Fabeln und Erzählungen - 6

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Aesopus hats gesagt, Fontaine stimmt mit ein.
Wer wird auch so mißgünstig sein,
Und Tieren nicht dies kleine Glücke gönnen,
Aus dem die Welt so wenig macht?
Denk oder denke nicht, darauf gibt niemand acht.
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In einem Tempel voller Pracht,
Aus dem die Kunst mit ewgem Stolze blickte,
Dich schnell zum Beifall zwang, und gleich dafür entzückte,
Und wenn sie dich durch Schmuck bestürzt gemacht,
Mit edler Einfalt schon dich wieder zu dir brachte;
In diesem Bau voll Ordnung und voll Pracht
Saß eine finstre Flieg auf einem Stein und dachte.
Denn daß die Fliegen stets aus finstern Augen sehn,
Und oft den Kopf mit einem Beine halten,
Und oft die flache Stirne falten,
Kömmt bloß daher, weil sie soviel verstehn,
Und auf den Grund der Sachen gehn.
So saß auch hier die weise Fliege.
Ein halbes Dutzend ernste Züge
Verfinsterten ihr Angesicht.
Sie denkt tiefsinnig nach und spricht:
"Woher ist dies Gebäud entstanden?
Ist außer ihm wohl jemand noch vorhanden,
Der es gemacht? Ich sehs nicht ein.
Wer sollte dieser Jemand sein?"
"Die Kunst", sprach die bejahrte Spinne,
"Hat diesen Tempel aufgebaut.
Wohin auch nur dein blödes Auge schaut,
Wird es Gesetz und Ordnung inne,
Und dies beweist, daß ihn die Kunst gebaut."
Hier lachte meine Fliege laut.
"Die Kunst?" sprach sie ganz höhnisch zu der Spinne.
"Was ist die Kunst? Ich sinn und sinne,
Und sehe nichts, als ein Gedicht.
Was ist sie denn? Durch wen ist sie vorhanden?
Nein, dieses Märchen glaub ich nicht.
Lern es von mir, wie dieser Bau entstanden:
Es kamen einst von ungefähr
Viel Steinchen einer Art hieher,
Und fingen an, zusammen sich zu schicken.
Daraus entstand der große hohle Stein,
In welchem wir uns beid erblicken.
Kann was begreiflicher als diese Meinung sein?"
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Der Fliege können wir ein solch System vergeben;
Allein daß große Geister leben,
Die einer ordnungsvollen Welt
Ein Ungefähr zum Ursprung geben,
Und lieber zufallsweise leben,
Als einen Gott zum Thron erheben,
Das kann man ihnen nicht vergeben,
Wenn man sie nicht für Narren hält.


Die Frau und der Geist
Vordem, da noch um Mitternacht,
Den armen Sterblichen zu dienen,
Die Geister dann und wann erschienen,
Ließ sich ein Geist, in einer weißen Tracht,
Vor einer Frau im Bette sehen,
Und hieß sie freundlich mit sich gehen,
Und ging mit ihr auf einen wüsten Platz.
"Frau", sprach der Geist, "hier liegt ein großer Schatz;
Nimm gleich dein Halstuch ab, und wirf es auf den Platz,
Und morgen, um die zwölfte Stunde,
Komm her, dann findest du ein Licht,
Dem grabe nach, doch rede nicht;
Denn geht ein Wort aus deinem Munde:
So wird der Schatz verschwunden sein!"
Die Frau fand, zur gesetzten Stunde,
Die Nacht darauf sich mit dem Grabscheit ein.
Nun, die muß recht beherzt gewesen ein!
Ich fände mich gewiß nicht ein,
Und sollt ich zwanzig Schätze heben.
Wer stünde mir denn für mein Leben?
Die Nacht ist keines Menschen Freund.
Und wenns der Geist recht ehrlich mit mir meint:
So kann er mir den Schatz ja auf der Stube geben.
Die Frau verschlug das nichts. Sie eilt, den Schatz zu heben.
Frau, spricht sie bei sich selbst, beileibe sprich kein Wort,
Sonst rückt der Schatz auf ewig fort.
Sie hält, was sie sich vorgenommen.
Sie schweigt und gräbt getrost.--Ha, ha, nun klingt es hohl,
Nun wird der rechte Fleck bald kommen.
Hier liegt der Schatz, das dacht ich wohl.
O seht, ein großer Topf von lauter Golde voll!
O wenn sie doch dasmal nicht redte,
Und zu dem schweren Topf gleich einen Träger hätte!
Ist denn ihr Geist nicht etwan auf dem Platz?
Er kömmt und hilft den Topf ihr aus der Erde nehmen.
"Ach", rief sie schnell, "ich muß mich schämen,
Sie zu bemühn"--Weg war der Schatz!


Die Geschichte von dem Hute
Das erste Buch
Der erste, der mit kluger Hand,
Der Männer Schmuck, den Hut, erfand,
Trug seinen Hut unaufgeschlagen;
Die Krempen hingen flach herab,
Und dennoch wußt er ihn zu tragen,
Daß ihm der Hut ein Ansehn gab.
Er starb, und ließ bei seinem Sterben
Den runden Hut dem nächsten Erben.
Der Erbe weiß den runden Hut
Nicht recht gemächlich anzugreifen;
Er sinnt, und wagt es kurz und gut,
Er wagts, zwo Krempen aufzusteifen.
Drauf läßt er sich dem Volke sehn;
Das Volk bleibt vor Verwundrung stehn,
Und schreit: Nun läßt der Hut erst schön!
Er starb, und ließ bei seinem Sterben
Den aufgesteiften Hut dem Erben.
Der Erbe nimmt den Hut und schmält.
Ich, spricht er, sehe wohl, was fehlt.
Er setzt darauf mit weisem Mute
Die dritte Krempe zu dem Hute.
O, rief das Volk, der hat Verstand!
Seht, was ein Sterblicher erfand!
Er, er erhöht sein Vaterland.
Er starb, und ließ bei seinem Sterben
Den dreifach spitzen Hut dem Erben.
Der Hut war freilich nicht mehr rein;
Doch sagt, wie konnt es anders sein?
Er ging schon durch die vierten Hände.
Der Erbe färbt ihn schwarz, damit er was erfände.
Beglückter Einfall! rief die Stadt,
So weit sah keiner noch, als der gesehen hat.
Ein weißer Hut ließ lächerlich.
Schwarz, Brüder, schwarz! so schickt es sich.
Er starb, und ließ bei seinem Sterben
Den schwarzen Hut dem nächsten Erben.
Der Erbe trägt ihn in sein Haus,
Und sieht, er ist sehr abgetragen;
Er sinnt, und sinnt das Kunststück aus,
Ihn über einen Stock zu schlagen.
Durch heiße Bürsten wird er rein;
Er faßt ihn gar mit Schnüren ein.
Nun geht er aus, und alle schreien:
Was sehn wir? Sind es Zaubereien?
Ein neuer Hut! O glücklich Land,
Wo Wahn und Finsternis verschwinden!
Mehr kann kein Sterblicher erfinden,
Als dieser große Geist erfand.
Er starb, und ließ bei seinem Sterben
Den umgewandten Hut dem Erben.
Erfindung macht die Künstler groß,
Und bei der Nachwelt unvergessen;
Der Erbe reißt die Schnüre los,
Umzieht den Hut mit goldnen Dressen,
Verherrlicht ihn durch einen Knopf,
Und drückt ihn seitwärts auf den Kopf.
Ihn sieht das Volk, und taumelt vor Vergnügen.
Nun ist die Kunst erst hoch gestiegen!
Ihm, schrie es, ihm allein ist Witz und Geist verliehn!
Nichts sind die andern gegen ihn!
Er starb, und ließ bei seinem Sterben
Den eingefaßten Hut dem Erben.
Und jedesmal ward die erfundne Tracht
Im ganzen Lande nachgemacht.

Ende des ersten Buchs.
Was mit dem Hute sich noch ferner zugetragen,
Will ich im zweiten Buche sagen.
Der Erbe ließ ihm nie die vorige Gestalt.
Das Außenwerk ward neu, er selbst, der Hut, blieb alt.
Und, daß ichs kurz zusammenzieh,
Es ging dem Hute fast, wie der Philosophie.


Die glückliche Ehe
Gedankt sei es dem Gott der Ehen!
Was ich gewünscht, hab ich gesehen:
Ich sah ein recht zufriednes Paar;
Ein Paar, das ohne Gram und Reue,
Bei gleicher Lieb und gleicher Treue,
In kluger Ehe glücklich war.
Ein Wille lenkte hier zwo Seelen.
Was sie gewählt, pflegt er zu wählen,
Was er verwarf, verwarf auch sie.
Ein Fall, wo andre sich betrübten,
Stört ihre Ruhe nie. Sie liebten,
Und fühlten nicht des Lebens Müh.
Da ihn kein Eigensinn verführte,
Und sie kein eitler Stolz regierte:
So herrschte weder sie noch er,
Sie herrschten; aber bloß mit Bitten.
Sie stritten; aber wenn sie stritten,
Kam bloß ihr Streit aus Eintracht her.
So wie wir, eh wir uns vermählen,
Uns unsre Fehler klug verhehlen,
Uns falsch aus Liebe hintergehn:
So ließen sie auch in den Zeiten
Der zärtlichsten Vertraulichkeiten
Sich nie die kleinsten Fehler sehn.
Der letzte Tag in ihrem Bunde,
Der letzte Kuß von ihrem Munde
Nahm, wie der erste, sie noch ein.
Sie starben. Wenn?--Wie kannst du fragen?
Acht Tage nach den Hochzeitstagen;
Sonst würden dies nur Fabeln sein.


Die Guttat
Wie rühmlich ists, von seinen Schätzen
Ein Pfleger der Bedrängten sein!
Und lieber minder sich ergetzen,
Als arme Brüder nicht erfreun.
Beaten fiel heut ein Vermögen.
Von Tonnen Golds durch Erbschaft zu.
"Nun", sprach sie, "hab ich einen Segen,
Von dem ich Armen Gutes tu."
Sie sprachs. Gleich schlich zu seinem Glücke
Ein siecher Alter vor ihr Haus,
Und bat, gekrümmt auf seiner Krücke,
Sich eine kleine Wohltat aus.
Sie ward durchdrungen von Erbarmen,
Und fühlte recht des Armen Not.
Sie weinte, ging und gab dem Armen
Ein großes Stück verschimmelt Brot.


Die junge Ente
Die Henne führt der Jungen Schar,
Worunter auch ein Entchen war,
Das sie zugleich mit ausgebrütet.
Der Zug soll in den Garten gehn;
Die Alte gibts der Brut durch Locken zu verstehn;
Und jedes folgt, sobald sie nur gebietet,
Denn sie gebot mit Zärtlichkeit.
Die Ente wackelt mit; allein nicht gar zu weit.
Sie sieht den Teich, den sie noch nicht gesehen,
Sie läuft hinein, sie badet sich.
Wie, kleines Tier! Du schwimmst? Wer lehrt es dich?
Wer hieß dich in das Wasser gehen?
Wirst du so jung das Schwimmen schon verstehen?
Die Henne läuft mit strupfichtem Gefieder
Das Ufer zehnmal auf und nieder,
Und will ihr Kind aus der Gefahr befrein;
Setzt zehnmal an, und fliegt doch nicht hinein;
Denn die Natur heißt sie das Wasser scheun.
Doch nichts erschreckt den Mut der Ente;
Sie schwimmt beherzt in ihrem Elemente,
Und fragt die Henne ganz erfreut,
Warum sie denn so ängstlich schreit?
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Was dir Entsetzen bringt, bringt jenem oft Vergnügen;
Der kann mit Lust zu Felde liegen,
Und dich erschreckt der bloße Name, Held.
Der schwimmt beherzt auf offnen Meeren;
Du zitterst schon auf angebundnen Fähren,
Und siehst den Untergang der Welt.
Befürchte nichts vor dessen Leben,
Der kühne Taten unternimmt.
Wen die Natur zu der Gefahr bestimmt,
Dem hat sie auch den Mut zu der Gefahr gegeben.


Die kranke Frau
Wer kennt die Zahl von so viel bösen Dingen,
Die uns um die Gesundheit bringen!
Doch nötig ists, daß man sie kennenlernt.
Je mehr wir solcher Quellen wissen,
Woraus Gefahr und Unheil fließen;
Um desto leichter wird das Übel selbst entfernt
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Des Mannes teurer Zeitvertreib,
Sulpitia, ein junges schönes Weib,
Ging munter zum Besuch, krank aber kam sie wieder,
Und fiel halbtot aufs Ruhebette nieder.
Sie röchelt. Wie? Vergißt ihr Blut den Lauf?
Geschwind löst ihr die Schnürbrust auf!
Geschwind! Doch läßt sich dies erzwingen?
Sechs Hände waren zwar bereit;
Doch eine Frau aus ihrem Staat zu bringen,
Wieviel erfordert dies nicht Zeit!
Der arme Mann schwimmt ganz in Tränen;
Mit Recht bestürzt ihn diese Not.
Zu früh ists, nach der Gattin Tod
Im ersten Jahre sich zu sehnen.
Er schickt nach einem Arzt. Ein junger Äskulap
Erscheint sogleich in vollem Trab,
Und setzt sich vor das Krankenbette,
Vor dem er sich so eine Miene gab,
Als ob er für den Tod ein sichres Mittel hätte.
Er fragt den Puls, und da er ihn gefragt,
Schlägt er im Geiste nach, was sein Rezeptbuch sagt,
Und läßt, die Krankheit zu verdrängen,
Sich eilends Dint und Feder bringen.
Er schreibt. Der Diener läuft. Indessen ruft der Mann
Den so erfahrnen Arzt beiseite,
Und fragt, was doch der Zufall wohl bedeute?
Der Doktor sieht ihn lächelnd an:
"Sie fragen mich, was es bedeuten kann?
Das brauch ich Ihnen nicht zu sagen;
Sie wissen schon, es zeigt viel Gutes an,
Wenn sich die jungen Weiber klagen."
Den Mann erfreut ein solcher Unterricht.
Die Nacht verstreicht, der Trank ist eingenommen;
Allein der teure Trank hilft nicht.
Drum muß der zweite Doktor kommen.
Er kömmt! Geduld! Nun werden wirs erfahren.
Was ists? Was fehlt der schönen Frau?
Der Doktor sieht es ganz genau,
Daß sich die Blattern offenbaren.
Sulpitia! Erst sollst du schwanger sein?
Nun sollst du gar die Blattern kriegen?
Ihr Ärzte schweigt, und gebt ihr gar nichts ein,
Denn einer muß sich doch betrügen.
Nein, überlaßt sie der Natur,
Und dem ihr so getreuen Bette;
Gesetzt, daß sie die schlimmste Krankheit hätte:
So ist sie nicht so schlimm, als eure Kur.
Geduld! Vielleicht genest sie heute.
Der Mann kömmt nicht von ihrer Seite,
Und eh die Stunde halb verfließt,
Fragt er sie hundertmal, obs noch nicht besser ist?
Ach ungestümer Mann, du nötigst sie zum Sprechen.
Wie? Wird sie nicht das Reden schwächen?
Sie spricht ja mit gebrochnem Ton,
Und an der Sprache hörst du schon,
Daß sich die Schmerzen stets vergrößern.
Bald wird es sich mit deiner Gattin bessern!
Der Tod, der Tod dringt schon herein,
Sie von der Marter zu befrein.
Wer pocht? Es wird der Doktor sein;
Doch nein, der Schneider kömmt, und bringt ein Kleid getragen.
Sulpitia fängt an, die Augen aufzuschlagen.
"Er kömmt", so stammelt sie. "Er kömmt zu rechter Zeit;
Ist dies vielleicht mein Sterbekleid?
Ja, wie Er sieht, so werd ich bald erblassen;
Doch hätte mich der Himmel leben lassen:
So hätt ich mir ein solches Kleid bestellt,
Von solchem Stoff, als Er, Er wirds schon wissen,
Für meine Freundin machen müssen;
Es ist nichts Schöners auf der Welt.
Als ich zuletzt Besuch gegeben:
So trug sie dieses neue Kleid;
Doch geh Er nur. O kurzes Leben!
Es ist doch alles Eitelkeit!"
O fasse dich, betrübter Mann!
Du hörst ja, daß dein Weib noch ziemlich reden kann.
O laß die Hoffnung nicht verschwinden!
Der Atem wird sich wieder finden.
Der Schneider geht, der Mann begleitet ihn,
Sie reden heimlich vor der Türe.
Der Schneider tut die größten Schwüre,
Und eilt, die Sache zu vollziehn.
Noch vor dem Abend kömmt er wieder.
Sulpitia liegt noch danieder,
Und dankt ihm seufzend für den Gruß.
Allein wer sagt, was doch der Schneider bringen muß?
Er hat es in ein Tuch geschlagen,
Er wickelts aus. O welche Seltenheit!
Dies ist der Stoff, dies ist das reiche Kleid.
Allein was soll es ihr? Sie kann es ja nicht tragen.
"Ach Engel", spricht der Mann bei sanftem Händedrücken,
"Mein ganz Vermögen gäb ich hin,
Könnt ich dich nur gesund in diesem Schmuck erblicken!"
"O", fängt sie an, "so krank ich bin:
So kann ich Ihnen doch, mein Liebster, nichts versagen.
Ich will mich aus dem Bette wagen;
So können Sie noch heute sehn,
Wie mir das neue Kleid wird stehn."
Man bringt den Schirm, und sie verläßt das Bette,
So schwach, als ob sie schon ein Jahr gelegen hätte.
Man putzt sie an, geputzt trinkt sie Kaffee.
Kein Finger tut ihr weiter weh.
Der Krankheit Grund war bloß ein Kleid gewesen,
Und durch das Kleid muß sie genesen.
So heilt des Schneiders kluge Hand
Ein Übel, das kein Arzt gekannt.


Die Mißgeburt
"Frau Orgon!" rief die Frau Gevatterin,
"Ach wüßten Sie, wo ich gewesen bin!
Ich will es Ihnen wohl entdecken;
Allein Sie müssen nicht erschrecken.
Ich komme gleich von einer Wöchnerin.
Lucinde, daß ichs kurz erzähle,
Lucinde, die so stolze Seele,
Die uns durch ihren Staat so oft beschämt gemacht
Erschrecken Sie nur nicht, hat in vergangner Nacht
Ein Kind (verzeih mirs Gott!) mit langen Hasenohren,
Ein recht abscheulich Kind geboren.
Die stolze Frau! Ich richte nicht;
Allein ich weiß, daß nichts umsonst geschieht.
Lucinde wünscht, daß es verschwiegen bliebe;
Ich wünsch es selbst aus Menschenliebe;
Allein die Stadt erfährts, gedenken Sie an mich.
Indes behalten Sie die Heimlichkeit für sich."
Frau Orgon eilt von ihr erschrocken zu Dorinden.
Sie fragt nach ihrem Wohlbefinden,
Und schmäht mit ihr die Weiber, die gern schmähn.
Wie? Sollte sie Dorinden nichts erzählen?
Nein, denn sie fängt schon an sich bestens zu empfehlen.
Warum muß der Besuch so bald zu Ende gehn?
Vielleicht, weil beide sich von nichts zu reden schämen.
Deswegen? Nein, das glaub ich nicht.
Wie sollten dies sich Weiber übelnehmen?
Da mancher große Mann, gelehrt von Angesicht,
Oft tagelang von nichts mit großen Männern spricht.
So ist Frau Orgon schon gegangen?
Noch nicht. Nun aber geht sie fort.
Doch seht, sie kehrt sich um: "Frau Schwester, noch ein Wort,
Ein Wort! Es soll mich sehr verlangen,
Ob Sie--? Lucinde--Wie? Sie hätten nichts gehört?
Nichts, Gott vergib mir meine Sünde!
Nichts von der Mißgeburt der kostbaren Lucinde,
Mit welcher sie die Welt beschwert?
Hier sieht man recht die göttlichen Gerichte.
Ein Kind mit härichtem Gesichte,
Das einem Hasen gleicht, und einem Pferdefuß,
Bedenken Sie, wie das erschrecklich lassen muß!
Allein Lucinde wills verhehlen;
Drum sagen Sie nur weiter nichts davon.
Das arme Kind! Es ist ein Sohn."
Dorinde sagts ihr zu. Und doch soll mirs nicht fehlen,
Sie wird die Neuigkeit, sobald sie kann, erzählen,
Weil jene sie, zu schweigen, bat.
Sie tut es so getreu, als es Frau Orgon tat.
Erst hat das Kind nur Hasenohren,
Frau Orgon schenkt ihm drauf noch einen Pferdefuß;
Allein Dorinden ists noch viel zu schön geboren.
Und weil sie was verbessern muß,
Tut sie dem Kinde den Gefallen
Und macht ihm noch an beide Hände Krallen.
Eh noch der Nachmittag verstrich,
Ließ das Geheimnis sich auf allen Gassen hören.
Die alten Mütter kreuzten sich,
Und suchten schon recht mütterlich
Durch dieses Zorngericht die Töchter zu bekehren.
Da war kein Mensch, der nicht mit einem Ach
Von diesem Wechselbalge sprach.
Die Knaben stritten selbst mit blutigem Gesichte
Schon für die Wahrheit der Geschichte.
Sobald als dies der Magistrat erfuhr,
Schickt er den Physikus nach dieser Kreatur.
Er kam neugierig zu Lucinden;
Allein anstatt den Wechselbalg zu finden,
Fand er ein wohlgestaltes Kind,
An dem die Ohren größer waren,
Als sie bei andern Kindern sind.
Das war die Mißgeburt, der man so mitgefahren!
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Der Dörfer und der Städte Plage,
Verwünscht seist du, gemeine Sage!
Die schnell mit dem, was sie zu wissen kriegt,
Geheimnisvoll in alle Häuser fliegt,
Und, wenn sies dreimal sagt, vom neuen dreimal lügt.
Ein giftig Weib, was kann die nicht erzählen?
Zumal, wenn es der armen Freundin gilt.
Ein giftig Weib--Doch nein, ich mag nicht schmälen;
Mich schreckt die Redekunst, mit der sie andre schilt.
Die Nachtigall und der Kuckuck
Die Nachtigall sang einst ihr göttliches Gedicht,
Zu sehn, ob es die Menschen fühlten.
Die Knaben, die im Tale spielten,
Die spielten fort und hörten nicht.
Indem ließ sich der Kuckuck lustig hören,
Und er erhielt ein freudig Ach.
Die Knaben lachten laut, und machten ihm zu Ehren
Das schöne Kuckuck zehnmal nach.
"Hörst du?" sprach er zu Philomelen,
"Den Herren fall ich recht ins Ohr.
Ich denk, es wird mir nicht viel fehlen,
Sie ziehn mein Lied dem deinen vor."
Drauf kam Damöt mit seiner Schöne.
Der Kuckuck schrie sein Lied. Sie gingen stolz vorbei.
Nun sang die Meisterin der zauberischen Töne
Vor dem Damöt und seiner Schöne,
In einer sanften Melodei.
Sie fühlten die Gewalt der Lieder.
Damöt steht still, und Phyllis setzt sich nieder,
Und hört ihr ehrerbietig zu.
Ihr zärtlich Blut fängt an zu wallen;
Ihr Auge läßt vergnügte Zähren fallen.
"O", rief die Nachtigall, "da, Schwätzer, lerne du,
Was man erhält, wenn man den Klugen singt.
Der Ausbruch einer stummen Zähre
Bringt Nachtigallen weit mehr Ehre,
Als dir der laute Beifall bringt."


Die Nachtigall und die Lerche
Die Nachtigall sang einst mit vieler Kunst;
Ihr Lied erwarb der ganzen Gegend Gunst,
Die Blätter in den Gipfeln schwiegen,
Und fühlten ein geheim Vergnügen.
Der Vögel Chor vergaß der Ruh,
Und hörte Philomelen zu.
Aurora selbst verzog am Horizonte,
Weil sie die Sängerin nicht gnug bewundern konnte.
Denn auch die Götter rührt der Schall
Der angenehmen Nachtigall;
Und ihr, der Göttin, ihr zu Ehren,
Ließ Philomele sich noch zweimal schöner hören.
Sie schweigt darauf. Die Lerche naht sich ihr,
Und spricht: "Du singst viel reizender als wir;
Dir wird mit Recht der Vorzug zugesprochen:
Doch eins gefällt uns nicht an dir,
Du singst das ganze Jahr nicht mehr als wenig Wochen."
Doch Philomele lacht und spricht:
"Dein bittrer Vorwurf kränkt mich nicht,
Und wird mir ewig Ehre bringen.
Ich singe kurze Zeit. Warum? Um schön zu singen.
Ich folg im Singen der Natur;
Solange sie gebeut, solange sing ich nur;
Sobald sie nicht gebeut, so hör ich auf zu singen;
Denn die Natur läßt sich nicht zwingen."
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O Dichter, denkt an Philomelen,
Singt nicht, solang ihr singen wollt.
Natur und Geist, die euch beseelen,
Sind euch nur wenig Jahre hold.
Soll euer Witz die Welt entzücken:
So singt, solang ihr feurig seid,
Und öffnet euch mit Meisterstücken
Den Eingang in die Ewigkeit.
Singt geistreich der Natur zu Ehren,
Und scheint euch die nicht mehr geneigt:
So eilt, um rühmlich aufzuhören,
Eh ihr zu spät mit Schande schweigt.
Wer, sprecht ihr, will den Dichter zwingen?
Er bindet sich an keine Zeit.
So fahrt denn fort, noch alt zu singen,
Und singt euch um die Ewigkeit.


Die Reise
Einst machte durch sein ganzes Land
Ein König den Befehl bekannt,
Daß jeder, der ein Amt erhalten wollte,
Gewisse Zeit auf Reisen gehen sollte,
Um sich in Künsten umzusehn.
Er ließ genaue Karten stehen,
Und gab dazu noch jedem das Versprechen,
Ihm, würd er nur, soweit er könnte, gehn,
Mit dem Vermögen seiner Schätze
Alsdann auf Reisen beizustehn.
Es war das deutlichste Gesetze,
Das jemals noch die Welt gesehn;
Doch weil die meisten sich vor dieser Reise scheuten:
So sah man viele Dunkelheit.
Die Liebe zu sich selbst, und zur Bequemlichkeit,
Half das Gesetz sehr sinnreich deuten;
Und jeder gab ihm den Verstand,
Den er bequem für seine Neigung fand;
Doch alle waren eins, daß man gehorchen müßte.
Man machte sich die Karten bald bekannt,
Damit man doch der Länder Gegend wüßte.
Sehr viele reisten nur im Geist,
Und überredten sich, als hätten sie gereist.
Noch andre schafften das Geräte
Zu ihrer Reise fleißig an,
Und glaubten, wenn man nur stets reisefertig täte:
So hätte man die Reise schon getan.
Sehr viele fingen an zu eilen,
Als wollten sie die ganze Welt durchgehn;
Sie reisten; aber wenig Meilen,
Und meinten, dem Befehl sei nun genug geschehn.
Noch andre suchten auf den Reisen
Noch mehr Gehorsam zu beweisen,
Als den, den das Gesetz befahl;
Sie reisten nicht durch grüne Felder,
O nein, sie suchten finstre Wälder,
Und reisten unter Furcht und Qual;
Behängten sich mit schweren Bürden,
Und glaubten, wenn sie ausgezehrt,
Und siech und krank zurückekommen würden:
So wären sie des besten Amtes wert;
Sie reisten nie auf Kosten des Regenten;
Doch jene, die zur Zeit noch keinen Schritt getan,
Die hielten Tag für Tag um Reisekosten an,
Damit sie weiterkommen könnten.
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Wie elend, hör ich manchen klagen,
Ist nicht dies Märchen ausgedacht!
Schämt sich der Dichter nicht, uns Dinge vorzusagen,
Die man kaum Kindern glaublich macht?
Wo gibt es wohl so stumpfe Köpfe,
Als uns der Dichter vorgestellt?
Dies sind unsinnige Geschöpfe,
Und nicht Bewohner unsrer Welt.
O Freund! was zankst du mit dem Dichter?
Sieh doch die meisten Christen an;
Betrachte sie, und dann sei Richter,
Ob dieses Bild unglaublich heißen kann?


Die schlauen Mädchen
Zwei Mädchen brachten ihre Tage
Bei einer alten Base zu.
Die Alte hielt zu ihrer Muhmen Plage
Sehr wenig von der Morgenruh.
Kaum krähte noch der Hahn bei frühem Tage:
So rief sie schon: "Steht auf, ihr Mädchen, es ist spät,
Der Hahn hat schon zweimal gekräht."
Die Mädchen, die so gern noch mehr geschlafen hätten,
Denn überhaupt sagt man, daß es kein Mädchen gibt,
Die nicht den Schlaf und ihr Gesichte liebt,
Die wunden sich in ihren weichen Betten,
Und schwuren dem verdammten Hahn
Den Tod, und taten ihm, da sie die Zeit ersahn,
Den ärgsten Tod rachsüchtig an.
Ich habs gedacht, du guter Hahn!
Erzürnter Schönen ihrer Rache
Kann kein Geschöpf so leicht entfliehn.
Und ihren Zorn sich zuzuziehn,
Ist leider ein leichte Sache.
Der arme Hahn war also aus der Welt.
Vergebens nur ward von der Alten
Ein scharf Examen angestellt.
Die Mädchen taten fremd, und schalten
Auf den, der diesen Mord getan,
Und weinten endlich mit der Alten
Recht bitterlich um ihren Hahn.
Allein was halfs den schlauen Kindern?
Der Tod des Hahns sollt ihre Plage mindern,
Und er vermehrte sie noch mehr.
Die Base, die sie sonst nicht eh im Schlafe störte,
Als bis sie ihren Haushahn hörte,
Wußt in der Nacht itzt nicht, um welche Zeit es wär;
Allein weil es ihr Alter mit sich brachte,
Daß sie um Mitternacht erwachte:
So rief sie die auch schon um Mitternacht,
Die, später aufzustehn, den Haushahn umgebracht.
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Wärst du so klug, die kleinen Plagen
Des Lebens willig auszustehn:
So würdest du dich nicht so oft genötigt sehn,
Die größern Übel zu ertragen.


Die Spinne
Hochmütig über ihre Künste,
Warf vom durchsichtigen Gespinste
Die Spinne manchen finstern Blick
Auf einen Seidenwurm zurück;
So aufgebläht, wie ein Pedant,
Der itzt, von seinem Wert erhitzet,
In Werken seiner eignen Hand
Bis an den Bart vergraben sitzet,
Und auf den Schüler, der ihn grüßt,
Den Blick mit halben Augen schießt.
Der Seidenwurm, den erst vor wenig Tagen
Der Herr zur Lust mit sich ins Haus getragen,
Sieht dieser Spinne lange zu,
Und fragt zuletzt: "Was webst denn du?"
"Unwissender!" läßt sich die Spinn erbittert hören,
"Du kannst mich noch durch solche Fragen stören?
Ich webe für die Ewigkeit!"
Doch kaum erteilet sie den trotzigen Bescheid:
So reißt die Magd, mit Borsten in den Händen,
Von den noch nicht geputzten Wänden
Die Spinne nebst der Ewigkeit.
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Die Kunst sei noch so groß, die dein Verstand besitzet,
Sie bleibt doch lächerlich, wenn sie der Welt nicht nützet.
Verdient, ruft ein Pedant, mein Fleiß denn keinen Dank?
Nein! Denn er hilft nichts mehr, als andrer Müßiggang.


Die Verschwiegenheit
"O Doris, wärst du nur verschwiegen:
So wollt ich dir etwas gestehn;
Ein Glück, ein ungemein Vergnügen--
Doch nein, ich schweige", sprach Tiren.
"Wie?" rief die schöne Schäferin,
"Du zweifelst noch, ob ich verschwiegen bin?
Du kannst mirs sicher offenbaren;
Ich schwör, es solls kein Mensch erfahren."
"Du kennst", versetzt Tiren, "die spröde Sylvia,
Die schüchtern vor mir floh, sooft sie mich sonst sah.
Ich komme gleich von dieser kleinen Spröden;
Doch, ach, ich darf nicht weiterreden.
Nein, Doris, nein, es geht nicht an;
Es wär um ihre Gunst, und um mein Glück getan,
Wenn Sylvia dereinst erführe,
Daß--Dringe nicht in mich, ich halte meine Schwüre."
"So liebt sie dich?" fuhr Doris fort.
"Jawohl! Doch sage ich kein Wort.
Ich hab ihr Herz nun völlig eingenommen,
Und itzt von ihr den ersten Kuß bekommen.
›Tiren‹, sprach sie zu mir, ›mein Herz sei ewig dein;
Doch eines bitt ich dich, du mußt verschwiegen sein.
Daß wir uns günstig sind, uns treu und zärtlich küssen,
Braucht niemand auf der Flur als ich und du zu wissen.‹
Drum bitt ich, Doris, schweige ja,
Sonst flieht und haßt mich Sylvia."
Die kleine Doris geht. Doch wird auch Doris schweigen?
Ja, die Verschwiegenheit ist allen Schönen eigen.
Gesetzt, daß Doris auch es dem Damöt vertraut;
Was ist es denn nun mehr? Sie sagt es ja nicht laut.
Ihr Schäfer, ihr Damöt, kömmt ihr verliebt entgegen,
Drückt ihre weiche Hand, und fragt,
Was ihr sein Freund Tiren gesagt?
"Damöt, du weißt ja wohl, was wir zu reden pflegen,
Du kennst den ehrlichen Tiren;
Es war nichts Wichtiges, sonst würd ich dirs gestehn.
Er sagte mir--Verlang es nicht zu wissen;
Ich hab es ihm versprechen müssen,
Daß ich zeitlebens schweigen will."
Damöt wird traurig, schweiget still,
Umarmt sein Kind, doch nur mit halbem Feuer.
Die Schäferin erschrickt, daß sie Damötens Kuß
So unvollkommen schmecken muß.
"Du zürnest", ruft sie, "mein Getreuer?
O zürne nicht, ich will es dir gestehn:
Die spröde Sylvia ergibt sich dem Tiren,
Und hat ihm itzt in ihrem Leben
Den allerersten Kuß gegeben;
Allein du mußt verschwiegen sein."
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