlimm? Hast du was dagegen?«
  »I bewahre, wie werd' ich denn. Und würde sich auch gar nich vor mir
  passen. Un denn die Treibels, die sind alle gut un sehr proppre Leute,
  der alte Kommerzienrat voran, der immer so spaßig is und immer sagt: >Je
  später der Abend, je schöner die Leute< un >noch fufzig Jahre so wie
  heut'< und so was. Und der älteste Sohn is auch sehr gut und Leopold
  auch. Ein bißchen spitzer, das is wahr, aber heiraten is ja nich bei
  Renz in 'n Zirkus. Und Schmolke sagte oft: >Höre, Rosalie, das laß gut
  sein, so was täuscht, da kann man sich irren; die Dünnen un die so
  schwach aussehn, die sind oft gar nich so schwach<. Ja, Korinna, die
  Treibels sind gut, un bloß die Mama, die Kommerzienrätin, ja höre, die
  kann ich mir nich helfen, die Rätin, die hat so was, was mir nich recht
  paßt, un ziert sich immer un tut so, un wenn was Weinerliches erzählt
  wird von einem Pudel, der ein Kind aus dem Kanal gezogen, oder wenn der
  Professor was vorpredigt un mit seiner Baßstimme so vor sich
  hinbrummelt: >wie der Unsterbliche sagt< ... un dann kommt immer ein
  Name, den kein Christenmensch kennt und die Kommerzienrätin woll auch
  nich -- dann hat sie gleich immer ihre Träne un sind immer wie
  Stehtränen, die gar nich 'runter woll'n.«
  »Daß sie so weinen kann, ist aber doch eigentlich was Gutes, liebe
  Schmolke.«
  »Ja, bei manchem is es was Gutes und zeigt ein weiches Herz. Un ich will
  auch weiter nichts sagen un lieber an meine eigne Brust schlagen, un muß
  auch, denn mir sitzen sie auch man lose ... Gott, wenn ich daran denke,
  wie Schmolke noch lebte, na, da war vieles anders, un Billetter für den
  dritten Rang hatte Schmolke jeden Tag un mitunter auch für den zweiten.
  Un da machte ich mich denn fein, Korinna, denn ich war damals noch keine
  dreißig un noch ganz imstande. Gott, Kind, wenn ich daran denke! Da war
  damals eine, die hieß die Erharten, die nachher einen Grafen geheiratet.
  Ach, Korinnchen, da hab' ich auch manche schöne Träne vergossen. Ich
  sage schöne Träne, denn es erleichtert einen. Un in >Maria Stuart< war
  es am meisten. Da war denn doch eine Schnauberei, daß man gar nichts
  mehr verstehn konnte, das heißt aber bloß ganz zuletzt, wie sie von all
  ihre Dienerinnen und von ihrer alten Amme Abschied nimmt, alle ganz
  schwarz, un sie selber immer mit's Kreuz, ganz wie 'ne Katholische. Aber
  die Erharten war keine. Und wenn ich mir das alles wieder so denke un
  wie ich da aus der Träne gar nich 'raus gekommen bin, da kann ich auch
  gegen die Kommerzienrätin eigentlich nichts sagen.«
  Korinna seufzte, halb im Scherz und halb im Ernst.
  »Warum seufzst du, Korinna?«
  »Ja, warum seufze ich, liebe Schmolke? Ich seufze, weil ich glaube, daß
  Sie recht haben, und daß sich gegen die Rätin eigentlich nichts sagen
  läßt, bloß weil sie so leicht weint oder immer einen Flimmer im Auge
  hat. Gott, den hat mancher. Aber die Rätin ist freilich eine ganz eigene
  Frau, und ich trau' ihr nicht, und der arme Leopold hat eigentlich eine
  große Furcht vor ihr und weiß auch noch nicht, wie er da heraus will. Es
  wird eben noch allerlei harte Kämpfe geben. Aber ich laß es darauf
  ankommen und halt' ihn fest, und wenn meine Schwiegermutter gegen mich
  ist, so schad't es am Ende nicht allzuviel. Die Schwiegermütter sind
  eigentlich immer dagegen und jede denkt, ihr Püppchen ist zu schade. Na,
  wir werden ja sehn; ich habe sein Wort, und das andere muß sich finden.«
  »Das ist recht, Korinna, halt' ihn fest. Eigentlich hab' ich ja einen
  Schreck gekriegt, und glaube mir, Marcell wäre besser gewesen, denn ihr
  paßt zusammen. Aber das sag' ich so bloß zu dir. Un da du nu mal den
  Treibelschen hast, na, so hast du'n, un da hilft kein Prätzelbacken, un
  er muß still halten und die Alte auch. Ja, die Alte erst recht. Der
  gönn' ich's.«
  Korinna nickte.
  »Un nu schlafe, Kind. Ausschlafen is immer gut, denn man kann nie
  wissen, wie's kommt, un wie man den andern Tag seine Kräfte braucht.«
  
  
  Zwölftes Kapitel
  
  Ziemlich um dieselbe Zeit, wo der Felgentreusche Wagen in der
  Adlerstraße hielt, um daselbst abzusetzen, hielt auch der Treibelsche
  Wagen vor der kommerzienrätlichen Wohnung, und die Rätin samt ihrem
  Sohne Leopold stiegen aus, während der alte Treibel auf seinem Platze
  blieb und das junge Paar -- das wieder die Pferde geschont hatte -- die
  Köpenickerstraße hinunter bis an den »Holzhof« begleitete. Von dort aus,
  nach einem herzhaften Schmatz (denn er spielte gern den zärtlichen
  Schwiegervater), ließ er sich zu Buggenhagens fahren, wo
  Parteiversammlung war. Er wollte doch mal wieder sehen, wie's
  stünde und, wenn nötig, auch zeigen, daß ihn die Korrespondenz in
  der »Nationalzeitung« nicht niedergeschmettert habe.
  Die Kommerzienrätin, die für gewöhnlich die politischen Gänge Treibels
  belächelte, wenn nicht beargwohnte -- was auch vorkam -- heute segnete
  sie Buggenhagen und war froh, ein paar Stunden allein sein zu können.
  Der Gang mit Wilibald hatte so vieles wieder in ihr angeregt. Die
  Gewißheit, sich verstanden zu sehen -- es war doch eigentlich das
  Höhere. »Viele beneiden mich, aber was hab' ich am Ende? Stuck und
  
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