Ein Landarzt: Kleine Erzählungen - 2

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schneller; mit gehetzten Lungen, trotzdem sie doch stillestanden; ein
bitterer, zeitweilig nur mit zusammengeklemmten Zähnen erträglicher
Geruch entströmte den offenen Mäulern, »du bist sehr klug; das, was du
sagst, entspricht unserer alten Lehre. Wir nehmen ihnen also ihr Blut
und der Streit ist zu Ende.«
»Oh!« sagte ich wilder, als ich wollte, »sie werden sich wehren; sie
werden mit ihren Flinten euch rudelweise niederschießen.«
»Du mißverstehst uns,« sagte er, »nach Menschenart, die sich also auch
im hohen Norden nicht verliert. Wir werden sie doch nicht töten. Soviel
Wasser hätte der Nil nicht, um uns rein zu waschen. Wir laufen doch
schon vor dem bloßen Anblick ihres lebenden Leibes weg, in reinere Luft,
in die Wüste, die deshalb unsere Heimat ist.«
Und alle Schakale ringsum, zu denen inzwischen noch viele von fernher
gekommen waren, senkten die Köpfe zwischen die Vorderbeine und putzten
sie mit den Pfoten; es war, als wollten sie einen Widerwillen verbergen,
der so schrecklich war, daß ich am liebsten mit einem hohen Sprung aus
ihrem Kreis entflohen wäre.
»Was beabsichtigt Ihr also zu tun,« fragte ich und wollte aufstehn;
aber ich konnte nicht; zwei junge Tiere hatten sich mir hinten in Rock
und Hemd festgebissen; ich mußte sitzen bleiben. »Sie halten deine
Schleppe,« sagte der alte Schakal erklärend und ernsthaft, »eine
Ehrbezeugung.« »Sie sollen mich loslassen!« rief ich, bald zum Alten,
bald zu den Jungen gewendet. »Sie werden es natürlich,« sagte der Alte,
»wenn du es verlangst. Es dauert aber ein Weilchen, denn sie haben nach
der Sitte tief sich eingebissen und müssen erst langsam die Gebisse
voneinander lösen. Inzwischen höre unsere Bitte.« »Euer Verhalten hat
mich dafür nicht sehr empfänglich gemacht,« sagte ich. »Laß uns unser
Ungeschick nicht entgelten,« sagte er und nahm jetzt zum erstenmal den
Klageton seiner natürlichen Stimme zu Hilfe, »wir sind arme Tiere, wir
haben nur das Gebiß; für alles, was wir tun wollen, das Gute und das
Schlechte, bleibt uns einzig das Gebiß.« »Was willst du also?« fragte
ich, nur wenig besänftigt.
»Herr,« rief er, und alle Schakale heulten auf; in fernster Ferne schien
es mir eine Melodie zu sein. »Herr, du sollst den Streit beenden, der
die Welt entzweit. So wie du bist, haben unsere Alten den beschrieben,
der es tun wird. Frieden müssen wir haben von den Arabern; atembare
Luft; gereinigt von ihnen den Ausblick rund am Horizont; kein
Klagegeschrei eines Hammels, den der Araber absticht; ruhig soll alles
Getier krepieren; ungestört soll es von uns leergetrunken und bis auf
die Knochen gereinigt werden. Reinheit, nichts als Reinheit wollen wir,«
– und nun weinten, schluchzten alle – »wie erträgst nur du es in
dieser Welt, du edles Herz und süßes Eingeweide? Schmutz ist ihr Weiß;
Schmutz ist ihr Schwarz; ein Grauen ist ihr Bart; speien muß man beim
Anblick ihrer Augenwinkel; und heben sie den Arm, tut sich in der
Achselhöhle die Hölle auf. Darum, o Herr, darum o teuerer Herr, mit
Hilfe deiner alles vermögenden Hände, mit Hilfe deiner alles
vermögenden Hände schneide ihnen mit dieser Schere die Hälse durch!« Und
einem Ruck seines Kopfes folgend kam ein Schakal herbei, der an einem
Eckzahn eine kleine, mit altem Rost bedeckte Nähschere trug.
»Also endlich die Schere und damit Schluß!« rief der Araberführer
unserer Karawane, der sich gegen den Wind an uns herangeschlichen hatte
und nun seine riesige Peitsche schwang.
Alles verlief sich eiligst, aber in einiger Entfernung blieben sie
doch, eng zusammengekauert, die vielen Tiere so eng und starr, daß es
aussah wie eine schmale Hürde, von Irrlichtern umflogen.
»So hast du, Herr, auch dieses Schauspiel gesehen und gehört,« sagte der
Araber und lachte so fröhlich, als es die Zurückhaltung seines Stammes
erlaubte. »Du weißt also, was die Tiere wollen?« fragte ich. »Natürlich,
Herr,« sagte er, »das ist doch allbekannt; solange es Araber gibt,
wandert diese Schere durch die Wüste und wird mit uns wandern bis ans
Ende der Tage. Jedem Europäer wird sie angeboten zu dem großen Werk;
jeder Europäer ist gerade derjenige, welcher ihnen berufen scheint. Eine
unsinnige Hoffnung haben diese Tiere; Narren, wahre Narren sind sie. Wir
lieben sie deshalb; es sind unsere Hunde; schöner als die Eurigen. Sieh
nur, ein Kamel ist in der Nacht verendet, ich habe es herschaffen
lassen.«
Vier Träger kamen und warfen den schweren Kadaver vor uns hin. Kaum lag
er da, erhoben die Schakale ihre Stimmen. Wie von Stricken
unwiderstehlich jeder einzelne gezogen, kamen sie, stockend, mit dem
Leib den Boden streifend, heran. Sie hatten die Araber vergessen, den
Haß vergessen, die alles auslöschende Gegenwart des stark ausdunstenden
Leichnams bezauberte sie. Schon hing einer am Hals und fand mit dem
ersten Biß die Schlagader. Wie eine kleine rasende Pumpe, die ebenso
unbedingt wie aussichtslos einen übermächtigen Brand löschen will,
zerrte und zuckte jede Muskel seines Körpers an ihrem Platz. Und schon
lagen in gleicher Arbeit alle auf dem Leichnam hoch zu Berg.
Da strich der Führer kräftig mit der scharfen Peitsche kreuz und quer
über sie. Sie hoben die Köpfe; halb in Rausch und Ohnmacht; sahen die
Araber vor sich stehen; bekamen jetzt die Peitsche mit den Schnauzen zu
fühlen; zogen sich im Sprung zurück und liefen eine Strecke rückwärts.
Aber das Blut des Kamels lag schon in Lachen da, rauchte empor, der
Körper war an mehreren Stellen weit aufgerissen. Sie konnten nicht
widerstehen; wieder waren sie da; wieder hob der Führer die Peitsche;
ich faßte seinen Arm.
»Du hast Recht, Herr,« sagte er, »wir lassen sie bei ihrem Beruf; auch
ist es Zeit aufzubrechen. Gesehen hast du sie. Wunderbare Tiere, nicht
wahr? Und wie sie uns hassen!«


Ein Besuch im Bergwerk.

Heute waren die obersten Ingenieure bei uns unten. Es ist irgendein
Auftrag der Direktion ergangen, neue Stollen zu legen, und da kamen die
Ingenieure, um die allerersten Ausmessungen vorzunehmen. Wie jung diese
Leute sind und dabei schon so verschiedenartig! Sie haben sich alle frei
entwickelt, und ungebunden zeigt sich ihr klar bestimmtes Wesen schon in
jungen Jahren.
Einer, schwarzhaarig, lebhaft, läßt seine Augen überallhin laufen.
Ein Zweiter mit einem Notizblock, macht im Gehen Aufzeichnungen, sieht
umher, vergleicht, notiert.
Ein Dritter, die Hände in den Rocktaschen, so daß sich alles an ihm
spannt, geht aufrecht; wahrt die Würde; nur im fortwährenden Beißen
seiner Lippen zeigt sich die ungeduldige, nicht zu unterdrückende
Jugend.
Ein Vierter gibt dem Dritten Erklärungen, die dieser nicht verlangt;
kleiner als er, wie ein Versucher neben ihm herlaufend, scheint er, den
Zeigefinger immer in der Luft, eine Litanei über alles, was hier zu
sehen ist, ihm vorzutragen.
Ein Fünfter, vielleicht der oberste im Rang, duldet keine Begleitung;
ist bald vorn, bald hinten; die Gesellschaft richtet ihren Schritt nach
ihm; er ist bleich und schwach; die Verantwortung hat seine Augen
ausgehöhlt; oft drückt er im Nachdenken die Hand an die Stirn.
Der Sechste und Siebente gehen ein wenig gebückt, Kopf nah an Kopf, Arm
in Arm, in vertrautem Gespräch; wäre hier nicht offenbar unser
Kohlenbergwerk und unser Arbeitsplatz im tiefsten Stollen, könnte man
glauben, diese knochigen, bartlosen, knollennasigen Herren seien junge
Geistliche. Der eine lacht meistens mit katzenartigem Schnurren in sich
hinein; der andere, gleichfalls lächelnd, führt das Wort und gibt mit
der freien Hand irgendeinen Takt dazu. Wie sicher müssen diese zwei
Herren ihrer Stellung sein, ja welche Verdienste müssen sie sich trotz
ihrer Jugend um unser Bergwerk schon erworben haben, daß sie hier, bei
einer so wichtigen Begehung, unter den Augen ihres Chefs, nur mit
eigenen oder wenigstens mit solchen Angelegenheiten, die nicht mit der
augenblicklichen Aufgabe zusammenhängen, so unbeirrbar sich beschäftigen
dürfen. Oder sollte es möglich sein, daß sie, trotz alles Lachens und
aller Unaufmerksamkeit, das, was nötig ist, sehr wohl bemerken? Man wagt
über solche Herren kaum ein bestimmtes Urteil abzugeben.
Andererseits ist es aber doch wieder zweifellos, daß zum Beispiel der
Achte unvergleichlich mehr als diese, ja mehr als alle anderen Herren
bei der Sache ist. Er muß alles anfassen und mit einem kleinen Hammer,
den er immer wieder aus der Tasche zieht und immer wieder dort verwahrt,
beklopfen. Manchmal kniet er trotz seiner eleganten Kleidung in den
Schmutz nieder und beklopft den Boden, dann wieder nur im Gehen die
Wände oder die Decke über seinem Kopf. Einmal hat er sich lang hingelegt
und lag dort still; wir dachten schon, es sei ein Unglück geschehen;
aber dann sprang er mit einem kleinen Zusammenzucken seines schlanken
Körpers auf. Er hatte also wieder nur eine Untersuchung gemacht. Wir
glauben unser Bergwerk und seine Steine zu kennen, aber was dieser
Ingenieur auf diese Weise hier immerfort untersucht, ist uns
unverständlich.
Ein Neunter schiebt vor sich eine Art Kinderwagen, in welchem die
Meßapparate liegen. Äußerst kostbare Apparate, tief in zarteste Watte
eingelegt. Diesen Wagen sollte ja eigentlich der Diener schieben, aber
es wird ihm nicht anvertraut; ein Ingenieur mußte heran und er tut es
gern, wie man sieht. Er ist wohl der Jüngste, vielleicht versteht er
noch gar nicht alle Apparate, aber sein Blick ruht immerfort auf ihnen,
fast kommt er dadurch manchmal in Gefahr, mit dem Wagen an eine Wand zu
stoßen.
Aber da ist ein anderer Ingenieur, der neben dem Wagen hergeht und es
verhindert. Dieser versteht offenbar die Apparate von Grund aus und
scheint ihr eigentlicher Verwahrer zu sein. Von Zeit zu Zeit nimmt er,
ohne den Wagen anzuhalten, einen Bestandteil der Apparate heraus, blickt
hindurch, schraubt auf oder zu, schüttelt und beklopft, hält ans Ohr und
horcht; und legt schließlich, während der Wagenführer meist stillsteht,
das kleine, von der Ferne kaum sichtbare Ding mit aller Vorsicht wieder
in den Wagen. Ein wenig herrschsüchtig ist dieser Ingenieur, aber doch
nur im Namen der Apparate. Zehn Schritte vor dem Wagen sollen wir
schon, auf ein wortloses Fingerzeichen hin, zur Seite weichen, selbst
dort, wo kein Platz zum Ausweichen ist.
Hinter diesen zwei Herren geht der unbeschäftigte Diener. Die Herren
haben, wie es bei ihrem großen Wissen selbstverständlich ist, längst
jeden Hochmut abgelegt, der Diener dagegen scheint ihn in sich
aufgesammelt zu haben. Die eine Hand im Rücken, mit der anderen vorn
über seine vergoldeten Knöpfe oder das feine Tuch seines Livreerockes
streichend, nickt er öfters nach rechts und links, so als ob wir gegrüßt
hätten und er antwortete, oder so, als nehme er an, daß wir gegrüßt
hätten, könne es aber von seiner Höhe aus nicht nachprüfen. Natürlich
grüßen wir ihn nicht, aber doch möchte man bei seinem Anblick fast
glauben, es sei etwas Ungeheures, Kanzleidiener der Bergdirektion zu
sein. Hinter ihm lachen wir allerdings, aber da auch ein Donnerschlag
ihn nicht veranlassen könnte, sich umzudrehen, bleibt er doch als etwas
Unverständliches in unserer Achtung.
Heute wird wenig mehr gearbeitet; die Unterbrechung war zu ausgiebig;
ein solcher Besuch nimmt alle Gedanken an Arbeit mit sich fort. Allzu
verlockend ist es, den Herren in das Dunkel des Probestollens
nachzublicken, in dem sie alle verschwunden sind. Auch geht unsere
Arbeitsschicht bald zu Ende; wir werden die Rückkehr der Herren nicht
mehr mit ansehen.


Das nächste Dorf.

Mein Großvater pflegte zu sagen: »Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt
in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel
kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste
Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß – von unglücklichen Zufällen ganz
abgesehen – schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden
Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.«


Eine kaiserliche Botschaft.

Der Kaiser – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen
Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne
geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett
aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknieen
lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr war ihm an
ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch
Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der
ganzen Zuschauerschaft seines Todes – alle hindernden Wände werden
niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen
stehen im Ring die Großen des Reichs – vor allen diesen hat er den
Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein
kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm
vorstreckend schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand,
zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch
leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre
Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er
fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste
an Deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer
noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals
wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die
Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre
gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite
umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein
Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus
dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen – liegt
erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll
ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft
eines Toten. – Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir,
wenn der Abend kommt.


Die Sorge des Hausvaters.

Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie
suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere
wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur
beeinflußt. Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht
darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von
ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.
Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es
nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. Es sieht zunächst aus
wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch
mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte,
aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke von
verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule,
sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor
und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit
Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der
Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf
zwei Beinen aufrecht stehen.
Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine
zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint
aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen
dafür; nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas
Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in
seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber
sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.
Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den
Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist
er wohl in andere Häuser übersiedelt; doch kehrt er dann unweigerlich
wieder in unser Haus zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er
lehnt gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzusprechen.
Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen, sondern behandelt
ihn – schon seine Winzigkeit verführt dazu – wie ein Kind. »Wie heißt
du denn?« fragt man ihn. »Odradek,« sagt er. »Und wo wohnst du?«
»Unbestimmter Wohnsitz,« sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen,
wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das
Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu
Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft
ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint.
Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn
sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit
gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu.
Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und
Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe
hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung,
daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.


Elf Söhne.

Ich habe elf Söhne.
Der Erste ist äußerlich sehr unansehnlich, aber ernsthaft und klug;
trotzdem schätze ich ihn, wiewohl ich ihn als Kind wie alle andern
liebe, nicht sehr hoch ein. Sein Denken scheint mir zu einfach. Er
sieht nicht rechts noch links und nicht in die Weite; in seinem kleinen
Gedankenkreis läuft er immerfort rundum oder dreht sich vielmehr.
Der Zweite ist schön, schlank, wohlgebaut; es entzückt, ihn in
Fechterstellung zu sehen. Auch er ist klug, aber überdies welterfahren;
er hat viel gesehen, und deshalb scheint selbst die heimische Natur
vertrauter mit ihm zu sprechen, als mit den Daheimgebliebenen. Doch ist
gewiß dieser Vorzug nicht nur und nicht einmal wesentlich dem Reisen zu
verdanken, er gehört vielmehr zu dem Unnachahmlichen dieses Kindes, das
zum Beispiel von jedem anerkannt wird, der etwa seinen vielfach sich
überschlagenden und doch geradezu wild beherrschten Kunstsprung ins
Wasser ihm nachmachen will. Bis zum Ende des Sprungbrettes reicht der
Mut und die Lust, dort aber statt zu springen, setzt sich plötzlich der
Nachahmer und hebt entschuldigend die Arme. – Und trotz dem allen (ich
sollte doch eigentlich glückselig sein über ein solches Kind) ist mein
Verhältnis zu ihm nicht ungetrübt. Sein linkes Auge ist ein wenig
kleiner als das rechte und zwinkert viel; ein kleiner Fehler nur, gewiß,
der sein Gesicht sogar noch verwegener macht als es sonst gewesen wäre,
und niemand wird gegenüber der unnahbaren Abgeschlossenheit seines
Wesens dieses kleinere zwinkernde Auge tadelnd bemerken. Ich, der Vater,
tue es. Es ist natürlich nicht dieser körperliche Fehler, der mir weh
tut, sondern eine ihm irgendwie entsprechende kleine Unregelmäßigkeit
seines Geistes, irgendein in seinem Blut irrendes Gift, irgendeine
Unfähigkeit, die mir allein sichtbare Anlage seines Lebens rund zu
vollenden. Gerade dies macht ihn allerdings andererseits wieder zu
meinem wahren Sohn, denn dieser sein Fehler ist gleichzeitig der Fehler
unserer ganzen Familie und an diesem Sohn nur überdeutlich.
Der dritte Sohn ist gleichfalls schön, aber es ist nicht die Schönheit,
die mir gefällt. Es ist die Schönheit des Sängers: der geschwungene
Mund; das träumerische Auge; der Kopf, der eine Draperie hinter sich
benötigt, um zu wirken; die unmäßig sich wölbende Brust; die leicht
auffahrenden und viel zu leicht sinkenden Hände; die Beine, die sich
zieren, weil sie nicht tragen können. Und überdies: der Ton seiner
Stimme ist nicht voll; trügt einen Augenblick; läßt den Kenner
aufhorchen; veratmet aber kurz darauf. – Trotzdem im allgemeinen alles
verlockt, diesen Sohn zur Schau zu stellen, halte ich ihn doch am
liebsten im Verborgenen; er selbst drängt sich nicht auf, aber nicht
etwa deshalb, weil er seine Mängel kennt, sondern aus Unschuld. Auch
fühlt er sich fremd in unserer Zeit; als gehöre er zwar zu meiner
Familie, aber überdies noch zu einer andern, ihm für immer verlorenen,
ist er oft unlustig und nichts kann ihn aufheitern.
Mein vierter Sohn ist vielleicht der umgänglichste von allen. Ein wahres
Kind seiner Zeit, ist er jedermann verständlich, er steht auf dem allen
gemeinsamen Boden und jeder ist versucht, ihm zuzunicken. Vielleicht
durch diese allgemeine Anerkennung gewinnt sein Wesen etwas Leichtes,
seine Bewegungen etwas Freies, seine Urteile etwas Unbekümmertes. Manche
seiner Aussprüche möchte man oft wiederholen, allerdings nur manche,
denn in seiner Gesamtheit krankt er doch wieder an allzu großer
Leichtigkeit. Er ist wie einer, der bewundernswert abspringt,
schwalbengleich die Luft teilt, dann aber doch trostlos im öden Staube
endet, ein Nichts. Solche Gedanken vergällen mir den Anblick dieses
Kindes.
Der fünfte Sohn ist lieb und gut; versprach viel weniger als er hielt;
war so unbedeutend, daß man sich förmlich in seiner Gegenwart allein
fühlte; hat es aber doch zu einigem Ansehen gebracht. Fragte man mich,
wie das geschehen ist, so könnte ich kaum antworten. Unschuld dringt
vielleicht doch noch am leichtesten durch das Toben der Elemente in
dieser Welt, und unschuldig ist er. Vielleicht allzu unschuldig.
Freundlich zu jedermann. Vielleicht allzu freundlich. Ich gestehe: mir
wird nicht wohl, wenn man ihn mir gegenüber lobt. Es heißt doch, sich
das Loben etwas zu leicht zu machen, wenn man einen so offensichtlich
Lobenswürdigen lobt, wie es mein Sohn ist.
Mein sechster Sohn scheint, wenigstens auf den ersten Blick, der
tiefsinnigste von allen. Ein Kopfhänger und doch ein Schwätzer. Deshalb
kommt man ihm nicht leicht bei. Ist er am Unterliegen, so verfällt er in
unbesiegbare Traurigkeit; erlangt er das Übergewicht, so wahrt er es
durch Schwätzen. Doch spreche ich ihm eine gewisse selbstvergessene
Leidenschaft nicht ab; bei hellem Tag kämpft er sich oft durch das
Denken wie im Traum. Ohne krank zu sein – vielmehr hat er eine sehr
gute Gesundheit – taumelt er manchmal, besonders in der Dämmerung,
braucht aber keine Hilfe, fällt nicht. Vielleicht hat an dieser
Erscheinung seine körperliche Entwicklung schuld, er ist viel zu groß
für sein Alter. Das macht ihn unschön im Ganzen, trotz auffallend
schöner Einzelheiten, zum Beispiel der Hände und Füße. Unschön ist
übrigens auch seine Stirn; sowohl in der Haut, als in der Knochenbildung
irgendwie verschrumpft.
Der siebente Sohn gehört mir vielleicht mehr als alle andern. Die Welt
versteht ihn nicht zu würdigen; seine besondere Art von Witz versteht
sie nicht. Ich überschätze ihn nicht; ich weiß, er ist geringfügig
genug; hätte die Welt keinen andern Fehler als den, daß sie ihn nicht zu
würdigen weiß, sie wäre noch immer makellos. Aber innerhalb der Familie
wollte ich diesen Sohn nicht missen. Sowohl Unruhe bringt er, als auch
Ehrfurcht vor der Überlieferung, und beides fügt er, wenigstens für mein
Gefühl, zu einem unanfechtbaren Ganzen. Mit diesem Ganzen weiß er
allerdings selbst am wenigsten etwas anzufangen; das Rad der Zukunft
wird er nicht ins Rollen bringen; aber diese seine Anlage ist so
aufmunternd, so hoffnungsreich; ich wollte, er hätte Kinder und diese
wieder Kinder. Leider scheint sich dieser Wunsch nicht erfüllen zu
wollen. In einer mir zwar begreiflichen, aber ebenso unerwünschten
Selbstzufriedenheit, die allerdings in großartigem Gegensatz zum Urteil
seiner Umgebung steht, treibt er sich allein umher, kümmert sich nicht
um Mädchen und wird trotzdem niemals seine gute Laune verlieren.
Mein achter Sohn ist mein Schmerzenskind, und ich weiß eigentlich keinen
Grund dafür. Er sieht mich fremd an, und ich fühle mich doch väterlich
eng mit ihm verbunden. Die Zeit hat vieles gut gemacht; früher aber
befiel mich manchmal ein Zittern, wenn ich nur an ihn dachte. Er geht
seinen eigenen Weg; hat alle Verbindungen mit mir abgebrochen; und wird
gewiß mit seinem harten Schädel, seinem kleinen athletischen Körper –
nur die Beine hatte er als Junge recht schwach, aber das mag sich
inzwischen schon ausgeglichen haben – überall durchkommen, wo es ihm
beliebt. Öfters hatte ich Lust, ihn zurückzurufen, ihn zu fragen, wie es
eigentlich um ihn steht, warum er sich vom Vater so abschließt und was
er im Grunde beabsichtigt, aber nun ist er so weit und so viel Zeit ist
schon vergangen, nun mag es so bleiben wie es ist. Ich höre, daß er als
der einzige meiner Söhne einen Vollbart trägt; schön ist das bei einem
so kleinen Mann natürlich nicht.
Mein neunter Sohn ist sehr elegant und hat den für Frauen bestimmten
süßen Blick. So süß, daß er bei Gelegenheit sogar mich verführen kann,
der ich doch weiß, daß förmlich ein nasser Schwamm genügt, um allen
diesen überirdischen Glanz wegzuwischen. Das Besondere an diesem Jungen
aber ist, daß er gar nicht auf Verführung ausgeht; ihm würde es genügen,
sein Leben lang auf dem Kanapee zu liegen und seinen Blick an die
Zimmerdecke zu verschwenden oder noch viel lieber ihn unter den
Augenlidern ruhen zu lassen. Ist er in dieser von ihm bevorzugten Lage,
dann spricht er gern und nicht übel; gedrängt und anschaulich; aber doch
nur in engen Grenzen; geht er über sie hinaus, was sich bei ihrer Enge
nicht vermeiden läßt, wird sein Reden ganz leer. Man würde ihm abwinken,
wenn man Hoffnung hätte, daß dieser mit Schlaf gefüllte Blick es
bemerken könnte.
Mein zehnter Sohn gilt als unaufrichtiger Charakter. Ich will diesen
Fehler nicht ganz in Abrede stellen, nicht ganz bestätigen. Sicher ist,
daß, wer ihn in der weit über sein Alter hinausgehenden Feierlichkeit
herankommen sieht, im immer festgeschlossenen Gehrock, im alten, aber
übersorgfältig geputzten schwarzen Hut, mit dem unbewegten Gesicht, dem
etwas vorragenden Kinn, den schwer über die Augen sich wölbenden Lidern,
den manchmal an den Mund geführten zwei Fingern – wer ihn so sieht,
denkt: das ist ein grenzenloser Heuchler. Aber, nun höre man ihn reden!
Verständig; mit Bedacht; kurz angebunden; mit boshafter Lebendigkeit
Fragen durchkreuzend; in erstaunlicher, selbstverständlicher und froher
Übereinstimmung mit dem Weltganzen; eine Übereinstimmung, die
notwendigerweise den Hals strafft und den Kopf erheben läßt. Viele, die
sich sehr klug dünken und die sich, aus diesem Grunde wie sie meinten,
von seinem Äußern abgestoßen fühlten, hat er durch sein Wort stark
angezogen. Nun gibt es aber wieder Leute, die sein Äußeres gleichgültig
läßt, denen aber sein Wort heuchlerisch erscheint. Ich, als Vater, will
hier nicht entscheiden, doch muß ich eingestehen, daß die letzteren
Beurteiler jedenfalls beachtenswerter sind als die ersteren.
Mein elfter Sohn ist zart, wohl der schwächste unter meinen Söhnen; aber
täuschend in seiner Schwäche; er kann nämlich zu Zeiten kräftig und
bestimmt sein, doch ist allerdings selbst dann die Schwäche irgendwie
grundlegend. Es ist aber keine beschämende Schwäche, sondern etwas, das
nur auf diesem unsern Erdboden als Schwäche erscheint. Ist nicht zum
Beispiel auch Flugbereitschaft Schwäche, da sie doch Schwanken und
Unbestimmtheit und Flattern ist? Etwas Derartiges zeigt mein Sohn. Den
Vater freuen natürlich solche Eigenschaften nicht; sie gehen ja offenbar
auf Zerstörung der Familie aus. Manchmal blickt er mich an, als wollte
er mir sagen: »Ich werde dich mitnehmen, Vater.« Dann denke ich: »Du
wärst der Letzte, dem ich mich vertraue.« Und sein Blick scheint wieder
zu sagen: »Mag ich also wenigstens der Letzte sein.«
Das sind die elf Söhne.


Ein Brudermord.

Es ist erwiesen, daß der Mord auf folgende Weise erfolgte:
Schmar, der Mörder, stellte sich gegen neun Uhr abends in der mondklaren
Nacht an jener Straßenecke auf, wo Wese, das Opfer, aus der Gasse, in
welcher sein Bureau lag, in jene Gasse einbiegen mußte, in der er
wohnte.
Kalte, jeden durchschauernde Nachtluft. Aber Schmar hatte nur ein dünnes
blaues Kleid angezogen; das Röckchen war überdies aufgeknöpft. Er fühlte
keine Kälte; auch war er immerfort in Bewegung. Seine Mordwaffe, halb
Bajonett, halb Küchenmesser, hielt er ganz bloßgelegt immer fest im
Griff. Betrachtete das Messer gegen das Mondlicht; die Schneide blitzte
auf; nicht genug für Schmar; er hieb mit ihr gegen die Backsteine des
Pflasters, daß es Funken gab; bereute es vielleicht; und um den Schaden
gut zu machen, strich er mit ihr violinbogenartig über seine
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