Ein Landarzt: Kleine Erzählungen - 1

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FRANZ KAFKA

EIN LANDARZT
KLEINE ERZÄHLUNGEN


KURT WOLFF VERLAG

Copyright 1919 by Kurt Wolff Verlag - München und Leipzig

INHALT
Der neue Advokat 1
Ein Landarzt 6
Auf der Galerie 34
Ein altes Blatt 39
Vor dem Gesetz 49
Schakale und Araber 57
Ein Besuch im Bergwerk 75
Das nächste Dorf 88
Eine kaiserliche Botschaft 90
Die Sorge des Hausvaters 95
Elf Söhne 102
Ein Brudermord 125
Ein Traum 135
Ein Bericht für eine Akademie 145


Meinem Vater


Der neue Advokat.

Wir haben einen neuen Advokaten, den Dr. Bucephalus. In seinem Äußern
erinnert wenig an die Zeit, da er noch Streitroß Alexanders von
Macedonien war. Wer allerdings mit den Umständen vertraut ist, bemerkt
einiges. Doch sah ich letzthin auf der Freitreppe selbst einen ganz
einfältigen Gerichtsdiener mit dem Fachblick des kleinen Stammgastes der
Wettrennen den Advokaten bestaunen, als dieser, hoch die Schenkel
hebend, mit auf dem Marmor aufklingendem Schritt von Stufe zu Stufe
stieg.
Im allgemeinen billigt das Barreau die Aufnahme des Bucephalus. Mit
erstaunlicher Einsicht sagt man sich, daß Bucephalus bei der heutigen
Gesellschaftsordnung in einer schwierigen Lage ist und daß er deshalb,
sowie auch wegen seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, jedenfalls
Entgegenkommen verdient. Heute – das kann niemand leugnen – gibt es
keinen großen Alexander. Zu morden verstehen zwar manche; auch an der
Geschicklichkeit, mit der Lanze über den Bankettisch hinweg den Freund
zu treffen, fehlt es nicht; und vielen ist Macedonien zu eng, so daß sie
Philipp, den Vater, verfluchen – aber niemand, niemand kann nach
Indien führen. Schon damals waren Indiens Tore unerreichbar, aber ihre
Richtung war durch das Königsschwert bezeichnet. Heute sind die Tore
ganz anderswohin und weiter und höher vertragen; niemand zeigt die
Richtung; viele halten Schwerter, aber nur, um mit ihnen zu fuchteln;
und der Blick, der ihnen folgen will, verwirrt sich.
Vielleicht ist es deshalb wirklich das Beste, sich, wie es Bucephalus
getan hat, in die Gesetzbücher zu versenken. Frei, unbedrückt die
Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern dem Getöse
der Alexanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten
Bücher.


Ein Landarzt.

Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mir bevor;
ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten
Dorfe; starkes Schneegestöber füllte den weiten Raum zwischen mir und
ihm; einen Wagen hatte ich, leicht, großräderig, ganz wie er für unsere
Landstraßen taugt; in den Pelz gepackt, die Instrumententasche in der
Hand, stand ich reisefertig schon auf dem Hofe; aber das Pferd fehlte,
das Pferd. Mein eigenes Pferd war in der letzten Nacht, infolge der
Überanstrengung in diesem eisigen Winter, verendet; mein Dienstmädchen
lief jetzt im Dorf umher, um ein Pferd geliehen zu bekommen; aber es war
aussichtslos, ich wußte es, und immer mehr vom Schnee überhäuft, immer
unbeweglicher werdend, stand ich zwecklos da. Am Tor erschien das
Mädchen, allein, schwenkte die Laterne; natürlich, wer leiht jetzt sein
Pferd her zu solcher Fahrt? Ich durchmaß noch einmal den Hof; ich fand
keine Möglichkeit; zerstreut, gequält stieß ich mit dem Fuß an die
brüchige Tür des schon seit Jahren unbenützten Schweinestalles. Sie
öffnete sich und klappte in den Angeln auf und zu. Wärme und Geruch wie
von Pferden kam hervor. Eine trübe Stallaterne schwankte drin an einem
Seil. Ein Mann, zusammengekauert in dem niedrigen Verschlag, zeigte sein
offenes blauäugiges Gesicht. »Soll ich anspannen?« fragte er, auf allen
Vieren hervorkriechend. Ich wußte nichts zu sagen und beugte mich nur,
um zu sehen, was es noch in dem Stalle gab. Das Dienstmädchen stand
neben mir. »Man weiß nicht, was für Dinge man im eigenen Hause vorrätig
hat,« sagte es, und wir beide lachten. »Hollah, Bruder, hollah,
Schwester!« rief der Pferdeknecht, und zwei Pferde, mächtige
flankenstarke Tiere schoben sich hintereinander, die Beine eng am Leib,
die wohlgeformten Köpfe wie Kamele senkend, nur durch die Kraft der
Wendungen ihres Rumpfes aus dem Türloch, das sie restlos ausfüllten.
Aber gleich standen sie aufrecht, hochbeinig, mit dicht ausdampfendem
Körper. »Hilf ihm,« sagte ich, und das willige Mädchen eilte, dem Knecht
das Geschirr des Wagens zu reichen. Doch kaum war es bei ihm, umfaßt es
der Knecht und schlägt sein Gesicht an ihres. Es schreit auf und
flüchtet sich zu mir; rot eingedrückt sind zwei Zahnreihen in des
Mädchens Wange. »Du Vieh,« schreie ich wütend, »willst du die
Peitsche?«, besinne mich aber gleich, daß es ein Fremder ist; daß ich
nicht weiß, woher er kommt, und daß er mir freiwillig aushilft, wo alle
andern versagen. Als wisse er von meinen Gedanken, nimmt er meine
Drohung nicht übel, sondern wendet sich nur einmal, immer mit den
Pferden beschäftigt, nach mir um. »Steigt ein,« sagt er dann, und
tatsächlich: alles ist bereit. Mit so schönem Gespann, das merke ich,
bin ich noch nie gefahren und ich steige fröhlich ein. »Kutschieren
werde aber ich, du kennst nicht den Weg,« sage ich. »Gewiß,« sagt er,
»ich fahre gar nicht mit, ich bleibe bei Rosa.« »Nein,« schreit Rosa und
läuft im richtigen Vorgefühl der Unabwendbarkeit ihres Schicksals ins
Haus; ich höre die Türkette klirren, die sie vorlegt; ich höre das
Schloß einspringen; ich sehe, wie sie überdies im Flur und weiterjagend
durch die Zimmer alle Lichter verlöscht, um sich unauffindbar zu machen.
»Du fährst mit,« sage ich zu dem Knecht, »oder ich verzichte auf die
Fahrt, so dringend sie auch ist. Es fällt mir nicht ein, dir für die
Fahrt das Mädchen als Kaufpreis hinzugeben.« »Munter!« sagt er; klatscht
in die Hände; der Wagen wird fortgerissen, wie Holz in die Strömung;
noch höre ich, wie die Tür meines Hauses unter dem Ansturm des Knechtes
birst und splittert, dann sind mir Augen und Ohren von einem zu allen
Sinnen gleichmäßig dringenden Sausen erfüllt. Aber auch das nur einen
Augenblick, denn, als öffne sich unmittelbar vor meinem Hoftor der Hof
meines Kranken, bin ich schon dort; ruhig stehen die Pferde; der
Schneefall hat aufgehört; Mondlicht ringsum; die Eltern des Kranken
eilen aus dem Haus; seine Schwester hinter ihnen; man hebt mich fast aus
dem Wagen; den verwirrten Reden entnehme ich nichts; im Krankenzimmer
ist die Luft kaum atembar; der vernachlässigte Herdofen raucht; ich
werde das Fenster aufstoßen; zuerst aber will ich den Kranken sehen.
Mager, ohne Fieber, nicht kalt, nicht warm, mit leeren Augen, ohne Hemd
hebt sich der Junge unter dem Federbett, hängt sich an meinen Hals,
flüstert mir ins Ohr: »Doktor, laß mich sterben.« Ich sehe mich um;
niemand hat es gehört; die Eltern stehen stumm vorgebeugt und erwarten
mein Urteil; die Schwester hat einen Stuhl für meine Handtasche
gebracht. Ich öffne die Tasche und suche unter meinen Instrumenten; der
Junge tastet immerfort aus dem Bett nach mir hin, um mich an seine Bitte
zu erinnern; ich fasse eine Pinzette, prüfe sie im Kerzenlicht und lege
sie wieder hin. »Ja,« denke ich lästernd, »in solchen Fällen helfen die
Götter, schicken das fehlende Pferd, fügen der Eile wegen noch ein
zweites hinzu, spenden zum Übermaß noch den Pferdeknecht –« Jetzt erst
fällt mir wieder Rosa ein; was tue ich, wie rette ich sie, wie ziehe ich
sie unter diesem Pferdeknecht hervor, zehn Meilen von ihr entfernt,
unbeherrschbare Pferde vor meinem Wagen? Diese Pferde, die jetzt die
Riemen irgendwie gelockert haben; die Fenster, ich weiß nicht wie, von
außen aufstoßen; jedes durch ein Fenster den Kopf stecken und, unbeirrt
durch den Aufschrei der Familie, den Kranken betrachten. »Ich fahre
gleich wieder zurück,« denke ich, als forderten mich die Pferde zur
Reise auf, aber ich dulde es, daß die Schwester, die mich durch die
Hitze betäubt glaubt, den Pelz mir abnimmt. Ein Glas Rum wird mir
bereitgestellt, der Alte klopft mir auf die Schulter, die Hingabe seines
Schatzes rechtfertigt diese Vertraulichkeit. Ich schüttle den Kopf; in
dem engen Denkkreis des Alten würde mir übel; nur aus diesem Grunde
lehne ich es ab zu trinken. Die Mutter steht am Bett und lockt mich hin;
ich folge und lege, während ein Pferd laut zur Zimmerdecke wiehert, den
Kopf an die Brust des Jungen, der unter meinem nassen Bart erschauert.
Es bestätigt sich, was ich weiß: der Junge ist gesund, ein wenig
schlecht durchblutet, von der sorgenden Mutter mit Kaffee durchtränkt,
aber gesund und am besten mit einem Stoß aus dem Bett zu treiben. Ich
bin kein Weltverbesserer und lasse ihn liegen. Ich bin vom Bezirk
angestellt und tue meine Pflicht bis zum Rand, bis dorthin, wo es fast
zu viel wird. Schlecht bezahlt, bin ich doch freigebig und hilfsbereit
gegenüber den Armen. Noch für Rosa muß ich sorgen, dann mag der Junge
recht haben und auch ich will sterben. Was tue ich hier in diesem
endlosen Winter! Mein Pferd ist verendet, und da ist niemand im Dorf,
der mir seines leiht. Aus dem Schweinestall muß ich mein Gespann ziehen;
wären es nicht zufällig Pferde, müßte ich mit Säuen fahren. So ist es.
Und ich nicke der Familie zu. Sie wissen nichts davon, und wenn sie es
wüßten, würden sie es nicht glauben. Rezepte schreiben ist leicht, aber
im übrigen sich mit den Leuten verständigen, ist schwer. Nun, hier wäre
also mein Besuch zu Ende, man hat mich wieder einmal unnötig bemüht,
daran bin ich gewöhnt, mit Hilfe meiner Nachtglocke martert mich der
ganze Bezirk, aber daß ich diesmal auch noch Rosa hingeben mußte, dieses
schöne Mädchen, das jahrelang, von mir kaum beachtet, in meinem Hause
lebte – dieses Opfer ist zu groß, und ich muß es mir mit
Spitzfindigkeiten aushilfsweise in meinem Kopf irgendwie zurechtlegen,
um nicht auf diese Familie loszufahren, die mir ja beim besten Willen
Rosa nicht zurückgeben kann. Als ich aber meine Handtasche schließe und
nach meinem Pelz winke, die Familie beisammensteht, der Vater
schnuppernd über dem Rumglas in seiner Hand, die Mutter, von mir
wahrscheinlich enttäuscht – ja, was erwartet denn das Volk? –
tränenvoll in die Lippen beißend und die Schwester ein schwer blutiges
Handtuch schwenkend, bin ich irgendwie bereit, unter Umständen
zuzugeben, daß der Junge doch vielleicht krank ist. Ich gehe zu ihm, er
lächelt mir entgegen, als brächte ich ihm etwa die allerstärkste Suppe
– ach, jetzt wiehern beide Pferde; der Lärm soll wohl, höhern Orts
angeordnet, die Untersuchung erleichtern – und nun finde ich: ja, der
Junge ist krank. In seiner rechten Seite, in der Hüftengegend hat sich
eine handtellergroße Wunde aufgetan. Rosa, in vielen Schattierungen,
dunkel in der Tiefe, hellwerdend zu den Rändern, zartkörnig, mit
ungleichmäßig sich aufsammelndem Blut, offen wie ein Bergwerk obertags.
So aus der Entfernung. In der Nähe zeigt sich noch eine Erschwerung.
Wer kann das ansehen ohne leise zu pfeifen? Würmer, an Stärke und Länge
meinem kleinen Finger gleich, rosig aus eigenem und außerdem
blutbespritzt, winden sich, im Innern der Wunde festgehalten, mit weißen
Köpfchen, mit vielen Beinchen ans Licht. Armer Junge, dir ist nicht zu
helfen. Ich habe deine große Wunde aufgefunden; an dieser Blume in
deiner Seite gehst du zugrunde. Die Familie ist glücklich, sie sieht
mich in Tätigkeit; die Schwester sagt’s der Mutter, die Mutter dem
Vater, der Vater einigen Gästen, die auf den Fußspitzen, mit
ausgestreckten Armen balancierend, durch den Mondschein der offenen Tür
hereinkommen. »Wirst du mich retten?« flüstert schluchzend der Junge,
ganz geblendet durch das Leben in seiner Wunde. So sind die Leute in
meiner Gegend. Immer das Unmögliche vom Arzt verlangen. Den alten
Glauben haben sie verloren; der Pfarrer sitzt zu Hause und zerzupft die
Meßgewänder, eines nach dem andern; aber der Arzt soll alles leisten
mit seiner zarten chirurgischen Hand. Nun, wie es beliebt: ich habe mich
nicht angeboten; verbraucht ihr mich zu heiligen Zwecken, lasse ich auch
das mit mir geschehen; was will ich Besseres, alter Landarzt, meines
Dienstmädchens beraubt! Und sie kommen, die Familie und die
Dorfältesten, und entkleiden mich; ein Schulchor mit dem Lehrer an der
Spitze steht vor dem Haus und singt eine äußerst einfache Melodie auf
den Text:
»Entkleidet ihn, dann wird er heilen,
Und heilt er nicht, so tötet ihn!
’Sist nur ein Arzt, ’sist nur ein Arzt.«
Dann bin ich entkleidet und sehe, die Finger im Barte, mit geneigtem
Kopf die Leute ruhig an. Ich bin durchaus gefaßt und allen überlegen und
bleibe es auch, trotzdem es mir nichts hilft, denn jetzt nehmen sie mich
beim Kopf und bei den Füßen und tragen mich ins Bett. Zur Mauer, an die
Seite der Wunde legen sie mich. Dann gehen alle aus der Stube; die Tür
wird zugemacht; der Gesang verstummt; Wolken treten vor den Mond; warm
liegt das Bettzeug um mich; schattenhaft schwanken die Pferdeköpfe in
den Fensterlöchern. »Weißt du,« höre ich, mir ins Ohr gesagt, »mein
Vertrauen zu dir ist sehr gering. Du bist ja auch nur irgendwo
abgeschüttelt, kommst nicht auf eigenen Füßen. Statt zu helfen, engst du
mir mein Sterbebett ein. Am liebsten kratzte ich dir die Augen aus.«
»Richtig,« sage ich, »es ist eine Schmach. Nun bin ich aber Arzt. Was
soll ich tun? Glaube mir, es wird auch mir nicht leicht.« »Mit dieser
Entschuldigung soll ich mich begnügen? Ach, ich muß wohl. Immer muß ich
mich begnügen. Mit einer schönen Wunde kam ich auf die Welt; das war
meine ganze Ausstattung.« »Junger Freund,« sage ich, »dein Fehler ist:
du hast keinen Überblick. Ich, der ich schon in allen Krankenstuben,
weit und breit, gewesen bin, sage dir: deine Wunde ist so übel nicht. Im
spitzen Winkel mit zwei Hieben der Hacke geschaffen. Viele bieten ihre
Seite an und hören kaum die Hacke im Forst, geschweige denn, daß sie
ihnen näher kommt.« »Ist es wirklich so oder täuschest du mich im
Fieber?« »Es ist wirklich so, nimm das Ehrenwort eines Amtsarztes mit
hinüber.« Und er nahm’s und wurde still. Aber jetzt war es Zeit, an
meine Rettung zu denken. Noch standen treu die Pferde an ihren Plätzen.
Kleider, Pelz und Tasche waren schnell zusammengerafft; mit dem
Ankleiden wollte ich mich nicht aufhalten; beeilten sich die Pferde wie
auf der Herfahrt, sprang ich ja gewissermaßen aus diesem Bett in meines.
Gehorsam zog sich ein Pferd vom Fenster zurück; ich warf den Ballen in
den Wagen; der Pelz flog zu weit, nur mit einem Ärmel hielt er sich an
einem Haken fest. Gut genug. Ich schwang mich aufs Pferd. Die Riemen
lose schleifend, ein Pferd kaum mit dem andern verbunden, der Wagen
irrend hinterher, der Pelz als letzter im Schnee. »Munter!« sagte ich,
aber munter ging’s nicht; langsam wie alte Männer zogen wir durch die
Schneewüste; lange klang hinter uns der neue, aber irrtümliche Gesang
der Kinder:
»Freuet Euch, Ihr Patienten,
Der Arzt ist Euch ins Bett gelegt!«
Niemals komme ich so nach Hause; meine blühende Praxis ist verloren; ein
Nachfolger bestiehlt mich, aber ohne Nutzen, denn er kann mich nicht
ersetzen; in meinem Hause wütet der ekle Pferdeknecht; Rosa ist sein
Opfer; ich will es nicht ausdenken. Nackt, dem Froste dieses
unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen
Pferden, treibe ich mich alter Mann umher. Mein Pelz hängt hinten am
Wagen, ich kann ihn aber nicht erreichen, und keiner aus dem beweglichen
Gesindel der Patienten rührt den Finger. Betrogen! Betrogen! Einmal dem
Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.


Auf der Galerie.

Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege
auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom
peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne
Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde
schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses
Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der
Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich
fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden
Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind –
vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch
alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, riefe das: Halt! durch die
Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt,
zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen;
der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr
entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie
seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt
begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben;
schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit
offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes
verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen
Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu
peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Saltomortale das
Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen;
schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen
küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während
sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht,
mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem
ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der Galeriebesucher
das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren
Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.


Ein altes Blatt.

Es ist, als wäre viel vernachlässigt worden in der Verteidigung unseres
Vaterlandes. Wir haben uns bisher nicht darum gekümmert und sind unserer
Arbeit nachgegangen; die Ereignisse der letzten Zeit machen uns aber
Sorgen.
Ich habe eine Schusterwerkstatt auf dem Platz vor dem kaiserlichen
Palast. Kaum öffne ich in der Morgendämmerung meinen Laden, sehe ich
schon die Eingänge aller hier einlaufenden Gassen von Bewaffneten
besetzt. Es sind aber nicht unsere Soldaten, sondern offenbar Nomaden
aus dem Norden. Auf eine mir unbegreifliche Weise sind sie bis in die
Hauptstadt gedrungen, die doch sehr weit von der Grenze entfernt ist.
Jedenfalls sind sie also da; es scheint, daß jeden Morgen mehr werden.
Ihrer Natur entsprechend lagern sie unter freiem Himmel, denn Wohnhäuser
verabscheuen sie. Sie beschäftigen sich mit dem Schärfen der Schwerter,
dem Zuspitzen der Pfeile, mit Übungen zu Pferde. Aus diesem stillen,
immer ängstlich rein gehaltenen Platz haben sie einen wahren Stall
gemacht. Wir versuchen zwar manchmal aus unseren Geschäften
hervorzulaufen und wenigstens den ärgsten Unrat wegzuschaffen, aber es
geschieht immer seltener, denn die Anstrengung ist nutzlos und bringt
uns überdies in die Gefahr, unter die wilden Pferde zu kommen oder von
den Peitschen verletzt zu werden.
Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie
nicht, ja sie haben kaum eine eigene. Unter einander verständigen sie
sich ähnlich wie Dohlen. Immer wieder hört man diesen Schrei der Dohlen.
Unsere Lebensweise, unsere Einrichtungen sind ihnen ebenso
unbegreiflich wie gleichgültig. Infolgedessen zeigen sie sich auch gegen
jede Zeichensprache ablehnend. Du magst dir die Kiefer verrenken und die
Hände aus den Gelenken winden, sie haben dich doch nicht verstanden und
werden dich nie verstehen. Oft machen sie Grimassen; dann dreht sich das
Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt aus ihrem Munde, doch wollen sie
damit weder etwas sagen noch auch erschrecken; sie tun es, weil es so
ihre Art ist. Was sie brauchen, nehmen sie. Man kann nicht sagen, daß
sie Gewalt anwenden. Vor ihrem Zugriff tritt man beiseite und überläßt
ihnen alles.
Auch von meinen Vorräten haben sie manches gute Stück genommen. Ich kann
aber darüber nicht klagen, wenn ich zum Beispiel zusehe, wie es dem
Fleischer gegenüber geht. Kaum bringt er seine Waren ein, ist ihm schon
alles entrissen und wird von den Nomaden verschlungen. Auch ihre Pferde
fressen Fleisch; oft liegt ein Reiter neben seinem Pferd und beide
nähren sich vom gleichen Fleischstück, jeder an einem Ende. Der
Fleischhauer ist ängstlich und wagt es nicht, mit den Fleischlieferungen
aufzuhören. Wir verstehen das aber, schießen Geld zusammen und
unterstützen ihn. Bekämen die Nomaden kein Fleisch, wer weiß, was ihnen
zu tun einfiele; wer weiß allerdings, was ihnen einfallen wird, selbst
wenn sie täglich Fleisch bekommen.
Letzthin dachte der Fleischer, er könne sich wenigstens die Mühe des
Schlachtens sparen, und brachte am Morgen einen lebendigen Ochsen. Das
darf er nicht mehr wiederholen. Ich lag wohl eine Stunde ganz hinten in
meiner Werkstatt platt auf dem Boden und alle meine Kleider, Decken und
Polster hatte ich über mir aufgehäuft, nur um das Gebrüll des Ochsen
nicht zu hören, den von allen Seiten die Nomaden ansprangen, um mit den
Zähnen Stücke aus seinem warmen Fleisch zu reißen. Schon lange war es
still, ehe ich mich auszugehen getraute; wie Trinker um ein Weinfaß
lagen sie müde um die Reste des Ochsen.
Gerade damals glaubte ich den Kaiser selbst in einem Fenster des
Palastes gesehen zu haben; niemals sonst kommt er in diese äußeren
Gemächer, immer nur lebt er in dem innersten Garten; diesmal aber stand
er, so schien es mir wenigstens, an einem der Fenster und blickte mit
gesenktem Kopf auf das Treiben vor seinem Schloß.
»Wie wird es werden?« fragen wir uns alle. »Wie lange werden wir diese
Last und Qual ertragen? Der kaiserliche Palast hat die Nomaden
angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu vertreiben. Das Tor
bleibt verschlossen; die Wache, früher immer festlich ein- und
ausmarschierend, hält sich hinter vergitterten Fenstern. Uns Handwerkern
und Geschäftsleuten ist die Rettung des Vaterlandes anvertraut; wir sind
aber einer solchen Aufgabe nicht gewachsen; haben uns doch auch nie
gerühmt, dessen fähig zu sein. Ein Mißverständnis ist es, und wir gehen
daran zugrunde.«


Vor dem Gesetz.

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom
Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß
er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und
fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. »Es ist möglich,«
sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.« Da das Tor zum Gesetz offensteht
wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch
das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und
sagt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes
hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste
Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der
andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr
ertragen.« Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet;
das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als
er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große
Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt
er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt
bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von
der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele
Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine
Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn
über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose
Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer
wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für
seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es
noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles
an, aber sagt dabei: »Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas
versäumt zu haben.« Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den
Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter und dieser
erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz.
Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren
rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor
sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des
Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er
auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich
wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich
dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er
jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des
Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln
sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage,
die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu,
da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der
Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied
hat sich sehr zu ungunsten des Mannes verändert. »Was willst du denn
jetzt noch wissen?« fragt der Türhüter, »du bist unersättlich.« »Alle
streben doch nach dem Gesetz,« sagt der Mann, »wieso kommt es, daß in
den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?« Der Türhüter
erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes
Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst
Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe
jetzt und schließe ihn.«


Schakale und Araber.

Wir lagerten in der Oase. Die Gefährten schliefen. Ein Araber, hoch und
weiß, kam an mir vorüber; er hatte die Kamele versorgt und ging zum
Schlafplatz.
Ich warf mich rücklings ins Gras; ich wollte schlafen; ich konnte
nicht; das Klagegeheul eines Schakals in der Ferne; ich saß wieder
aufrecht. Und was so weit gewesen war, war plötzlich nah. Ein Gewimmel
von Schakalen um mich her; in mattem Gold erglänzende, verlöschende
Augen; schlanke Leiber, wie unter einer Peitsche gesetzmäßig und flink
bewegt.
Einer kam von rückwärts, drängte sich, unter meinem Arm durch, eng an
mich, als brauche er meine Wärme, trat dann vor mich und sprach, fast
Aug in Aug mit mir:
»Ich bin der älteste Schakal, weit und breit. Ich bin glücklich, dich
noch hier begrüßen zu können. Ich hatte schon die Hoffnung fast
aufgegeben, denn wir warten unendlich lange auf dich; meine Mutter hat
gewartet und ihre Mutter und weiter alle ihre Mütter bis hinauf zur
Mutter aller Schakale. Glaube es!«
»Das wundert mich,« sagte ich und vergaß, den Holzstoß anzuzünden, der
bereit lag, um mit seinem Rauch die Schakale abzuhalten, »das wundert
mich sehr zu hören. Nur zufällig komme ich aus dem hohen Norden und bin
auf einer kurzen Reise begriffen. Was wollt Ihr denn, Schakale?«
Und wie ermutigt durch diesen vielleicht allzu freundlichen Zuspruch
zogen sie ihren Kreis enger um mich; alle atmeten kurz und fauchend.
»Wir wissen,« begann der Älteste, »daß du vom Norden kommst, darauf eben
baut sich unsere Hoffnung. Dort ist der Verstand, der hier unter den
Arabern nicht zu finden ist. Aus diesem kalten Hochmut, weißt du, ist
kein Funken Verstand zu schlagen. Sie töten Tiere, um sie zu fressen,
und Aas mißachten sie.«
»Rede nicht so laut,« sagte ich, »es schlafen Araber in der Nähe.«
»Du bist wirklich ein Fremder,« sagte der Schakal, »sonst wüßtest du,
daß noch niemals in der Weltgeschichte ein Schakal einen Araber
gefürchtet hat. Fürchten sollten wir sie? Ist es nicht Unglück genug,
daß wir unter solches Volk verstoßen sind?«
»Mag sein, mag sein,« sagte ich, »ich maße mir kein Urteil an in Dingen,
die mir so fern liegen; es scheint ein sehr alter Streit; liegt also
wohl im Blut; wird also vielleicht erst mit dem Blute enden.«
»Du bist sehr klug,« sagte der alte Schakal; und alle atmeten noch
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