Eine Stunde hinter Mitternacht - 2

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verliess ich den stillen Ort und wanderte langsam durch die Waldung zurück.
* * * * *
Im Garten fand ich die Königin mit ihren Frauen im Kreise sitzend. Eine
Schale voll goldgelber, duftender Früchte ging von Hand zu Hand, und jede
der Spielerinnen musste ein Wort über die Früchte sagen, ehe sie eine der
lockenden verspeisen durfte. Die Schale schwankte eben in dem Händlein
einer kleinen Schwarzen, hinter deren Sitz ich gerade ankam, noch von einer
Oleanderreihe verborgen. Die Kleine beugte sich über das schöne Gefäss,
einen hellen Nacken mit schwarzen Ringelhaaren zeigend, und suchte mit
bedächtigen Augen die reifste Frucht. Diese zog sie am Stiel mit zwei
Fingern heraus, hob sie bewundernd über sich und näherte sie langsam ihrem
lüsternen Munde. »Da derjenige nicht hier ist«, sagte sie lachend, »welchem
allein ich die Süsse gönnte, erlaubt mein Neid mir nicht, diese Schönste
einer andern zu überlassen.« Sprach's und that einen guten Biss in das
süsse Fleisch, indem ich eben aus dem Gezweige hervortrat.
Die Frauen, welche mir gegenüber sassen und mich zuerst erblickten, brachen
in ein lustiges Gelächter aus, das sich zu beiden Seiten des Kreises, da
immer eine Nachbarin der nächsten nach mir deutete, bis zu der vor mir
Sitzenden fortsetzte. Diese blickte mit Verwunderung im Kreise umher, noch
die Schale in der Linken, lachte mit, ohne zu wissen warum, stand
schliesslich auf und drehte sich um, wobei sie erschrocken und schnell
errötend mich mit der angebissenen Frucht berührte. Dann aber fasste sie
sich eilig, sagte herzhaft »Da!« und hielt mir den Bissen vor den Mund.
»Erst deinen Spruch!« ermahnte heiter die Königin. »Diese köstlichste eurer
Früchte«, sagte ich schnell, »ist mir eine sichtbare Gunst des Glückes,
welche abzuweisen mir verderblich sein würde. Also gönnt sie mir und
erlaubt, dass ich meine tapfere Vorkosterin Fortuna nenne. Tibi, Fortuna!«
Der süsse Bissen erfrischte mich bis ins Mark.
Indessen war es Mittag geworden und wir wichen vor der heisseren Sonne in
die Halle zurück. Nebst den Früchten wurde Brot und Honig gebracht, Milch
in Kannen und Wein in einem steinernen Krug. Wir bedienten einer des andern
Hände mit Wasserbecken und sassen fröhlich zu Mahl. Neben mir an sass
Fortuna, viel geneckt und mit lächerlichen Kosenamen gerufen, tapfer und
plaudernd. Sie schwieg aber und horchte, und ich auch, als eine der Frauen
mit halbem Ernst Erzählungen aus meinem Leben vorzutragen begann, von den
Meisten oft durch Gelächter und neue Geschichten unterbrochen. Auch die
Königin nahm teil.
»Erinnerst du dich noch«, sagte diese zu mir, »an die Geschichte vom
Blondel, aus deiner Kinderzeit? Es ist den Dichtern gegeben, dass sie sich
mehr als andre Menschen ihres frühesten Lebens erinnern. Wenn du noch
weisst, so erzähle uns doch davon.«
Die Begebenheit aus meiner ersten Knabenzeit, an die ich Jahre lang nicht
gedacht hatte, stand plötzlich wieder deutlich vor mir, wie eine
schüchterne Kindergestalt. Und ich berichtete: »Als ich noch klein und
keine sechs Jahre alt war, geschah es irgendwo und wann, dass ich die
Geschichte des Liedsängers Blondel zu hören bekam. Ich verstand sie wohl
schlecht und vergass sie bald, aber der zarte, freundliche Name Blondel
blieb in meinem Gedächtnis und schien mir wunderbar fein und wohltönend, so
dass ich ihn mir oft leise vorsagte. Mit diesem Namen genannt zu werden,
dünkte mich über alles köstlich und herzerfreuend. Also überredete ich im
Spielen bald einen nachbarlichen Kameraden, mich so zu nennen, was mir
überaus angenehm und schmeichelnd war. Nun gewöhnte sich das Büblein an
meinen Spielnamen, und eines Vormittags kam er vor unser Haus, um mich
abzuholen, stellte sich an den Zaun und rief aus vollem Halse gegen die
Fenster: »Blondel! Komm herunter, Blondel!« Mein Vater und die Mutter und
Besuche waren im Zimmer, und mein laut ausgerufenes Lieblingsgeheimnis
beschämte und empörte mich so sehr, dass ich mich nicht ans Fenster zu
gehen getraute und nachher meinem erstaunten Kameraden zornig die
Freundschaft aufkündigte, welche freilich bald wieder zusammenwuchs.«
»So war es«, sagte die Königin. »Nun aber, wenn du willst, erzähle uns, wo
du dich heute am Morgen aufhieltest. Ich hatte gedacht dir das morgendliche
Meer zu zeigen; du aber warst fort, ehe die Sonne schien.«
Ich verspürte früh' eine Lust zu laufen und geriet in einen tiefen Wald,
der mich mit allerlei Schatten und Geheimnissen weiter lockte, bis ein
liebliches Wunder vor mich trat. Ich stand vor einem Weiher, dessen
Spiegelgewässer meine zartesten Jugendgedanken noch mit allem kostbaren
Duft bewahrt hatten. Über einen jenseitigen Hügel blickte der Turm des
Klosters, das vor Zeiten mich und meine liebsten Jünglingsträume beherbergt
hat.
»Ich weiss,« sagte die Schönste, »das war deine edelste und ehrfürchtigste
Zeit. Damals sah ich dich schwermütige Waldwege thun und knabentraurig in
gefallenen Blättern rauschen, und nie bin ich dir näher gewesen, als an
jenen Abenden, da du deine Geige an dich nahmst oder das Buch eines
verehrten Dichters. Damals sah ich die Schatten der späteren Jahre sich dir
nähern und fürchtete für dich, und ahnte wohl, dass du einmal mit einer
neuen Jugend und einer neuen Trauer zu mir kommen würdest. Um jener
sehnsüchtigen Zeit willen liebte ich dich noch in deinen verlorensten
Jahren.«
Während sie dieses sagte, gliederte sich vor meiner Betrachtung wie ein
Bild meine ganze Jugend und sah mich traurig mit Augen eines misshandelten
Kindes an. Die Königin aber liess eine Geige herbeibringen, beendete das
Mahl und bat mich zu spielen. Auch die Frauen bedrängten mich bittend und
neckend, und Fortuna reichte mir mit einer gnädigen Bewegung den Bogen. So
setzte ich leise an und zog den Bogen mild und probend, bis meine Finger
sich wieder in die harten Geigergriffe gewöhnt hatten. Dann legte ich mich
mit Lust in das Spiel und strich die leidenschaftlichen Takte einer dunklen
Jugendphantasie. Und hernach, da ein langer Blick der schönen Frau Gertrud
mich bat, spielte ich ein Notturno von Chopin, jenes schönste,
windverwehte, dessen Takte sich wie die Lichter eines mondbeglänzten Meeres
bewegen.
* * * * *
Ich war mit der Königin auf Waldwegen in ein Gartenschloss in der Nähe des
Meerufers gegangen. Dort führte sie mich vor eine hohe, bemalte Wand. »Mein
Lieblingsbild«, sagte sie. Mit grosser Kunst war hier ein südländischer
Garten gemalt, voll dunkler, tiefschattiger Gebüsche, mit griechischen
Bildsäulen und einer springenden Wasserkunst, an deren unterstes Becken
eine Leier gelehnt war. »Kennst du den Garten?«
»Nein. Aber die Leier ist Ariosts.« Sie lächelte. »Ariosto! Hier wandelt er
noch zuweilen und sagt mir ein helles Spiel wiegender Oktaven vor, und
lässt sich unter Scherzen von mir bekränzen.«
Auf einen leisen Wink der Herrin ward plötzlich die ganze bemalte Wand
hinweggerückt. Ein unermesslicher Horizont rundete sich vor uns aus, und zu
unsern Füssen lag dunkelgrün der ganze Garten des Bildes. Ein schlanker,
dunkler Mann trat langsam aus einem Rondell, bückte sich nach der Leier und
ahmte darauf spielend den Silberlaut der Fontäne nach. Darauf schritt er
abwärts gegen das dunkelnde Meer und verschwand an der Gartenmauer. Mir
ging die ganze Erscheinung vorüber wie ein Verspaar des Orlando, schlank,
edelförmig, und schalkhaft wie ein Mädchengelächter. Dann ging ich selber,
an der Hand der Königin, an das Meerufer hinab. Die leicht bewegte Fläche
der See lag blau und rot und silberschillernd weit hinaus. Auf diesem
Farbenspiel ruhten unsre Blicke lang mit fröhlichem Ergötzen. Dann bog die
Schönste einiges Zweigwerk auseinander und zeigte eine weisse, schmale
Treppe, welche ins Wasser führte. An diese fand ich mein Boot gebunden. Die
Königin brach einen Zweig Orangeblüte, warf ihn in das Boot, drängte mich
sanft hinab und gab mir die Hand.
»Nun reise gut! Abschiednehmen ist eine Kunst, die niemand zu Ende lernt.
Ich weiss, du wirst einmal wieder kommen, bei mir Licht zu schöpfen, und
einmal, wenn du keines Ruders mehr bedarfst.«
Mit einem schweren Gurgellaut zerbrach eine Welle an den Stufen und nahm
rückflutend mein Boot auf ihren Rücken. Ich breitete beide Arme nach der
hellen Gestalt, bis sie mit einem leichten Grüssen seitab in die
Wandelgänge Ariostos verschwand. Die Nacht kam schnell und schlug den
schweren Mantel der Finsternis um meine Trauer, und blickte herrlich aus
tausend tröstenden Augen auf meine langsame Heimfahrt.


Albumblatt für Elise.

Mein Erstling du, meine Blonde, Frühlingbekränzte! Aus dem Frühlingsbilde
des Sandro Botticelli blickst du mich zuweilen an, mit den vergessenen
Zügen.
In einem unvergesslichen Frühsommer, zur Zeit meiner ersten Lieder, war
parküberschattet wenig Tage lang eine selige Nähe um mich, ein
auferstandener Traum, mit unfassbarem Traumgesicht, flüchtig und schwer mit
Namen zu nennen. Und das warst du. Ohne Vorher und Hernach, wie ein
einziger, niemals wiederkehrender Strahl glückfarben gebrochenen Lichtes --
ich weiss nur noch, du hattest hellrote Mädchenlippen, du trugst einen
schweren Bund blonden Haares und hattest eine zärtlich milde Liederstimme.
Und hiessest Elise.
Du Fee! Du Blüte, du Leichte, Körperlose! Du gleitest über den
ausgespannten Teppich meiner jugendlichsten Glücksträume wie eine lind
bewegte Musik, oder wie eine duftende Erinnerung, oder wie der Geist einer
verklärten, tiefgründigen Jugendzeit. Nimm meinen heimlichen Gruss! Nimm
den Feiertagszauber jener Sommerfeste im Park, und den Schatz meines
Andenkens an alle Märchen jener Zeit! Nimm, was meine verschwenderische
Jugend hat, die verwunschenen Kleinode von Träumen, über denen jene
versunkenen Junihimmel in fabelhafter Bläue lohten!
Nimm auch noch, Prinzessin, ein Lied von mir! Ich fand es dort, wo unser
Tannenschlag endet und der Buchenhochwald der Berthaburg beginnt, auf der
Bachbank, über unsrem durch den Waldrand leuchtenden Kornblumenfelde. Es
ist das früheste meiner Lieder, dessen ich mich zu erinnern vermag.
Der Zeller Hirt treibt heim. Der laute Bach
Stürzt dunkle Wasser den besonnten nach.
Die Ferne raucht; die ganze Welt liegt weit.
So möcht' ich stehen ein' und alle Zeit.
So steh'n und hold mit Träumerblicken schaun
Lustwandeln dich, du schönste aller Fraun.
Da nahst du dich. Ich berge mein Gesicht
Von Thränen heiss. Du aber weisst es nicht.


Die Fiebermuse.

Meine Fiebermuse ist heute bei mir. Sitzt ruhig und hält sich stille, da
doch sonst Gassenlaufen und Vagieren ihre Art ist. Sie hat eine Anwandlung,
zu sitzen und mir zu schmeicheln wie vor Zeiten, da wir beide noch liebe
Brautleute und Blondköpfe gewesen sind. Sie lehnt im tiefen Polsterstuhl,
hat den Kopf zurückgelegt und hängt mit ihrem Blick an mir, mit dem
blassen, allwissenden, fiebernden, der ihr seit vielen Jahren eigen ist.
Dieser Blick ist über vielen meiner Nächte gewesen seit jenem ersten
Jugendraub unserer Liebe, da wir beim Flackerlicht verbrennender
Knabenlieder meinen Göttern Hohn sprachen und unsern Weg durch ewige
Wildnisse zu nehmen uns gelobten.
Dieser Blick weiss von allem, was verborgen, tief und keimend ist, er
erbricht alles Knospende und schändet jede Heimlichkeit. Jenseits
entgötterter Tempel und verwelkter Liebesgärten erst beginnt dieser Blick
das Spiel der Frage und Antwort und Gegenfrage, er fiebert nach
Geheimnissen, welche nie ein anderes Auge erforscht hat.
Wir haben meine Seele ergründet und sind bis dahin gestiegen, wo Horchen
Mord ist. Wir waren mit scharf geschliffenen Augen überall, wo brechende
Farben und zerrinnende Laute sind, und waren begierig, die Gesetze des
Zufalls zu finden. Die entgleisenden Wellen sterbender Töne und die blassen
Irislichter sterbender Farben haben wir geliebt, und alle Grenzpunkte, wo
Zittern war, und Zweifel, und Agonie.
Aus brechenden Zittertönen und flüchtigen, irisschimmernden Fieberfarben
erbauten wir unsre Welt, unsre wunderbare, unbegriffene, unmögliche Welt.
Meine Muse aber wurde blass und hager, und schöner von Traum zu Traum. Wenn
sie in meinen Gedanken sich spiegelt, berückt ihr blasses Bild mit der
Schlankheit der zarten Glieder, mit den schweren Hängelocken, mit den
adligen Händen und Gelenken, und mit dem tiefblutroten Munde. Zu allen
Zeiten haben wahnsinnige Maler in Augenblicken überirdischer Empfängnis
solche Bilder geträumt und mit verzaubertem Pinsel die flüchtigste
Oberfläche glänzender Farben in scheuen, ahnenden Linien ängstlich erprobt.
Ein solches Bild, in scheuer Entrückung erschaut, verfolgte die silbernen
Träume jenes Sandro Botticelli, und lockte aus ihm eine feine, wunderbare
Kunst, und trieb seine verfeinerte Hand von Bild zu Bild, bis ihm Pinsel
und Finger zerbrach.
Meine Muse lächelt, wenn sie sich seiner erinnert. Sie ist hinter ihm
gestanden und lockte durch ihren Blick aus seinen Bildern die flüchtige
Glut sehnsüchtiger Lippen und Augen. Sie lockte seine Kunst von Bild zu
Bild, bis ihm Pinsel und Finger zerbrach. Mir aber erzählte sie von ihm und
erklärte mir die unerhörten Wünsche seiner brennenden Seele, und führte
mich durch die sich schneidenden Kreise seiner hageren Dantebilder.
In anderen Stunden lehnte sie neben der schmächtigen Gestalt eines kranken
Klavierspielers und reizte seine geschmeidigen Finger nach dem Zartesten zu
tasten, und lehrte ihn feine, brechende Klänge, die das klopfende Herz und
den raschen Atem des Hörenden in ihre schwermütig wilden Takte zwingen.
Diesen schmächtigen, kranken Chopin lockte sie von Reiz zu Reiz, sie lehrte
ihn sein Herz belauschen und deuten und lehrte sein Herz in zitternd
bewegten Takten schlagen, bis es in Müdigkeit und Sehnsucht vor dem
treibenden Stachel erlag. Mir aber erzählte sie von ihm, liess mein Herz in
seinen müden, stachelnden Rhythmen schlagen und lehrte mich mein Herz
belauschen und deuten.
Nun sitzt sie hinter mir, spricht leise zu mir, und schmeichelt, und hüllt
mich in ihren blassen, allwissenden Blick. Sie lockt meine Heimlichkeiten
aus ihren Verstecken und entzündet meine Wünsche zu farbigen Spielen. Diese
Muse tastet an das Zittern meines Blutes, und stachelt mein durstiges Auge
von Sehnsucht zu Sehnsucht und lächelt dazu, bis mir Blick und Herzschlag
zerbricht.
Als sie zum ersten Male zu mir kam, trug sie schwarze Kleider und liebte
Rieselbäche in spätsommerfarbnen Gehölzen und Schaukelkähne an
laubüberwölbten Seerändern. Da hing zitternd mein Herz am zerrissenen Faden
einer knabenhaften Liebe, da rief meine Sehnsucht einen lieblichen Namen in
widertönende Wälder, und meine Liebe wiederholte zärtlich in Flüsterlauten
ein trauriges Liebesgespräch.
Damals kam meine Fiebermuse zu mir, an einem silbernen Bach, spielte
Freundschaft mit mir und gab mir die schwarze Laute zu schlagen. Dann half
sie mir ein verbotenes Schloss erbauen, das rote Liebesschloss, vor dessen
Fenstern wir im Dunkeln froren, während Hochzeiten und klingende Feste
hinter seidenen Gardinen lärmten und geläutete Krystallbecher und fiebernde
Geigenreigen. Sie zog Schleier und keusche Decken von der Schatzkammer
meiner Seele, sie reizte mein Auge und erweckte in mir eine plagende
Begierde, Schlösser und fabelhafte Herrlichkeiten zu bauen und mich im
Golde zu spiegeln. Wir schufen rote, flackernde Märchen, Lustgärten und
Wildnisse, und bevölkerten südliche Landschaften mit schlanken, fürstlichen
Wandelpaaren.
Ich lernte meine Traurigkeit in lassen Verstakten wiegen und in dunklen
Reimen spiegeln. Ich lernte spitz zulaufende Jambengänge fügen und schwere
Versbrücken, deren Pfeiler dunkle Molosser waren. Darauf begannen wir
Fabeln zu ersinnen, in welchen alles Leben umgewendet war wie in einem
Höllenspiegel, geborene Greise, welche sich jung lebten und am Ende als
Kinder ängstlich dem Ende ins Auge sahen, unselige Liebesschicksale und
Geschichten, die voll von Grausamkeiten waren.
Später, nachdem ich in einer Angstnacht meiner Muse in Untreue entlaufen
war und mich auf die grünen Plane der Sonnenseite geschlagen hatte, kam sie
noch manchmal, wie heute, und führte mich durch geisterbleiche Nächte, und
heftete das schöne, allmächtige Auge voll List und Liebe auf mich,
begierig, die grausame Wollust unserer früheren Träume zu erneuern.
Oft auch sehen wir uns verständig und traurig an wie geschiedene Liebende
und wissen nicht, wer von uns der Dieb oder der Bestohlene ist. Dann öffnet
sie leis die blutroten Lippen, regt die Hand und beschwört in mir das Bild
des fensterroten Liebesschlosses und das verzweifelte Jauchzen
lustgestachelter Geigenreigen. Sie sieht auch jetzt, was ich geschrieben
habe, und seufzt, und hat den bleichen Tod im Blick.


Incipit vita nova.

In meinem Leben ist wie im Leben der meisten Menschen ein Punkt der
Wandlung in's Besondere, ein Ort der Schrecken, der Finsternisse, des
Verirrt- und Alleinseins, ein Tag unerhörter Betäubung und Leere, aus
dessen Abend neue Sterne am Himmel und neue Augen in uns hervorgehen.
Da ging ich frierend unter den Trümmern meiner Jugendwelt, über zerbrochene
Gedanken und gliederzuckende, verzerrte Träume, und was ich anschaute, fiel
in Staub und hörte auf zu leben. Freunde gingen an mir vorbei, welche zu
kennen ich mich schämte, Gedanken sahen mich an, die ich vorgestern gedacht
hatte, und waren so entfernt und fremd geworden, als wären sie
hundertjährig und nie mein Eigentum gewesen. Alles wich von mir weg, ich
war bald von einer ungeheuren Leere und Windstille umgeben. Ich hatte
nichts Nahes mehr, keine Lieblinge, keine Nachbarschaft, und mein Leben
stieg in mir als ein schüttelnder Ekel empor. Als wäre jedes Mass
überfüllt, jeder Altar entheiligt, jede Süssigkeit verekelt, jede Höhe
überklommen. Als wäre jeder Schimmer einer Reinheit verfinstert und schon
jede Ahnung einer Schönheit verzerrt und mit Füssen getreten. Ich hatte
nichts mehr, mich danach zu sehnen, nichts mehr anzubeten und zu hassen.
Alles was Heiliges, Ungeschändetes und Versöhnendes noch in mir war, hatte
Blick und Stimme verloren. Alle Wächter meines Lebens waren
eingeschlummert. Alle Brücken waren abgebrochen und alle Fernen ihrer Bläue
beraubt.
Als alles Lockende und Liebenswerte mir so verschwunden war und ich wie ein
Schiffbrüchiger des Geistes erschöpft und unaussprechlich beraubt und arm
zum Bewusstsein meines Elendes erwachte, da senkte ich das Auge, erhob mich
mit schweren Gliedern und wanderte aus allen Gewöhnungen meiner
Vergangenheit wie ein Gerichteter, der bei Nacht seine Wohnung verlässt,
ohne Abschied zu nehmen und ohne die Thüren hinter sich zu verschliessen.
Wer hat je der Einsamkeit auf den Boden geschaut? Wer kann sagen, dass er
das Land der Entsagung kenne? Meinen Blicken schwindelte, als ich mich über
den Abgrund bückte, sie fielen ohne ein Ende zu finden. Ich wanderte durch
das Land der Entsagung, bis meine Kniee vor Müdigkeit brachen, und noch lag
die Strasse in unverminderter Ewigkeit vor meinem Schritt. Eine stille,
traurige Nacht wölbte sich tröstend und schläfernd über mir. Schlummer und
Traum kamen zu mir wie Freunde zu einem Heimkehrenden, und lösten eine
tödliche Last wie ein Reisebündel von meinen Schultern.
Bist du schon schiffbrüchig gewesen und sahest Land und einen Schwimmer
sich dir nähern? Bist du schon todkrank gewesen und thatest genesend den
ersten Trunk frischer Gartenluft und spürtest das süsse Wallen des sich
erneuernden Blutes? Wie diesen Erretteten und diesen Genesenen, so
überflutete mich ein Wirbel von Dankbarkeit, Ruhe, Licht und Wohlsein, als
ich in jener Nacht erkannte, dass unerforschliche Wesen sich freundlich zu
mir neigten.
Der Himmel hatte ein anderes Ansehen als jemals zuvor. Die Stellung und
Wiederkehr der Gestirne trat mit meinem innersten Leben in einen
vorbestimmten Freundesbund und das Ewige verknüpfte etwas in mir deutlich
und wohlthätig mit seinen Gesetzen. Ich fühlte in meinem aus der Wüste
aufgerichteten Leben einen goldenen Grund gelegt, eine Kraft und ein
Gesetz, nach welchem, wie ich mit herrlichem Erstaunen empfand, künftig
alles Alte und Neue in mir sich in edlen Krystallformen ordnen und mit
allen Dingen und Wundern der Welt wohlthätige Bündnisse schliessen müsste.
Incipit vita nova. Ich bin ein Neuer geworden, mir selber noch ein Wunder,
ruhend zugleich und thätig, empfangend und schenkend, ein Besitzer von
Gütern, deren werteste ich vielleicht noch nicht kenne.


Das Fest des Königs.

Im Schloss des Königs wurde ein Fest bereitet. Der Palast und alle
vornehmen Häuser der Stadt waren mit Gästen überfüllt, denn zu den Festen
des Königs pflegte der Adel des ganzen Landes sich einzufinden.
Die breite Allee, welche vom Schlosse in die Stadt führte und die an
gewöhnlichen Tagen durch Ketten und Wächter versperrt wurde, war voll von
Reitern, Wagen, Sänften, Lastträgern und Müssiggängern zu Fusse. Der König
besass einen Marstall von hundert Schimmeln, und ausser den Prinzen und den
Grafen des Landes durfte niemand ein weisses Ross reiten, bei Todesstrafe.
Wenn nun auf dem überfüllten Fahrwege ein Schimmelreiter erschien, dem
wurde eine breite Gasse gebahnt, und auf beiden Seiten drängte sich das
wartende Volk, sich bückend und die Häupter zum Gruss entblössend. Da waren
Handwerker mit Leitern, Seilen, Brettern, Teppichen und gemalten Schildern,
buntgekleidete Musikanten, Trompeten, Geigen und grosse Trommeln tragend,
Blumenverkäufer mit Karren, auf welchen bunte und rare Blumen in Haufen
getürmt lagen, Herolde und Soldaten, Wagen, die mit vielerlei Geräte,
Tapeten und Tüchern beladen waren. Unzählige Neugierige in Sonntagskleidern
spazierten in dem geöffneten äussersten Ring des königlichen Parkes, durch
den die Platanenallee gezogen war. Handwerker waren beschäftigt, zwischen
den Bäumen lange Leinen mit aufgereihten, runden, rot und gelben
Papierlaternen zu spannen, welche am Abend zur Belustigung des Volkes und
als fröhlicher Anblick für die Herrschaften sollten angezündet werden. Die
Arbeiter lachten oder fluchten durcheinander, je nachdem sie von der Menge
ermuntert oder belästigt wurden. Trödler gingen umher, von vielen Kindern
umringt, mit Schmuck und allerlei Spielzeug und Flittern handelnd, Weiber,
welche Brot und Würste und Gebäck verkauften, und Blumenmädchen, die den
jungen Städtern Veilchensträusse anboten. Diese alle erfreuten sich
reichlichen Zulaufs, und zumal die Veilchenmädchen waren überall von
eleganten, im Scherze feilschenden jungen Männern unter vielerlei
Schmeicheleien und spasshaften Angeboten umringt.
Am dichtesten drückte sich das Volk vor dem geschlossenen eisernen
Hauptportal des Schlosshofes. Landleute und Städter drängten sich dort zu
dem selten gewährten Anblick des Schlosses und brannten vor Begierde,
hinter den Bogenfenstern Einen vom Königshause zu erspähen, und wandten
kein Auge vom Schlosshof, sobald ein Lakei in roter Livree sichtbar wurde,
oder ein Offizier, oder nur ein gemeiner Diener, welcher Gerät trug oder
Pferd oder Hund nach den seitwärts zurückliegenden Prachtställen führte.
Das Schloss bestaunte ein jeder, der es zum ersten Male sah, und am meisten
die Landleute. Denn es war nach hierlands fremden Regeln unter dem Vater
des jetzigen Königs von einem südländischen Werkmeister erbaut worden, von
geringer Höhe, aber weitläufig und prächtig, und ganz aus Marmor. Dieses
Schloss und der dahinter liegende alte Park, der dem Volke unsichtbar und
niemals zugänglich war, galten als die Wunder des Landes. Die sichtbare
vordere Seite des Schlosses, mit zweimal vierzig Bogenfenstern, war von
einem breiten Giebel gekrönt, in dessen Dreieck ungeheure Menschen und
Pferde auch aus Marmor gemeisselt standen, die seitwärtigen in allerlei
Lagen knieend, fallend und liegend und so der Dreieckform lebendig
angeschmiegt. Kleinere Figuren von feiner Arbeit standen über dem
Hauptthore, den Empfang heimkehrender Sieger darstellend. Im Innern aber
sollten Säle von unerhörter Höhe und Pracht und Zimmer mit seidenen und
goldenen Wänden sein, angefüllt mit Schätzen aus vielen Zeitaltern und
Kunstwerken berühmter Meister. Noch erstaunlichere Gerüchte wussten viele
von dem geheimnisvollen Park zu erzählen, der sich drei Stunden weit
erstreckte und von ausländischen Gärtnern und Förstern erhalten wurde,
welchen verboten war, sich jemals ausserhalb der ungeheuren Ringmauer zu
begeben, die den ganzen Park in stattlicher Dicke und Höhe umgab. Hirsche
und unbekannte Tiere und farbige, fremde Vögel, als Fasanen und Pfauen,
wusste man dort verborgen, und jahrhundertalte Wildnisse, ferner künstliche
Gewässer, Seen und springende Brunnen, Brücken und Beete voll seltener
Blumen, sowie ein fabelhaftes Jagdschloss, den Lustort des verwichenen
Fürsten, wo dessen lang verblichene Geliebten häufig umgingen, die
Buhlereien und Eifersüchte ihres vormaligen Sündenlebens erneuernd. Was
immer an dunklen Mordgeschichten und unerhörten verliebten Lustbarkeiten
von heissen Köpfen ersonnen und von eiligen Weiberzungen verschwatzt war,
wurde auf das unbekannte Jagdschloss gehäuft, welches den einen als ein
schimmernder Himmel auf Erden, den andern als Sammelort aller Schrecken und
bösen Geister erschien.
Die müssige Menge sog begierig die Geschwätze und geflüsterten Sagen und
den Duft des Wunderbaren ein, der sie nebst dem Rausch des Feiertages und
der Erwartung erhitzte und betäubte. Man sprach von den Pferden und Wagen
der Gäste, von den bevorstehenden Vergnügungen des Hofes und denen des
Volkes, welchem auf den Abend ein Feuerwerk versprochen war. Neben den
anpreisenden Rufen der Verkäufer waren die von lautem Gelächter begleiteten
Spässe der Hanswurste zu hören, die Bettelreden sitzender Krüppel und
umhergestossener Einarmiger oder geführter Blinder, die ermahnenden, aber
wohlwollenden Stimmen anwesender Ratsherren, und das gelle Spassen und
jache Lachen der Freudenmädchen. Die Trinkbuden bevölkerten sich, und
mancher Unkluge nahm den erwarteten Genuss des Festtages im vorzeitigen
Rausch vorweg. Andere umstanden ein Kasperltheater oder ein Loosrad oder
die Wettspiele der Kinder, welche nach ausgehängten Preisen kletterten und
sprangen. Balladensänger und Sackpfeifer wurden angehört, im Gedränge
verloren sich Familien und Freunde auseinander und fanden sich Liebespaare,
denen die Wirre des Festplatzes ersehnte Gelegenheit zu verbotenen
Zusammenkünften gab.
In den gewundenen Spazierwegen des äusseren Parkes sassen und lustwandelten
die Alten, die Angesehenen der Stadt, reiche Bürger, Räte und Richter, und
langsame Pfarrer, im Genuss der gepflegten Zierbeete und Rasen und der
schattigen Ruhebänke. Ein feister Ratsherr erklärte mehreren Fremden die
Anlage der Alleen und Wege und die Lage des Schlosses, und rühmte den
Wohlstand seiner Stadt und den freigebigen Reichtum seines Königs.
Der Lärm, das Bürgergespräch, die modisch gekleideten Städter und das
glotzende, schwergestiefelte Landvolk schändeten die Alleen und die Gärten,
und stachen hart von dem Ernst der alten Platanen und von der eleganten
Schönheit der fürstlichen Anlagen ab, deren verschlungene Wege, von
allerlei seltenem Laub überschattet, dazu bestimmt waren, von Prinzessinnen
in adliger Gesellschaft oder von den Phantasiebildern eines fürstlichen
Dichters beschritten zu werden.
* * * * *
Um die Mittagstunde sammelten sich grosse Volkshaufen vor den Portalen des
Schlosshofes, neugierig auf die Tafelmusik und auf den erhofften Anblick
der Herrschaften. Ein dröhnender Jubel brauste empor, da der Kronprinz an
einem Fenster sich zeigte. Er war dunkel, mager, ein wenig gebückt, und
hatte ein scharfes, kluges, wachsblasses Gesicht mit dunklen, forschenden
Augen. Er bewegte grüssend das Haupt, und in eben diesem Augenblick trat
der König neben ihn, lächelnd und mit lebhafter Bewegung der grüssenden
Hand. Er war gross, dick und aufrecht; die Farbe seines breiten Bartes
schwankte noch zwischen blond und grau, sein Gesicht aber war frischrot und
glänzend und die Stirne schier ohne Falten. Er trug ein rotes Gewand mit
breiten, weissen Säumen. Er liebte alle Festlichkeiten und verbarg seine
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