Eine Stunde hinter Mitternacht - 4

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gebe ich dir täglich einen neuen Schatz zu hüten und mache dich täglich
nach neuen Bürden lüstern. Weisst du aber, ob ich nicht grausam bin? Oder
weisst du das besser als ich?
Oft meine ich, dass du mich besser kennen müssest, als ich selbst vermag.
Oder weshalb schüttelst du das Haupt, wenn ich dir eine alte Sache wieder
erzähle und ändere darin eine Farbe, einen Namen oder nur eine Geberde?
Wenn du mich lügen hörtest? Wenn ein Streit zwischen uns entstände? Müsste
es nicht ein Streit auf Leben und Tod sein? So weiss ich nicht, ob du
meiner Langmut anheimgegeben bist, oder ich der deinigen.
* * * * *
Zuweilen, wenn dein Lächeln eine meiner Erzählungen begleitet, scheint es
mir Augenblicke lang das Lächeln des Wiedererkennens zu sein. Bist du dabei
gewesen, als ich dieses that und jenes zu thun unterliess? Hast du
zugesehen, als ich diesen Frevel beging und jene Wohlthat übte? Ist das,
was dich an mich fesselt, vielleicht die Folge einer früheren mir
unbekannten Gegenwart, ein böses Gewissen, eine Mitwisserschaft, ein böses
Mitgewissen? So wäre der Grund unsrer Gemeinschaft ein Spiegel- und
Trostbedürfnis, die Notwendigkeit eines Mitleidenden, und vielleicht der
allezeit wache Argwohn Zweier, die ein gemeinsames Verbrechen begangen
haben. Also dass wir aneinander leben und aneinander zu Grunde gehen
müssten?
Oder wie kommt es, dass du gerade dann immer zu mir trittst, wenn eine Lust
zu Rede und Vertraulichkeit sich in mir regt, als fürchtetest du, diese
möchte sich einem Dritten offenbaren? Was beschwert denn meine Erinnerung,
das für Einen zu schwer zu tragen wäre!
* * * * *
In Stunden, welche schweren Träumen vorausgehen, in diesen unruhig trägen,
bleigrauen, fiebernden Stunden hat mich oft eine stachelnde Begierde
erfüllt, dich zu quälen, dir schmerzliche Geheimnisse zu rauben und dich
stöhnen zu hören, dir den Fuss auf die Brust zu setzen oder dich eng zu
würgen. Dann, wenn meine Einbildung schon dein Ächzen vernahm und Blut an
deinem Halse sah, tratest du manchmal zu mir. Ich aber wurde von Angst und
Mitleid ergriffen, streichelte deine Hände, nannte dich mit Schmeichelnamen
und vermied es, in deine Augen zu blicken. Weshalb hatte ich Angst vor dir?
Oder weshalb liebe ich dich? Denn ich liebe dich mit der Liebe, welche
jeder Verwandlung fähig ist und keine höchste Stufe kennt. Ich liebe dich
wie ein gutes Haustier, ich liebe dich wie eine Schöpfung meiner Kunst, ich
liebe dich wie man die Rätsel und das Schauerliche liebt. Ich liebe dich
auch wie ein Glied meines Leibes, und liebe dich wie einen morgenden Tag,
und wie ein Abbild meiner selbst, und wie meinen Dämon und meine Vorsehung.
Wie aber liebst du mich?


An Frau Gertrud.

Im einsamsten Gemach meines Schlosses, unter der Wölbung des schmalen
Fensters, sitzest du oft, Freundlichste unter meinen Toten. Über alles
Zusammensein und Händehalten hinaus dauert noch deine unbegreifliche,
gütige Gegenwart, wie eines Sternes, der verschollen ist und dessen
Strahlen doch lange Zeiten noch zu uns reichen.
Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich unter dem Himmel der Vita Nuova
gewandelt bin. Ich kann nicht zählen, wie oft ich verzweifelte, ein anderes
Bild deiner Erscheinung zu finden.
Keine Schönheit, wenn nicht die jenes süssesten Gedichtes, ist dir zu
vergleichen. Mir ist oft, als wärest du die gewesen, die einst an dem
entrückten Dante vorüber ging, und wärest nur einmal noch über die Erde
gewandelt, im Schatten meiner sehnsüchtigen Jugend. Dass ich dich mit
leiblichen Augen gesehen habe, dass deine Hand in der meinen lag, dass dein
leichter Schritt neben dem meinen über den Boden ging, ist das nicht eine
Gnade der Überirdischen, ist das nicht eine segnende Hand auf meiner Stirn,
ein Blick aus verklärten Augen, eine Pforte, die mir in das Reich der
ewigen Schönheit geöffnet ward?
In Schlafträumen sehe ich oft deine leibliche Gestalt und sehe die
feingliedrigen, weissen Finger deiner adligen Hände auf die Tasten des
Flügels gelegt. Oder ich sehe dich gegen Abend stehen, die Farbenwende des
erblassenden Himmels betrachtend, mit den Augen, welche von der wunderbaren
Kenntnis des Schönen voll tiefen Glanzes waren. Diese Augen haben mir
unzählige Künstlerträume geweckt und gerichtet. Sie sind vielleicht das
Unschätzbarste, was meinem Leben gegeben wurde, denn sie sind Sterne der
Schönheit und Wahrhaftigkeit, voll Güte und Strenge, unbetrüglich,
richtend, bessernd und belohnend, Feinde und Rächer alles Unwerten,
Unwesenhaften und Zufälligen. Sie geben Gesetze, sie prüfen, sie
verurteilen, sie beglücken mit überschwenglichem Glück. Was ist Vorteil,
was ist Gunst, was ist Ruhm und menschliches Lob ohne die Gewährung und das
gnädige Leuchten dieser unbestechlichen Lichter!
Der Tag ist laut und grausam, für Kinder und Krieger gerecht, und alles
Tagleben ist vom Ungenügen durchtränkt. Ist nicht jeder eindämmernde Abend
eine Heimkehr, eine geöffnete Thür, ein Hörbarwerden alles Ewigen? Du
Wunderbare hast mich gelehrt, heimzukehren und mein Ohr den Stimmen der
Ewigkeit zu öffnen. Du sagtest, als schon das letzte Thor bereit war vor
dir die Flügel aufzuthun, zu mir die Worte: »Lass dir die Abende heilig
sein und dränge ihr Schweigen nicht aus deiner Wohnung. Auch vergiss der
Sterne nicht, denn sie sind die obersten Sinnbilder der Ewigkeit.«
Und ein andermal hast du gesagt: »Denke daran, auch wenn ich dir genommen
bin, Frieden mit den Frauen zu halten, denn alle Geheimnisse stehen ihnen
am nächsten.« Seither habe ich mit niemandem solche Gespräche ohne Worte
gehabt, wie mit Sternen und Frauen.
* * * * *
In der Stunde, da wir unsre Freundschaft beschlossen, trat noch Einer zu
uns, unsichtbar und unbegreiflich, ein Geist und Schutzgott. Mir ist, er
habe unsichtbare Geberden eines Segnenden über mir gemacht, und jene Worte
geredet; apparuit jam beatitudo vestra. Dieser ist seitdem bei mir
geblieben und hat sich vielfältig oft an mir erwiesen, als ein Arm des
Trostes, als ein Rätseldeuter, als Dritter eines Glückes. Oft war meine
Hand zu Übereilungen hingeboten und er drängte sie zurück; oft war ich
einer Schönheit vorübergegangen und er nötigte mich still zu stehen und
zurückzublicken; oft wollte ich ein grünes Glück vom Ast brechen, und er
riet mir: »Warte noch!«
Was versöhnlich und liebenswürdig ist, was holde Stimmen hat und tröstliche
Bedeutungen, was selten, edel und von abgesonderter Schönheit ist, hat
seitdem eine sichtbare Seite für mich und irgend einen Weg zu meinen
Sinnen. Die Ströme in der Nacht reden mir deutlicher, die Sterne können
nicht mehr ohne mein Mitwissen auf- und niedersteigen.
* * * * *
Dieser mein Tröster und unsichtbarer Dritter kam auch an einem Tage zu mir,
da mein Herz den Takt verloren hatte und mein Auge zu erblinden schien. Er
glättete meine Stirn, er lehnte zuweilen an mich und sagte mir etwas ins
Ohr, er ging vorüber und drückte mir die Hand. Du aber lagest in lauter
Theerosen gebettet, voller Friede, voller Verklärung, freundlich, aber ohne
Lächeln. Du lagst und rührtest keine Hand, lagst und warst kalt und weiss.
Diese Stunde erschien mir als eine unergründlich schwarze Nacht. Ich stand
in dichter Finsternis und wusste nicht wo ich war, ohne Nähe und Ferne, wie
von erloschenen Lichtern umgeben. Ich stand unbewegt und fühlte auf allen
Seiten Abgründe neben mir offen, spürte nur meine ineinander gelegten Hände
hart und kalt, und glaubte an kein Morgen mehr. Da stand der Tröster neben
mir, umschlang mich mit festen Armen und bog mein Haupt zurück. Da sah ich
im Zenith eines unsichtbaren Himmels inmitten der vollkommenen Finsternis
einzig einen hellen, milden, strahlenlosen Stern von seliger Schönheit
stehen. Als ich diesen sah, musste ich eines Abendes gedenken, an dem ich
mit dir im Walde ging. Ich hatte meinen Arm um dich gelegt und plötzlich
zog ich dich ganz an mich her und bedeckte dein ganzes Gesicht mit
schnellen, durstigen Küssen. Da erschrakest du, drängtest mich ab und
sahest wie verwandelt aus. Und sagtest: »Lass, Lieber! Ich bin dir nicht zu
Umarmungen gegeben. Der Tag ist nicht fern, an dem du mich mit Händen und
Lippen nicht mehr erreichen wirst. Aber dann kommt die Zeit, dass ich dir
näher sein werde als heute und jemals.« Diese Nähe überfiel mich plötzlich
mit unendlicher Süssigkeit, wie ein völliges Aug in Auge, wie ein Kuss ohne
Ende. Was ist alle Liebkosung gegen dieses namenlose Vereinigtsein!
Auf Wanderungen durch die Orte, an denen wir beisammen waren, kam diese
Wonne später noch manchmal über mich, schon lange Zeit nach deinem Tode.
Einmal, als ich im Schwarzwalde bergan durch einen dunklen Forst wanderte,
sah ich deine helle Gestalt von der Höhe her mir entgegen gehen. Du kamst
mit deinem alten Händewinken den Berg herab, begegnetest mir und warst
verschwunden, während zugleich deine Gegenwart mein Inneres süss und tief
erfüllte.
Am häufigsten aber trittst du an den Himmel meiner Träume wie damals am Tag
meiner grössten Finsternis, als der milde Stern der Gnade, voll seliger
Schönheit.
Am einen Abende, als Musik und lautes Gespräch dich bis in die letzten
Gartenwege verfolgte, fand ich dich dort auf und nieder gehend, gab dir
meinen Arm und begleitete dich. Da sagtest Du: »Wenn ich nicht mehr hier
sein werde und wenn du selber einmal leiser geworden bist, wird vielleicht
dieser vergehende Abend und mancher, der schon vergangen ist, dir
gegenwärtiger und wirklicher sein als deine eigene Hand. Dann wirst du
Mitternachts irgendwo in deinem Zimmer wach sein, vielleicht weit von hier.
Vor deinen Fenstern aber wird die nahe Welt zurückweichen und du wirst
glauben, diesen Weg und uns beide darauf wandeln zu sehen.«
Heute nun liegt dieser Abend vor mir, in die entfernte Musik mischen sich
wieder unsere leisen Stimmen, dass ich nicht weiss, ob jener Abend oder der
heutige wirklich und vom irdischen Monde erleuchtet ist.


Notturno.

Mein Ross hält an, reckt den schönen Hals und wiehert in den Abend. Ich
grüsse dich! Ich grüsse dich, meine Cederndunkle Zuflucht! Du
Friedebringende, du Weltferne, Unberührte, mit dem schwarzen, kostbaren
Gürtel!
In einem tiefen, tagebreiten Cederwald liegt ein See und eine granitene
Burg verschlossen. Ein Schloss für die Ewigkeit gebaut, kolossal und
quaderfest, mit ungeheuren normännischen Ecktürmen, und mit einer einzigen
Thüre. Diese öffnet sich auf eine Treppe aus breiten Quaderstufen, und die
Treppe führt in den schwarzen, bodenlosen See. Der eisgraue Wächter hört
und erkennt mein Ross. Er tritt bedächtig durch die eherne Thüre und über
die grünlichen Stufen. Er löst das Königsboot von der schweren Kette und
rudert lautlos mit einem Ruder über das spiegelschwarze Wasser. Er nimmt
mich auf und steuert zurück. Wir legen das Boot wieder an die Kette mit den
eisernen Viereckgliedern.
Wir setzen uns auf die Schwelle der ehernen Thür. Das Wipfelflüstern wächst
im Abendwind, die Dämmerung schleicht zwischen den Stämmen am Ufer hin. Der
Wächter hat das Greisenhaupt auf beide harte Hände gestützt und dringt mit
langen, ruhigen Blicken in den Abend. Vor uns liegen die vermoosenden
Stufen und der unbewegte See, auf beiden Seiten steht die tausendjährige,
hohe Wand des heiligen Waldes und schliesst gegenüber am fernen Seerande
den dunklen Ring. Stunden fliegen auf unhörbaren Fittigen über uns hinweg.
Jenseits des Wassers zittert über den Wipfeln ein kleines Licht herauf,
hebt sich und wächst und beginnt hell zu leuchten, und löst sich schwebend
als voller Mond vom Walde los. Von unserem Sitze anhebend verbreitet sein
Licht sich langsam über den See, bis die runde Wasserfläche ohne Schatten
in reinem, tiefem Lichte schwimmt, unbewegt, wie ein unendlicher Spiegel.
Mit unvermindertem Glanze blickt der silberne Mond aus der unergründlichen
Tiefe.
Der Wächter ruht mit unverwandtem Blick auf dem langsamen Wandel des
Spiegelmonds. Sein Gesicht ist traurig, und ich fühle wohl, dass er mit mir
reden möchte. Ich frage ihn, und ich dämpfe schnell meine Stimme zum
Flüsterton, erschrocken über ihr Hallen in dem einsamen Waldrunde. Ich
frage ihn: »Du bist traurig. Woran denkst du?«
Er wendet nicht den Blick, aber er senkt ein wenig das weisse Haupt und
seufzt. Und sagt: »Vor tausend Jahren sass ich hier auf dieser
Thürschwelle, und blickte über den nächtigen See. Dort aber, in der Mitte
des Wassers, wo jetzt der Mond sich abmalt, schwamm ein Totenkahn und
brannte steilauf in lohroten Flammen. Der ganze See war rot vom Widerschein
des brennenden Nachens. Und der darin lag, war mein letzter König.«
Der Greis bedeckt sein Haupt mit dem Gewand. Nach einer Weile enthüllt er
sich und hat noch Tropfen im Bart. Er erzählt: »Wenige Zeit danach stiess
ich den letzten Leichenkahn von dieser Treppe brennend hinaus. Lag eine
übermenschlich schöne, schneeblasse Dame in purpurnen Prachtkleidern darin.
Meine letzte Königin.« Der Cederwald rauscht tieftönig auf. Aus dem
bodenlosen Wasser blickt traurig der runde Mond. »Diese hab' ich geliebt«.
-- --
»Seit allen vielen Jahren bewahrte ich das Schloss, und sass stille Abende
lang auf meiner Treppe. Aber du weisst dies ja wohl, denn du hast mich ja
mit Namen gerufen und bist der Einzige, der diese Zuflucht seit tausend
Jahren betreten hat. Du hast ja auch die Schlüssel Ihrer Gemächer! Willst
du eintreten?«
Wir schliessen hinter uns das Thor. Der Wächter nimmt die Fackel vom Ring
und leuchtet mir die Treppen hinan. Ihr heimatliche, tausendjährige
Treppen! Ihr bronzene Zierleuchter! Ihr Fliesengänge, in denen das Echo
königlicher Schritte erwacht, wenn ich darüber trete! An der letzten Thüre
bleibt der Wächter stehen, und bückt sich tief, und lässt mich allein. Ich
trete in das alte Zimmer, ich spüre den Gruss der vergangenen Zeiten,
denselben, den ich schon als ein scheuer Knabe vor vielen Jahren hier
verspürte. Gemach unserer letzten Königin! Scharlachene Teppiche,
löwenköpfige hohe Sessel, goldnes und edelsteinenes Frauenspielwerk. Ein
heidnischer Gott, eine Kriegsbeute, steht mitten im Gemach, hat ein
goldenes Stirnband umgelegt und die kleine Harfe der Königin im Arme
hängen. Das ist die Harfe, welche Nächte lang mit langen Klagtönen den See
und die stillen Schwäne bezauberte! Das ist die Harfe, die den Gesang des
blonden Mitternachtsbuhlen begleitete!
Der rauschte in verwölkten Sturmnächten nass und blank aus dem zitternden
See und trat durch die schlafenden Knechte, und kosete im dunklen
scharlachenen Zimmer mit der Liebeskönigin. Der stiess das lange
Schlangenschwert durch die fröhliche Brust des letzten Königs. Der küsste
in einer brausenden Gewitternacht den Tod auf den roten, liebekundigen Mund
der Königin.
Die ebenholzene Harfe hängt im Arm des stillen Gottes. Ich betrachte lang
ihre schlanke, fremde Form mit dem perlgezähnten, smaragdäugigen
Drachenkopf, und die feinen Saiten, und atme die unermesslichen Schicksale
und Leidenschaften einer vergangen unvergänglichen, übermächtigen Zeit.
Das Fenster ist unverhängt; ich lege mich in das Gesimse. Treppe und See
liegt unter mir. Der Wächter sitzt traurig auf seiner Stufe und sättigt
sein Auge an der Seetiefe und bewahrt in seiner Eisenbrust das brandende
Meer seiner unsterblichen Liebe. Wächter, See und Wald seit tausend Jahren
ohne Tod und Zeit, zauberversunken, im Ring wachhaltender Jahrhunderte und
darüber, ohne Tod und Zeit, der volle ruhige Mond. Jeder Atemzug ein Trunk
aus dem unerschöpflichen Becher der Ewigkeit, jeder Herzschlag eine stille
ungezählte Welle im Meer des Schweigens!
Nahe erscheint auf dem Wasser, wie ein leuchtender Streif, eine weisse
Helle. Bleibt stehen, schlägt mit Flügeln und ist ein grosser Schwan. Der
Schwan rudert langsam fort. Fort und weit in den See hinein. Dort hält er
an, ist kaum noch sichtbar, hebt sich wund und stolz, und sinkt in Grund.
Ein süsser, wunder Ton kreist über Schloss und See, und ich weiss nicht,
ist es ein Schwanenlied oder ein erwachter Ton der schwarzen Liebesharfe.
Der Wächter aber ist aufgestanden und blickt mit erhobenem Haupt entrückt
und selig dem weissen Wunder nach, breitet beide Arme aus und steht noch
lang, den süssen Ton im Ohr. Auch ich; und mich kühlt eine selig wohllaute
Stille bis ins Herz.
Der Wächter fragt mit einem Blick herauf. Ich nicke zu, verschliesse das
Gemach der Königin und steige die breite Treppe nieder. Das Boot ist schon
gelöst. Ich steige ein, und der Greis taucht das lautlose Ruder tief in die
schwarze Flut.


Der Traum vom Ährenfeld.

Einmal hab' ich Dich schon geträumt, mein Traum vom Ährenfeld! Überflute
mich wieder mit deinem rot und goldenen Leuchten! Tritt wieder über die
Schwelle meiner Nacht und sei wieder der Vorbote eines neuen Glückes!
Siehe, er tritt hervor, aus dem verschlossenen Garten meiner Frühe, dessen
Luft voll Silbers und dessen Schatten voll Zukunft ist. Ich meine das
Rauschen seiner Bäume zu vernehmen und den Geruch seiner Wiesen zu spüren;
mein Heimweh sättigt sich an seiner Fülle, mein Auge verwandelt sich und
ruht ungebrochenen Blicks auf den Frühlingen meiner frühesten Jugend. Der
Traum wird mächtig und breitet ein gelbes Ährenfeld vor mir in sonnenheller
Weite aus.
Ein Ährenfeld in heller Sonne! Eine Flut gelbroter Farben, eine Fülle
stetigen Lichtes, in der Tiefe rötlich verklärt, an den Rändern von
Glanzwellen und rastlosen Wechselfarben lebendig! Ein endloser Anblick voll
Ruhe und Genügen, ein Born des Glückes und der Schönheit, ein angehäufter
Schatz alles Dessen, was urprächtig, unberührt, in sich beschlossen, und
unwiederbringlich ist. Dieses alles senkt sich in mein Herz, findet alle
leeren Kammern, füllt und füllt und fliesst über wie ein Strom aus einem
tiefen See.
Wie vermöchte ich zu sagen, was mein kindgewordenes Herz nun erfüllt, was
mein Blut so milde erwärmt und mein Auge so offen, still und glänzend
macht! Erfüllt und eins mit dem Licht der Sonne und des stillen Feldes
kehrt mir Auge und Herz unter die Brüder meiner Kindheit zurück, zu dem
wogenden Feld, zu dem reinen Himmel, zu den geschwisterlichen Bäumen,
Bächen und Winden.
Ich grüsse euch, Brüder und Schwestern! Verzeihet, was in der Fremde
geschehen ist! Ich war lange Zeit krank, mein Ohr und Auge reichte nimmer
zu euch, mein innerster Grund war mir fremd geworden. Das in mir, was von
Ewigkeit und Muttergeschenk ist, war in Ketten gelegt, sein schweres Atmen
reichte nur in den stillsten Mitternächten noch zu mir herauf. Nun atmet es
befreit, und atmet mit meiner Brust, und erschliesst alles in mir der
entschleierten Gegenwart.
Du leuchtendes Ährenfeld! Tränkst du mein Auge mit deiner ruhigen Klarheit,
oder ist es das Licht meines Glückes, das aus meinem Auge überquellend dich
glänzen macht und die Sonne entzündet? Reich und nehmend, bedürftig und
austeilend, zweieins, süsser Kern eines ewigen Rätsels, so ist meine Liebe
und deine. Wie bin ich befreit von allen Massen und Mittelpunkten! Wo ist
noch Anfang oder Ende, wo ist noch Wille und Ziel, oder Ursprung und
Brücke?
Du leuchtendes Ährenfeld, bist du nicht ein Bild meiner befreiten Seele? Du
und ich, beide in flutender Helle, beide reich an Unaussprechlichem, beide
einander beschenkend, und beide sich neigend unter einer süssen Last?
Hergestellt von W. Drugulin in Leipzig im Juni des Jahres 1899.


Anmerkungen zur Transkription

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