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Effi Briest - 20

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  mir auch nichts, mir wird dann immer noch schwerer ums Herz.«
  »Ja, gnädige Frau, dann sollten Sie mal hineingehen. Einmal waren Sie
  ja schon drüben.«
  »O schon öfters. Aber ich habe nicht viel davon gehabt. Er predigt
  ganz gut und ist ein sehr kluger Mann, und ich wäre froh, wenn ich das
  Hundertste davon wüßte. Aber es ist doch alles bloß, wie wenn ich ein
  Buch lese; und wenn er dann so laut spricht und herumficht und seine
  schwarzen Locken schüttelt, dann bin ich aus meiner Andacht heraus.«
  »Heraus?«
  Effi lachte. »Du meinst, ich war noch gar nicht drin. Und es wird
  wohl so sein. Aber an wem liegt das? Das liegt doch nicht an mir. Er
  spricht immer soviel vom Alten Testament. Und wenn es auch ganz gut
  ist, es erbaut mich nicht. Überhaupt all das Zuhören; es ist nicht
  das Rechte. Sieh, ich müßte so viel zu tun haben, daß ich nicht
  ein noch aus wüßte. Das wäre was für mich. Da gibt es so Vereine,
  wo junge Mädchen die Wirtschaft lernen, oder Nähschulen oder
  Kindergärtnerinnen. Hast du nie davon gehört?«
  »Ja, ich habe mal davon gehört. Anniechen sollte mal in einen
  Kindergarten.«
  »Nun, siehst du, du weißt es besser als ich. Und in solchen Verein, wo
  man sich nützlich machen kann, da möchte ich eintreten. Aber daran ist
  gar nicht zu denken; die Damen nehmen mich nicht an und können es auch
  nicht. Und das ist das schrecklichste, daß einem die Welt so zu ist
  und daß es sich einem sogar verbietet, bei Gutem mit dabeizusein. Ich
  kann nicht mal armen Kindern eine Nachhilfestunde geben ...«
  »Das wäre auch nichts für Sie, gnädige Frau; die Kinder haben immer so
  fettige Stiefel an, und wenn es nasses Wetter ist'- das ist dann solch
  Dunst und Schmook, das halten die gnädige Frau gar nicht aus.«
  Effi lächelte. »Du wirst wohl recht haben, Roswitha; aber es ist
  schlimm, daß du recht hast, und ich sehe daran, daß ich noch zu viel
  von dem alten Menschen in mir habe und daß es mir noch zu gut geht.«
  Davon wollte aber Roswitha nichts wissen. »Wer so gut ist wie gnädige
  Frau, dem kann es gar nicht zu gut gehen. Und Sie müssen nur nicht
  immer so was Trauriges spielen, und mitunter denke ich mir, es wird
  alles noch wieder gut, und es wird sich schon was finden.«
  Und es fand sich auch was. Effi, trotz der Kantorstochter aus
  Polzin, deren Künstlerdünkel ihr immer noch als etwas Schreckliches
  vorschwebte, wollte Malerin werden, und wiewohl sie selber darüber
  lachte, weil sie sich bewußt war, über eine unterste Stufe des
  Dilettantismus nie hinauskommen zu können, so griff sie doch mit
  Passion danach, weil sie nun eine Beschäftigung hatte, noch dazu eine,
  die, weil still und geräuschlos, ganz nach ihrem Herzen war. Sie
  meldete sich denn auch bei einem ganz alten Malerprofessor, der in der
  märkischen Aristokratie sehr bewandert und zugleich so fromm war, daß
  ihm Effi von Anfang an ans Herz gewachsen erschien. Hier, so gingen
  wohl seine Gedanken, war eine Seele zu retten, und so kam er ihr,
  als ob sie seine Tochter gewesen wäre, mit einer ganz besonderen
  Liebenswürdigkeit entgegen. Effi war sehr glücklich darüber, und
  der Tag ihrer ersten Malstunde bezeichnete für sie einen Wendepunkt
  zum Guten Ihr armes Leben war nun nicht so arm mehr, und Roswitha
  triumphierte, daß sie recht gehabt und sich nun doch etwas gefunden
  habe.
  Das ging so Jahr und Tag und darüber hinaus. Aber daß sie nun wieder
  eine Berührung mit den Menschen hatte, wie sie's beglückte, so ließ es
  auch wieder den Wunsch in ihr entstehen, daß diese Berührungen sich
  erneuern und mehren möchten. Sehnsucht nach Hohen-Cremmen erfaßte sie
  mitunter mit einer wahren Leidenschaft, und noch leidenschaftlicher
  sehnte sie sich danach, Annie wiederzusehen. Es war doch ihr Kind, und
  wenn sie dem nachhing und sich gleichzeitig der Trippelli erinnerte,
  die mal gesagt hatte, die Welt sei so klein, und in Mittelafrika könne
  man sicher sein, plötzlich einem alten Bekannten zu begegnen, so war
  sie mit Recht verwundert, Annie noch nie getroffen zu haben. Aber auch
  das sollte sich eines Tages ändern. Sie kam aus der Malstunde, dicht
  am Zoologischen Garten, und stieg, nahe dem Halteplatz, in einen die
  lange Kurfürstenstraße passierenden Pferdebahnwagen ein. Es war sehr
  heiß, und die herabgelassenen Vorhänge, die bei dem starken Luftzuge,
  der ging, hin und her bauschten, taten ihr wohl. Sie lehnte sich in
  die dem Vorderperron zugekehrte Ecke und musterte eben mehrere in eine
  Glasscheibe eingebrannte Sofas, blau mit Quasten und Puscheln daran,
  als sie - der Wagen war gerade in einem langsamen Fahren - drei
  Schulkinder aufspringen sah, die Mappen auf dem Rücken, mit kleinen
  spitzen Hüten, zwei blond und ausgelassen, die dritte dunkel und
  ernst. Es war Annie. Effi fuhr heftig zusammen, und eine Begegnung mit
  dem Kinde zu haben, wonach sie sich doch so lange gesehnt, erfüllte
  sie jetzt mit einer wahren Todesangst. Was tun? Rasch entschlossen
  öffnete sie die Tür zu dem Vorderperron, auf dem niemand stand als
  der Kutscher, und bat diesen, sie bei der nächsten Haltestelle vorn
  absteigen zu lassen. »Is verboten, Fräulein«, sagte der Kutscher;
  sie gab ihm aber ein Geldstück und sah ihn so bittend an, daß der
  gutmutige Mensch anderen Sinnes wurde und vor sich hin sagte: »Sind
  soll es eigentlich nich; aber es wird ja woll mal gehen.« Und als der
  Wagen hielt, nahm er das Gitter aus, und Effi sprang ab.
  Noch in großer Erregung kam Effi nach Hause.
  »Denke dir, Roswitha, ich habe Annie gesehen.« Und nun erzählte sie
  von der Begegnung in dem Pferdebahnwagen. Roswitha war unzufrieden,
  daß Mutter und Tochter keine Wiedersehensszene gefeiert hatten, und
  ließ sich nur ungern überzeugen, daß das in Gegenwart so vieler
  Menschen nicht wohl angegangen sei. Dann mußte Effi erzählen, wie
  Annie ausgesehen habe, und als sie das mit mütterlichem Stolz getan,
  sagte Roswitha: »Ja, sie ist so halb und halb. Das Hübsche und, wenn
  ich es sagen darf, das Sonderbare, das hat sie von der Mama; aber das
  Ernste, das ist ganz der Papa. Und wenn ich mir so alles überlege, ist
  die doch wohl mehr wie der gnädige Herr.«
  »Gott sei Dank!« sagte Effi.
  »Na, gnäd'ge Frau, das ist nu doch auch noch die Frage. Und da wird ja
  wohl mancher sein, der mehr für die Mama ist.« »Glaubst du, Roswitha?
  Ich glaube es nicht.«
  »Na, na, ich lasse mir nichts vormachen, und ich glaube, die gnädige
  Frau weiß auch ganz gut, wie's eigentlich ist und was die Männer am
  liebsten haben.«
  »Ach, sprich nicht davon, Roswitha.«
  Damit brach das Gespräch ab und wurde auch nicht wieder aufgenommen.
  Aber Effi, wenn sie's auch vermied, grade über Annie mit Roswitha zu
  sprechen, konnte die Begegnung in ihrem Herzen doch nicht verwinden
  und litt unter der Vorstellung, vor ihrem eigenen Kind geflohen zu
  sein. Es quälte sie bis zur Beschämung, und das Verlangen nach einer
  Begegnung mit Annie steigerte sich bis zum Krankhaften. An Innstetten
  schreiben und ihn darum bitten, das war nicht möglich. Ihrer Schuld
  war sie sich wohl bewußt, sie nährte das Gefühl davon mit einer
  halb leidenschaftlichen Geflissentlichkeit; aber inmitten ihres
  Schuldbewußtseins fühlte sie sich andererseits auch von einer gewissen
  Auflehnung gegen Innstetten erfüllt. Sie sagte sich, er hatte recht
  und noch einmal und noch einmal, und zuletzt hatte er doch unrecht.
  Alles Geschehene lag so weit zurück, ein neues Leben hatte begonnen;
  er hätte es können verbluten lassen, statt dessen verblutete der arme
  Crampas.
  Nein, an Innstetten schreiben, das ging nicht; aber Annie wollte sie
  sehen und sprechen und an ihr Herz drücken, und nachdem sie's tagelang
  überlegt hatte, stand ihr fest, wie's am besten zu machen sei.
  Gleich am andern Vormittag kleidete sie sich sorgfältig in ein
  dezentes Schwarz und ging auf die Linden zu, sich hier bei der
  Ministerin melden zu lassen. Sie schickte ihre Karte herein, auf der
  nur stand: Effi von Innstetten geb. von Briest. Alles andere war
  fortgelassen, auch die Baronin. »Exzellenz lassen bitten«, und Effi
  folgte dem Diener bis in ein Vorzimmer, wo sie sich niederließ und
  trotz der Erregung, in der sie sich befand, den Bilderschmuck an den
  Wänden musterte. Da war zunächst Guido Renis Aurora, gegenüber aber
  hingen englische Kupferstiche, Stiche nach Benjamin West, in der
  bekannten Aquatinta-Manier von viel Licht und Schatten. Eines der
  Bilder war König Lear im Unwetter auf der Heide.
  Effi hatte ihre Musterung kaum beendet, als die Tür des angrenzenden
  Zimmers sich öffnete und eine große, schlanke Dame von einem sofort
  für sie einnehmenden Ausdruck auf die Bittstellerin zutrat und ihr die
  Hand reichte. »Meine liebe, gnädigste Frau«, sagte sie, »welche Freude
  für mich, Sie wiederzusehen ...«
  Und während sie das sagte, schritt sie auf das Sofa zu und zog Effi,
  während sie selber Platz nahm, zu sich nieder.
  Effi war bewegt durch die sich in allem aussprechende Herzensgüte.
  Keine Spur von Überheblichkeit oder Vorwurf, nur menschlich schöne
  Teilnahme. »Womit kann ich Ihnen dienen?« nahm die Ministerin noch
  einmal das Wort.
  Um Effis Mund zuckte es. Endlich sagte sie. »Was mich herführt, ist
  eine Bitte, deren Erfüllung Exzellenz vielleicht möglich machen. Ich
  habe eine zehnjährige Tochter, die ich seit drei Jahren nicht gesehen
  habe und gern wiedersehen möchte.«
  Die Ministerin nahm Effis Hand und sah sie freundlich an. »Wenn ich
  sage, in drei Jahren nicht gesehen, so ist das nicht ganz richtig. Vor
  drei Tagen habe ich sie wiedergesehen.« Und nun schilderte Effi mit
  großer Lebendigkeit die Begegnung, die sie mit Annie gehabt hatte.
  »Vor meinem eigenen Kinde auf der Flucht. Ich weiß wohl, man liegt,
  wie man sich bettet, und ich will nichts ändern in meinem Leben. Wie
  es ist, so ist es recht; ich habe es nicht anders gewollt. Aber das
  mit dem Kinde, das ist doch zu hart, und so habe ich denn den Wunsch,
  es dann und wann sehen zu dürfen, nicht heimlich und verstohlen,
  sondern mit Wissen und Zustimmung aller Beteiligten.«
  »Unter Wissen und Zustimmung aller Beteiligten«, wiederholte die
  Ministerin Effis Worte. »Das heißt also unter Zustimmung Ihres Herrn
  Gemahls. Ich sehe, daß seine Erziehung dahin geht, das Kind von der
  Mutter fernzuhalten, ein Verfahren, über das ich mir kein Urteil
  erlaube. Vielleicht, daß er recht hat; verzeihen Sie mir diese
  Bemerkung, gnädige Frau.«
  Effi nickte.
  »Sie finden sich selbst in der Haltung Ihres Herrn Gemahls zurecht
  und verlangen nur, daß einem natürlichen Gefühl, wohl dem schönsten
  unserer Gefühle (wenigstens wir Frauen werden uns darin finden), sein
  Recht werde. Treff ich es darin?«
  »In allem.«
  »Und so soll ich denn die Erlaubnis zu gelegentlichen Begegnungen
  erwirken, in Ihrem Hause, wo Sie versuchen können, sich das Herz Ihres
  Kindes zurückzuerobern.«
  Effi drückte noch einmal ihre Zustimmung aus, während die Ministerin
  fortfuhr: »Ich werde also tun, meine gnädigste Frau, was Ich tun kann.
  Aber wir werden es nicht eben leicht haben. Ihr Herr Gemahl, verzeihen
  Sie, daß ich ihn nach wie vor so nenne, ist ein Mann der nicht nach
  Stimmungen und Laune, sondern nach Grundsätzen handelt und diese
  fallenzulassen oder auch nur momentan aufzugeben, wird ihn
  hart ankommen. Läg' es nicht so, so wäre seine Handlungs- und
  Erziehungsweise längst eine andere gewesen. Das, was hart für Ihr Herz
  ist, hält er für richtig.«
  »So meinen Exzellenz vielleicht, es wäre besser, meine Bitte
  zurückzunehmen?«
  »Doch nicht. Ich wollte nur das Tun Ihres Herrn Gemahls erklären, um
  nicht zu sagen rechtfertigen, und wollte zugleich die Schwierigkeiten
  andeuten, auf die wir aller Wahrscheinlichkeit nach stoßen werden.
  Aber ich denke, wir zwingen es trotzdem. Denn wir Frauen, wenn wir's
  klug einleiten und den Bogen nicht überspannen, wissen mancherlei
  durchzusetzen. Zudem gehört Ihr Herr Gemahl zu meinen besonderen
  Verehrern, und er wird mir eine Bitte, die ich an ihn richte, nicht
  wohl abschlagen. Wir haben morgen einen kleinen Zirkel, auf dem ich
  ihn sehe, und übermorgen früh haben Sie ein paar Zeilen von mir, die
  Ihnen sagen werden, ob ich's klug, das heißt glücklich eingeleitet
  oder nicht. Ich denke, wir siegen in der Sache, und Sie werden Ihr
  Kind wiedersehen und sich seiner freuen. Es soll ein sehr schönes
  Mädchen sein. Nicht zu verwundern.«
  
  Dreiunddreißigstes Kapitel
  Am zweitfolgenden Tage trafen, wie versprochen, einige Zeilen ein, und
  Effi las: »Es freut mich, liebe gnädige Frau, Ihnen gute Nachricht
  geben zu können. Alles ging nach Wunsch; Ihr Herr Gemahl ist zu
  sehr Mann von Welt, um einer Dame eine von ihr vorgetragene Bitte
  abschlagen zu können; zugleich aber - auch das darf ich Ihnen nicht
  verschweigen -, ich sah deutlich, daß sein 'Ja' nicht dem entsprach,
  was er für klug und recht hält. Aber kritteln wir nicht, wo wir uns
  freuen sollen. Ihre Annie, so haben wir es verabredet, wird über
  Mittag kommen, und ein guter Stern stehe über Ihrem Wiedersehen.«
  Es war mit der zweiten Post, daß Effi diese Zeilen empfing, und bis zu
  Annies Erscheinen waren mutmaßlich keine zwei Stunden mehr. Eine kurze
  Zeit, aber immer noch zu lang, und Effi schritt in Unruhe durch beide
  Zimmer und dann wieder in die Küche, wo sie mit Roswitha von allem
  möglichen sprach: von dem Efeu drüben an der Christuskirche, nächstes
  Jahr würden die Fenster wohl ganz zugewachsen sein, von dem Portier,
  der den Gashahn wieder so schlecht zugeschraubt habe (sie würden doch
  noch nächstens in die Luft fliegen), und daß sie das Petroleum doch
  lieber wieder aus der großen Lampenhandlung Unter den Linden als aus
  der Anhaltstraße holen solle - von allem möglichen sprach sie, nur von
  Annie nicht, weil sie die Furcht nicht aufkommen lassen wollte, die
  trotz der Zeilen der Ministerin, oder vielleicht auch um dieser Zeilen
  willen, in ihr lebte.
  Nun war Mittag. Endlich wurde geklingelt, schüchtern, und Roswitha
  ging, um durch das Guckloch zu sehen. Richtig, es war Annie. Roswitha
  gab dem Kinde einen Kuß, sprach aber sonst kein Wort, und ganz leise,
  wie wenn ein Kranker im Hause wäre, führte sie das Kind vom Korridor
  her erst in die Hinterstube und dann bis an die nach vorn führende
  Tür.
  »Da geh hinein, Annie.« Und unter diesen Worten, sie wollte nicht
  stören, ließ sie das Kind allein und ging wieder auf die Küche zu.
  Effi stand am andern Ende des Zimmers, den Rücken gegen den
  Spiegelpfeiler, als das Kind eintrat. »Annie!« Aber Annie blieb an
  der nur angelehnten Tür stehen, halb verlegen, aber halb auch mit
  Vorbedacht, und so eilte denn Effi auf das Kind zu, hob es in die Höhe
  und küßte es.
  »Annie, mein süßes Kind, wie freue ich mich. Komm, erzähle mir«,
  und dabei nahm sie Annie bei der Hand und ging auf das Sofa zu, um
  sich da zu setzen. Annie stand aufrecht und griff, während sie die
  Mutter immer noch scheu ansah, mit der Linken nach dem Zipfel der
  herabhängenden Tischdecke. »Weißt du wohl, Annie, daß ich dich einmal
  gesehen habe?«
  »Ja, mir war es auch so.«
  »Und nun erzähle mir recht viel. Wie groß du geworden bist! Und das
  ist die Narbe da; Roswitha hat mir davon erzählt. Du warst immer so
  wild und ausgelassen beim Spielen. Das hast du von deiner Mama, die
  war auch so. Und in der Schule? Ich denke mir, du bist immer die
  Erste, du siehst mir so aus, als müßtest du eine Musterschülerin
  sein und immer die besten Zensuren nach Hause bringen. Ich habe auch
  gehört, daß dich das Fräulein von Wedelstädt so gelobt haben soll.
  Das ist recht; ich war auch so ehrgeizig, aber ich hatte nicht solche
  gute Schule. Mythologie war immer mein Bestes. Worin bist du denn am
  besten?«
  »Ich weiß es nicht.«
  »Oh, du wirst es schon wissen. Das weiß man. Worin hast du denn die
  beste Zensur?«
  »In der Religion.«
  »Nun, siehst du, da weiß ich es doch. Ja, das ist sehr schön; ich war
  nicht so gut darin, aber es wird wohl auch an dem Unterricht gelegen
  haben. Wir hatten bloß einen Kandidaten.«
  »Wir hatten auch einen Kandidaten.« »Und der ist fort?«
  Annie nickte.
  »Warum ist er fort?«
  »Ich weiß es nicht. Wir haben nun wieder den Prediger.« »Den ihr alle
  sehr liebt.«
  »Ja; zwei aus der ersten Klasse wollen auch übertreten.« »Ah, ich
  verstehe; das ist schön. Und was macht Johanna?« »Johanna hat mich bis
  vor das Haus begleitet ...«
  »Und warum hast du sie nicht mit heraufgebracht?«
  »Sie sagte, sie wolle lieber unten bleiben und an der Kirche drüben
  warten.«
  »Und da sollst du sie wohl abholen?« »Ja.«
  »Nun, sie wird da hoffentlich nicht ungeduldig werden. Es ist ein
  kleiner Vorgarten da, und die Fenster sind schon halb von Efeu
  überwachsen, als ob es eine alte Kirche wäre.«
  »Ich möchte sie aber doch nicht gerne warten lassen ...« »Ach, ich
  sehe, du bist sehr rücksichtsvoll, und darüber werde ich mich wohl
  freuen müssen. Man muß es nur richtig einteilen ... Und nun sage mir
  noch, was macht Rollo?«
  »Rollo ist sehr gut. Aber Papa sagt, er würde so faul; er liegt immer
  in der Sonne.«
  »Das glaub ich. So war er schon, als du noch ganz klein warst ...
  Und nun sage mir, Annie - denn heute haben wir uns ja bloß so mal
  wiedergesehen -, wirst du mich öfter besuchen?«
  »O gewiß, wenn ich darf.«
  »Wir können dann in dem Prinz Albrechtschen Garten spazierengehen.«
  »O gewiß, wenn ich darf.«
  »Oder wir gehen zu Schilling und essen Eis, Ananas- oder Vanilleeis,
  das aß ich immer am liebsten.«
  »O gewiß, wenn ich darf.«
  Und bei diesem dritten »wenn ich darf« war das Maß voll; Effi sprang
  auf, und ein Blick, in dem es wie Empörung aufflammte, traf das Kind.
  »Ich glaube, es ist die höchste Zeit, Annie; Johanna wird sonst
  ungeduldig.« Und sie zog die Klingel. Roswitha, die schon im
  Nebenzimmer war, trat gleich ein. »Roswitha, gib Annie das Geleit bis
  drüben zur Kirche. Johanna wartet da. Hoffentlich hat sie sich nicht
  erkältet. Es sollte mir leid tun. Grüße Johanna.«
  Und nun gingen beide.
  Kaum aber, daß Roswitha draußen die Tür ins Schloß gezogen hatte, so
  riß Effi, weil sie zu ersticken drohte, ihr Kleid auf und verfiel in
  ein krampfhaftes Lachen. »So also sieht ein Wiedersehen aus«, und
  dabei stürzte sie nach vorn, öffnete die Fensterflügel und suchte
  nach etwas, das ihr beistehe. Und sie fand auch was in der Not ihres
  Herzens. Da neben dem Fenster war ein Bücherbrett, ein paar Bände
  von Schiller und Körner darauf, und auf den Gedichtbüchern, die alle
  gleiche Höhe hatten, lag eine Bibel und ein Gesangbuch. Sie griff
  danach, weil sie was haben mußte, vor dem sie knien und beten konnte,
  und legte Bibel und Gesangbuch auf den Tischrand, gerade da, wo Annie
  gestanden hatte, und mit einem heftigen Ruck warf sie sich davor
  nieder und sprach halblaut vor sich hin: »O du Gott im Himmel, vergib
  mir, was ich getan; ich war ein Kind ... Aber nein, nein, ich war kein
  Kind, ich war alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich hab es auch
  gewußt, und ich will meine Schuld nicht kleiner machen, ... aber das
  ist zuviel. Denn das hier, mit dem Kinde, das bist nicht du, Gott, der
  mich strafen will, das ist er, bloß er! Ich habe geglaubt, daß er ein
  edles Herz habe, und habe mich immer klein neben ihm gefühlt; aber
  jetzt weiß ich, daß er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist,
  ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. Das hat er dem
  Kinde beigebracht, ein Schulmeister war er immer, Crampas hat ihn so
  genannt, spöttisch damals, aber er hat recht gehabt. '0 gewiß, wenn
  ich darf.' Du brauchst nicht zu dürfen; ich will euch nicht mehr, ich
  hasse euch, auch mein eigen Kind. Was zuviel ist, ist zuviel. Ein
  Streber war er, weiter nichts. - Ehre, Ehre, Ehre ... und dann hat er
  den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich
  vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und
  nun Blut und Mord. Und ich schuld. Und nun schickt er mir das Kind,
  weil er einer Ministerin nichts abschlagen kann, und ehe er das Kind
  schickt, richtet er's ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phrase
  bei 'wenn ich darf'. Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch
  mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch. Ich muß leben, aber
  ewig wird es ja wohl nicht dauern.«
  Als Roswitha wiederkam, lag Effi am Boden, das Gesicht abgewandt, wie
  leblos.
  
  Vierunddreißigstes Kapitel
  Rummschüttel, als er gerufen wurde, fand Effis Zustand nicht
  unbedenklich. Das Hektische, das er seit Jahr und Tag an ihr
  beobachtete, trat ihm ausgesprochener als früher entgegen, und was
  schlimmer war, auch die ersten Zeichen eines Nervenleidens waren da.
  Seine ruhig freundliche Weise aber, der er einen Beisatz von Laune zu
  geben wußte, tat Effi wohl, und sie war ruhig, solange Rummschüttel um
  sie war. Als er schließlich ging, begleitete Roswitha den alten Herrn
  bis in den Vorflur und sagte: »Gott, Herr Geheimrat, mir ist so bange;
  wenn es nu mal wiederkommt, und es kann doch; Gott - da hab' ich
  ja keine ruhige Stunde mehr. Es war aber doch auch zuviel, das mit
  dem Kind. Die arme gnädige Frau. Und noch so jung, wo manche erst
  anfangen.«
  »Lassen Sie nur, Roswitha. Kann noch alles wieder werden. Aber sie muß
  fort. Wir wollen schon sehen. Andere Luft, andere Menschen.«
  Den zweiten Tag danach traf ein Brief in Hohen-Cremmen ein, der
  lautete: »Gnädigste Frau! Meine alten freundschaftlichen Beziehungen
  zu den Häusern Briest und Belling und nicht zum wenigsten die
  herzliche Liebe, die ich zu Ihrer Frau Tochter hege, werden diese
  Zeilen rechtfertigen. Es geht so nicht weiter. Ihre Frau Tochter, wenn
  nicht etwas geschieht, das sie der Einsamkeit und dem Schmerzlichen
  ihres nun seit Jahren geführten Lebens entreißt, wird schnell
  hinsiechen. Eine Disposition zu Phtisis war immer da, weshalb ich
  schon vorjahren Ems verordnete; zu diesem alten Übel hat sich nun ein
  neues gesellt: Ihre Nerven zehren sich auf. Dem Einhalt zu tun, ist
  ein Luftwechsel nötig. Aber wohin? Es würde nicht schwer sein, in
  den schlesischen Bädern eine Auswahl zu treffen, Salzbrunn gut, und
  Reinerz, wegen der Nervenkomplikation, noch besser. Aber es darf nur
  Hohen-Cremmen sein. Denn, meine gnädigste Frau, was Ihrer Frau Tochter
  Genesung bringen kann, ist nicht Luft allein; sie siecht hin, weil sie
  nichts hat als Roswitha. Dienertreue ist schön, aber Elternliebe ist
  besser. Verzeihen Sie einem alten Manne dies Sicheinmischen in Dinge,
  die jenseits seines ärztlichen Berufes liegen. Und doch auch wieder
  nicht, denn es ist schließlich auch der Arzt, der hier spricht und
  seiner Pflicht nach, verzeihen Sie dies Wort, Forderungen stellt ...
  Ich habe so viel vom Leben gesehen ... aber nichts mehr in diesem
  Sinne. Mit der Bitte, mich Ihrem Herrn Gemahl empfehlen zu wollen, in
  vorzüglicher Ergebenheit Doktor Rummschüttel.« Frau von Briest hatte
  den Brief ihrem Manne vorgelesen; beide saßen auf dem schattigen
  Steinfliesengang, den Gartensaal im Rücken, das Rondell mit der
  Sonnenuhr vor sich. Der um die Fenster sich rankende wilde Wein
  bewegte sich leise in dem Luftzug, der ging, und über dem Wasser
  standen ein paar Libellen im hellen Sonnenschein.
  Briest schwieg und trommelte mit dem Finger auf dem Teebrett. »Bitte,
  trommle nicht; sprich lieber.«
  »Ach, Luise, was soll ich sagen. Daß ich trommle, sagt gerade genug.
  Du weißt seit Jahr und Tag, wie ich darüber denke. Damals, als
  Innstettens Brief kam, ein Blitz aus heiterem Himmel, damals war ich
  deiner Meinung. Aber das ist nun schon wieder eine halbe Ewigkeit her;
  soll ich hier bis an mein Lebensende den Großinquisitor spielen? Ich
  kann dir sagen, ich hab es seit langem satt ...«
  »Mache mir keine Vorwürfe, Briest; ich liebe sie so wie du, vielleicht
  noch mehr, jeder hat seine Art. Aber man lebt doch nicht bloß in der
  Welt, um schwach und zärtlich zu sein und alles mit Nachsicht zu
  behandeln, was gegen Gesetz und Gebot ist und was die Menschen
  verurteilen und, vorläufig wenigstens, auch noch - mit Recht
  verurteilen.«
  »Ach was. Eins geht vor.«
  »Natürlich, eins geht vor; aber was ist das eine?«
  »Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Und wenn man gar bloß eines
  hat ...«
  »Dann ist es vorbei mit Katechismus und Moral und mit dem Anspruch der
  'Gesellschaft'.«
  »Ach, Luise, komme mir mit Katechismus, soviel du willst; aber komme
  mir nicht mit 'Gesellschaft'.«
  »Es ist sehr schwer, sich ohne Gesellschaft zu behelfen.« »Ohne Kind
  auch. Und dann glaube mir, Luise, die 'Gesellschaft', wenn sie nur
  will, kann auch ein Auge zudrücken. Und ich stehe so zu der Sache:
  Kommen die Rathenower, so ist es gut, und kommen sie nicht, so ist es
  auch gut. Ich werde ganz einfach telegrafieren: 'Effi komm.' Bist du
  einverstanden?« Sie stand auf und gab ihm einen Kuß auf die Stirn.
  »Natürlich bin ich's. Du solltest mir nur keinen Vorwurf machen. Ein
  leichter Schritt ist es nicht. Und unser Leben wird von Stund an ein
  anderes.«
  »Ich kann's aushalten. Der Raps steht gut, und im Herbst kann ich
  einen Hasen hetzen. Und der Rotwein schmeckt mir noch. Und wenn ich
  das Kind erst wieder im Hause habe, dann schmeckt er mir noch besser
  ... Und nun will ich das Telegramm schicken.«
  Effi war nun schon über ein halbes Jahr in Hohen-Cremmen; sie bewohnte
  die beiden Zimmer im ersten Stock, die sie schon früher, wenn sie
  zu Besuch da war, bewohnt hatte; das größere war für sie persönlich
  hergerichtet, nebenan schlief Roswitha. Was Rummschüttel von diesem
  Aufenthalt und all dem andern Guten erwartet hatte, das hatte sich
  auch erfüllt, soweit sich's erfüllen konnte. Das Hüsteln ließ nach,
  der herbe Zug, der das so gütige Gesicht um ein gut Teil seines
  Liebreizes gebracht hatte, schwand wieder hin, und es kamen Tage, wo
  sie wieder lachen konnte. Von Kessin und allem, was da zurücklag,
  wurde wenig gesprochen, mit alleiniger Ausnahme von Frau von Padden
  und natürlich von Gieshübler, für den der alte Briest eine lebhafte
  Vorliebe hatte. »Dieser Alonzo, dieser Preciosaspanier, der einen
  Mirambo beherbergt und eine Trippelli großzieht - ja, das muß ein
  Genie sein, das laß ich mir nicht ausreden.« Und dann mußte sich Effi
  bequemen, ihm den ganzen Gieshübler, mit dem Hut in der Hand und
  seinen endlosen Artigkeitsverbeugungen, vorzuspielen, was sie, bei dem
  ihr eigenen Nachahmungstalent, sehr gut konnte, trotzdem aber ungern
  tat, weil sie's allemal als ein Unrecht gegen den guten und lieben
  Menschen empfand. - Von Innstetten und Annie war nie die Rede, wiewohl
  feststand, daß Annie Erbtochter sei und Hohen-Cremmen ihr zufallen
  würde. Ja, Effi lebte wieder auf, und die Mama, die nach Frauenart
  nicht ganz abgeneigt war, die ganze Sache, so schmerzlich sie blieb,
  als einen interessanten Fall anzusehen, wetteiferte mit ihrem Manne in
  Liebes- und Aufmerksamkeitsbezeugungen.
  »Solchen Winter haben wir lange nicht gehabt«, sagte Briest. Und dann
  erhob sich Effi von ihrem Platz und streichelte ihm das spärliche
  Haar aus der Stirn. Aber so schön das alles war, auf Effis Gesundheit
  hin angesehen, war es doch alles nur Schein, in Wahrheit ging die
  Krankheit weiter und zehrte still das Leben auf. Wenn Effi - die
  wieder, wie damals an ihrem Verlobungstag mit Innstetten, ein blau
  und weiß gestreiftes Kittelkleid mit einem losen Gürtel trug - rasch
  und elastisch auf die Eltern zutrat, um ihnen einen guten Morgen zu
  bieten, so sahen sich diese freudig verwundert an, freudig verwundert,
  aber doch auch wehmütig, weil ihnen nicht entgehen konnte, daß es
  nicht die helle Jugend, sondern eine Verklärtheit war, was der
  schlanken Erscheinung und den leuchtenden Augen diesen eigentümlichen
  Ausdruck gab. Alle, die schärfer zusahen, sahen dies, nur Effi selbst
  sah es nicht und lebte ganz dem Glücksgefühle, wieder an dieser für
  sie so freundlich friedreichen Stelle zu sein, in Versöhnung mit
  denen, die sie immer geliebt hatte und von denen sie immer geliebt
  worden war, auch in den Jahren ihres Elends und ihrer Verbannung.
  Sie beschäftigte sich mit allerlei Wirtschaftlichem und sorgte für
  Ausschmückung und kleine Verbesserungen im Haushalt. Ihr Sinn für das
  Schöne ließ sie darin immer das Richtige treffen. Lesen aber und vor
  allem die Beschäftigung mit den Künsten hatte sie ganz aufgegeben.
  »Ich habe davon so viel gehabt, daß ich froh bin, die Hände in den
  Schoß legen zu können.« Es erinnerte sie auch wohl zu sehr an ihre
  
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