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Effi Briest - 19
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kaum tausend Schritte zusammengedrängt, einem Pichelsberg, einem
Pichelsdorf und einem Pichelswerder begegnen. Dreimal Pichel ist
zuviel. Sie können die ganze Welt absuchen, das finden Sie nicht
wieder.«
Effi nickte.
»Und das alles«, fuhr die Zwicker fort, »geschieht am grünen Holz der
Havelseite. Das alles liegt nach Westen zu, da haben Sie Kultur und
höhere Gesittung. Aber nun gehen Sie, meine Gnädigste, nach der
anderen Seite hin, die Spree hinauf. Ich spreche nicht von Treptow
und Stralau, das sind Bagatellen, Harmlosigkeiten, aber wenn Sie die
Spezialkarte zur Hand nehmen wollen, da begegnen Sie neben mindestens
sonderbaren Namen wie Kiekebusch, wie Wuhlheide - Sie hätten hören
sollen, wie Zwicker das Wort aussprach - Namen von geradezu brutalem
Charakter, mit denen ich Ihr Ohr nicht verletzen will. Aber natürlich
sind das gerade die Plätze, die bevorzugt werden. Ich hasse diese
Landpartien, die sich das Volksgemüt als eine Kremserpartie mit 'Ich
bin ein Preuße' vorstellt, in Wahrheit aber schlummern hier die Keime
einer sozialen Revolution. Wenn ich sage 'soziale Revolution', so
meine ich natürlich moralische Revolution, alles andere ist bereits
wieder überholt, und schon Zwicker sagte mir noch in seinen letzten
Tagen: 'Glaube mir, Sophie, Saturn frißt seine Kinder.' Und Zwicker,
welche Mängel und Gebrechen er haben mochte, das bin ich ihm schuldig,
er war ein philosophischer Kopf und hatte ein natürliches Gefühl
für historische Entwicklung ... Aber ich sehe, meine liebe Frau von
Innstetten, so artig sie sonst ist, hört nur noch mit halbem Ohr zu;
natürlich, der Postbote hat sich drüben blicken lassen, und da fliegt
denn das Herz hinüber und nimmt die Liebesworte vorweg aus dem Brief
heraus ... Nun, Böselager, was bringen Sie?«
Der Angeredete war mittlerweile bis an den Tisch herangetreten und
packte aus: mehrere Zeitungen, zwei Friseuranzeigen und zuletzt auch
einen großen eingeschriebenen Brief an Frau Baronin von Innstetten,
geb. von Briest.
Die Empfängerin unterschrieb, und nun ging der Postbote wieder.
Die Zwicker aber überflog die Friseuranzeigen und lachte über die
Preisermäßigung von Shampooing.
Effi hörte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen Brief
zwischen den Fingern und hatte eine ihr unerklärliche Scheu, ihn zu
öffnen. Eingeschrieben und mit zwei großen Siegeln und ein dickes
Kuvert. Was bedeutete das? Poststempel: »Hohen-Cremmen«, und die
Adresse von der Handschrift der Mutter. Von Innstetten, es war der
fünfte Tag, keine Zeile.
Sie nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die
Längsseite des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer eine neue
Überraschung. Der Briefbogen, ja, das waren eng beschriebene Zeilen
von der Mama, darin eingelegt aber waren Geldscheine mit einem breiten
Papierstreifen drumherum, auf dem mit Rotstift, und zwar von des
Vaters Hand, der Betrag der eingelegten Summe verzeichnet war. Sie
schob das Konvolut zurück und begann zu lesen, während sie sich in
den Schaukelstuhl zurücklehnte. Aber sie kam nicht weit, die Zeilen
entfielen ihr, und aus ihrem Gesicht war alles Blut fort. Dann
bückte sie sich und nahm den Brief wieder auf. »Was ist Ihnen, liebe
Freundin? Schlechte Nachrichten?« Effi nickte, gab aber weiter keine
Antwort und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als sie
getrunken, sagte sie: »Es wird vorübergehen, liebe Geheimrätin, aber
ich möchte mich doch einen Augenblick zurückziehen ... Wenn Sie mir
Afra schicken könnten.«
Und nun erhob sie sich und trat in den Salon zurück, wo sie sichtlich
froh war, einen Halt gewonnen und sich an dem Palisanderflügel
entlangfühlen zu können. So kam sie bis an ihr nach rechts hin
gelegenes Zimmer, und als sie hier, tappend und suchend, die Tür
geöffnet und das Bett an der Wand gegenüber erreicht hatte, brach sie
ohnmächtig zusammen.
Einunddreißgstes Kapitel
Minuten vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie sich
auf einen am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille Straße
hinaus. Wenn da doch Lärm und Streit gewesen wäre; aber nur der
Sonnenschein lag auf dem chaussierten Wege und dazwischen die
Schatten, die das Gitter und die Bäume warfen. Das Gefühl des
Alleinseins in der Welt überkam sie mit seiner ganzen Schwere. Vor
einer Stunde noch eine glückliche Frau, Liebling aller, die sie
kannten, und nun ausgestoßen. Sie hatte nur erst den Anfang des
Briefes gelesen, aber genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben.
Wohin?
Sie hatte keine Antwort darauf, und doch war sie voll tiefer
Sehnsucht, aus dem herauszukommen, was sie hier umgab, also fort von
dieser Geheimrätin, der das alles bloß ein »interessanter Fall« war
und deren Teilnahme, wenn etwas davon existierte, sicher an das Maß
ihrer Neugier nicht heranreichte.
»Wohin?«
Auf dem Tisch vor ihr lag der Brief; aber ihr fehlte der Mut,
weiterzulesen. Endlich sagte sie: »Wovor bange ich mich noch? Was kann
noch gesagt werden, das ich mir nicht schon selber sagte? Der, um den
all dies kam, ist tot, eine Rückkehr in mein Haus gibt es nicht, in
ein paar Wochen wird die Scheidung ausgesprochen sein, und das Kind
wird man dem Vater lassen. Natürlich. Ich bin schuldig, und eine
Schuldige kann ihr Kind nicht erziehen. Und wovon auch? Mich selbst
werde ich wohl durchbringen. Ich will sehen, was die Mama darüber
schreibt, wie sie sich mein Leben denkt.«
Und unter diesen Worten nahm sie den Brief wieder, um auch den Schluß
zu lesen.
»... Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich auf
Dich selbst stellen müssen und darfst dabei, soweit äußere Mittel
mitsprechen, unserer Unterstützung sicher sein. Du wirst am besten in
Berlin leben (in einer großen Stadt vertut sich dergleichen am besten)
und wirst da zu den vielen gehören, die sich um freie Luft und lichte
Sonne gebracht haben. Du wirst einsam leben, und wenn Du das nicht
willst, wahrscheinlich aus Deiner Sphäre herabsteigen müssen. Die
Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein. Und was das
Traurigste für uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir Dich zu
kennen vermeinen) - auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen
sein, wir können Dir keinen stillen Platz in Hohen-Cremmen anbieten,
keine Zuflucht in unserem Hause, denn es hieße das, dies Haus
von aller Welt abschließen, und das zu tun, sind wir entschieden
nicht geneigt. Nicht weil wir zu sehr an der Welt hingen und ein
Abschiednehmen von dem, was sich 'Gesellschaft' nennt, uns als etwas
unbedingt Unerträgliches erschiene; nein, nicht deshalb, sondern
einfach, weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das
Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres
einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen ...«
Effi konnte nicht weiterlesen; ihre Augen füllten sich mit Tränen, und
nachdem sie vergeblich dagegen angekämpft hatte, brach sie zuletzt
in ein heftiges Schluchzen und Weinen aus, darin sich ihr Herz
erleichterte.
Nach einer halben Stunde klopfte es, und auf Effis »Herein« erschien
die Geheimrätin.
»Darf ich eintreten?«
»Gewiß, liebe Geheimrätin«, sagte Effi, die jetzt, leicht zugedeckt
und die Hände gefaltet, auf dem Sofa lag. »Ich bin erschöpft und habe
mich hier eingerichtet, so gut es ging. Darf ich Sie bitten, sich
einen Stuhl zu nehmen.«
Die Geheimrätin setzte sich so, daß der Tisch, mit einer Blumenschale
darauf, zwischen ihr und Effi war. Effi zeigte keine Spur von
Verlegenheit und änderte nichts in ihrer Haltung, nicht einmal die
gefalteten Hände. Mit einem Male war es ihr vollkommen gleichgültig,
was die Frau dachte; nur fort wollte sie.
»Sie haben eine traurige Nachricht empfangen, liebe gnädigste
Frau ...«
»Mehr als traurig«, sagte Effi. »Jedenfalls traurig genug, um unserem
Beisammensein ein rasches Ende zu machen. Ich muß noch heute fort.«
»Ich möchte nicht zudringlich erscheinen, aber ist es etwas mit
Annie?«
»Nein, nicht mit Annie. Die Nachrichten kamen überhaupt nicht aus
Berlin, es waren Zeilen meiner Mama. Sie hat Sorgen um mich, und es
liegt mir daran, sie zu zerstreuen, oder wenn ich das nicht kann,
wenigstens an Ort und Stelle zu sein.«
»Mir nur zu begreiflich, so sehr ich es beklage, diese letzten Emser
Tage nun ohne Sie verbringen zu sollen. Darf ich Ihnen meine Dienste
zur Verfügung stellen?«
Ehe Effi darauf antworten konnte, trat Afra ein und meldete, daß man
sich eben zum Lunch versammle. Die Herrschaften seien alle sehr in
Aufregung: Der Kaiser käme wahrscheinlich auf drei Wochen, und am
Schluß seien große Manöver, und die Bonner Husaren kämen auch.
Die Zwicker überschlug sofort, ob es sich verlohnen würde, bis dahin
zu bleiben, kam zu einem entschiedenen »Ja« und ging dann, um Effis
Ausbleiben beim Lunch zu entschuldigen.
Als gleich danach auch Afra gehen wollte, sagte Effi: »Und dann, Afra,
wenn Sie frei sind, kommen Sie wohl noch eine Viertelstunde zu mir,
um mir beim Packen behilflich zu sein. Ich will heute noch mit dem
Siebenuhrzug fort.«
»Heute noch? Ach, gnädigste Frau, das ist doch aber schade. Nun fangen
ja die schönen Tage erst an.«
Effi lächelte.
Die Zwicker, die noch allerlei zu hören hoffte, hatte sich nur mit
Mühe bestimmen lassen, der »Frau Baronin« beim Abschied nicht das
Geleit zu geben. Auf einem Bahnhof, so hatte Effi versichert, sei
man immer so zerstreut und nur mit seinem Platz und seinem Gepäck
beschäftigt; gerade Personen, die man liebhabe, von denen nähme man
gern vorher Abschied. Die Zwicker bestätigte das, trotzdem sie das
Vorgeschützte darin sehr wohl herausfühlte; sie hatte hinter allen
Türen gestanden und wußte gleich, was echt und unecht war.
Afra begleitete Effi zum Bahnhof und ließ sich fest versprechen, daß
die Frau Baronin im nächsten Sommer wiederkommen wolle; wer mal in Ems
gewesen, der komme immer wieder. Ems sei das Schönste, außer Bonn.
Die Zwicker hatte sich mittlerweile zum Briefschreiben niedergesetzt,
nicht an dem etwas wackligen Rokokosekretär im Salon, sondern draußen
auf der Veranda, an demselben Tisch, an dem sie kaum zehn Stunden
zuvor mit Effi das Frühstück genommen hatte.
Sie freute sich auf den Brief, der einer befreundeten, zur Zeit in
Reichenhall weilenden Berliner Dame zugute kommen sollte. Beider
Seelen hatten sich längst gefunden und gipfelten in einer der ganzen
Männerwelt geltenden starken Skepsis; sie fanden die Männer durchweg
weit zurückbleibend hinter dem, was billigerweise gefordert werden
könne, die sogenannten »forschen« am meisten. »Die, die vor
Verlegenheit nicht wissen, wo sie hinsehen sollen, sind, nach einem
kurzen Vorstudium, immer noch die besten, aber die eigentlichen Don
Juans erweisen sich jedesmal als eine Enttäuschung. Wo soll es am Ende
auch herkommen.« Das waren so Weisheitssätze, die zwischen den zwei
Freundinnen ausgetauscht wurden.
Die Zwicker war schon auf dem zweiten Bogen und fuhr in ihrem mehr
als dankbaren Thema, das natürlich »Effi« hieß, eben wie folgt fort:
»Alles in allem war sie sehr zu leiden, artig, anscheinend offen, ohne
jeden Adelsdünkel (oder doch groß in der Kunst, ihn zu verbergen) und
immer interessiert, wenn man ihr etwas Interessantes erzählte, wovon
ich, wie ich Dir nicht zu versichern brauche, den ausgiebigsten
Gebrauch machte. Nochmals also, reizende junge Frau, fünfundzwanzig
oder nicht viel mehr. Und doch habe ich dem Frieden nie getraut und
traue ihm auch in diesem Augenblick noch nicht, ja, jetzt vielleicht
am wenigsten. Die Geschichte heute mit dem Briefe - da steckt eine
wirkliche Geschichte dahinter. Dessen bin ich so gut wie sicher. Es
wäre das erste Mal, daß ich mich in solcher Sache geirrt hätte. Daß
sie mit Vorliebe von den Berliner Modepredigern sprach und das Maß der
Gottseligkeit jedes einzelnen feststellte, das und der gelegentliche
Gretchenblick, der jedesmal versicherte, kein Wässerchen trüben zu
können - alle diese Dinge haben mich in meinem Glauben ... Aber da
kommt eben unsere Afra, von der ich Dir, glaube ich, schon schrieb,
eine hübsche Person, und packt mir ein Zeitungsblatt auf den Tisch,
das ihr, wie sie sagt, unsere Frau Wirtin für mich gegeben habe; die
blau angestrichene Stelle. Nun verzeih, wenn ich diese Stelle erst
lese ...
Nachschrift. Das Zeitungsblatt war interessant genug und kam wie
gerufen. Ich schneide die blau angestrichene Stelle heraus und lege
sie diesen Zeilen bei. Du siehst daraus, daß ich mich nicht geirrt
habe. Wer mag nur der Crampas sein?
Es ist unglaublich - erst selber Zettel und Briefe schreiben und dann
auch noch die des anderen aufbewahren! Wozu gibt es Öfen und Kamine?
Solange wenigstens, wie dieser Duellunsinn noch existiert, darf
dergleichen nicht vorkommen; einem kommenden Geschlecht kann diese
Briefschreibepassion (weil dann gefahrlos geworden) vielleicht
freigegeben werden. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Übrigens
bin ich voll Mitleid mit der jungen Baronin und finde, eitel wie man
nun mal ist, meinen einzigen Trost darin, mich in der Sache selbst
nicht getäuscht zu haben. Und der Fall lag nicht so ganz gewöhnlich.
Ein schwächerer Diagnostiker hätte sich doch vielleicht hinters Licht
führen lassen.
Wie immer Deine Sophie.«
Zweiunddreißigstes Kapitel
Drei Jahre waren vergangen, und Effi bewohnte seit fast ebenso
langer Zeit eine kleine Wohnung in der Königgrätzer Straße, zwischen
Askanischem Platz und Halleschem Tor: ein Vorder- und Hinterzimmer und
hinter diesem die Küche mit Mädchengelaß, alles so durchschnittsmäßig
und alltäglich wie nur möglich. Und doch war es eine apart hübsche
Wohnung, die jedem, der sie sah, angenehm auffiel, am meisten
vielleicht dem alten Geheimrat Rummschüttel, der, dann und wann
vorsprechend, der armen jungen Frau nicht bloß die nun weit
zurückliegende Rheumatismus- und Neuralgiekomödie sondern auch alles,
was seitdem sonst noch vorgekommen war, längst verziehen hatte, wenn
es für ihn der Verzeihung überhaupt bedurfte. Denn Rummschüttel kannte
noch ganz anderes.
Er war jetzt ausgangs Siebzig, aber wenn Effi, die seit einiger Zeit
ziemlich viel kränkelte, ihn brieflich um seinen Besuch bat, so war er
am anderen Vormittag auch da und wollte von Entschuldigungen, daß es
so hoch sei, nichts wissen. »Nur keine Entschuldigungen, meine liebe
gnädigste Frau; denn erstens ist es mein Metier, und zweitens bin ich
glücklich und beinahe stolz, die drei Treppen so gut noch steigen
zu können. Wenn ich nicht fürchten müßte, Sie zu belästigen - denn
ich komme doch schließlich als Arzt und nicht als Naturfreund und
Landschaftsschwärmer -, so käme ich wohl noch öfter, bloß um Sie zu
sehen und mich hier etliche Minuten an Ihr Hinterfenster zu setzen.
Ich glaube, Sie würdigen den Ausblick nicht genug.«
»O doch, doch«, sagte Effi; Rummschüttel aber ließ sich nicht stören
und fuhr fort: »Bitte, meine gnädigste Frau, treten Sie hier heran,
nur einen Augenblick, oder erlauben Sie mir, daß ich Sie bis an das
Fenster führe. Wieder ganz herrlich heute. Sehen Sie doch nur die
verschiedenen Bahndämme, drei, nein, vier, und wie es beständig darauf
hin und her gleitet ... und nun verschwindet der Zug da wieder hinter
einer Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den weißen
Rauch durchleuchtet! Wäre der Matthäikirchhof nicht unmittelbar
dahinter, so wäre es ideal.«
»Ich sehe gern Kirchhöfe.«
»Ja, Sie dürfen das sagen. Aber unsereins! Unsereinem kommt
unabweislich immer die Frage, könnten hier nicht vielleicht einige
weniger liegen? Im übrigen, meine gnädigste Frau, bin ich mit Ihnen
zufrieden und beklage nur, daß Sie von Ems nichts wissen wollen; Ems
bei Ihren katarrhalischen Affektionen, würde Wunder ...«
Effi schwieg.
»Ems würde Wunder tun. Aber da Sie's nicht mögen (und ich finde mich
darin zurecht), so trinken Sie den Brunnen hier. In drei Minuten
sind Sie im Prinz Albrechtschen Garten, und wenn auch die Musik
und die Toiletten und all die Zerstreuungen einer regelrechten
Brunnenpromenade fehlen, der Brunnen selbst ist doch die Hauptsache.«
Effi war einverstanden, und Rummschüttel nahm Hut und Stock. Aber
er trat noch einmal an das Fenster heran. »Ich höre von einer
Terrassierung des Kreuzbergs sprechen, Gott segne die Stadtverwaltung,
und wenn dann erst die kahle Stelle da hinten mehr in Grün stehen
wird ... Eine reizende Wohnung. Ich könnte Sie fast beneiden ... Und
was ich schon längst einmal sagen wollte, meine gnädige Frau, Sie
schreiben mir immer einen so liebenswürdigen Brief. Nun, wer freute
sich dessen nicht? Aber es ist doch jedesmal eine Mühe ... Schicken
Sie mir doch einfach Roswitha.«
Effi dankte ihm, und so schieden sie.
»Schicken Sie mir doch einfach Roswitha ...« hatte Rummschüttel
gesagt. Ja, war denn Roswitha bei Effi? War sie denn statt in der
Keith- in der Königgrätzer Straße? Gewiß war sie's, und zwar sehr
lange schon, gerade so lange, wie Effi selbst in der Königgrätzer
Straße wohnte. Schon drei Tage vor diesem Einzug hatte sich Roswitha
bei ihrer lieben gnädigen Frau sehen lassen, und das war ein
großer Tag für beide gewesen, so sehr, daß dieses Tages hier noch
nachträglich gedacht werden muß.
Effi hatte damals, als der elterliche Absagebrief aus Hohen-Cremmen
kam und sie mit dem Abendzug von Ems nach Berlin zurückreiste, nicht
gleich eine selbständige Wohnung genommen, sondern es mit einem
Unterkommen in einem Pensionat versucht. Es war ihr damit auch
leidlich geglückt. Die beiden Damen, die dem Pensionat vorstanden,
waren gebildet und voll Rücksicht und hatten es längst verlernt,
neugierig zu sein. Es kam da so vieles zusammen, daß ein
Eindringenwollen in die Geheimnisse jedes einzelnen viel zu
umständlich gewesen wäre. Dergleichen hinderte nur den Geschäftsgang.
Effi, die die mit den Augen angestellten Kreuzverhöre der Zwicker noch
in Erinnerung hatte, fühlte sich denn auch von dieser Zurückhaltung
der Pensionsdamen sehr angenehm berührt; als aber vierzehn Tage
vorüber waren, empfand sie doch deutlich, daß die hier herrschende
Gesamtatmosphäre, die physische wie die moralische, nicht wohl
ertragbar für sie sei. Bei Tisch waren sie meist zu sieben, und zwar
außer Effi und der einen Pensionsvorsteherin (die andere leitete
draußen das Wirtschaftliche) zwei die Hochschule besuchende
Engländerinnen, eine adelige Dame aus Sachsen, eine sehr hübsche
galizische Jüdin, von der niemand wußte, was sie eigentlich vorhatte,
und eine Kantorstochter aus Polzin in Pommern, die Malerin werden
wollte. Das war eine schlimme Zusammensetzung, und die gegenseitigen
Überheblichkeiten, bei denen die Engländerinnen merkwürdigerweise
nicht absolut obenan standen, sondern mit der vom höchsten Malergefühl
erfüllten Polzinerin um die Palme rangen, waren unerquicklich; dennoch
wäre Effi, die sich passiv verhielt, über den Druck, den diese
geistige Atmosphäre übte, hinweggekommen, wenn nicht, rein physisch
und äußerlich, die sich hinzugesellende Pensionsluft gewesen wäre.
Woraus sich diese eigentlich zusammensetzte, war vielleicht überhaupt
unerforschlich, aber daß sie der sehr empfindlichen Effi den Atem
raubte, war nur zu gewiß, und so sah sie sich, aus diesem äußerlichen
Grunde, sehr bald schon zur Aus- und Umschau nach einer anderen
Wohnung gezwungen, die sie denn auch in verhältnismäßiger Nähe fand.
Es war dies die vorgeschilderte Wohnung in der Königgrätzer Straße.
Sie sollte dieselbe zu Beginn des Herbstvierteljahres beziehen, hatte
das Nötige dazu beschafft und zählte während der letzten Septembertage
die Stunden bis zur Erlösung aus dem Pensionat.
An einem dieser letzten Tage - sie hatte sich eine Viertelstunde zuvor
aus dem Eßzimmer zurückgezogen und gedachte sich eben auf einem mit
einem großblumigen Wollstoff überzogenen Seegrassofa auszuruhen -
wurde leise an ihre Tür geklopft.
»Herein.«
Das eine Hausmädchen, eine kränklich aussehende Person von Mitte
Dreißig, die durch beständigen Aufenthalt auf dem Korridor des
Pensionats den hier lagernden Dunstkreis überallhin in ihren
Falten mitschleppte, trat ein und sagte: Die gnädige Frau möchte
entschuldigen, aber es wolle sie jemand sprechen.
»Wer?«
»Eine Frau.«
»Und hat sie ihren Namen genannt?« »Ja, Roswitha.«
Und siehe da, kaum daß Effi diesen Namen gehört hatte, so schüttelte
sie den Halbschlaf von sich und sprang auf und lief auf den Korridor
hinaus, um Roswitha bei beiden Händen zu fassen und in ihr Zimmer zu
ziehen.
»Roswitha. Du. Ist das eine Freude. Was bringst du? Natürlich was
Gutes. Ein so gutes altes Gesicht kann nur was Gutes bringen. Ach, wie
glücklich ich bin, ich könnte dir einen Kuß geben; ich hätte nicht
gedacht, daß ich noch solche Freude haben könnte. Mein gutes altes
Herz, wie geht es dir denn? Weißt du noch, wie's damals war, als der
Chinese spukte? Das waren glückliche Zeiten. Ich habe damals gedacht,
es wären unglückliche, weil ich das Harte des Lebens noch nicht
kannte. Seitdem habe ich es kennengelernt. Ach, Spuk ist lange nicht
das Schlimmste! Komm, meine gute Roswitha, komm, setz dich hier zu mir
und erzähle mir ... Ach, ich habe solche Sehnsucht. Was macht Annie?«
Roswitha konnte kaum reden und sah sich in dem sonderbaren Zimmer um,
dessen grau und verstaubt aussehende Wände in schmale Goldleisten
gefaßt waren. Endlich aber fand sie sich und sagte, daß der gnädige
Herr nun wieder aus Glatz zurück sei; der alte Kaiser habe gesagt,
sechs Wochen in solchem Falle sei gerade genug, und auf den Tag, wo
der gnädige Herr wieder da sein würde, darauf habe sie bloß gewartet,
wegen Annie, die doch eine Aufsicht haben müsse. Denn Johanna sei
wohl eine sehr propre Person, aber sie sei doch noch zu hübsch und
beschäftige sich noch zu viel mit sich selbst und denke vielleicht
Gott weiß was alles. Aber nun, wo der gnädige Herr wieder aufpassen
und in allem nach dem Rechten sehen könne, da habe sie sich's doch
antun wollen und mal sehen, wie's der gnädigen Frau gehe ...
»Das ist recht, Roswitha ...«
Und habe mal sehen wollen, ob der gnädigen Frau was fehle und ob
sie sie vielleicht brauche, dann wolle sie gleich hierbleiben und
beispringen und alles machen und dafür sorgen, daß es der gnädigen
Frau wieder gutgehe.
Effi hatte sich in die Sofaecke zurückgelehnt und die Augen
geschlossen. Aber mit eins richtete sie sich auf und sagte: »Ja,
Roswitha, was du da sagst, das ist ein Gedanke; das ist was. Denn du
mußt wissen, ich bleibe hier nicht in dieser Pension, ich habe da
weiterhin eine Wohnung gemietet und auch Einrichtung besorgt, und in
drei Tagen will ich da einziehen. Und wenn ich da mit dir ankäme und
zu dir sagen könnte: 'Nein, Roswitha, da nicht, der Schrank muß dahin
und der Spiegel da', ja, das wäre was, das sollte mir schon gefallen.
Und wenn wir dann müde von all der Plackerei wären, dann sagte ich:
'Nun, Roswitha, gehe da hinüber und hole uns eine Karaffe Spatenbräu,
denn wenn man gearbeitet hat, dann will man doch auch trinken, und
wenn du kannst, so bring uns auch etwas Gutes aus dem Habsburger Hof
mit, du kannst ja das Geschirr nachher wieder herüberbringen' - ja,
Roswitha, wenn ich mir das denke, da wird mir ordentlich leichter ums
Herz. Aber ich muß dich doch fragen, hast du dir auch alles überlegt?
Von Annie will ich nicht sprechen, an der du doch hängst, sie ist ja
fast wie dein eigen Kind - aber trotzdem, für Annie wird schon gesorgt
werden, und die Johanna hängt ja auch an ihr. Also davon nichts. Aber
bedenke, wie sich alles verändert hat, wenn du wieder zu mir willst.
Ich bin nicht mehr wie damals; ich habe jetzt eine ganz kleine Wohnung
genommen, und der Portier wird sich wohl nicht sehr um dich und um
mich bemühen. Und wir werden eine sehr kleine Wirtschaft haben, immer
das, was wir sonst unser Donnerstagessen nannten, weil da reingemacht
wurde. Weißt du noch? Und weißt du noch, wie der gute Gieshübler mal
dazukam und sich zu uns setzen mußte, und wie er dann sagte: So was
Delikates habe er noch nie gegessen. Du wirst dich noch erinnern,
er war immer so schrecklich artig, denn eigentlich war er doch der
einzige Mensch in der Stadt, der von Essen was verstand. Die andern
fanden alles schön.«
Roswitha freute sich über jedes Wort und sah schon alles in bestem
Gange, bis Effi wieder sagte: »Hast du dir das alles überlegt? Denn
du bist doch - ich muß das sagen, wiewohl es meine eigne Wirtschaft
war -, du bist doch nun durch viele Jahre hin verwöhnt, und es kam nie
darauf an, wir hatten es nicht nötig, sparsam zu sein; aber jetzt muß
ich sparsam sein, denn ich bin arm und habe nur, was man mir gibt, du
weißt, von Hohen-Cremmen her. Meine Eltern sind sehr gut gegen mich,
soweit sie's können, aber sie sind nicht reich. Und nun sage, was
meinst du?«
»Daß ich nächsten Sonnabend mit meinem Koffer anziehe, nicht am Abend,
sondern gleich am Morgen, und daß ich da bin, wenn das Einrichten
losgeht. Denn ich kann doch ganz anders zufassen wie die gnädige
Frau.«
»Sage das nicht, Roswitha. Ich kann es auch. Wenn man muß, kann man
alles.«
»Und dann, gnädigste Frau, Sie brauchen sich wegen meiner nicht zu
fürchten, als ob ich mal denken könnte: 'für Roswitha ist das nicht
gut genug'. Für Roswitha ist alles gut, was sie mit der gnädigen Frau
teilen muß, und am liebsten, wenn es was Trauriges ist. Ja, darauf
freue ich mich schon ordentlich. Dann sollen Sie mal sehen, das
verstehe ich. Und wenn ich es nicht verstünde, dann wollte ich es
schon lernen. Denn, gnädige Frau, das hab' ich nicht vergessen, als
ich da auf dem Kirchhof saß, mutterwindallein, und bei mir dachte, nun
wäre es doch wohl das beste, ich läge da gleich mit in der Reihe. Wer
kam da? Wer hat mich da bei Leben erhalten? Ach, ich habe so viel
durchzumachen gehabt. Als mein Vater damals mit der glühenden Stange
auf mich loskam ...«
»Ich weiß schon, Roswitha ...«
»Ja, das war schlimm genug. Aber als ich da auf dem Kirchhof saß, so
ganz arm und verlassen, das war doch noch schlimmer. Und da kam die
gnädige Frau. Und ich will nicht selig werden, wenn ich das vergesse.«
Und dabei stand sie auf und ging aufs Fenster zu. »Sehen Sie, gnädige
Frau, den müssen Sie doch auch noch sehen.«
Und nun trat auch Effi heran.
Drüben, auf der anderen Seite der Straße, saß Rollo und sah nach den
Fenstern der Pension hinauf.
Wenige Tage danach bezog Effi, von Roswitha unterstützt, ihre Wohnung
in der Königgrätzer Straße, darin es ihr von Anfang an gefiel. Umgang
fehlte freilich, aber sie hatte während ihrer Pensionstage von dem
Verkehr mit Menschen so wenig Erfreuliches gehabt, daß ihr das
Alleinsein nicht schwerfiel, wenigstens anfänglich nicht. Mit Roswitha
ließ sich allerdings kein ästhetisches Gespräch führen, auch nicht
mal sprechen über das, was in der Zeitung stand; aber wenn es einfach
menschliche Dinge betraf und Effi mit einem »ach, Roswitha, mich
ängstigt es wieder ...« ihren Satz begann, dann wußte die treue Seele
jedesmal gut zu antworten und hatte immer Trost und meist auch Rat.
Bis Weihnachten ging es vorzüglich; aber der Heiligabend verlief
schon recht traurig, und als das neue Jahr herankam, begann Effi ganz
schwermütig zu werden. Es war nicht kalt, nur grau und regnerisch, und
wenn die Tage kurz waren, so waren die Abende desto länger. Was tun?
Sie las, sie stickte, sie legte Patience, sie spielte Chopin, aber
diese Notturnos waren auch nicht angetan, viel Licht in ihr Leben zu
tragen, und wenn Roswitha mit dem Teebrett kam und außer dem Teezeug
auch noch zwei Tellerchen mit einem Ei und einem in kleine Scheiben
geschnittenen Wiener Schnitzel auf den Tisch setzte, sagte Effi,
während sie das Piano schloß: »Rücke heran, Roswitha. Leiste mir
Gesellschaft.«
Roswitha kam denn auch. »Ich weiß schon, die gnädige Frau haben wieder
zuviel gespielt; dann sehen Sie immer so aus und haben rote Flecke.
Der Geheimrat hat es doch verboten.«
»Ach, Roswitha, der Geheimrat hat leicht verbieten, und du hast es
auch leicht, all das nachzusprechen. Aber was soll ich denn machen?
Ich kann doch nicht den ganzen Tag am Fenster sitzen und nach der
Christuskirche hin übersehen. Sonntags, beim Abendgottesdienst, wenn
die Fenster beleuchtet sind, sehe ich ja immer hinüber; aber es hilft
Pichelsdorf und einem Pichelswerder begegnen. Dreimal Pichel ist
zuviel. Sie können die ganze Welt absuchen, das finden Sie nicht
wieder.«
Effi nickte.
»Und das alles«, fuhr die Zwicker fort, »geschieht am grünen Holz der
Havelseite. Das alles liegt nach Westen zu, da haben Sie Kultur und
höhere Gesittung. Aber nun gehen Sie, meine Gnädigste, nach der
anderen Seite hin, die Spree hinauf. Ich spreche nicht von Treptow
und Stralau, das sind Bagatellen, Harmlosigkeiten, aber wenn Sie die
Spezialkarte zur Hand nehmen wollen, da begegnen Sie neben mindestens
sonderbaren Namen wie Kiekebusch, wie Wuhlheide - Sie hätten hören
sollen, wie Zwicker das Wort aussprach - Namen von geradezu brutalem
Charakter, mit denen ich Ihr Ohr nicht verletzen will. Aber natürlich
sind das gerade die Plätze, die bevorzugt werden. Ich hasse diese
Landpartien, die sich das Volksgemüt als eine Kremserpartie mit 'Ich
bin ein Preuße' vorstellt, in Wahrheit aber schlummern hier die Keime
einer sozialen Revolution. Wenn ich sage 'soziale Revolution', so
meine ich natürlich moralische Revolution, alles andere ist bereits
wieder überholt, und schon Zwicker sagte mir noch in seinen letzten
Tagen: 'Glaube mir, Sophie, Saturn frißt seine Kinder.' Und Zwicker,
welche Mängel und Gebrechen er haben mochte, das bin ich ihm schuldig,
er war ein philosophischer Kopf und hatte ein natürliches Gefühl
für historische Entwicklung ... Aber ich sehe, meine liebe Frau von
Innstetten, so artig sie sonst ist, hört nur noch mit halbem Ohr zu;
natürlich, der Postbote hat sich drüben blicken lassen, und da fliegt
denn das Herz hinüber und nimmt die Liebesworte vorweg aus dem Brief
heraus ... Nun, Böselager, was bringen Sie?«
Der Angeredete war mittlerweile bis an den Tisch herangetreten und
packte aus: mehrere Zeitungen, zwei Friseuranzeigen und zuletzt auch
einen großen eingeschriebenen Brief an Frau Baronin von Innstetten,
geb. von Briest.
Die Empfängerin unterschrieb, und nun ging der Postbote wieder.
Die Zwicker aber überflog die Friseuranzeigen und lachte über die
Preisermäßigung von Shampooing.
Effi hörte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen Brief
zwischen den Fingern und hatte eine ihr unerklärliche Scheu, ihn zu
öffnen. Eingeschrieben und mit zwei großen Siegeln und ein dickes
Kuvert. Was bedeutete das? Poststempel: »Hohen-Cremmen«, und die
Adresse von der Handschrift der Mutter. Von Innstetten, es war der
fünfte Tag, keine Zeile.
Sie nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die
Längsseite des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer eine neue
Überraschung. Der Briefbogen, ja, das waren eng beschriebene Zeilen
von der Mama, darin eingelegt aber waren Geldscheine mit einem breiten
Papierstreifen drumherum, auf dem mit Rotstift, und zwar von des
Vaters Hand, der Betrag der eingelegten Summe verzeichnet war. Sie
schob das Konvolut zurück und begann zu lesen, während sie sich in
den Schaukelstuhl zurücklehnte. Aber sie kam nicht weit, die Zeilen
entfielen ihr, und aus ihrem Gesicht war alles Blut fort. Dann
bückte sie sich und nahm den Brief wieder auf. »Was ist Ihnen, liebe
Freundin? Schlechte Nachrichten?« Effi nickte, gab aber weiter keine
Antwort und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als sie
getrunken, sagte sie: »Es wird vorübergehen, liebe Geheimrätin, aber
ich möchte mich doch einen Augenblick zurückziehen ... Wenn Sie mir
Afra schicken könnten.«
Und nun erhob sie sich und trat in den Salon zurück, wo sie sichtlich
froh war, einen Halt gewonnen und sich an dem Palisanderflügel
entlangfühlen zu können. So kam sie bis an ihr nach rechts hin
gelegenes Zimmer, und als sie hier, tappend und suchend, die Tür
geöffnet und das Bett an der Wand gegenüber erreicht hatte, brach sie
ohnmächtig zusammen.
Einunddreißgstes Kapitel
Minuten vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie sich
auf einen am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille Straße
hinaus. Wenn da doch Lärm und Streit gewesen wäre; aber nur der
Sonnenschein lag auf dem chaussierten Wege und dazwischen die
Schatten, die das Gitter und die Bäume warfen. Das Gefühl des
Alleinseins in der Welt überkam sie mit seiner ganzen Schwere. Vor
einer Stunde noch eine glückliche Frau, Liebling aller, die sie
kannten, und nun ausgestoßen. Sie hatte nur erst den Anfang des
Briefes gelesen, aber genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben.
Wohin?
Sie hatte keine Antwort darauf, und doch war sie voll tiefer
Sehnsucht, aus dem herauszukommen, was sie hier umgab, also fort von
dieser Geheimrätin, der das alles bloß ein »interessanter Fall« war
und deren Teilnahme, wenn etwas davon existierte, sicher an das Maß
ihrer Neugier nicht heranreichte.
»Wohin?«
Auf dem Tisch vor ihr lag der Brief; aber ihr fehlte der Mut,
weiterzulesen. Endlich sagte sie: »Wovor bange ich mich noch? Was kann
noch gesagt werden, das ich mir nicht schon selber sagte? Der, um den
all dies kam, ist tot, eine Rückkehr in mein Haus gibt es nicht, in
ein paar Wochen wird die Scheidung ausgesprochen sein, und das Kind
wird man dem Vater lassen. Natürlich. Ich bin schuldig, und eine
Schuldige kann ihr Kind nicht erziehen. Und wovon auch? Mich selbst
werde ich wohl durchbringen. Ich will sehen, was die Mama darüber
schreibt, wie sie sich mein Leben denkt.«
Und unter diesen Worten nahm sie den Brief wieder, um auch den Schluß
zu lesen.
»... Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich auf
Dich selbst stellen müssen und darfst dabei, soweit äußere Mittel
mitsprechen, unserer Unterstützung sicher sein. Du wirst am besten in
Berlin leben (in einer großen Stadt vertut sich dergleichen am besten)
und wirst da zu den vielen gehören, die sich um freie Luft und lichte
Sonne gebracht haben. Du wirst einsam leben, und wenn Du das nicht
willst, wahrscheinlich aus Deiner Sphäre herabsteigen müssen. Die
Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein. Und was das
Traurigste für uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir Dich zu
kennen vermeinen) - auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen
sein, wir können Dir keinen stillen Platz in Hohen-Cremmen anbieten,
keine Zuflucht in unserem Hause, denn es hieße das, dies Haus
von aller Welt abschließen, und das zu tun, sind wir entschieden
nicht geneigt. Nicht weil wir zu sehr an der Welt hingen und ein
Abschiednehmen von dem, was sich 'Gesellschaft' nennt, uns als etwas
unbedingt Unerträgliches erschiene; nein, nicht deshalb, sondern
einfach, weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das
Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres
einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen ...«
Effi konnte nicht weiterlesen; ihre Augen füllten sich mit Tränen, und
nachdem sie vergeblich dagegen angekämpft hatte, brach sie zuletzt
in ein heftiges Schluchzen und Weinen aus, darin sich ihr Herz
erleichterte.
Nach einer halben Stunde klopfte es, und auf Effis »Herein« erschien
die Geheimrätin.
»Darf ich eintreten?«
»Gewiß, liebe Geheimrätin«, sagte Effi, die jetzt, leicht zugedeckt
und die Hände gefaltet, auf dem Sofa lag. »Ich bin erschöpft und habe
mich hier eingerichtet, so gut es ging. Darf ich Sie bitten, sich
einen Stuhl zu nehmen.«
Die Geheimrätin setzte sich so, daß der Tisch, mit einer Blumenschale
darauf, zwischen ihr und Effi war. Effi zeigte keine Spur von
Verlegenheit und änderte nichts in ihrer Haltung, nicht einmal die
gefalteten Hände. Mit einem Male war es ihr vollkommen gleichgültig,
was die Frau dachte; nur fort wollte sie.
»Sie haben eine traurige Nachricht empfangen, liebe gnädigste
Frau ...«
»Mehr als traurig«, sagte Effi. »Jedenfalls traurig genug, um unserem
Beisammensein ein rasches Ende zu machen. Ich muß noch heute fort.«
»Ich möchte nicht zudringlich erscheinen, aber ist es etwas mit
Annie?«
»Nein, nicht mit Annie. Die Nachrichten kamen überhaupt nicht aus
Berlin, es waren Zeilen meiner Mama. Sie hat Sorgen um mich, und es
liegt mir daran, sie zu zerstreuen, oder wenn ich das nicht kann,
wenigstens an Ort und Stelle zu sein.«
»Mir nur zu begreiflich, so sehr ich es beklage, diese letzten Emser
Tage nun ohne Sie verbringen zu sollen. Darf ich Ihnen meine Dienste
zur Verfügung stellen?«
Ehe Effi darauf antworten konnte, trat Afra ein und meldete, daß man
sich eben zum Lunch versammle. Die Herrschaften seien alle sehr in
Aufregung: Der Kaiser käme wahrscheinlich auf drei Wochen, und am
Schluß seien große Manöver, und die Bonner Husaren kämen auch.
Die Zwicker überschlug sofort, ob es sich verlohnen würde, bis dahin
zu bleiben, kam zu einem entschiedenen »Ja« und ging dann, um Effis
Ausbleiben beim Lunch zu entschuldigen.
Als gleich danach auch Afra gehen wollte, sagte Effi: »Und dann, Afra,
wenn Sie frei sind, kommen Sie wohl noch eine Viertelstunde zu mir,
um mir beim Packen behilflich zu sein. Ich will heute noch mit dem
Siebenuhrzug fort.«
»Heute noch? Ach, gnädigste Frau, das ist doch aber schade. Nun fangen
ja die schönen Tage erst an.«
Effi lächelte.
Die Zwicker, die noch allerlei zu hören hoffte, hatte sich nur mit
Mühe bestimmen lassen, der »Frau Baronin« beim Abschied nicht das
Geleit zu geben. Auf einem Bahnhof, so hatte Effi versichert, sei
man immer so zerstreut und nur mit seinem Platz und seinem Gepäck
beschäftigt; gerade Personen, die man liebhabe, von denen nähme man
gern vorher Abschied. Die Zwicker bestätigte das, trotzdem sie das
Vorgeschützte darin sehr wohl herausfühlte; sie hatte hinter allen
Türen gestanden und wußte gleich, was echt und unecht war.
Afra begleitete Effi zum Bahnhof und ließ sich fest versprechen, daß
die Frau Baronin im nächsten Sommer wiederkommen wolle; wer mal in Ems
gewesen, der komme immer wieder. Ems sei das Schönste, außer Bonn.
Die Zwicker hatte sich mittlerweile zum Briefschreiben niedergesetzt,
nicht an dem etwas wackligen Rokokosekretär im Salon, sondern draußen
auf der Veranda, an demselben Tisch, an dem sie kaum zehn Stunden
zuvor mit Effi das Frühstück genommen hatte.
Sie freute sich auf den Brief, der einer befreundeten, zur Zeit in
Reichenhall weilenden Berliner Dame zugute kommen sollte. Beider
Seelen hatten sich längst gefunden und gipfelten in einer der ganzen
Männerwelt geltenden starken Skepsis; sie fanden die Männer durchweg
weit zurückbleibend hinter dem, was billigerweise gefordert werden
könne, die sogenannten »forschen« am meisten. »Die, die vor
Verlegenheit nicht wissen, wo sie hinsehen sollen, sind, nach einem
kurzen Vorstudium, immer noch die besten, aber die eigentlichen Don
Juans erweisen sich jedesmal als eine Enttäuschung. Wo soll es am Ende
auch herkommen.« Das waren so Weisheitssätze, die zwischen den zwei
Freundinnen ausgetauscht wurden.
Die Zwicker war schon auf dem zweiten Bogen und fuhr in ihrem mehr
als dankbaren Thema, das natürlich »Effi« hieß, eben wie folgt fort:
»Alles in allem war sie sehr zu leiden, artig, anscheinend offen, ohne
jeden Adelsdünkel (oder doch groß in der Kunst, ihn zu verbergen) und
immer interessiert, wenn man ihr etwas Interessantes erzählte, wovon
ich, wie ich Dir nicht zu versichern brauche, den ausgiebigsten
Gebrauch machte. Nochmals also, reizende junge Frau, fünfundzwanzig
oder nicht viel mehr. Und doch habe ich dem Frieden nie getraut und
traue ihm auch in diesem Augenblick noch nicht, ja, jetzt vielleicht
am wenigsten. Die Geschichte heute mit dem Briefe - da steckt eine
wirkliche Geschichte dahinter. Dessen bin ich so gut wie sicher. Es
wäre das erste Mal, daß ich mich in solcher Sache geirrt hätte. Daß
sie mit Vorliebe von den Berliner Modepredigern sprach und das Maß der
Gottseligkeit jedes einzelnen feststellte, das und der gelegentliche
Gretchenblick, der jedesmal versicherte, kein Wässerchen trüben zu
können - alle diese Dinge haben mich in meinem Glauben ... Aber da
kommt eben unsere Afra, von der ich Dir, glaube ich, schon schrieb,
eine hübsche Person, und packt mir ein Zeitungsblatt auf den Tisch,
das ihr, wie sie sagt, unsere Frau Wirtin für mich gegeben habe; die
blau angestrichene Stelle. Nun verzeih, wenn ich diese Stelle erst
lese ...
Nachschrift. Das Zeitungsblatt war interessant genug und kam wie
gerufen. Ich schneide die blau angestrichene Stelle heraus und lege
sie diesen Zeilen bei. Du siehst daraus, daß ich mich nicht geirrt
habe. Wer mag nur der Crampas sein?
Es ist unglaublich - erst selber Zettel und Briefe schreiben und dann
auch noch die des anderen aufbewahren! Wozu gibt es Öfen und Kamine?
Solange wenigstens, wie dieser Duellunsinn noch existiert, darf
dergleichen nicht vorkommen; einem kommenden Geschlecht kann diese
Briefschreibepassion (weil dann gefahrlos geworden) vielleicht
freigegeben werden. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Übrigens
bin ich voll Mitleid mit der jungen Baronin und finde, eitel wie man
nun mal ist, meinen einzigen Trost darin, mich in der Sache selbst
nicht getäuscht zu haben. Und der Fall lag nicht so ganz gewöhnlich.
Ein schwächerer Diagnostiker hätte sich doch vielleicht hinters Licht
führen lassen.
Wie immer Deine Sophie.«
Zweiunddreißigstes Kapitel
Drei Jahre waren vergangen, und Effi bewohnte seit fast ebenso
langer Zeit eine kleine Wohnung in der Königgrätzer Straße, zwischen
Askanischem Platz und Halleschem Tor: ein Vorder- und Hinterzimmer und
hinter diesem die Küche mit Mädchengelaß, alles so durchschnittsmäßig
und alltäglich wie nur möglich. Und doch war es eine apart hübsche
Wohnung, die jedem, der sie sah, angenehm auffiel, am meisten
vielleicht dem alten Geheimrat Rummschüttel, der, dann und wann
vorsprechend, der armen jungen Frau nicht bloß die nun weit
zurückliegende Rheumatismus- und Neuralgiekomödie sondern auch alles,
was seitdem sonst noch vorgekommen war, längst verziehen hatte, wenn
es für ihn der Verzeihung überhaupt bedurfte. Denn Rummschüttel kannte
noch ganz anderes.
Er war jetzt ausgangs Siebzig, aber wenn Effi, die seit einiger Zeit
ziemlich viel kränkelte, ihn brieflich um seinen Besuch bat, so war er
am anderen Vormittag auch da und wollte von Entschuldigungen, daß es
so hoch sei, nichts wissen. »Nur keine Entschuldigungen, meine liebe
gnädigste Frau; denn erstens ist es mein Metier, und zweitens bin ich
glücklich und beinahe stolz, die drei Treppen so gut noch steigen
zu können. Wenn ich nicht fürchten müßte, Sie zu belästigen - denn
ich komme doch schließlich als Arzt und nicht als Naturfreund und
Landschaftsschwärmer -, so käme ich wohl noch öfter, bloß um Sie zu
sehen und mich hier etliche Minuten an Ihr Hinterfenster zu setzen.
Ich glaube, Sie würdigen den Ausblick nicht genug.«
»O doch, doch«, sagte Effi; Rummschüttel aber ließ sich nicht stören
und fuhr fort: »Bitte, meine gnädigste Frau, treten Sie hier heran,
nur einen Augenblick, oder erlauben Sie mir, daß ich Sie bis an das
Fenster führe. Wieder ganz herrlich heute. Sehen Sie doch nur die
verschiedenen Bahndämme, drei, nein, vier, und wie es beständig darauf
hin und her gleitet ... und nun verschwindet der Zug da wieder hinter
einer Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den weißen
Rauch durchleuchtet! Wäre der Matthäikirchhof nicht unmittelbar
dahinter, so wäre es ideal.«
»Ich sehe gern Kirchhöfe.«
»Ja, Sie dürfen das sagen. Aber unsereins! Unsereinem kommt
unabweislich immer die Frage, könnten hier nicht vielleicht einige
weniger liegen? Im übrigen, meine gnädigste Frau, bin ich mit Ihnen
zufrieden und beklage nur, daß Sie von Ems nichts wissen wollen; Ems
bei Ihren katarrhalischen Affektionen, würde Wunder ...«
Effi schwieg.
»Ems würde Wunder tun. Aber da Sie's nicht mögen (und ich finde mich
darin zurecht), so trinken Sie den Brunnen hier. In drei Minuten
sind Sie im Prinz Albrechtschen Garten, und wenn auch die Musik
und die Toiletten und all die Zerstreuungen einer regelrechten
Brunnenpromenade fehlen, der Brunnen selbst ist doch die Hauptsache.«
Effi war einverstanden, und Rummschüttel nahm Hut und Stock. Aber
er trat noch einmal an das Fenster heran. »Ich höre von einer
Terrassierung des Kreuzbergs sprechen, Gott segne die Stadtverwaltung,
und wenn dann erst die kahle Stelle da hinten mehr in Grün stehen
wird ... Eine reizende Wohnung. Ich könnte Sie fast beneiden ... Und
was ich schon längst einmal sagen wollte, meine gnädige Frau, Sie
schreiben mir immer einen so liebenswürdigen Brief. Nun, wer freute
sich dessen nicht? Aber es ist doch jedesmal eine Mühe ... Schicken
Sie mir doch einfach Roswitha.«
Effi dankte ihm, und so schieden sie.
»Schicken Sie mir doch einfach Roswitha ...« hatte Rummschüttel
gesagt. Ja, war denn Roswitha bei Effi? War sie denn statt in der
Keith- in der Königgrätzer Straße? Gewiß war sie's, und zwar sehr
lange schon, gerade so lange, wie Effi selbst in der Königgrätzer
Straße wohnte. Schon drei Tage vor diesem Einzug hatte sich Roswitha
bei ihrer lieben gnädigen Frau sehen lassen, und das war ein
großer Tag für beide gewesen, so sehr, daß dieses Tages hier noch
nachträglich gedacht werden muß.
Effi hatte damals, als der elterliche Absagebrief aus Hohen-Cremmen
kam und sie mit dem Abendzug von Ems nach Berlin zurückreiste, nicht
gleich eine selbständige Wohnung genommen, sondern es mit einem
Unterkommen in einem Pensionat versucht. Es war ihr damit auch
leidlich geglückt. Die beiden Damen, die dem Pensionat vorstanden,
waren gebildet und voll Rücksicht und hatten es längst verlernt,
neugierig zu sein. Es kam da so vieles zusammen, daß ein
Eindringenwollen in die Geheimnisse jedes einzelnen viel zu
umständlich gewesen wäre. Dergleichen hinderte nur den Geschäftsgang.
Effi, die die mit den Augen angestellten Kreuzverhöre der Zwicker noch
in Erinnerung hatte, fühlte sich denn auch von dieser Zurückhaltung
der Pensionsdamen sehr angenehm berührt; als aber vierzehn Tage
vorüber waren, empfand sie doch deutlich, daß die hier herrschende
Gesamtatmosphäre, die physische wie die moralische, nicht wohl
ertragbar für sie sei. Bei Tisch waren sie meist zu sieben, und zwar
außer Effi und der einen Pensionsvorsteherin (die andere leitete
draußen das Wirtschaftliche) zwei die Hochschule besuchende
Engländerinnen, eine adelige Dame aus Sachsen, eine sehr hübsche
galizische Jüdin, von der niemand wußte, was sie eigentlich vorhatte,
und eine Kantorstochter aus Polzin in Pommern, die Malerin werden
wollte. Das war eine schlimme Zusammensetzung, und die gegenseitigen
Überheblichkeiten, bei denen die Engländerinnen merkwürdigerweise
nicht absolut obenan standen, sondern mit der vom höchsten Malergefühl
erfüllten Polzinerin um die Palme rangen, waren unerquicklich; dennoch
wäre Effi, die sich passiv verhielt, über den Druck, den diese
geistige Atmosphäre übte, hinweggekommen, wenn nicht, rein physisch
und äußerlich, die sich hinzugesellende Pensionsluft gewesen wäre.
Woraus sich diese eigentlich zusammensetzte, war vielleicht überhaupt
unerforschlich, aber daß sie der sehr empfindlichen Effi den Atem
raubte, war nur zu gewiß, und so sah sie sich, aus diesem äußerlichen
Grunde, sehr bald schon zur Aus- und Umschau nach einer anderen
Wohnung gezwungen, die sie denn auch in verhältnismäßiger Nähe fand.
Es war dies die vorgeschilderte Wohnung in der Königgrätzer Straße.
Sie sollte dieselbe zu Beginn des Herbstvierteljahres beziehen, hatte
das Nötige dazu beschafft und zählte während der letzten Septembertage
die Stunden bis zur Erlösung aus dem Pensionat.
An einem dieser letzten Tage - sie hatte sich eine Viertelstunde zuvor
aus dem Eßzimmer zurückgezogen und gedachte sich eben auf einem mit
einem großblumigen Wollstoff überzogenen Seegrassofa auszuruhen -
wurde leise an ihre Tür geklopft.
»Herein.«
Das eine Hausmädchen, eine kränklich aussehende Person von Mitte
Dreißig, die durch beständigen Aufenthalt auf dem Korridor des
Pensionats den hier lagernden Dunstkreis überallhin in ihren
Falten mitschleppte, trat ein und sagte: Die gnädige Frau möchte
entschuldigen, aber es wolle sie jemand sprechen.
»Wer?«
»Eine Frau.«
»Und hat sie ihren Namen genannt?« »Ja, Roswitha.«
Und siehe da, kaum daß Effi diesen Namen gehört hatte, so schüttelte
sie den Halbschlaf von sich und sprang auf und lief auf den Korridor
hinaus, um Roswitha bei beiden Händen zu fassen und in ihr Zimmer zu
ziehen.
»Roswitha. Du. Ist das eine Freude. Was bringst du? Natürlich was
Gutes. Ein so gutes altes Gesicht kann nur was Gutes bringen. Ach, wie
glücklich ich bin, ich könnte dir einen Kuß geben; ich hätte nicht
gedacht, daß ich noch solche Freude haben könnte. Mein gutes altes
Herz, wie geht es dir denn? Weißt du noch, wie's damals war, als der
Chinese spukte? Das waren glückliche Zeiten. Ich habe damals gedacht,
es wären unglückliche, weil ich das Harte des Lebens noch nicht
kannte. Seitdem habe ich es kennengelernt. Ach, Spuk ist lange nicht
das Schlimmste! Komm, meine gute Roswitha, komm, setz dich hier zu mir
und erzähle mir ... Ach, ich habe solche Sehnsucht. Was macht Annie?«
Roswitha konnte kaum reden und sah sich in dem sonderbaren Zimmer um,
dessen grau und verstaubt aussehende Wände in schmale Goldleisten
gefaßt waren. Endlich aber fand sie sich und sagte, daß der gnädige
Herr nun wieder aus Glatz zurück sei; der alte Kaiser habe gesagt,
sechs Wochen in solchem Falle sei gerade genug, und auf den Tag, wo
der gnädige Herr wieder da sein würde, darauf habe sie bloß gewartet,
wegen Annie, die doch eine Aufsicht haben müsse. Denn Johanna sei
wohl eine sehr propre Person, aber sie sei doch noch zu hübsch und
beschäftige sich noch zu viel mit sich selbst und denke vielleicht
Gott weiß was alles. Aber nun, wo der gnädige Herr wieder aufpassen
und in allem nach dem Rechten sehen könne, da habe sie sich's doch
antun wollen und mal sehen, wie's der gnädigen Frau gehe ...
»Das ist recht, Roswitha ...«
Und habe mal sehen wollen, ob der gnädigen Frau was fehle und ob
sie sie vielleicht brauche, dann wolle sie gleich hierbleiben und
beispringen und alles machen und dafür sorgen, daß es der gnädigen
Frau wieder gutgehe.
Effi hatte sich in die Sofaecke zurückgelehnt und die Augen
geschlossen. Aber mit eins richtete sie sich auf und sagte: »Ja,
Roswitha, was du da sagst, das ist ein Gedanke; das ist was. Denn du
mußt wissen, ich bleibe hier nicht in dieser Pension, ich habe da
weiterhin eine Wohnung gemietet und auch Einrichtung besorgt, und in
drei Tagen will ich da einziehen. Und wenn ich da mit dir ankäme und
zu dir sagen könnte: 'Nein, Roswitha, da nicht, der Schrank muß dahin
und der Spiegel da', ja, das wäre was, das sollte mir schon gefallen.
Und wenn wir dann müde von all der Plackerei wären, dann sagte ich:
'Nun, Roswitha, gehe da hinüber und hole uns eine Karaffe Spatenbräu,
denn wenn man gearbeitet hat, dann will man doch auch trinken, und
wenn du kannst, so bring uns auch etwas Gutes aus dem Habsburger Hof
mit, du kannst ja das Geschirr nachher wieder herüberbringen' - ja,
Roswitha, wenn ich mir das denke, da wird mir ordentlich leichter ums
Herz. Aber ich muß dich doch fragen, hast du dir auch alles überlegt?
Von Annie will ich nicht sprechen, an der du doch hängst, sie ist ja
fast wie dein eigen Kind - aber trotzdem, für Annie wird schon gesorgt
werden, und die Johanna hängt ja auch an ihr. Also davon nichts. Aber
bedenke, wie sich alles verändert hat, wenn du wieder zu mir willst.
Ich bin nicht mehr wie damals; ich habe jetzt eine ganz kleine Wohnung
genommen, und der Portier wird sich wohl nicht sehr um dich und um
mich bemühen. Und wir werden eine sehr kleine Wirtschaft haben, immer
das, was wir sonst unser Donnerstagessen nannten, weil da reingemacht
wurde. Weißt du noch? Und weißt du noch, wie der gute Gieshübler mal
dazukam und sich zu uns setzen mußte, und wie er dann sagte: So was
Delikates habe er noch nie gegessen. Du wirst dich noch erinnern,
er war immer so schrecklich artig, denn eigentlich war er doch der
einzige Mensch in der Stadt, der von Essen was verstand. Die andern
fanden alles schön.«
Roswitha freute sich über jedes Wort und sah schon alles in bestem
Gange, bis Effi wieder sagte: »Hast du dir das alles überlegt? Denn
du bist doch - ich muß das sagen, wiewohl es meine eigne Wirtschaft
war -, du bist doch nun durch viele Jahre hin verwöhnt, und es kam nie
darauf an, wir hatten es nicht nötig, sparsam zu sein; aber jetzt muß
ich sparsam sein, denn ich bin arm und habe nur, was man mir gibt, du
weißt, von Hohen-Cremmen her. Meine Eltern sind sehr gut gegen mich,
soweit sie's können, aber sie sind nicht reich. Und nun sage, was
meinst du?«
»Daß ich nächsten Sonnabend mit meinem Koffer anziehe, nicht am Abend,
sondern gleich am Morgen, und daß ich da bin, wenn das Einrichten
losgeht. Denn ich kann doch ganz anders zufassen wie die gnädige
Frau.«
»Sage das nicht, Roswitha. Ich kann es auch. Wenn man muß, kann man
alles.«
»Und dann, gnädigste Frau, Sie brauchen sich wegen meiner nicht zu
fürchten, als ob ich mal denken könnte: 'für Roswitha ist das nicht
gut genug'. Für Roswitha ist alles gut, was sie mit der gnädigen Frau
teilen muß, und am liebsten, wenn es was Trauriges ist. Ja, darauf
freue ich mich schon ordentlich. Dann sollen Sie mal sehen, das
verstehe ich. Und wenn ich es nicht verstünde, dann wollte ich es
schon lernen. Denn, gnädige Frau, das hab' ich nicht vergessen, als
ich da auf dem Kirchhof saß, mutterwindallein, und bei mir dachte, nun
wäre es doch wohl das beste, ich läge da gleich mit in der Reihe. Wer
kam da? Wer hat mich da bei Leben erhalten? Ach, ich habe so viel
durchzumachen gehabt. Als mein Vater damals mit der glühenden Stange
auf mich loskam ...«
»Ich weiß schon, Roswitha ...«
»Ja, das war schlimm genug. Aber als ich da auf dem Kirchhof saß, so
ganz arm und verlassen, das war doch noch schlimmer. Und da kam die
gnädige Frau. Und ich will nicht selig werden, wenn ich das vergesse.«
Und dabei stand sie auf und ging aufs Fenster zu. »Sehen Sie, gnädige
Frau, den müssen Sie doch auch noch sehen.«
Und nun trat auch Effi heran.
Drüben, auf der anderen Seite der Straße, saß Rollo und sah nach den
Fenstern der Pension hinauf.
Wenige Tage danach bezog Effi, von Roswitha unterstützt, ihre Wohnung
in der Königgrätzer Straße, darin es ihr von Anfang an gefiel. Umgang
fehlte freilich, aber sie hatte während ihrer Pensionstage von dem
Verkehr mit Menschen so wenig Erfreuliches gehabt, daß ihr das
Alleinsein nicht schwerfiel, wenigstens anfänglich nicht. Mit Roswitha
ließ sich allerdings kein ästhetisches Gespräch führen, auch nicht
mal sprechen über das, was in der Zeitung stand; aber wenn es einfach
menschliche Dinge betraf und Effi mit einem »ach, Roswitha, mich
ängstigt es wieder ...« ihren Satz begann, dann wußte die treue Seele
jedesmal gut zu antworten und hatte immer Trost und meist auch Rat.
Bis Weihnachten ging es vorzüglich; aber der Heiligabend verlief
schon recht traurig, und als das neue Jahr herankam, begann Effi ganz
schwermütig zu werden. Es war nicht kalt, nur grau und regnerisch, und
wenn die Tage kurz waren, so waren die Abende desto länger. Was tun?
Sie las, sie stickte, sie legte Patience, sie spielte Chopin, aber
diese Notturnos waren auch nicht angetan, viel Licht in ihr Leben zu
tragen, und wenn Roswitha mit dem Teebrett kam und außer dem Teezeug
auch noch zwei Tellerchen mit einem Ei und einem in kleine Scheiben
geschnittenen Wiener Schnitzel auf den Tisch setzte, sagte Effi,
während sie das Piano schloß: »Rücke heran, Roswitha. Leiste mir
Gesellschaft.«
Roswitha kam denn auch. »Ich weiß schon, die gnädige Frau haben wieder
zuviel gespielt; dann sehen Sie immer so aus und haben rote Flecke.
Der Geheimrat hat es doch verboten.«
»Ach, Roswitha, der Geheimrat hat leicht verbieten, und du hast es
auch leicht, all das nachzusprechen. Aber was soll ich denn machen?
Ich kann doch nicht den ganzen Tag am Fenster sitzen und nach der
Christuskirche hin übersehen. Sonntags, beim Abendgottesdienst, wenn
die Fenster beleuchtet sind, sehe ich ja immer hinüber; aber es hilft
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