Fabeln und Erzählungen - 2

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Errät die Sache bald. Was? fängt sie an zu schließen,
Ein fremder Herr, den man zu Tische gleich behält,
Was bringt doch der? Ich solls nicht wissen;
Allein umsonst bückt er sich nicht so tief vor mir.
Ist auch der gute Freund wohl meinetwegen hier?
Der Fremde hofft, es soll ihm noch gelingen,
Und wagt es bei dem Glase Wein,
Das Wort für seinen Freund noch einmal anzubringen.
"Mein Herr!" fiel ihm der Vater ein,
"O denken Sie doch nicht, daß ich zu hart verfahre:
Mein Kind kann wirklich noch nicht frein,
Sie ist zu jung, sie ist erst vierzehn Jahre."
Indem er dies noch sprach, trat Fickchen selbst herein,
Und trug ein Essen auf. "Was?" fing sie an zu schrein,
"Was sagten Sie, Papa? Sie haben sich versprochen.
Ich sollt erst vierzehn Jahre sein?
Nein, vierzehn Jahr und sieben Wochen."
Ließ sie der Vater denn nicht frein?
Das weiß ich nicht; doch nein, ich wills nur sagen;
Denn unter denen, die mich fragen,
Da könnten wohl selbst junge Mädchen sein;
Die zu beruhigen, will ichs aufrichtig sagen:
Der Vater schämte sich und ließ die Tochter frein.


Das Kartenhaus
Das Kind greift nach den bunten Karten,
Ein Haus zu bauen, fällt ihm ein.
Es baut, und kann es kaum erwarten,
Bis dieses Haus wird fertig sein.
Nun steht der Bau. O welche Freude!
Doch ach! ein ungefährer Stoß
Erschüttert plötzlich das Gebäude,
Und alle Bänder reißen los.
Die Mutter kann im Lomberspielen,
Wenn sie den letzten Satz verspielt,
Kaum so viel banges Schrecken fühlen,
Als ihr bestürztes Kind itzt fühlt.
Doch wer wird gleich den Mut verlieren?
Das Kind entschließt sich sehnsuchtsvoll,
Ein neues Lustschloß aufzuführen,
Das dem zerstörten gleichen soll.
Die Sehnsucht muß den Schmerz besiegen,
Das erste Haus steht wieder da.
Wie lebhaft war des Kinds Vergnügen,
Als es sein Haus von neuem sah!
Nun will ich mich wohl besser hüten,
Damit mein Haus nicht mehr zerbricht.
"Tisch!" ruft das Kind, "laß dir gebieten,
Und stehe fest, und wackle nicht!"
Das Haus bleibt unerschüttert stehen,
Das Kind hört auf, sich zu erfreun;
Es wünscht, es wieder neu zu sehen,
Und reißt es bald mit Willen ein.
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Schilt nicht den Unbestand der Güter,
Du siehst dein eigen Herz nicht ein;
Veränderlich sind die Gemüter,
So mußten auch die Dinge sein.
Bei Gütern, die wir stets genießen,
Wird das Vergnügen endlich matt;
Und würden sie uns nicht entrissen,
Wo fänd ein neu Vergnügen statt?


Das Kutschpferd
Ein Kutschpferd sah den Gaul den Pflug im Acker ziehn,
Und wieherte mit Stolz auf ihn.
"Wenn", sprach es, und fing an, die Schenkel schön zu heben,
"Wenn kannst du dir ein solches Ansehn geben?
Und wenn bewundert dich die Welt?"
"Schweig", rief der Gaul, "und laß mich ruhig pflügen,
Denn baute nicht mein Fleiß das Feld,
Wo würdest du den Haber kriegen,
Der deiner Schenkel Stolz erhält?"
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Die ihr die Niedern so verachtet,
Vornehme Müßiggänger, wißt,
Daß selbst der Stolz, mit dem ihr sie betrachtet,
Daß euer Vorzug selbst, aus dem ihr sie verachtet,
Auf ihren Fleiß gegründet ist.
Ist der, der sich und euch durch seine Hand ernährt,
Nichts Bessers als Verachtung wert?
Gesetzt, du hättest beßre Sitten:
So ist der Vorzug doch nicht dein.
Denn stammtest du aus ihren Hütten:
So hättest du auch ihre Sitten.
Und was du bist, und mehr, das würden sie auch sein,
Wenn sie wie du erzogen wären.
Dich kann die Welt sehr leicht, ihn aber nicht entbehren.


Das Land der Hinkenden
Vorzeiten gabs ein kleines Land,
Worin man keinen Menschen fand,
Der nicht gestottert, wenn er redte,
Nicht, wenn er ging, gehinket hätte;
Denn beides hielt man für galant.
Ein Fremder sah den Übelstand;
Hier, dacht er, wird man dich im Gehn bewundern müssen;
Und ging einher mit steifen Füßen.
Er ging, ein jeder sah ihn an,
Und alle lachten, die ihn sahn,
Und jeder blieb vor Lachen stehen,
Und schrie: Lehrt doch den Fremden gehen!
Der Fremde hielts für seine Pflicht,
Den Vorwurf von sich abzulehnen.
Ihr, rief er, hinkt; ich aber nicht;
Den Gang müßt ihr euch abgewöhnen!
Der Lärmen wird noch mehr vermehrt,
Da man den Fremden sprechen hört.
Er stammelt nicht; genug zur Schande!
Man spottet sein im ganzen Lande.
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Gewohnheit macht den Fehler schön,
Den wir von Jugend auf gesehn.
Vergebens wirds ein Kluger wagen,
Und, daß wir töricht sind, uns sagen.
Wir selber halten ihn dafür,
Bloß, weil er klüger ist, als wir.


Das neue Ehepaar
Nach so viel bittern Hindernissen,
Nach so viel ängstlicher Gefahr,
Als jemals noch ein zärtlich Paar
Hat dulden und beweinen müssen,
Ließ endlich doch die Zeit mein Paar das Glück genießen,
Das, wenns ein Lohn der Tugend ist,
Sie durch Beständigkeit zehnfach verdienet hatten.
Sie, die sich, hart bedroht, als Liebende geküßt,
Die küßten sich nunmehr erlaubt als Ehegatten,
Nachdem sie neidscher Freunde List
Und strenger Eltern Zorn liebreich besänftigt hatten.
Wer war, nach langer Jahre Müh,
Nun glücklicher als er und sie?
Denn, was man liebt, geliebt besitzen können;
In einem treuen Arm sich seines Lebens freun,
Ist, Menschen, dies kein Glück zu nennen:
So muß gar keins auf Erden sein.
Hier wett ich wohl, daß mancher heimlich spricht:
Der gute Mensch versteht es nicht.
Denn wär die Lieb ein Glück, was könnte mir denn fehlen,
Da ein erlesnes Weib in meinen Armen liegt?
Ist sie nicht reich und schön? Doch bin ich nicht vergnügt,
Ich glaub es, lieber Freund; allein sich so vermählen,
Wie viele tun, das heißt nicht lieben, nein.
Das heißt, mit weit getrennten Seelen
Ein Leib in einem Hause sein.
Ein unverhofftes Glück begegnet unsern beiden.
Wie weinen sie vor Zärtlichkeit!
Der arme Mann soll itzt auf kurze Zeit
Von seiner teuren Gattin scheiden,
Weil ihn ein naher Freund in einer fernen Stadt
Zum Erben eingesetzet hat.
Von heißen Lippen losgerissen,
Und doch entbrannt, sich länger noch zu küssen,
Sprach eines, was das andre sprach,
Dem andern immer stammelnd nach,
Ein Lebewohl, ein seufzend Ach.
Er stieg nunmehr ins Schiff (wie oft sah er zurücke!),
Und Doris blieb am Ufer stehn,
Um ihrem Damon, ihrem Glücke,
Noch lange schmachtend nachzusehn.
"O Himmel!" hört ich sie noch an dem Ufer flehn,
"Bring meinen Mann gesund zurücke!"
Das Schiff bringt ihn an seinen Ort.
Er schreibt mit jeder Post: "Bald, Doris, werd ich kommen."
Kaum hat er auch sein Gut noch in Besitz genommen:
So eilt er schon zu Schiffe wieder fort,
Und schreibt, damit sie nichts von seiner Ankunft wüßte,
Daß, wider sein gegebnes Wort,
Er noch acht Tage warten müßte,
Eh er sie wiedersah und küßte.
Die junge Frau, die, wenn die Sonn entwich,
Aus ihrem von der See nicht fernen Hause schlich,
Und gern am Ufer sich verweilte
Ging itzund an der Freundin Hand,
Mit der sie stets ihr Herze teilte,
An den ihr angenehmen Strand.
Sie redten. Und wovon? Errätst du dies noch nicht,
Wovon ein treues Weib, die schmachtend wartet, spricht:
So bist du auch nicht wert, den Inhalt zu erfahren.
Nein, nein, verschweig es, mein Gedicht,
Wie zärtlich Doris' Wünsche waren!
Das Herz wird dem, der liebt, sie selber offenbaren,
Und für die andern schreib ich nicht.
Indem daß Doris noch mit manchem frohen Ach
Von ihres Gatten Ankunft redte,
Und von dem Gastgebote sprach,
Das sie sich ausgesonnen hätte;
Indem sie noch von ihrer Erbschaft redte,
Und, wenn sie den Entwurf von ihrem Glück gemacht,
Sich oft in dem Entwurfe störte,
Und den, der sie im Testament bedacht,
Mit dankerfüllten Tränen ehrte;
Indem sie zum voraus die Armen speisen ließ,
Und mütterlich den Waisen sich erwies,
Der Kranken Herz mit Stärkungen erquickte,
Und den Gefangnen Hülfe schickte;
Indem sie dies im Geist von ihrer Erbschaft tat
Und, in ihr Glück vertieft, ans Ufer näher trat,
Fing ihre Freundin an: "Was schwimmt dort auf dem Meere?
Ein Kästchen? Wie? wenns voll Juwelen wäre?
Ach Doris! wäre das nicht schön?
Allein ich sag es dir, ich habs zuerst gesehn,
Und kömmt es an den Strand geschwommen:
So ist das Glück des Schiffbruchs mein;
Doch du wirst ja bald niederkommen,
Und das versteht sich schon, ich muß Gevatter sein,
Dann bind ich dir drei Schnuren Perlen ein."
Die junge Frau belohnte Scherz mit Scherze.
"Es nähert sich", fing jene wieder an;
Doch wie erschraken sie, als sie zu ihrem Schmerze
Fern einen Leichnam schwimmen sahn.
"Wer weiß", sprach Doris, welcher schon
Die Tränen in den Augen stunden,
"Wer weiß, ist der, der hier sein Grab gefunden,
Nicht grauer Eltern einzger Sohn?
Wer weiß, mit welcher trunknen Freude
Itzt die verlebten Alten beide,
Ihn zu empfangen, fertig stehn?
Und sich im Geist erfreun, die Braut ihm anzubieten,
Die sie für ihn erwählt, und treulich für ihn hüten.
Gott geb es nicht, daß sie den Anblick sehn.
Wer weiß, ward nicht durch seinen Tod
Der treusten Frau ein lieber Mann entrissen,
Die bald ihr eignes Weh, bald ihrer Kinder Not
In Armut wird beweinen müssen?
Wer weiß, wievielmal er betränt,
Eh er noch starb, das arme Weib erwähnt?
Doch, Freundin, komm von der betrübten Stelle,
Damit mein Herz nicht länger zittern darf."
Dies sagte sie sind ging, als eben eine Welle
Den Toten an das Ufer warf.
Die Freundin sah ihn an, und schrie mit Ungestüm:
"Mein Vetter!" und fiel neben ihm.
Auf dies Geschrei kam Doris wieder,
Der lieben Freundin beizustehn.
Ach, Doris, ach! was wirst du sehn?
Sie sieht, und fällt auf ihren Gatten nieder,
Und stirbt an seiner starren Brust.
Indes erwacht die Freundin wieder,
Und zeigt der Nachbarschaft den doppelten Verlust.
Hier bebte der, den man nie zittern sehn,
Und dem, der nie geweint, floß Wehmut vom Gesichte,
Und niemand fragte, was geschehn.
Der Anblick selbst erzählte die Geschichte.
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Beweint, ihr mitleidsvollen Seelen,
Die traurigste Begebenheit
Elend gewordner Zärtlichkeit,
Und schmeckt das Glück, um andre sich zu quälen.
Laßt uns die Unschuld oft im größten Unglück sehn,
Und leidet mit bei fremden Schmerzen;
Dies Mitleid heiligt unsre Herzen,
Und heißt die Menschenlieb in uns ihr Haupt erhöhn.
Die Tugend bleibt uns noch im Unglück selber schön.


Das Pferd und der Esel
Ein Pferd, dem Geist und Mut recht aus den Augen sahn,
Ging, stolz auf sich und seinen Mann,
Und stieß (wie leicht ist nicht ein falscher Schritt getan!)
Vor großem Feuer einmal an.
Ein träger Esel sahs und lachte.
"Wer", sprach er, "würd es mir verzeihn,
Wenn ich dergleichen Fehler machte?
Ich geh den ganzen Tag, und stoß an keinen Stein."
"Schweig", rief das Pferd, "du bist zu meinem Unbedachte,
Zu meinen Fehlern viel zu klein."


Das Pferd und die Bremse
Ein Gaul, der Schmuck von weißen Pferden,
Von Schenkeln leicht, schön von Gestalt,
Und, wie ein Mensch, stolz in Gebärden,
Trug seinen Herrn durch einen Wald;
Als mitten in dem stolzen Gange
Ihm eine Brems entgegenzog,
Und durstig auf die nasse Stange
An seinem blanken Zaume flog.
Sie leckte von dem weißen Schaume,
Der heficht am Gebisse floß.
"Geschmeiße!" sprach das wilde Roß,
"Du scheust dich nicht vor meinem Zaume?
Wo bleibt die Ehrfurcht gegen mich?
Wie? Darfst du wohl ein Pferd erbittern?
Ich schüttle nur: so mußt du zittern."
Es schüttelte; die Bremse wich.
Allein sie suchte sich zu rächen;
Sie flog ihm nach, um ihn zu stechen,
Und stach den Schimmel in das Maul.
Das Pferd erschrak, und blieb vor Schrecken
In Wurzeln mit dem Eisen stecken.
Und brach ein Bein; hier lag der stolze Gaul.
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Auf sich den Haß der Niedern laden,
Dies stürzet oft den größten Mann.
Wer dir, als Freund, nicht nützen kann,
Kann allemal, als Feind, dir schaden.


Das Schicksal
O Mensch! Was strebst du doch, den Ratschluß zu ergründen,
Nach welchem Gott die Welt regiert?
Mit endlicher Vernunft willst du die Absicht finden,
Die der Unendliche bei seiner Schickung führt?
Du siehst bei Dingen, die geschehen,
Nie das Vergangne recht, und auch die Folge nicht,
Und hoffest doch, den Grund zu sehen,
Warum das, was geschah, geschieht?
Die Vorsicht ist gerecht in allen ihren Schlüssen.
Dies siehst du freilich nicht bei allen Fällen ein;
Doch wolltest du den Grund von jeder Schickung wissen:
So müßtest du, was Gott ist, sein.
Begnüge dich, die Absicht zu verehren,
Die du zu sehn zu blöd am Geiste bist;
Und laß dich hier ein jüdisch Beispiel lehren,
Daß das, was Gott verhängt, aus weisen Gründen fließt,
Und, wenn dirs grausam scheint, gerechtes Schicksal ist.
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Als Moses einst vor Gott auf einem Berge trat,
Und ihn von jenem ewgen Rat,
Der unser Schicksal lenkt, um größre Kenntnis bat:
So ward ihm ein Befehl, er sollte von den Höhen,
Worauf er stund, hinab ins Ebne sehen.
Hier floß ein klarer Quell. Ein reisender Soldat
Stieg bei dem Quell von seinem Pferde,
Und trank. Kaum war der Reuter fort.
So lief ein Knabe von der Herde
Nach einem Trunk an diesen Ort.
Er fand den Geldsack bei der Quelle,
Der jenem hier entfiel, er nahm ihn, und entwich;
Worauf nach eben dieser Stelle
Ein Greis gebückt an seinem Stabe schlich.
Er trank, und setzte sich, um auszuruhen, nieder;
Sein schweres Haupt sank zitternd in das Gras,
Bis es im Schlaf des Alters Last vergaß.
Indessen kam der Reuter wieder,
Bedrohte diesen Greis mit wildem Ungestüm,
Und forderte sein Geld von ihm.
Der Alte schwört, er habe nichts gefunden,
Der Alte fleht und weint, der Reuter flucht und droht,
Und sticht zuletzt, mit vielen Wunden,
Den armen Alten wütend tot.
Als Moses dieses sah, fiel er betrübt zur Erden;
Doch eine Stimme rief: "Hier kannst du innewerden,
Wie in der Welt sich alles billig fügt.
Denn wiß: Es hat der Greis, der itzt im Blute liegt,
Des Knabens Vater einst erschlagen,
Der den verlornen Raub zuvor davongetragen."


Das Testament
Philemon, der bei großen Schätzen
Ein edelmütig Herz besaß,
Und, andrer Mängel zu ersetzen,
Den eignen Vorteil gern vergaß:
Philemon konnte doch dem Neide nicht entgehen,
So willig er auch war, den Neidern beizustehen.
Zween Nachbarn haßten ihn, zween Nachbarn ruhten nie,
Aufs schimpflichste von ihm zu sprechen.
Warum? Er war beglückt, und glücklicher, als sie.
Ist dies nicht schon ein groß Verbrechen?
Die Freunde rieten ihm, sich für den Schimpf zu rächen.
"Nein", sprach er, "laßt sie neidisch schmähn,
Sie werden schon nach meinem Tode sehn,
Wieviel sie recht gehabt, ein Glück mir nicht zu gönnen,
Das wenig Menschen nützen können."
Er stirbt. Man findt sein Testament,
Und liest: "Ich will, daß einst, nach meinem Sterben,
Mein hinterlaßnes Gut die beiden Nachbarn erben,
Weil sie dies Gut mir nicht gegönnt."
So mancher Freund verwünscht dies Testament.
"Wie? Konnt ich ihn nicht auch beneiden?
Mir gibt er nichts, und alles diesen beiden?"
Die beiden Nachbarn sehn vergnügt
Den Sinn des Testaments vollführen.
Denn damals wußte man nicht recht zu prozessieren,
Sonst hätten beide nichts gekriegt.
So aber kriegten sie das völlige Vermögen.
Wie rühmten sie den Selgen nicht!
Er war die Großmut selbst, er war der Zeiten Licht,
Und alles dies des Testamentes wegen,
Denn eh er starb, war ers noch nicht.
Sind unsre Nachbarn nun beglückt?
Vielleicht. Wir wollen Achtung geben.
Der eine Nachbar weiht entzückt
Dem reichen Kasten Ruh und Leben.
Er hütet ihn mit karger Hand,
Und wacht, wenn andre schnarchend liegen,
Und wünscht mit Tränen sich Verstand,
Die schlauen Diebe zu betrügen;
Springt oft, durch böse Träum erschreckt,
Als ob man ihn bestohlen hätte,
Mit schnellen Füßen aus dem Bette,
Und sucht den Ort, wo er den Schatz versteckt.
Er martert sich mit tausend Sorgen,
Sein vieles Geld vermehrt zu sehn,
Und nimmt aus Geiz sich vor, die Hälfte zu verborgen,
Und läßt den, den er rief, doch leer zurücke gehn.
Arm hatt er sich noch satt gegessen;
Reich hungert er, bei halbem Essen,
Und schnitt das Brot, das er den Seinen gab,
Mit Klagen über Gott, und über Teurung, ab,
Und ward, mit jedem neuen Tage,
Der Seinen Last und seine Plage.
Der andre Nachbar lachte sein.
"Der Torheit", sprach er, "will ich wehren;
Was ich geerbt, will ich verzehren,
Und mich des Segens recht erfreun."
Er hielt sein Wort und sah, in wenig Jahren,
Sein vieles Geld in fremder Hand;
Durch Gassen, wo er sonst stolz auf und ab gefahren,
Schlich itzt sein Fuß ganz unbekannt.
"Ach!" sprach er zu dem andern Erben,
"Philemon hat es wohl gedacht,
Daß uns der Reichtum wird verderben,
Drum hat er uns sein Gut vermacht.
Du hungerst karg, ich hab es durchgebracht.
Wir waren wert, den Reichtum zu besitzen,
Denn keiner wußt ihn recht zu nützen."


Das Unglück der Weiber
In eine Stadt, mich deucht, sie lag in Griechenland,
Drang einst der Feind, von Wut entbrannt,
Und wollte, weil die Stadt mit Sturm erobert worden,
Die Bürger, in der Raserei,
Bis auf den letzten Mann ermorden.
O Himmel! welch ein Angstgeschrei
Erregten nicht der Weiber blasse Scharen.
Man stelle sich nur vor, wenn tausend Weiber schrein,
Was muß das für ein Lärmen sein!
Ich zittre schon, wenn zwei nur schrein.
Sie liefen mit zerstreuten Haaren,
Mit Augen, die von Tränen rot,
Mit Händen, die zerrungen waren,
Und warfen schon, vor Angst halbtot,
Sich vor den Feldherrn der Barbaren,
Und flehten in gemeiner Not
Ihn insgesamt um ihrer Männer Leben.
So hats von Tausenden nicht eine Frau gegeben,
Die sich gewünscht, des Mannes los zu sein?
Von Tausenden nicht eine? Nein.
Nun, das ist viel; da muß, bei meinem Leben!
Noch gute Zeit gewesen sein.
So hart, als auch der Feldherr war:
So konnt er doch dem zauberischen Flehen
Der Weiber nicht ganz widerstehen.
Denn welchen Mann, er sei auch zehnmal ein Barbar,
Weiß nicht ein Weib durch Tränen zu bewegen?
Mein ganzes Herz fängt sich hier an zu regen.
Ich hätte nicht der General sein mögen,
Vor dem der Weiber Schar so kläglich sich vereint;
Ich hätte wie ein Kind geweint,
Und ohne Geld den Männern gleich das Leben,
Und jeder Frau zu ihrer Ruh
Den Mann, und einen noch dazu,
Wenn sies von mir verlangt, gegeben.
Allein so gar gelind war dieser Feldherr nicht.
"Ihr Schönen!" fängt er an und spricht.
Ihr Schönen? Dieses glaub ich nicht.
Ein harter General wird nicht so liebreich sprechen.
Was willst du dir den Kopf zerbrechen?
Genug! Er hats gesagt. Ein alter General
Hat, dächt ich, doch wohl wissen können,
Daß man die Weiber allemal,
Sie sein es oder nicht, kann "meine Schönen" nennen.
"Ihr Schönen", sprach der General,
"Ich schenk euch eurer Männer Leben;
Doch jede muß für den Gemahl
Mir gleich ihr ganz Geschmeide geben.
Und die ein Stück zurückbehält,
Verliert den Mann vor diesem Zelt."
Wie? Fingen nicht die Weiber an zu beben?
Ihr ganz Geschmeide hinzugeben?
Den ganzen Schmuck für einen Mann?
Gewiß, der General war dennoch ein Tyrann.
Was halfs, daß er "Ihr Schönen!" sagte,
Da er die Schönen doch so plagte?
Doch weit gefehlt, daß auch nur eine zagte:
So holten sie vielmehr mit Freuden ihren Schmuck.
Dem General war dies noch nicht genug.
Er ließ nicht eh nach ihren Männern schicken,
Als bis sie einen Eid getan
(Der General war selbst ein Ehemann),
Bis, sag ich, sie den Eid getan,
Den Männern nie die Wohltat vorzurücken,
Noch einen neuen Schmuck den Männern abzudrücken.
Drauf kriegte jede Frau den Mann.
O welche Wollust! Welch Entzücken!
Vergebens wünsch ichs auszudrücken,
Mit welcher Brünstigkeit die Frau den Mann umfing!
Mit was für sehnsuchtsvollen Blicken
Ihr Aug an seinem Auge hing!
Der Feind verließ die Stadt. Die Weiber blieben stehen,
Um ihren Feinden nachzusehen;
Alsdann flog jede froh mit ihrem Mann ins Haus.
Ist die Geschichte denn nun aus?
Noch nicht, mein Freund. Nach wenig Tagen
Entfiel den Weibern aller Mut.
Sie grämten sich, und durftens doch nicht sagen.
Wer wirds, den Eid zu brechen, wagen?
Genug, der Kummer trat ins Blut.
Sie legten sich; drauf starben in zehn Tagen,
Des Lebens müd und satt, neunhundert an der Zahl.
Der alte böse General!


Das Vermächtnis
Oront, der in der Welt das große Glück erlebt,
Das Fürsten oft den Hirten lassen müssen,
Das Glück, von einem Freund sich treu geliebt zu wissen;
Oront, der sich dies Glück, so arm er war, erstrebt,
Ward krank. Sein kluger Arzt sah aus verschiednen Fällen,
Daß keine Rettung möglich war,
Eröffnete dem Kranken die Gefahr,
Und hieß ihn bald sein Haus bestellen.
Oront, der sich nunmehr dem Irdischen entziehn,
Und frei im Geist den Tod erwarten wollte,
Bat, daß man seinen Freund ihm eiligst rufen sollte.
Sein Freund, sein Pylades, erschien.
"Ach!" sprach Oront, nach zärtlichem Umfassen,
"Ich sterb, und was mir Gott verliehn,
Will ich, mein Freund, dir hinterlassen:
Dir laß ich meinen Sohn, ihn redlich zu erziehn,
Und meine Frau, sie zu ernähren:
Denn du verdienst, daß sie dir angehören."


Der Affe
Ein Affe sah ein Paar geschickte Knaben
Im Brett einmal die Dame ziehn,
Und sah auf jeden Platz, den sie dem Steine gaben,
Mit einer Achtsamkeit, die stolz zu sagen schien,
Als könnt er selbst die Dame ziehn.
Er legte bald sein Mißvergnügen,
Bald seinen Beifall an den Tag;
Er schüttelte den Kopf itzt bei des einen Zügen,
Und billigte darauf des andern seinen Schlag.
Der eine, der gern siegen wollte,
Sann einmal lange nach, um recht geschickt zu ziehn;
Der Affe stieß darauf an ihn
Und nickte, daß er machen sollte.
"Doch welchen Stein soll ich denn ziehn,
Wenn dus so gut verstehst?" sprach der erzürnte Knabe.
"Den, jenen oder diesen da,
Auf welchem ich den Finger habe?"
Der Affe lächelte, daß er sich fragen sah,
Und sprach zu jedem Stein mit einem Nicken: Ja.
----
Um deren Weisheit zu ergründen,
Die tun, als ob sie das, was du verstehst, verstanden:
So frage sie um Rat. Sind sie mit ihrem Ja
Bei deinen Fragen hurtig da:
So kannst du mathematisch schließen,
Daß sie nicht das geringste wissen.


Der arme Greis
Um das Rhinozeros zu sehn
(Erzählte mir mein Freund), beschloß ich auszugehn.
Ich ging vors Tor mit meinem halben Gulden,
Und vor mir ging ein reicher, reicher Mann,
Der, seiner Miene nach, die eingelaufnen Schulden,
Nebst dem, was er damit die Messe durch gewann,
Und was er, wenns ihm glücken sollte,
Durch den Gewinst nun noch gewinnen wollte,
In schweren Ziffern übersann.
Herr Orgon ging vor mir. Ich geb ihm diesen Namen,
Weil ich den seinen noch nicht weiß.
Er ging; doch eh wir noch zu unserm Tiere kamen:
Begegnet uns ein alter schwacher Greis,
Für den, auch wenn er uns um nichts gebeten hätte,
Sein zitternd Haupt, das nur halb seine war,
Sein ehrlich fromm Gesicht, sein heilig graues Haar
Mit mehr als Rednerkünsten redte.
"Ach", sprach er, "ach, erbarmt Euch mein!
Ich habe nichts, um meinen Durst zu stillen.
Ich will Euch künftig gern nicht mehr beschwerlich sein;
Denn Gott wird wohl bald meinen Wunsch erfüllen,
Und mich durch meinen Tod erfreun.
O lieber Gott! laß ihn nicht ferne sein."
So sprach der Greis; allein was sprach der Reiche?
"Ihr seid ein so bejahrter Mann,
Ihr seid schon eine halbe Leiche,
Und sprecht mich noch um Geld zum Trinken an?
Ihr unverschämter alter Mann!
Müßt Ihr denn noch erst Branntwein trinken,
Um taumelnd in das Grab zu sinken?
Wer in der Jugend spart, der darbt im Alter nicht."--
Drauf ging der Geizhals fort. Ein Strom schamhafter Zähren
Floß von des Alten Angesicht.
"O Gott! du weißts." Mehr sprach er nicht.
Ich konnte mich der Wehmut kaum erwehren,
Weil ich etwas mitleidig bin.
Ich gab ihm in der Angst den halben Gulden hin,
Für welchen ich die Neugier stillen wollte,
Und ging, damit er mich nicht weinen sehen sollte.
Allein er rufte mich zurück.
"Ach!" sprach er mit noch nassem Blick,
"Ihr werdet Euch vergriffen haben,
Es ist ein gar zu großes Stück.
Ich bring Euch nicht darum, gebt mir so viel zurück,
Als ich bedarf, um mich durch etwas Bier zu laben!"
"Ihr", sprach ich, "sollt es alles haben,
Ich seh, daß Ihrs verdient; trinkt etwas Wein dafür.
Doch, armer Greis, wo wohnet Ihr?"
Er sagte mir das Haus.--Ich ging am andern Tage
Nach diesem Greis, der mir so redlich schien,
Und tat im Gehn schon manche Frag an ihn.
Allein, indem ich nach ihm frage,
War er seit einer Stunde tot.
Die Mien auf seinem Sterbebette
War noch die redliche, mit der er gestern redte.
Ein Psalmbuch und ein wenig Brot
Lag neben ihm auf seinem harten Bette.
O, wenn der Geizhals doch den Greis gesehen hätte,
Mit dem er so unchristlich redte!
Und der vielleicht ihn itzt bei Gott verklagt,
Daß er vor seinem Tod ihm einen Trunk versagt.
So sprach mein Freund und bat, die Müh auf mich zu nehmen,
Und öffentlich den Geizhals zu beschämen.
Wiewohl ein Mann, der sich zu keiner Pflicht
Als für das Geld versteht, der schämt sich ewig nicht.


Der arme Schiffer
Ein armer Schiffer stak in Schulden,
Und klagte dem Philet sein Leid.
"Herr", sprach er, "leiht mir hundert Gulden;
Allein zu Eurer Sicherheit
Hab ich kein ander Pfand als meine Redlichkeit.
Indessen leiht mir aus Erbarmen
Die hundert Gulden auf ein Jahr."
Philet, ein Retter in Gefahr,
Ein Vater vieler hundert Armen,
Zählt ihm das Geld mit Freuden dar.
"Hier", spricht er, "nimm es hin und brauch es ohne Sorgen;
Ich freue mich, daß ich dir dienen kann;
Du bist ein ordentlicher Mann,
Dem muß man ohne Handschrift borgen."
Ein Jahr, und noch ein Jahr verstreicht;
Kein Schiffer läßt sich wieder sehen.
Wie? Sollt er auch Phileten hintergehen;
Und ein Betrüger sein? Vielleicht.
Doch nein! Hier kömmt der Schiffer gleich.
"Herr!" fängt er an, "erfreuet Euch,
Ich bin aus allen meinen Schulden;
Und seht, hier sind zweihundert Gulden,
Die ich durch Euer Geld gewann.
Ich bitt Euch herzlich, nehmt sie an;
Ihr seid ein gar zu wackrer Mann."
"O", spricht Philet, "ich kann mich nicht besinnen,
Daß ich dir jemals Geld geliehn.
Hier ist mein Rechnungsbuch, ich wills zu Rate ziehn;
Allein ich weiß es schon, du stehest nicht darinnen."
Der Schiffer sieht ihn an, und schweigt betroffen still,
Und kränkt sich, daß Philet das Geld nicht nehmen will.
Er läuft, und kömmt mit voller Hand zurücke.
"Hier", spricht er, "ist der Rest von meinem ganzen Glücke,
Noch hundert Gulden! Nehmt sie hin,
Und laßt mir nur das Lob, daß ich erkenntlich bin.
Ich bin vergnügt, ich habe keine Schulden;
Dies Glücke dank ich Euch allein;
Und wollt Ihr ja recht gütig sein.
So leiht mir wieder funfzig Gulden."
"Hier", spricht Philet, "hier ist dein Geld,
Behalte deinen ganzen Segen:
Ein Mann, der Treu und Glauben hält,
Verdient ihn seiner Treue wegen.
Sei du mein Freund. Das Geld ist dein;
Es sind nicht mehr als hundert Gulden mein,
Die sollen deinen Kindern sein."
----
Mensch! mache dich verdient um andrer Wohlergehen;
Denn was ist göttlicher, als wenn du liebreich bist!
Und mit Vergnügen eilst, dem Nächsten beizustehen,
Der, wenn er Großmut sieht, großmütig dankbar ist!


Der Arme und der Reiche
Aret, ein tugendhafter Mann,
Dem nichts, als Geld und Güter fehlten,
Rief, als ihn einst die Schulden quälten,
Das Glück um seinen Beistand an.
Das Glück, das seine liebsten Gaben
Sonst immer für die Leute spart,
Die von den Gütern beßrer Art
Nicht gar zuviel bekommen haben,
Entschloß sich dennoch auf sein Flehn,
Dem wackern Manne beizustehn,
Und ließ ihn in verborgnen Gründen
Aus Geiz verscharrte Schätze finden.
Er sieht darauf in kurzer Zeit
Von seinen Schuldnern sich befreit;
Doch ist ihm wohl die Not benommen,
Da, statt der Schuldner, Schmeichler kommen?
Sooft er trinkt, sooft er ißt,
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