Eine Stunde hinter Mitternacht - 1

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Hermann Hesse
Eine Stunde hinter
Mitternacht

Streute ewiger Lenz dort nicht auf stiller Flur
Buntes Leben umher? Spann nicht der Frieden dort
Feste Weben? Und blühte
Dort nicht ewig, was Einmal wuchs?
Novalis.

Verlegt bei Eugen Diederichs
Leipzig 1899


Inhalt

Der Inseltraum 1
Albumblatt für Elise 29
Die Fiebermuse 31
Incipit vita nova 36
Das Fest des Königs 39
Gespräche mit dem Stummen 63
An Frau Gertrud 70
Notturno 76
Der Traum vom Ährenfeld 82


Der Inseltraum.

Eine langhin gewölbte, sanfte Welle hob meinen Kahn mit dem gerundeten Bug
auf das Gestein. Ein schiffbrüchiger Träumer verliess die Ruderbank und
dehnte die Arme dem stummen Lande entgegen. Mein purpurner Mantel war mürbe
geworden und warf von den Hüften abwärts weiche demütige Falten. Meine Arme
und mein Hals waren von Rudern und Fasten mager geworden, mein Haar war
lang gewachsen und bog sich in dichter Fülle in den Nacken. In dem
dunkelgrünen, stillen Gewässer der Bucht lag mein Spiegelbild gebreitet,
und ich sah, dass auf der langen Fahrt alles an mir anders geworden war,
brauner, schlanker und biegsamer. Auf meinen Wangen hatten grausame Stunden
Denkmale ihrer Gefahren und Niederlagen und Überwindungen geschaffen. Alle
Morgen ohne Sonne, an denen ich mit wunden Gliedern an mein Fahrzeug
geklammert hing, alle Stürme, die mir die Abgründe des Meeres zeigten,
hatten sich mir in Ecken und Furchen mit tiefer Schrift auf Wangen und Hals
geschrieben.
Aber meine Augen standen klar in weiten Höhlen, mit wachsamen
Kinderblicken. Sie hatten viele Nächte durchwacht und nach den ewigen
Sternen gesucht und die farbigen Nächte des Meeres aufmerksam durchdrungen
nach aufsteigenden Segeln oder Gestaden. Sie hatten viele Tage lang keinen
Staub gesehen und selten nur mit lächelnder Sehnsucht von ferne das Grün
vorübergleitender Wälder und den Rauch aus fernen, verborgenen Städten
gestreift. Nun lachten sie hell und gross mich aus dem glatten Spiegel an.
Und nun tranken sie den lange entbehrten Anblick der weissen Steine, der
bräunlichen Erde, der Gräser und Gebüsche. Ich sah die Luft um die Gebüsche
wie einen feinen, weisslichen Rand, denn ich war lange der Luft entwöhnt,
welche über Erde und Grünem ist. Meine Nüstern sogen mit scheuer Lust den
vollen, zärtlichen Duft der Wiese und des nackten Bodens, und mein Fuss
trat stark und schonend zugleich auf das köstliche Gut des festen
Erdreiches.
Ein Wind kam lässig vom Lande zu mir geflogen. Er trug einen Geruch von
Waldkraut und einen leisen Duft aus entfernten Gärten. Da reckte ich in
süsser Wonne ihm beide Arme weit entgegen und fühlte mit Lust seinen
weichen Hauch meinen Fingern und Händen entlang und an meinen Schläfen hin
gleiten, die der schneidenden Seewinde gewohnt waren.
Ich zog mein graues Boot auf den Sand und strich mit der Rechten über die
harte Wölbung des Bordes, die von meinen klammernden Händen geglättet war.
Darauf wandelte ich landeinwärts bis zu dem hohen Gebüsche, das dicht und
ringförmig wie eine Mauer stand und sich weiter erstreckte, als meine
Blicke reichten. Ich ging der grünen Hecke entlang und freute mich des
warmen, bläulichen Schattens, der von grüngoldenen Lichtern durchwirkt war.
Mein Gang führte über eine Wiese mit weichen Gräsern, welche allmählich
höher wurden und mit seidenen Blüten meine Kniee berührten. Die grasige
Fläche lag im hellen Sonnenlicht, nur der Rand, den ich entlang schritt,
war von den hohen Büschen mit einem gleichmässigen Schattenbande gesäumt.
Indem ich weiter schritt und eine linde Müdigkeit meine Kniee leicht
befing, that sich zu meiner Linken ein schmaler Eingang, einem Thore
ähnlich, in die Gebüsche auf. Ich erblickte ein grünes Dunkel, von einem
Muschelpfad durchschnitten, und im Hintergrunde ragende Baumkronen. Der
Eingang aber war durch eine künstlich gewundene Blumenkette verboten. Ich
stand eine Weile, und meine Augen badeten sich in dem zarten Dämmer und
erfreuten sich an der Stufenfolge sanfter Farben. Denn von der lichtgrünen
Hecke bis zu den halbsichtbaren Geheimnissen des innersten Haines zerfloss
das Grün in tausend Schatten; das Auge folgte begierig dem mählich
vertieften Dunkel bis zu den entferntesten, braunen Waldfarben und kehrte
mit neuer Lust zu dem gelblichen Licht der besonnten Wiese zurück.
Ich löste die Blumenkette in fröhlichem Übermut von den rundköpfigen
Pfeilern, dass der Eingang offen lag, und schlang das rot und weisse
Gewinde um Hals und Hüften, so dass ich wie zu einem Sommerfeste geziert
war. Darauf ging ich behutsamen Schrittes dem halben Dunkel entgegen. Ich
fand ein genaues Kreisrund aus dem Dickicht geschnitten, mit dichten Wänden
von jungen Stämmen und Büschen, und auch der schmale Pfad war künstlich
durch das wilde Gehölz gehauen. Durch die Wipfel überhängender Bäume sank
ein braun und grünes Licht. In dem runden Aushau war die Erde mit hellem
Sande bestreut, und zwei schmale, halbrunde Sitzbänke aus Marmor standen
einander gegenüber. Eine tiefe Waldstille lag darauf. Ich wandte mich und
folgte dem Pfad, der in die Tiefe des Haines führte. Mein Haupt ward von
dem ungewöhnten Dufte schwer und ich hörte das Klingen meines raschen
Blutes.
Als ich einige Zeit gegangen war, wuchs die Schwere meiner Kniee, und ich
ersehnte einen Ort zu ruhen. Indem bog sich mein Weg und wurde breiter, und
die auf beiden Seiten schnell zurücktretenden Waldwände gönnten den Anblick
eines lichten Raumes, welcher sich weit ausdehnte und wie ein Garten
anzusehen war. Viele breite und schmale Wege, oft von Gebüsch gesäumt,
schlangen sich um Rasenflächen und um Beete, in welchen Rosen und andere
vielfarbige Blumen in Pracht und Fülle wohlgepflegt und ohne braune Blätter
standen. In der Mitte des ebenen Gartens erblickte ich edle Gruppen alter
Bäume, hinter denen ein Bau, Palast oder Tempel, aus Marmor in dämmerndem
Weiss sich zeigte.
Eine niedrige Bank, von grossen Cypressen ganz beschattet, zog mich an. Ich
setzte mich in den weichen Rasen und lehnte das Haupt mit darunter
gekreuzten Armen gegen den steinernen Sitz, wie ich zuweilen in stillen
Nächten an meiner Ruderbank gelegen hatte. Ich schaute hoch über mir den
weiten Himmel in wunderbarer Bläue und wenig kleine, blanke Flaumwölklein
ruhig stehend, dann schloss ich die Augen und ergötzte mich an dem roten
Schimmer, der mir durch die Lider drang. Darauf neigte der Gott des
Schlafes sich über mich und löste mir wohlthätig die müden Glieder.
Meine Seele hob die Schwingen im Traum; die Bilder von gestern und
ehegestern erwachten zu neuer Schrecknis oder Trauer. Das Meer umdrängte
mein Fahrzeug mit peitschenden Wassern und der Himmel zürnte in Unwettern.
Und gewaltiger als der Himmel lag die lautlose, lang ersehnte, schwer zu
tragende Einsamkeit über mir. Und dahinter das Land, aus dem ich mich
gerissen, mit geräuschvollen Städten. Ein müdes Echo, ein halbverlorener
Duft, ein halbvergessenes Jugendlied -- so war in Schmutz und Geräusch ein
Schimmer von Schönheit und Kunst gegossen. Wie oftmals sah ich dort ihr
scheues Licht in ängstlichen Reflexen, und zitterte mit ihr, und litt mit
ihr! Ferner noch mit altmodisch lichten Himmeln lagen die Frühlinge meiner
Kindheit und rührten mit zärtlichem Dufte an mein Herz.
Auf leisen Fittichen flog mein Traum über die verschlungenen Pfade meines
Lebens zurück bis zu den ersten Sonnenaufgängen, und schwebte lang in
verflogener Schwermut über den ersten Bergen, die ich erstieg, und über dem
Haus meines Vaters.
* * * * *
Die Sonne war über die Ränder der Cypressenwand gestiegen und traf meine
schlummernden Augen mit heissem Lichte. Ich hob das Haupt und erwachte zum
neuen Anblick des tiefen Himmels und des grünen Gartenlandes.
Helle Stimmen klangen in mein Ohr und ich hörte, dass es Menschenstimmen
waren, welche in übermütigen Rufen ihre Lust kundgaben. Es war aber in
diesen Stimmen ein reiner, meertiefer, metallener Grund, den ich nie bei
Menschen vernommen hatte und welcher an den unberührten ersten Fall einer
frischen Quelle erinnerte, so ohne Wissen von Unrat und so voll von Lust am
Leben und an der eigenen Schönheit. Es war darin der starke und süsse Ton,
den wir mit unbeschreiblicher Beklemmung zu hören vermeinen, so oft unsre
Seele mit den Menschengeschlechtern der alten, goldenen Zeitalter traurige
Unterredungen pflegt.
Indem ich vorsichtig die breiten Fächer der Zweige teilte, erblickte ich
eine Schaar junger Frauen mit schlanken Leibern um einen vergoldeten Ball
bemüht. Sie waren in zwei Lager geteilt und führten einen anmutigen Krieg
um den Besitz des blanken Zierats, den ein lachendes Mädchen immer von
neuem über ihre Häupter hin empor warf. Sie trugen helle, weite Gewänder
und die Haare zumeist in einfache Knoten gebündelt. Ich sah die reinen
Linien der Hälse und Nacken, wenn sie sich bückten oder mit ganz
zurückgelegten Häuptern nach dem Fall des Spielzeuges spähten. Ich sah die
zarten Grübchenformen der Knöchel, über denen sich goldene oder weisse
Sandalenbänder kreuzten. Ich sah die bewegten schlanken Leiber, beim Laufen
vorgebeugt, und die schönen, leicht geröteten Arme, die sich häufig aus den
weichen Falten der Oberkleider reckten.
Plötzlich vernahm ich ein Wipfelzittern über mir, und der goldene Ball fiel
neben mich weich in den Rasen. Ich nahm ihn auf, und mein Herz begann mit
hastigen Schlägen zu pochen wie Einem, der einer grossen Gefahr oder einem
grossen Glücke unvermutet ins Auge sieht. Die Spielerinnen eilten schon
meinem Versteck entgegen.
Ich brach durch den Busch und stand wie ein Gespenst vor der hellen Schaar,
den Ball in der Rechten hoch empor haltend. Ich warf ihn in die Lüfte, aber
sie wichen seinem Falle aus und standen mit erstaunten Augen vor dem
Fremden. Da ich näher schritt, teilte sich ihre Menge und liess eine breite
Gasse meinem Wandel frei. Aufschauend gewahrte ich eine hohe Frau mir nahe
gegenüber stehen, welche die Schönste und die Königin der andern war.
Ich schlug den Blick zum Boden nieder und neigte mich vor ihr. Ein weisses
Kleid floss in priesterlichen Falten lang von ihren Knieen, und sie war von
einer solchen Reinheit und Würde umgeben, dass plötzlich mein Sinn klein
und voll Scham wurde. Alle Irrwege, die ich gegangen war, alle Lästerungen,
die ich gethan hatte, und alles Hässliche und Kranke meines unstäten Lebens
ward mir schwer bewusst, und aller Glanz und Stolz fiel von mir ab. Ich lag
auf den Knieen und beugte mein Haupt in Scham und Demut, da sie ihre reine
Stimme erhob. Ihre Stimme war voller und prächtiger als die Stimmen der
übrigen Frauen, und hatte einen fürstlich hohen Ton, vor dem meine Scheu
erschrak. »Was suchst du hier, mein Freund, und wie hast du den Weg zu uns
gefunden?«
Ich schaute auf und sah grosse Augen ernst auf mich gesenkt. »Den Weg zu
dir fand ich durch hundert einsame Tage und Nächte auf dem feindlichen
Meer, durch hundert Ängste und bange Nachtwachen. Mein Arm ist hager
geworden von der Mühsal der Fahrt, und meine Hände sind wund geworden. Ich
trage einen Purpur, der aus deinem Lande ist und von dir mir in die Wiege
ist gelegt worden. Aber meine Hände sind befleckt und meine Augen voll
Ekels geworden, ich bin müde und unwert, den Purpur länger zu tragen, der
für frohe Hände und selige Augen bestimmt ist. Und bin gekommen, ihn
zurückzugeben.«
»So wenig gilt dir der königliche Schmuck?« fragte die Königin und heftete
wieder unbeweglich den ernsten Blick auf mich. »Ich kenne dich wohl, du
Müder. Ich bin über deinem Leben gewesen, ich habe deiner Kindersehnsucht
von blauen Bergen und deiner Knabenfrömmigkeit von Göttern erzählt. Ich
zeigte manches Mal deiner Ahnung die Bilder und Gleichnisse der Schönheit.
Warst du es nicht, der die Tempel, in welchen ich dich beten lehrte,
zerstört und der die Gärten der Liebe, deren Pforte ich dir zeigte,
geschändet hat? Warst du es nicht, der die Lieder, die ich dich singen
lehrte, in Gassenlieder verkehrte und der die Becher der Freude, die ich
dir reichte, zur Trunkenheit missbrauchte?«
»Ich war es. Ich ging in der Irre, so oft du mir ferne warst. Ich habe oft
die Arme verlangend nach dir gebreitet und habe nach dir gerufen und alles
Ehrwürdige meiner frühesten Jugend beschworen, aber du erhörtest mich
nicht, und das Leben rollte tot an mir vorüber. Da verzweifelte mein Herz
und fluchte seinen Göttern und sank von allen Höhen. Ich bin nun müde des
Fallens und Wiederaufstehens -- nimm dein Geschenk wieder, leg' es auf
härtere Schultern, und lass mich werden, wie andre sind!«
Die Königin schaute zur Seite. Ich wagte einen schnellen Blick auf ihr
Gesicht, das mir eigen vertraut erschien, und sah den Schatten eines
Lächelns darauf. »Mich wundert«, sagte sie, »dass solcher Kleinmut den
beschwerlichen Weg zu unsrer Insel gefunden hat.«
»Nicht Kleinmut, meine Königin! Mich trieb der Ekel vom Leben, mich stiess
der Dunst der Städte und die geräuschvolle Lust ihrer Tempel von sich, auf
der Fahrt wuchs noch täglich mein Verlangen nach deinem Anblick. Arbeit und
Gefahr hat mich herb gemacht, die Einsamkeit befreite mein Auge von den
Dünsten des verlassenen Lebens. Und da ich dein Land mit sanften Höhen aus
blaueren Meeren langsam erstehen sah, da lernte mein verjüngtes Herz einen
neuen, fröhlichen Stolz. Als ich deinen Boden betrat, reckte ich Beterarme
nach seinen Wundern aus, ich ging durch deinen Wald als ein
Wiedergeborener. Wahrlich, fester zog ich den Purpur um meine Schultern und
mein Gang war nicht der Gang eines Büssers. Hinter jenem Dickicht lag ich
im Grase gestreckt und belauschte das Spiel deiner Frauen, und mein Herz
schlug tiefe Schläge. Aber mein Auge ertrug deinen Anblick nicht; alles was
unwert und krank an mir ist, übermannte mich vor deiner Reinheit.«
»Steh auf!« sagte sie nun mit einem gütig tiefen Ton, »und dränge mich
nicht um eine Antwort. Sei mein Gast und versuche noch einmal, unter meiner
Herrschaft zu leben!« Ich erhob mich mit unsicherem Blick. Die Schönste
aber nahm meine linke Hand und führte mich zu den wartenden Frauen.
»Begrüsse meine Freundinnen«, sagte sie, »und sieh, ob nicht eine dir
bekannt ist.« Da geschah meinem Auge etwas Seltsames, indem ich mit einem
freien Grusse unter die schönen Gestalten trat. Überall sahen bekannte
Augen mich an, ich fand Bewegungen und Blicke, die ich zu andern Zeiten
schon gesehen hatte, und wunderte mich, dass ich die Schönen nicht mit
Namen zu nennen vermochte. Allmählich erkannte ich einige, und bald merkte
ich wohl, dass alle schönen Frauen, die ich gekannt und bewundert hatte,
hier versammelt waren. Eine jede aber war nur kenntlich durch eben die
besonderen Seltenheiten, durch welche sie für mein Auge irgend einmal
reizend, verschieden von den andern und schöner als die andern,
hervorgetreten war. Alle Augenblicke meines Lebens, welche durch den
Anblick der Frauenschönheit wertvoll und liebenswert geworden waren, lebten
hier unvergänglich in herrlichen und vollkommenen Bildern. Von diesen
Frauen konnte keine den übrigen vorgezogen oder nachgesetzt werden, nur die
einzige Königin vereinigte auf eine wunderbare Art die vielfachen
besonderen Schönheiten in ihrem vollkommenen Wuchse und in der Bildung
ihres Angesichts, dessen Würde und Lieblichkeit ich über alle Bilder und
Lobpreisungen erhaben fand. Ihre Augen aber, wenn sie die meinigen ruhig
und freundlich trafen, riefen in mir den Frühling meiner ersten Liebe mit
aller verlorenen und beweinten scheuen Wonne wach.
* * * * *
Die Nacht zog ihren schwarzen Kreis enger um die Gärten; sie kam rasch und
herrisch wie die Nächte des Südens. Nach einander versanken Hügel, Wald und
Gebüsche, bis auch die nahestehenden schnell und lautlos sich verhüllten
und plötzlich in das Reich der Geheimnisse verschwanden.
Ich sass zu Füssen der Königin in dem weiten Halbrund einer offenen Halle.
Die schweren Säulen hoben sich rein und ruhig, Wächtern gleich, von der
matthellen Himmelsferne ab. Zwei rote Feuer brannten am Eingang in
steinernen Becken, über uns hing eine silberne, vierflammige Ampel. Von
drei Seiten kam die schwere Nachtluft herein und führte den Duft des
wohlriechenden Öles in langsamen Wogen davon. Das Meer, dessen Geräusch am
Tage nicht bis in den Palast und die Gärten reichte, sang gedämpft in
grossen Rhythmen. Der Gesang der Frauen war kaum verstummt und in der Luft
lag noch ein feiner Nachhall festlicher Melodien. Mir wurde eine kleine
fünfsaitige Laute gebracht, die Augen der Wartenden hingen an meinem Munde.
Ich schloss die Augen und sog den Duft der Nacht und fühlte ihr lindes
Wehen in meinem Haar. Mein Herz war voll wehen Glückes und meine Stimme
zitterte, als ich zu singen begann. Mein Finger rührte an die feinen Saiten
-- ich hatte lange Zeit nimmer gesungen, der Takt und Tonfall der Verse
stieg mir neu und berückend zu Haupt.
Ich sang von einem vergangenen Sommer, da zum ersten Mal mein Knabenauge an
der Gestalt und dem Gange eines jungen Weibes hing. Und sang von den späten
Abenden, da der Lindenduft schwoll und da ich mein wehes Verlangen mit
wilden Schlägen über den schwarzen Weiher ruderte, da ich die Bänke und
Wege und Treppen besuchte und alle Stätten, an denen ich die schlanke
Wohlgestalt des Tages aus banger Ferne erblickt hatte. Von den Tagen, da
meine Liebe mich auf heissem Pferde in langen Ritten umhertrieb. Ich
gedachte der in Fülle erblühten Rosenhecken und pries die schattigen Gänge,
welche der Duft des Jasmin erfüllte.
Von den Frauen lächelten manche, und manche sahen mich aus grossen Augen
ernsthaft an. Als ich den Blick nach der Allerschönsten wandte, sah ich
breite, bläuliche Lider über ihren Augen geschlossen und sah einen holden
Mund und feine Wangen in sanften Frühlingsfarben, und eine blanke Stirn von
krausem Blondhaar fröhlich verschattet. Ich erblickte das Bild meiner
ersten Liebe, schön und verzaubert von Erinnerung und Heimweh, wie es
manchmal in Lieblingsträumen mir erschien. Mein Herz war erregt und schwer
von Liedern und Sehnsüchten einer andern Zeit. Ich berührte die Hand der
Königin. »Erinnerst du dich, Lieblichste?«
Sie lächelte und schlug die Augen auf. »Sag', bist du nicht glücklicher als
Andere gewesen?« Ich nickte leise mit dem Haupt und konnte mein Auge nicht
von den Lippen wenden, die Elisens Lippen waren.
»Bist du auch dankbar gewesen?« Da ward ich traurig und musste das Haupt
wieder senken. Sie winkte einer der Frauen, welche aus dem mit reicher
Kunst aus Silber getriebenen Mischkrug eine leichte Schale mit süssem Weine
füllte. Sie nahm das zierliche Gefäss und bot es mir freundlich hin. »Du
bedarfst nun der Ruhe. Trinke und lege dich schlafen. Meine
Gastfreundschaft wird deinen Schlummer beschützen.«
Ich trank und reichte der Gütigen dankbar meine Hand. Die schöne Dienerin
öffnete mir im Innern des geräumigen Palastes ein Gemach, entzündete eine
hängende Ampel und verliess mich. Das Gemach war von mässiger Grösse, mit
hohen Fensteröffnungen. In der Mitte war ein niedriges und einfaches Lager
bereitet. Ich legte mich nieder und sah die Wände entlang in der Höhe des
Estrichs einen schmalen Fries gezogen, darauf in halberhabener Arbeit die
Tugenden Weisheit, Mässigkeit, Gerechtigkeit und Tapferkeit der Schönheit
dienten und Opfer brachten. Die sanften und edlen Formen dieser Bilder
breiteten ihre Ruhe und Einfalt auf meinen erregten Sinn und begleiteten
ihn als schwebende Traumbilder in den Schlaf.
Als ich am frühen Morgen stark und fröhlich erwachte, sah ich über mich ein
helles Angesicht geneigt, das ganz von langen, mattfarbenen Haaren umkränzt
war. Mein Herz erkannte das schöne Bild und begrüsste die Wartende mit dem
Namen, den sie trug, als noch ihr leiser Schritt stundenlang neben mir
durch Hain und Wiesen ging. »Frau Gertrud!«
»Komm mit,« rief sie bittend, »wir wollen die Wege aufsuchen, die wir sonst
gegangen sind.« Hinter dem Palast und diesen weit überragend war ein Hain
alter Platanen, welche in Paare und Gruppen verteilt wie Freunde standen.
Frau Gertrud ging neben mir auf dem gewundenen Fusswege. Der Weg aber und
der Hain waren vollkommen dem Weg und Hain ähnlich, in denen wir vor Zeiten
zu lustwandeln geliebt hatten. Mein Herz war weich und hörte Winde und
Vogelrufe mit leiser Wehmut klingen. Durch denselben Rasen war mein Fuss
einst geschritten, dieselben Winde und Vogelrufe waren einst in mein Ohr
gekommen, und ich wusste kaum: war das gestern, oder war's vor vielen
vergessenen Jahren.
»Kennst du ihn?« fragte Frau Gertrud und legte ihre Hand an den gefleckten
Stamm einer Platane, die wir damals, weil sie die älteste und höchste war,
den »Vater« genannt hatten. Ich nickte still. »Und kennst du noch dieses
Grün und Gelb, und diese Wege und Gebüsche?« Mir war wohl und müde zu Sinn.
Ich nickte still.
»Dein Spätsommertraum!« sagte sie. »Dein Liebling! Die Lieder, die du von
ihm gedichtet hast, die Tage, an denen du Heimweh nach ihm hattest, die
Nächte, da er Dich auf breiten Flügeln besuchte, deine eigene Erinnerung
und Sehnsucht ist es, welche dich umgiebt.«
Ich legte Frau Gertruds schmale Hand in meine Hand und fand wie vormals ein
Wohlgefallen an ihrer adligen Form und Weisse, an den blass gezogenen Adern
und an dem Hellrot der zarten Finger. »Weisst du noch«, fragte Frau
Gertrud, »jenen ersten Mittag unter den überhängenden Zweigen der
Syringen?«
»Ich weiss noch. Ich weiss auch alles noch, was damals war. Wie du mein
Trost und Ratgeber warst und an die ferne Mutter mich erinnertest. Ich war
krank und verirrt gewesen, da wecktest du, was noch fromm und ehrfürchtig
in mir war. Du lehrtest mich wieder die verlorene Schönheit suchen und jung
werden, wenn ich sie in herrlichen Augenblicken erschaute.«
»Einmal, mein Freund, wolltest du von mir und deinem Glücke ein Lied
erschaffen. Weisst du noch? Deine Tage und Nächte waren des werdenden
Liedes voll, und mit fleissiger Liebe suchtest du nach allem, was selten
und kostbar ist, nach Lichtern und Tönen, die noch kein Künstler fand, nach
Liebesworten und Worten der Ehrfurcht, die noch kein Dichter sagte. Siehe
um dich! Hier liegt in ungehoffter Vollendung dein ganzes Lied. Bäume und
Büsche in edlen Gruppen, goldene und braune Lichter, Gesänge auserwählter
Waldvögel. Und auch mich siehe an! Was noch klein und zufällig und
künstlich an mir war, das ist von mir genommen. Was du hier siehst, das
alles ist schöner als alle Wirklichkeit, und wirklicher als alle
Wirklichkeit. Erlausche jeden leisen Tonfall des Windes, trinke mit
ungetrübten Augen die vielerlei Farben des Laubes, sorge, dass dies alles
dein eigen werde! In der Ferne wirst du des Nachts erwachen und wirst mit
Qualen jeden Laut und jeden Schatten vermissen, dessen dein inneres Auge
nicht mehr mächtig ist. Dann aber wird auf hundert Wegen dein Lied dir
entgegenkommen, die Wonnen deiner ersten Gesänge werden dich heimsuchen,
Fremdes wird mit Fremdem sich verbinden, dein Werk wird wachsen und an
Leben zunehmen, bis es in einer stillen Stunde die Werkstätte verlässt und
vollendet, rein und wohllaut vor Dir steht.«
Frau Gertrud schwieg und legte wieder ihre Hand in meine Hand. Das Rauschen
entfernter Wasserkünste klang kühl und freundlich zu uns her. Über das
Himmelsrund, welches von den Platanenwipfeln eingeschlossen war, glitt ohne
Flügelregen langsam hoch oben ein grosser Vogel.
* * * * *
Andern Tages wachte ich frühe auf, noch ehe die ersten Vögel sangen. In der
Nacht war ein schwacher Regen gefallen. Die Erde war noch feucht und
duftete herb. An den Blättern hingen klare Wassertropfen. Mit jedem Schritt
und Atemzug fühlte ich in mir Jugend und Gesundheit. Die Fernen und der
kräftig blaue Himmel hatten ein heiteres und jungfräuliches Ansehen. Nur
vor langer Zeit, als ich ein Knabe war und ehe die Ahnung der Liebe und
heissblütiger Leidenschaften mich umtrieb, hatte die Erde mir dies genügsam
fröhliche Gesicht gezeigt.
Ich schlug einen wenig gepflegten Waldweg ein, der bald gegen die Mitte
eines alten Forstes hin mehr und mehr verwilderte. Ein schwerer Wind fuhr
über die Kronen alter Eichen, die mit vielfach gekrümmten Ästen über
ersticktes Untergehölz hinweg einander umschlangen und gemeinsam als ein
einträchtiges Riesengeschlecht nach Raum und Helle sich streckten. Oft fand
ich auf den schwarzen Waldboden scharfe Spuren kleiner Hufe gedrückt, den
Pfad der Quere schneidend, und einmal meinte ich im Halbdunkel eines nahen
Dickichtes den feinen Kopf eines Hirsches sich schlank und königlich
erheben und wenden zu sehen. Ich spähte und lauschte und stand manchmal mit
verhaltenem Atem lange still, bis meinen oft erregten und getäuschten
Sinnen der Wald voll von Erscheinungen und schweigsamen Wundern war. Ein
breiter Bach ging brausend über Stein und Moos bergab in ein plötzlich
hereintretendes Thal. In den Tiefen seines Bettes, die von Wasserstürzen
überwölbt waren, schwammen lautlos und dunkel scheue Forellen und
verschwanden wie dunkle Blitze, sobald nur mein Schatten über ihren
Schlupfwinkeln hinwegstrich.
Dem fröhlichen Stürmer folgend gelangte ich unversehens in ein
wohlbekanntes Thal. An dessen Mündung bog ich um die vortretende Höhe und
verliess den Bach, der zur andern Seite strebte und bald nur noch leise zu
hören war. Ein junger Buchenstand, langsam sich lichtend, trat endlich ganz
zurück und gab ein heimlich anmutendes Bild meinen Blicken frei. Mehrere
Hügel streckten in ein breites Wiesenthal bewaldete Ausläufer vor. Vor mir
lag in hohen Binsen ein dunkler Weiher, an dem ich als Knabe viele
Mittagstunden verweilt hatte. Einzelne Laubbäume mit astlos hagern Stämmen
und hohen, spärlichen Kronen spiegelten sich voll in der bräunlichen
Fläche. Die ersten Lebensträume waren an diesem Schilfufer über die Tiefe
meiner Knabenseele gegangen, sich in der unbewegten Fläche spiegelnd. Die
ersten, wunderlich krausen Dichtergedanken hatte diese freundlich ernste
Einsamkeit in mir erregt.
Ich beschattete meine Augen mit der Rechten und sog die milden Farben in
mich ein, und die Stille, und den Frieden, von dem mir schien, als hätte
ich ihn dort an den Lieblingsplätzen einer anderen Zeit zurückgelassen. Die
trockenen Spitzen der Halme und Schilfblätter bewegten sich unregelmässig
mit einem leblosen Geräusch, welches die Stille noch fühlbarer machte. Am
jenseitigen Ufer stieg aus dem warmen, feuchten Boden ein dünner Dampf, der
die weiter liegenden Hügel mit dem hellen Himmel zu einer sanften Ferne
verband. Und über den nächsten Hügelrücken ragte kurz und spitz der schmale
Turm der Klosterkirche. Dort begann auch bald ein reines Geläute. Die
langen Töne gingen in milden Wellen über mich hin.
Hinter dem Hügel wusste ich das Kloster stehen, wo ich zuerst über Heute
und Morgen denken lernte, wo ich zum erstenmal die herbe Süssigkeit des
Wissens kostete und die süsseren Ahnungen verhüllter Schönheit. Dort
vernahm mein empfänglicher Sinn alle grossen Namen, die hoch und feierlich
über meinen Gedanken standen, die grossen Namen des Perikles, des Sokrates
und Phidias, und den grösseren des Homer.
Mein Geist sah die Wölbungen der Säle und die gotischen Fenster der
Kreuzgänge deutlich vor sich stehen, und es zog mich stark hinüber, die
wehe Lust des Wiedersehens zu kosten. Aber ich blieb; ich fürchtete, mir
das innere Bild zu zerstören; ich fürchtete Andere dort gehen zu sehen, wo
ich in Träumen heimisch war.
Die Sonne glänzte auf der Spitze des Turmes. Der Hügelrücken stand scharf
und ernst zwischen hier und dort, zwischen mir und jenen untergegangenen
Dämmerungen. Ich streckte grüssend die Hand aus und war im Innern bewegt.
Ein Stück von mir lag dort begraben, und welch eine Fülle unentfalteter
Regungen und unerlöster Jugendträume!
Ein schmaler Brettersteg ragte in den Weiher. Ich beschritt das zitternde
Gerüste und beugte mich, wie ich oft gethan, über die Brüstung vor. Mein
Spiegelbild lag ruhig im Wasser. Ich suchte Züge an ihm, die mich an das
Gesicht erinnerten, welches damals aus derselben Tiefe mich ansah. Dann
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