Ein Landarzt: Kleine Erzählungen - 3

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Stiefelsohle, während er, auf einem Bein stehend, vorgebeugt,
gleichzeitig dem Klang des Messers an seinem Stiefel, gleichzeitig in
die schicksalsvolle Seitengasse lauschte.
Warum duldete das alles der Private Pallas, der in der Nähe aus seinem
Fenster im zweiten Stockwerk alles beobachtete? Ergründe die
Menschennatur! Mit hochgeschlagenem Kragen, den Schlafrock um den weiten
Leib gegürtet, kopfschüttelnd, blickte er hinab.
Und fünf Häuser weiter, ihm schräg gegenüber, sah Frau Wese, den
Fuchspelz über ihrem Nachthemd, nach ihrem Manne aus, der heute
ungewöhnlich lange zögerte.
Endlich ertönt die Türglocke vor Weses Bureau, zu laut für eine
Türglocke, über die Stadt hin, zum Himmel auf, und Wese, der fleißige
Nachtarbeiter, tritt dort, in dieser Gasse noch unsichtbar, nur durch
das Glockenzeichen angekündigt, aus dem Haus; gleich zählt das Pflaster
seine ruhigen Schritte.
Pallas beugt sich weit hervor; er darf nichts versäumen. Frau Wese
schließt, beruhigt durch die Glocke, klirrend ihr Fenster. Schmar aber
kniet nieder; da er augenblicklich keine anderen Blößen hat, drückt er
nur Gesicht und Hände gegen die Steine; wo alles friert, glüht Schmar.
Gerade an der Grenze, welche die Gassen scheidet, bleibt Wese stehen,
nur mit dem Stock stützt er sich in die jenseitige Gasse. Eine Laune.
Der Nachthimmel hat ihn angelockt, das Dunkelblaue und das Goldene.
Unwissend blickt er es an, unwissend streicht er das Haar unter dem
gelüpften Hut; nichts rückt dort oben zusammen, um ihm die allernächste
Zukunft anzuzeigen; alles bleibt an seinem unsinnigen, unerforschlichen
Platz. An und für sich sehr vernünftig, daß Wese weitergeht, aber er
geht ins Messer des Schmar.
»Wese!« schreit Schmar, auf den Fußspitzen stehend, den Arm aufgereckt,
das Messer scharf gesenkt, »Wese! Vergebens wartet Julia!« Und rechts in
den Hals und links in den Hals und drittens tief in den Bauch sticht
Schmar. Wasserratten, aufgeschlitzt, geben einen ähnlichen Laut von sich
wie Wese.
»Getan«, sagt Schmar und wirft das Messer, den überflüssigen blutigen
Ballast, gegen die nächste Hausfront. »Seligkeit des Mordes!
Erleichterung, Beflügelung durch das Fließen des fremden Blutes! Wese,
alter Nachtschatten, Freund, Bierbankgenosse, versickerst im dunklen
Straßengrund. Warum bist du nicht einfach eine mit Blut gefüllte Blase,
daß ich mich auf dich setzte und du verschwändest ganz und gar. Nicht
alles wird erfüllt, nicht alle Blütenträume reiften, dein schwerer Rest
liegt hier, schon unzugänglich jedem Tritt. Was soll die stumme Frage,
die du damit stellst?«
Pallas, alles Gift durcheinander würgend in seinem Leib, steht in
seiner zweiflügelig aufspringenden Haustür. »Schmar! Schmar! Alles
bemerkt, nichts übersehen.« Pallas und Schmar prüfen einander. Pallas
befriedigt’s, Schmar kommt zu keinem Ende.
Frau Wese mit einer Volksmenge zu ihren beiden Seiten eilt mit vor
Schrecken ganz gealtertem Gesicht herbei. Der Pelz öffnet sich, sie
stürzt über Wese, der nachthemdbekleidete Körper gehört ihm, der über
dem Ehepaar sich wie der Rasen eines Grabes schließende Pelz gehört der
Menge.
Schmar, mit Mühe die letzte Übelkeit verbeißend, den Mund an die
Schulter des Schutzmannes gedrückt, der leichtfüßig ihn davonführt.


Ein Traum.

Josef K. träumte:
Es war ein schöner Tag und K. wollte spazieren gehen. Kaum aber hatte er
zwei Schritte gemacht, war er schon auf dem Friedhof. Es waren dort sehr
künstliche, unpraktisch gewundene Wege, aber er glitt über einen
solchen Weg wie auf einem reißenden Wasser in unerschütterlich
schwebender Haltung. Schon von der Ferne faßte er einen frisch
aufgeworfenen Grabhügel ins Auge, bei dem er Halt machen wollte. Dieser
Grabhügel übte fast eine Verlockung auf ihn aus und er glaubte, gar
nicht eilig genug hinkommen zu können. Manchmal aber sah er den
Grabhügel kaum, er wurde ihm verdeckt durch Fahnen, deren Tücher sich
wanden und mit großer Kraft aneinanderschlugen; man sah die
Fahnenträger nicht, aber es war, als herrsche dort viel Jubel.
Während er den Blick noch in die Ferne gerichtet hatte, sah er plötzlich
den gleichen Grabhügel neben sich am Weg, ja fast schon hinter sich. Er
sprang eilig ins Gras. Da der Weg unter seinem abspringenden Fuß weiter
raste, schwankte er und fiel gerade vor dem Grabhügel ins Knie. Zwei
Männer standen hinter dem Grab und hielten zwischen sich einen
Grabstein in der Luft; kaum war K. erschienen, stießen sie den Stein in
die Erde und er stand wie festgemauert. Sofort trat aus einem Gebüsch
ein dritter Mann hervor, den K. gleich als einen Künstler erkannte. Er
war nur mit Hosen und einem schlecht zugeknöpften Hemd bekleidet; auf
dem Kopf hatte er eine Samtkappe; in der Hand hielt er einen
gewöhnlichen Bleistift, mit dem er schon beim Näherkommen Figuren in der
Luft beschrieb.
Mit diesem Bleistift setzte er nun oben auf dem Stein an; der Stein war
sehr hoch, er mußte sich gar nicht bücken, wohl aber mußte er sich
vorbeugen, denn der Grabhügel, auf den er nicht treten wollte, trennte
ihn von dem Stein. Er stand also auf den Fußspitzen und stützte sich mit
der linken Hand auf die Fläche des Steines. Durch eine besonders
geschickte Hantierung gelang es ihm, mit dem gewöhnlichen Bleistift
Goldbuchstaben zu erzielen; er schrieb: »Hier ruht –« Jeder Buchstabe
erschien rein und schön, tief geritzt und in vollkommenem Gold. Als er
die zwei Worte geschrieben hatte, sah er nach K. zurück; K., der sehr
begierig auf das Fortschreiten der Inschrift war, kümmerte sich kaum um
den Mann, sondern blickte nur auf den Stein. Tatsächlich setzte der Mann
wieder zum Weiterschreiben an, aber er konnte nicht, es bestand
irgendein Hindernis, er ließ den Bleistift sinken und drehte sich wieder
nach K. um. Nun sah auch K. den Künstler an und merkte, daß dieser in
großer Verlegenheit war, aber die Ursache dessen nicht sagen konnte.
Alle seine frühere Lebhaftigkeit war verschwunden. Auch K. geriet
dadurch in Verlegenheit; sie wechselten hilflose Blicke; es lag ein
häßliches Mißverständnis vor, das keiner auflösen konnte. Zur Unzeit
begann nun auch eine kleine Glocke von der Grabkapelle zu läuten, aber
der Künstler fuchtelte mit der erhobenen Hand und sie hörte auf. Nach
einem Weilchen begann sie wieder; diesmal ganz leise und, ohne besondere
Aufforderung, gleich abbrechend; es war, als wolle sie nur ihren Klang
prüfen. K. war untröstlich über die Lage des Künstlers, er begann zu
weinen und schluchzte lange in die vorgehaltenen Hände. Der Künstler
wartete, bis K. sich beruhigt hatte, und entschloß sich dann, da er
keinen andern Ausweg fand, dennoch zum Weiterschreiben. Der erste kleine
Strich, den er machte, war für K. eine Erlösung, der Künstler brachte
ihn aber offenbar nur mit dem äußersten Widerstreben zustande; die
Schrift war auch nicht mehr so schön, vor allem schien es an Gold zu
fehlen, blaß und unsicher zog sich der Strich hin, nur sehr groß wurde
der Buchstabe. Es war ein J, fast war es schon beendet, da stampfte der
Künstler wütend mit einem Fuß in den Grabhügel hinein, daß die Erde
ringsum in die Höhe flog. Endlich verstand ihn K.; ihn abzubitten war
keine Zeit mehr; mit allen Fingern grub er in die Erde, die fast keinen
Widerstand leistete; alles schien vorbereitet; nur zum Schein war eine
dünne Erdkruste aufgerichtet; gleich hinter ihr öffnete sich mit
abschüssigen Wänden ein großes Loch, in das K., von einer sanften
Strömung auf den Rücken gedreht, versank. Während er aber unten, den
Kopf im Genick noch aufgerichtet, schon von der undurchdringlichen Tiefe
aufgenommen wurde, jagte oben sein Name mit mächtigen Zieraten über den
Stein.
Entzückt von diesem Anblick erwachte er.


Ein Bericht für eine Akademie.

Hohe Herren von der Akademie!
Sie erweisen mir die Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht
über mein äffisches Vorleben einzureichen.
In diesem Sinne kann ich leider der Aufforderung nicht nachkommen.
Nahezu fünf Jahre trennen mich vom Affentum, eine Zeit, kurz vielleicht
am Kalender gemessen, unendlich lang aber durchzugaloppieren, so wie ich
es getan habe, streckenweise begleitet von vortrefflichen Menschen,
Ratschlägen, Beifall und Orchestralmusik, aber im Grunde allein, denn
alle Begleitung hielt sich, um im Bilde zu bleiben, weit vor der
Barriere. Diese Leistung wäre unmöglich gewesen, wenn ich eigensinnig
hätte an meinem Ursprung, an den Erinnerungen der Jugend festhalten
wollen. Gerade Verzicht auf jeden Eigensinn war das oberste Gebot, das
ich mir auferlegt hatte; ich, freier Affe, fügte mich diesem Joch.
Dadurch verschlossen sich mir aber ihrerseits die Erinnerungen immer
mehr. War mir zuerst die Rückkehr, wenn die Menschen gewollt hätten,
freigestellt durch das ganze Tor, das der Himmel über der Erde bildet,
wurde es gleichzeitig mit meiner vorwärts gepeitschten Entwicklung
immer niedriger und enger; wohler und eingeschlossener fühlte ich mich
in der Menschenwelt; der Sturm, der mir aus meiner Vergangenheit
nachblies, sänftigte sich; heute ist es nur ein Luftzug, der mir die
Fersen kühlt; und das Loch in der Ferne, durch das er kommt und durch
das ich einstmals kam, ist so klein geworden, daß ich, wenn überhaupt
die Kräfte und der Wille hinreichen würden, um bis dorthin
zurückzulaufen, das Fell vom Leib mir schinden müßte, um durchzukommen.
Offen gesprochen, so gerne ich auch Bilder wähle für diese Dinge, offen
gesprochen: Ihr Affentum, meine Herren, soferne Sie etwas Derartiges
hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. An
der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen
Schimpansen wie den großen Achilles.
In eingeschränktestem Sinn aber kann ich doch vielleicht Ihre Anfrage
beantworten und ich tue es sogar mit großer Freude. Das erste, was ich
lernte, war: den Handschlag geben; Handschlag bezeugt Offenheit; mag nun
heute, wo ich auf dem Höhepunkte meiner Laufbahn stehe, zu jenem ersten
Handschlag auch das offene Wort hinzukommen. Es wird für die Akademie
nichts wesentlich Neues beibringen und weit hinter dem zurückbleiben,
was man von mir verlangt hat und was ich beim besten Willen nicht sagen
kann – immerhin, es soll die Richtlinie zeigen, auf welcher ein
gewesener Affe in die Menschenwelt eingedrungen ist und sich dort
festgesetzt hat. Doch dürfte ich selbst das Geringfügige, was folgt,
gewiß nicht sagen, wenn ich meiner nicht völlig sicher wäre und meine
Stellung auf allen großen Varietébühnen der zivilisierten Welt sich
nicht bis zur Unerschütterlichkeit gefestigt hätte:
Ich stamme von der Goldküste. Darüber, wie ich eingefangen wurde, bin
ich auf fremde Berichte angewiesen. Eine Jagdexpedition der Firma
Hagenbeck – mit dem Führer habe ich übrigens seither schon manche gute
Flasche Rotwein geleert – lag im Ufergebüsch auf dem Anstand, als ich
am Abend inmitten eines Rudels zur Tränke lief. Man schoß; ich war der
einzige, der getroffen wurde; ich bekam zwei Schüsse.
Einen in die Wange; der war leicht; hinterließ aber eine große
ausrasierte rote Narbe, die mir den widerlichen, ganz und gar
unzutreffenden, förmlich von einem Affen erfundenen Namen Rotpeter
eingetragen hat, so als unterschiede ich mich von dem unlängst
krepierten, hie und da bekannten, dressierten Affentier Peter nur durch
den roten Fleck auf der Wange. Dies nebenbei.
Der zweite Schuß traf mich unterhalb der Hüfte. Er war schwer, er hat es
verschuldet, daß ich noch heute ein wenig hinke. Letzthin las ich in
einem Aufsatz irgendeines der zehntausend Windhunde, die sich in den
Zeitungen über mich auslassen: meine Affennatur sei noch nicht ganz
unterdrückt; Beweis dessen sei, daß ich, wenn Besucher kommen, mit
Vorliebe die Hosen ausziehe, um die Einlaufstelle jenes Schusses zu
zeigen. Dem Kerl sollte jedes Fingerchen seiner schreibenden Hand
einzeln weggeknallt werden. Ich, ich darf meine Hosen ausziehen, vor wem
es mir beliebt; man wird dort nichts finden als einen wohlgepflegten
Pelz und die Narbe nach einem – wählen wir hier zu einem bestimmten
Zwecke ein bestimmtes Wort, das aber nicht mißverstanden werden wolle –
die Narbe nach einem frevelhaften Schuß. Alles liegt offen zutage;
nichts ist zu verbergen; kommt es auf Wahrheit an, wirft jeder
Großgesinnte die allerfeinsten Manieren ab. Würde dagegen jener
Schreiber die Hosen ausziehen, wenn Besuch kommt, so hätte dies
allerdings ein anderes Ansehen und ich will es als Zeichen der Vernunft
gelten lassen, daß er es nicht tut. Aber dann mag er mir auch mit seinem
Zartsinn vom Halse bleiben!
Nach jenen Schüssen erwachte ich – und hier beginnt allmählich meine
eigene Erinnerung – in einem Käfig im Zwischendeck des Hagenbeckschen
Dampfers. Es war kein vierwandiger Gitterkäfig; vielmehr waren nur drei
Wände an einer Kiste festgemacht; die Kiste also bildete die vierte
Wand. Das Ganze war zu niedrig zum Aufrechtstehen und zu schmal zum
Niedersitzen. Ich hockte deshalb mit eingebogenen, ewig zitternden
Knien, und zwar, da ich zunächst wahrscheinlich niemanden sehen und
immer nur im Dunkel sein wollte, zur Kiste gewendet, während sich mir
hinten die Gitterstäbe ins Fleisch einschnitten. Man hält eine solche
Verwahrung wilder Tiere in der allerersten Zeit für vorteilhaft, und ich
kann heute nach meiner Erfahrung nicht leugnen, daß dies im menschlichen
Sinn tatsächlich der Fall ist.
Daran dachte ich aber damals nicht. Ich war zum erstenmal in meinem
Leben ohne Ausweg; zumindest geradeaus ging es nicht; geradeaus vor mir
war die Kiste, Brett fest an Brett gefügt. Zwar war zwischen den
Brettern eine durchlaufende Lücke, die ich, als ich sie zuerst
entdeckte, mit dem glückseligen Heulen des Unverstandes begrüßte, aber
diese Lücke reichte bei weitem nicht einmal zum Durchstecken des
Schwanzes aus und war mit aller Affenkraft nicht zu verbreitern.
Ich soll, wie man mir später sagte, ungewöhnlich wenig Lärm gemacht
haben, woraus man schloß, daß ich entweder bald eingehen müsse oder daß
ich, falls es mir gelingt, die erste kritische Zeit zu überleben, sehr
dressurfähig sein werde. Ich überlebte diese Zeit. Dumpfes Schluchzen,
schmerzhaftes Flöhesuchen, müdes Lecken einer Kokosnuß, Beklopfen der
Kistenwand mit dem Schädel, Zungen-Blecken, wenn mir jemand nahekam, –
das waren die ersten Beschäftigungen in dem neuen Leben. In alledem aber
doch nur das eine Gefühl: kein Ausweg. Ich kann natürlich das damals
affenmäßig Gefühlte heute nur mit Menschenworten nachzeichnen und
verzeichne es infolgedessen, aber wenn ich auch die alte Affenwahrheit
nicht mehr erreichen kann, wenigstens in der Richtung meiner Schilderung
liegt sie, daran ist kein Zweifel.
Ich hatte doch so viele Auswege bisher gehabt und nun keinen mehr. Ich
war festgerannt. Hätte man mich angenagelt, meine Freizügigkeit wäre
dadurch nicht kleiner geworden. Warum das? Kratz dir das Fleisch
zwischen den Fußzehen auf, du wirst den Grund nicht finden. Drück dich
hinten gegen die Gitterstange, bis sie dich fast zweiteilt, du wirst
den Grund nicht finden. Ich hatte keinen Ausweg, mußte mir ihn aber
verschaffen, denn ohne ihn konnte ich nicht leben. Immer an dieser
Kistenwand – ich wäre unweigerlich verreckt. Aber Affen gehören bei
Hagenbeck an die Kistenwand – nun, so hörte ich auf, Affe zu sein. Ein
klarer, schöner Gedankengang, den ich irgendwie mit dem Bauch ausgeheckt
haben muß, denn Affen denken mit dem Bauch.
Ich habe Angst, daß man nicht genau versteht, was ich unter Ausweg
verstehe. Ich gebrauche das Wort in seinem gewöhnlichsten und vollsten
Sinn. Ich sage absichtlich nicht Freiheit. Ich meine nicht dieses große
Gefühl der Freiheit nach allen Seiten. Als Affe kannte ich es vielleicht
und ich habe Menschen kennen gelernt, die sich danach sehnen. Was mich
aber anlangt, verlangte ich Freiheit weder damals noch heute. Nebenbei:
mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzuoft. Und so wie die
Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende
Täuschung zu den erhabensten. Oft habe ich in den Varietés vor meinem
Auftreten irgendein Künstlerpaar oben an der Decke an Trapezen hantieren
sehen. Sie schwangen sich, sie schaukelten, sie sprangen, sie schwebten
einander in die Arme, einer trug den anderen an den Haaren mit dem
Gebiß. »Auch das ist Menschenfreiheit«, dachte ich, »selbstherrliche
Bewegung«. Du Verspottung der heiligen Natur! Kein Bau würde
standhalten vor dem Gelächter des Affentums bei diesem Anblick.
Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin
immer; ich stellte keine anderen Forderungen; sollte der Ausweg auch nur
eine Täuschung sein; die Forderung war klein, die Täuschung würde nicht
größer sein. Weiterkommen, weiterkommen! Nur nicht mit aufgehobenen
Armen stillestehn, angedrückt an eine Kistenwand.
Heute sehe ich klar: ohne größte innere Ruhe hätte ich nie entkommen
können. Und tatsächlich verdanke ich vielleicht alles, was ich geworden
bin, der Ruhe, die mich nach den ersten Tagen dort im Schiff überkam.
Die Ruhe wiederum aber verdankte ich wohl den Leuten vom Schiff.
Es sind gute Menschen, trotz allem. Gerne erinnere ich mich noch heute
an den Klang ihrer schweren Schritte, der damals in meinem Halbschlaf
widerhallte. Sie hatten die Gewohnheit, alles äußerst langsam in
Angriff zu nehmen. Wollte sich einer die Augen reiben, so hob er die
Hand wie ein Hängegewicht. Ihre Scherze waren grob, aber herzlich. Ihr
Lachen war immer mit einem gefährlich klingenden aber nichts bedeutenden
Husten gemischt. Immer hatten sie im Mund etwas zum Ausspeien und wohin
sie ausspieen war ihnen gleichgültig. Immer klagten sie, daß meine Flöhe
auf sie überspringen; aber doch waren sie mir deshalb niemals ernstlich
böse; sie wußten eben, daß in meinem Fell Flöhe gedeihen und daß Flöhe
Springer sind; damit fanden sie sich ab. Wenn sie dienstfrei waren,
setzten sich manchmal einige im Halbkreis um mich nieder; sprachen kaum,
sondern gurrten einander nur zu; rauchten, auf Kisten ausgestreckt, die
Pfeife; schlugen sich aufs Knie, sobald ich die geringste Bewegung
machte; und hie und da nahm einer einen Stecken und kitzelte mich dort,
wo es mir angenehm war. Sollte ich heute eingeladen werden, eine Fahrt
auf diesem Schiffe mitzumachen, ich würde die Einladung gewiß ablehnen,
aber ebenso gewiß ist, daß es nicht nur häßliche Erinnerungen sind,
denen ich dort im Zwischendeck nachhängen könnte.
Die Ruhe, die ich mir im Kreise dieser Leute erwarb, hielt mich vor
allem von jedem Fluchtversuch ab. Von heute aus gesehen scheint es mir,
als hätte ich zumindest geahnt, daß ich einen Ausweg finden müsse, wenn
ich leben wolle, daß dieser Ausweg aber nicht durch Flucht zu erreichen
sei. Ich weiß nicht mehr, ob Flucht möglich war, aber ich glaube es;
einem Affen sollte Flucht immer möglich sein. Mit meinen heutigen Zähnen
muß ich schon beim gewöhnlichen Nüsseknacken vorsichtig sein, damals
aber hätte es mir wohl im Lauf der Zeit gelingen müssen, das Türschloß
durchzubeißen. Ich tat es nicht. Was wäre damit auch gewonnen gewesen?
Man hätte mich, kaum war der Kopf hinausgesteckt, wieder eingefangen und
in einen noch schlimmeren Käfig gesperrt; oder ich hätte mich unbemerkt
zu anderen Tieren, etwa zu den Riesenschlangen mir gegenüber flüchten
können und mich in ihren Umarmungen ausgehaucht; oder es wäre mir gar
gelungen, mich bis aufs Deck zu stehlen und über Bord zu springen, dann
hätte ich ein Weilchen auf dem Weltmeer geschaukelt und wäre ersoffen.
Verzweiflungstaten. Ich rechnete nicht so menschlich, aber unter dem
Einfluß meiner Umgebung verhielt ich mich so, wie wenn ich gerechnet
hätte.
Ich rechnete nicht, wohl aber beobachtete ich in aller Ruhe. Ich sah
diese Menschen auf und ab gehen, immer die gleichen Gesichter, die
gleichen Bewegungen, oft schien es mir, als wäre es nur einer. Dieser
Mensch oder diese Menschen gingen also unbehelligt. Ein hohes Ziel
dämmerte mir auf. Niemand versprach mir, daß, wenn ich so wie sie werden
würde, das Gitter aufgezogen werde. Solche Versprechungen für scheinbar
unmögliche Erfüllungen werden nicht gegeben. Löst man aber die
Erfüllungen ein, erscheinen nachträglich auch die Versprechungen genau
dort, wo man sie früher vergeblich gesucht hat. Nun war an diesen
Menschen an sich nichts, was mich sehr verlockte. Wäre ich ein Anhänger
jener erwähnten Freiheit, ich hätte gewiß das Weltmeer dem Ausweg
vorgezogen, der sich mir im trüben Blick dieser Menschen zeigte.
Jedenfalls aber beobachtete ich sie schon lange vorher, ehe ich an
solche Dinge dachte, ja die angehäuften Beobachtungen drängten mich erst
in die bestimmte Richtung.
Es war so leicht, die Leute nachzuahmen. Spucken konnte ich schon in den
ersten Tagen. Wir spuckten einander dann gegenseitig ins Gesicht; der
Unterschied war nur, daß ich mein Gesicht nachher reinleckte, sie ihres
nicht. Die Pfeife rauchte ich bald wie ein Alter; drückte ich dann auch
noch den Daumen in den Pfeifenkopf, jauchzte das ganze Zwischendeck; nur
den Unterschied zwischen der leeren und der gestopften Pfeife verstand
ich lange nicht.
Die meiste Mühe machte mir die Schnapsflasche. Der Geruch peinigte mich;
ich zwang mich mit allen Kräften; aber es vergingen Wochen, ehe ich mich
überwand. Diese inneren Kämpfe nahmen die Leute merkwürdigerweise
ernster als irgend etwas sonst an mir. Ich unterscheide die Leute auch
in meiner Erinnerung nicht, aber da war einer, der kam immer wieder,
allein oder mit Kameraden, bei Tag, bei Nacht, zu den verschiedensten
Stunden; stellte sich mit der Flasche vor mich hin und gab mir
Unterricht. Er begriff mich nicht, er wollte das Rätsel meines Seins
lösen. Er entkorkte langsam die Flasche und blickte mich dann an, um zu
prüfen, ob ich verstanden habe; ich gestehe, ich sah ihm immer mit
wilder, mit überstürzter Aufmerksamkeit zu; einen solchen
Menschenschüler findet kein Menschenlehrer auf dem ganzen Erdenrund;
nachdem die Flasche entkorkt war, hob er sie zum Mund; ich mit meinen
Blicken ihm nach bis in die Gurgel; er nickt, zufrieden mit mir, und
setzt die Flasche an die Lippen; ich, entzückt von allmählicher
Erkenntnis, kratze mich quietschend der Länge und Breite nach, wo es
sich trifft; er freut sich, setzt die Flasche an und macht einen
Schluck; ich, ungeduldig und verzweifelt, ihm nachzueifern, verunreinige
mich in meinem Käfig, was wieder ihm große Genugtuung macht; und nun
weit die Flasche von sich streckend und im Schwung sie wieder
hinaufführend, trinkt er sie, übertrieben lehrhaft zurückgebeugt, mit
einem Zuge leer. Ich, ermattet von allzugroßem Verlangen, kann nicht
mehr folgen und hänge schwach am Gitter, während er den theoretischen
Unterricht damit beendet, daß er sich den Bauch streicht und grinst.
Nun erst beginnt die praktische Übung. Bin ich nicht schon allzu
erschöpft durch das Theoretische? Wohl, allzu erschöpft. Das gehört zu
meinem Schicksal. Trotzdem greife ich, so gut ich kann, nach der
hingereichten Flasche; entkorke sie zitternd; mit dem Gelingen stellen
sich allmählich neue Kräfte ein; ich hebe die Flasche, vom Original
schon kaum zu unterscheiden; setze sie an und – und werfe sie mit
Abscheu, mit Abscheu, trotzdem sie leer ist und nur noch der Geruch sie
füllt, werfe sie mit Abscheu auf den Boden. Zur Trauer meines Lehrers,
zur größeren Trauer meiner selbst; weder ihn, noch mich versöhne ich
dadurch, daß ich auch nach dem Wegwerfen der Flasche nicht vergesse,
ausgezeichnet meinen Bauch zu streichen und dabei zu grinsen.
Allzuoft nur verlief so der Unterricht. Und zur Ehre meines Lehrers: er
war mir nicht böse; wohl hielt er mir manchmal die brennende Pfeife ans
Fell, bis es irgendwo, wo ich nur schwer hinreichte, zu glimmen anfing,
aber dann löschte er es selbst wieder mit seiner riesigen guten Hand; er
war mir nicht böse, er sah ein, daß wir auf der gleichen Seite gegen die
Affennatur kämpften und daß ich den schwereren Teil hatte.
Was für ein Sieg dann allerdings für ihn wie für mich, als ich eines
Abends vor großem Zuschauerkreis – vielleicht war ein Fest, ein
Grammophon spielte, ein Offizier erging sich zwischen den Leuten – als
ich an diesem Abend, gerade unbeachtet, eine vor meinem Käfig
versehentlich stehen gelassene Schnapsflasche ergriff, unter steigender
Aufmerksamkeit der Gesellschaft sie schulgerecht entkorkte, an den Mund
setzte und ohne Zögern, ohne Mundverziehen, als Trinker von Fach, mit
rund gewälzten Augen, schwappender Kehle, wirklich und wahrhaftig leer
trank; nicht mehr als Verzweifelter, sondern als Künstler die Flasche
hinwarf; zwar vergaß den Bauch zu streichen; dafür aber, weil ich nicht
anders konnte, weil es mich drängte, weil mir die Sinne rauschten, kurz
und gut »Hallo!« ausrief, in Menschenlaut ausbrach, mit diesem Ruf in
die Menschengemeinschaft sprang und ihr Echo: »Hört nur, er spricht!«
wie einen Kuß auf meinem ganzen schweißtriefenden Körper fühlte.
Ich wiederhole: es verlockte mich nicht, die Menschen nachzuahmen; ich
ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund. Auch
war mit jenem Sieg noch wenig getan. Die Stimme versagte mir sofort
wieder; stellte sich erst nach Monaten ein; der Widerwille gegen die
Schnapsflasche kam sogar noch verstärkter. Aber meine Richtung
allerdings war mir ein für allemal gegeben.
Als ich in Hamburg dem ersten Dresseur übergeben wurde, erkannte ich
bald die zwei Möglichkeiten, die mir offen standen: Zoologischer Garten
oder Varieté. Ich zögerte nicht. Ich sagte mir: setze alle Kraft an, um
ins Varieté zu kommen; das ist der Ausweg; Zoologischer Garten ist nur
ein neuer Gitterkäfig; kommst du in ihn, bist du verloren.
Und ich lernte, meine Herren. Ach, man lernt, wenn man muß; man lernt,
wenn man einen Ausweg will; man lernt rücksichtslos. Man beaufsichtigt
sich selbst mit der Peitsche; man zerfleischt sich beim geringsten
Widerstand. Die Affennatur raste, sich überkugelnd, aus mir hinaus und
weg, so daß mein erster Lehrer selbst davon fast äffisch wurde, bald den
Unterricht aufgeben und in eine Heilanstalt gebracht werden mußte.
Glücklicherweise kam er wieder bald hervor.
Aber ich verbrauchte viele Lehrer, ja sogar einige Lehrer gleichzeitig.
Als ich meiner Fähigkeiten schon sicherer geworden war, die Öffentlichkeit
meinen Fortschritten folgte, meine Zukunft zu leuchten begann, nahm ich
selbst Lehrer auf, ließ sie in fünf aufeinanderfolgenden Zimmern
niedersetzen und lernte bei allen zugleich, indem ich ununterbrochen aus
einem Zimmer ins andere sprang.
Diese Fortschritte! Dieses Eindringen der Wissensstrahlen von allen
Seiten ins erwachende Hirn! Ich leugne nicht: es beglückte mich. Ich
gestehe aber auch ein: ich überschätzte es nicht, schon damals nicht,
wieviel weniger heute. Durch eine Anstrengung, die sich bisher auf der
Erde nicht wiederholt hat, habe ich die Durchschnittsbildung eines
Europäers erreicht. Das wäre an sich vielleicht gar nichts, ist aber
insofern doch etwas, als es mir aus dem Käfig half und mir diesen
besonderen Ausweg, diesen Menschenausweg verschaffte. Es gibt eine
ausgezeichnete deutsche Redensart: sich in die Büsche schlagen; das habe
ich getan, ich habe mich in die Büsche geschlagen. Ich hatte keinen
anderen Weg, immer vorausgesetzt, daß nicht die Freiheit zu wählen war.
Überblicke ich meine Entwicklung und ihr bisheriges Ziel, so klage ich
weder, noch bin ich zufrieden. Die Hände in den Hosentaschen, die
Weinflasche auf dem Tisch, liege ich halb, halb sitze ich im
Schaukelstuhl und schaue aus dem Fenster. Kommt Besuch, empfange ich
ihn, wie es sich gebührt. Mein Impresario sitzt im Vorzimmer; läute ich,
kommt er und hört, was ich zu sagen habe. Am Abend ist fast immer
Vorstellung, und ich habe wohl kaum mehr zu steigernde Erfolge. Komme
ich spät nachts von Banketten, aus wissenschaftlichen Gesellschaften,
aus gemütlichem Beisammensein nach Hause, erwartet mich eine kleine
halbdressierte Schimpansin und ich lasse es mir nach Affenart bei ihr
wohlgehen. Bei Tag will ich sie nicht sehen; sie hat nämlich den Irrsinn
des verwirrten dressierten Tieres im Blick; das erkenne nur ich und ich
kann es nicht ertragen.
Im Ganzen habe ich jedenfalls erreicht, was ich erreichen wollte. Man
sage nicht, es wäre der Mühe nicht wert gewesen. Im übrigen will ich
keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte
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