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Effi Briest - 19

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  kaum tausend Schritte zusammengedrängt, einem Pichelsberg, einem
  Pichelsdorf und einem Pichelswerder begegnen. Dreimal Pichel ist
  zuviel. Sie können die ganze Welt absuchen, das finden Sie nicht
  wieder.«
  Effi nickte.
  »Und das alles«, fuhr die Zwicker fort, »geschieht am grünen Holz der
  Havelseite. Das alles liegt nach Westen zu, da haben Sie Kultur und
  höhere Gesittung. Aber nun gehen Sie, meine Gnädigste, nach der
  anderen Seite hin, die Spree hinauf. Ich spreche nicht von Treptow
  und Stralau, das sind Bagatellen, Harmlosigkeiten, aber wenn Sie die
  Spezialkarte zur Hand nehmen wollen, da begegnen Sie neben mindestens
  sonderbaren Namen wie Kiekebusch, wie Wuhlheide - Sie hätten hören
  sollen, wie Zwicker das Wort aussprach - Namen von geradezu brutalem
  Charakter, mit denen ich Ihr Ohr nicht verletzen will. Aber natürlich
  sind das gerade die Plätze, die bevorzugt werden. Ich hasse diese
  Landpartien, die sich das Volksgemüt als eine Kremserpartie mit 'Ich
  bin ein Preuße' vorstellt, in Wahrheit aber schlummern hier die Keime
  einer sozialen Revolution. Wenn ich sage 'soziale Revolution', so
  meine ich natürlich moralische Revolution, alles andere ist bereits
  wieder überholt, und schon Zwicker sagte mir noch in seinen letzten
  Tagen: 'Glaube mir, Sophie, Saturn frißt seine Kinder.' Und Zwicker,
  welche Mängel und Gebrechen er haben mochte, das bin ich ihm schuldig,
  er war ein philosophischer Kopf und hatte ein natürliches Gefühl
  für historische Entwicklung ... Aber ich sehe, meine liebe Frau von
  Innstetten, so artig sie sonst ist, hört nur noch mit halbem Ohr zu;
  natürlich, der Postbote hat sich drüben blicken lassen, und da fliegt
  denn das Herz hinüber und nimmt die Liebesworte vorweg aus dem Brief
  heraus ... Nun, Böselager, was bringen Sie?«
  Der Angeredete war mittlerweile bis an den Tisch herangetreten und
  packte aus: mehrere Zeitungen, zwei Friseuranzeigen und zuletzt auch
  einen großen eingeschriebenen Brief an Frau Baronin von Innstetten,
  geb. von Briest.
  Die Empfängerin unterschrieb, und nun ging der Postbote wieder.
  Die Zwicker aber überflog die Friseuranzeigen und lachte über die
  Preisermäßigung von Shampooing.
  Effi hörte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen Brief
  zwischen den Fingern und hatte eine ihr unerklärliche Scheu, ihn zu
  öffnen. Eingeschrieben und mit zwei großen Siegeln und ein dickes
  Kuvert. Was bedeutete das? Poststempel: »Hohen-Cremmen«, und die
  Adresse von der Handschrift der Mutter. Von Innstetten, es war der
  fünfte Tag, keine Zeile.
  Sie nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die
  Längsseite des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer eine neue
  Überraschung. Der Briefbogen, ja, das waren eng beschriebene Zeilen
  von der Mama, darin eingelegt aber waren Geldscheine mit einem breiten
  Papierstreifen drumherum, auf dem mit Rotstift, und zwar von des
  Vaters Hand, der Betrag der eingelegten Summe verzeichnet war. Sie
  schob das Konvolut zurück und begann zu lesen, während sie sich in
  den Schaukelstuhl zurücklehnte. Aber sie kam nicht weit, die Zeilen
  entfielen ihr, und aus ihrem Gesicht war alles Blut fort. Dann
  bückte sie sich und nahm den Brief wieder auf. »Was ist Ihnen, liebe
  Freundin? Schlechte Nachrichten?« Effi nickte, gab aber weiter keine
  Antwort und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als sie
  getrunken, sagte sie: »Es wird vorübergehen, liebe Geheimrätin, aber
  ich möchte mich doch einen Augenblick zurückziehen ... Wenn Sie mir
  Afra schicken könnten.«
  Und nun erhob sie sich und trat in den Salon zurück, wo sie sichtlich
  froh war, einen Halt gewonnen und sich an dem Palisanderflügel
  entlangfühlen zu können. So kam sie bis an ihr nach rechts hin
  gelegenes Zimmer, und als sie hier, tappend und suchend, die Tür
  geöffnet und das Bett an der Wand gegenüber erreicht hatte, brach sie
  ohnmächtig zusammen.
  
  Einunddreißgstes Kapitel
  Minuten vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie sich
  auf einen am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille Straße
  hinaus. Wenn da doch Lärm und Streit gewesen wäre; aber nur der
  Sonnenschein lag auf dem chaussierten Wege und dazwischen die
  Schatten, die das Gitter und die Bäume warfen. Das Gefühl des
  Alleinseins in der Welt überkam sie mit seiner ganzen Schwere. Vor
  einer Stunde noch eine glückliche Frau, Liebling aller, die sie
  kannten, und nun ausgestoßen. Sie hatte nur erst den Anfang des
  Briefes gelesen, aber genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben.
  Wohin?
  Sie hatte keine Antwort darauf, und doch war sie voll tiefer
  Sehnsucht, aus dem herauszukommen, was sie hier umgab, also fort von
  dieser Geheimrätin, der das alles bloß ein »interessanter Fall« war
  und deren Teilnahme, wenn etwas davon existierte, sicher an das Maß
  ihrer Neugier nicht heranreichte.
  »Wohin?«
  Auf dem Tisch vor ihr lag der Brief; aber ihr fehlte der Mut,
  weiterzulesen. Endlich sagte sie: »Wovor bange ich mich noch? Was kann
  noch gesagt werden, das ich mir nicht schon selber sagte? Der, um den
  all dies kam, ist tot, eine Rückkehr in mein Haus gibt es nicht, in
  ein paar Wochen wird die Scheidung ausgesprochen sein, und das Kind
  wird man dem Vater lassen. Natürlich. Ich bin schuldig, und eine
  Schuldige kann ihr Kind nicht erziehen. Und wovon auch? Mich selbst
  werde ich wohl durchbringen. Ich will sehen, was die Mama darüber
  schreibt, wie sie sich mein Leben denkt.«
  Und unter diesen Worten nahm sie den Brief wieder, um auch den Schluß
  zu lesen.
  »... Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich auf
  Dich selbst stellen müssen und darfst dabei, soweit äußere Mittel
  mitsprechen, unserer Unterstützung sicher sein. Du wirst am besten in
  Berlin leben (in einer großen Stadt vertut sich dergleichen am besten)
  und wirst da zu den vielen gehören, die sich um freie Luft und lichte
  Sonne gebracht haben. Du wirst einsam leben, und wenn Du das nicht
  willst, wahrscheinlich aus Deiner Sphäre herabsteigen müssen. Die
  Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein. Und was das
  Traurigste für uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir Dich zu
  kennen vermeinen) - auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen
  sein, wir können Dir keinen stillen Platz in Hohen-Cremmen anbieten,
  keine Zuflucht in unserem Hause, denn es hieße das, dies Haus
  von aller Welt abschließen, und das zu tun, sind wir entschieden
  nicht geneigt. Nicht weil wir zu sehr an der Welt hingen und ein
  Abschiednehmen von dem, was sich 'Gesellschaft' nennt, uns als etwas
  unbedingt Unerträgliches erschiene; nein, nicht deshalb, sondern
  einfach, weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das
  Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres
  einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen ...«
  Effi konnte nicht weiterlesen; ihre Augen füllten sich mit Tränen, und
  nachdem sie vergeblich dagegen angekämpft hatte, brach sie zuletzt
  in ein heftiges Schluchzen und Weinen aus, darin sich ihr Herz
  erleichterte.
  Nach einer halben Stunde klopfte es, und auf Effis »Herein« erschien
  die Geheimrätin.
  »Darf ich eintreten?«
  »Gewiß, liebe Geheimrätin«, sagte Effi, die jetzt, leicht zugedeckt
  und die Hände gefaltet, auf dem Sofa lag. »Ich bin erschöpft und habe
  mich hier eingerichtet, so gut es ging. Darf ich Sie bitten, sich
  einen Stuhl zu nehmen.«
  Die Geheimrätin setzte sich so, daß der Tisch, mit einer Blumenschale
  darauf, zwischen ihr und Effi war. Effi zeigte keine Spur von
  Verlegenheit und änderte nichts in ihrer Haltung, nicht einmal die
  gefalteten Hände. Mit einem Male war es ihr vollkommen gleichgültig,
  was die Frau dachte; nur fort wollte sie.
  »Sie haben eine traurige Nachricht empfangen, liebe gnädigste
  Frau ...«
  »Mehr als traurig«, sagte Effi. »Jedenfalls traurig genug, um unserem
  Beisammensein ein rasches Ende zu machen. Ich muß noch heute fort.«
  »Ich möchte nicht zudringlich erscheinen, aber ist es etwas mit
  Annie?«
  »Nein, nicht mit Annie. Die Nachrichten kamen überhaupt nicht aus
  Berlin, es waren Zeilen meiner Mama. Sie hat Sorgen um mich, und es
  liegt mir daran, sie zu zerstreuen, oder wenn ich das nicht kann,
  wenigstens an Ort und Stelle zu sein.«
  »Mir nur zu begreiflich, so sehr ich es beklage, diese letzten Emser
  Tage nun ohne Sie verbringen zu sollen. Darf ich Ihnen meine Dienste
  zur Verfügung stellen?«
  Ehe Effi darauf antworten konnte, trat Afra ein und meldete, daß man
  sich eben zum Lunch versammle. Die Herrschaften seien alle sehr in
  Aufregung: Der Kaiser käme wahrscheinlich auf drei Wochen, und am
  Schluß seien große Manöver, und die Bonner Husaren kämen auch.
  Die Zwicker überschlug sofort, ob es sich verlohnen würde, bis dahin
  zu bleiben, kam zu einem entschiedenen »Ja« und ging dann, um Effis
  Ausbleiben beim Lunch zu entschuldigen.
  Als gleich danach auch Afra gehen wollte, sagte Effi: »Und dann, Afra,
  wenn Sie frei sind, kommen Sie wohl noch eine Viertelstunde zu mir,
  um mir beim Packen behilflich zu sein. Ich will heute noch mit dem
  Siebenuhrzug fort.«
  »Heute noch? Ach, gnädigste Frau, das ist doch aber schade. Nun fangen
  ja die schönen Tage erst an.«
  Effi lächelte.
  Die Zwicker, die noch allerlei zu hören hoffte, hatte sich nur mit
  Mühe bestimmen lassen, der »Frau Baronin« beim Abschied nicht das
  Geleit zu geben. Auf einem Bahnhof, so hatte Effi versichert, sei
  man immer so zerstreut und nur mit seinem Platz und seinem Gepäck
  beschäftigt; gerade Personen, die man liebhabe, von denen nähme man
  gern vorher Abschied. Die Zwicker bestätigte das, trotzdem sie das
  Vorgeschützte darin sehr wohl herausfühlte; sie hatte hinter allen
  Türen gestanden und wußte gleich, was echt und unecht war.
  Afra begleitete Effi zum Bahnhof und ließ sich fest versprechen, daß
  die Frau Baronin im nächsten Sommer wiederkommen wolle; wer mal in Ems
  gewesen, der komme immer wieder. Ems sei das Schönste, außer Bonn.
  Die Zwicker hatte sich mittlerweile zum Briefschreiben niedergesetzt,
  nicht an dem etwas wackligen Rokokosekretär im Salon, sondern draußen
  auf der Veranda, an demselben Tisch, an dem sie kaum zehn Stunden
  zuvor mit Effi das Frühstück genommen hatte.
  Sie freute sich auf den Brief, der einer befreundeten, zur Zeit in
  Reichenhall weilenden Berliner Dame zugute kommen sollte. Beider
  Seelen hatten sich längst gefunden und gipfelten in einer der ganzen
  Männerwelt geltenden starken Skepsis; sie fanden die Männer durchweg
  weit zurückbleibend hinter dem, was billigerweise gefordert werden
  könne, die sogenannten »forschen« am meisten. »Die, die vor
  Verlegenheit nicht wissen, wo sie hinsehen sollen, sind, nach einem
  kurzen Vorstudium, immer noch die besten, aber die eigentlichen Don
  Juans erweisen sich jedesmal als eine Enttäuschung. Wo soll es am Ende
  auch herkommen.« Das waren so Weisheitssätze, die zwischen den zwei
  Freundinnen ausgetauscht wurden.
  Die Zwicker war schon auf dem zweiten Bogen und fuhr in ihrem mehr
  als dankbaren Thema, das natürlich »Effi« hieß, eben wie folgt fort:
  »Alles in allem war sie sehr zu leiden, artig, anscheinend offen, ohne
  jeden Adelsdünkel (oder doch groß in der Kunst, ihn zu verbergen) und
  immer interessiert, wenn man ihr etwas Interessantes erzählte, wovon
  ich, wie ich Dir nicht zu versichern brauche, den ausgiebigsten
  Gebrauch machte. Nochmals also, reizende junge Frau, fünfundzwanzig
  oder nicht viel mehr. Und doch habe ich dem Frieden nie getraut und
  traue ihm auch in diesem Augenblick noch nicht, ja, jetzt vielleicht
  am wenigsten. Die Geschichte heute mit dem Briefe - da steckt eine
  wirkliche Geschichte dahinter. Dessen bin ich so gut wie sicher. Es
  wäre das erste Mal, daß ich mich in solcher Sache geirrt hätte. Daß
  sie mit Vorliebe von den Berliner Modepredigern sprach und das Maß der
  Gottseligkeit jedes einzelnen feststellte, das und der gelegentliche
  Gretchenblick, der jedesmal versicherte, kein Wässerchen trüben zu
  können - alle diese Dinge haben mich in meinem Glauben ... Aber da
  kommt eben unsere Afra, von der ich Dir, glaube ich, schon schrieb,
  eine hübsche Person, und packt mir ein Zeitungsblatt auf den Tisch,
  das ihr, wie sie sagt, unsere Frau Wirtin für mich gegeben habe; die
  blau angestrichene Stelle. Nun verzeih, wenn ich diese Stelle erst
  lese ...
  Nachschrift. Das Zeitungsblatt war interessant genug und kam wie
  gerufen. Ich schneide die blau angestrichene Stelle heraus und lege
  sie diesen Zeilen bei. Du siehst daraus, daß ich mich nicht geirrt
  habe. Wer mag nur der Crampas sein?
  Es ist unglaublich - erst selber Zettel und Briefe schreiben und dann
  auch noch die des anderen aufbewahren! Wozu gibt es Öfen und Kamine?
  Solange wenigstens, wie dieser Duellunsinn noch existiert, darf
  dergleichen nicht vorkommen; einem kommenden Geschlecht kann diese
  Briefschreibepassion (weil dann gefahrlos geworden) vielleicht
  freigegeben werden. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Übrigens
  bin ich voll Mitleid mit der jungen Baronin und finde, eitel wie man
  nun mal ist, meinen einzigen Trost darin, mich in der Sache selbst
  nicht getäuscht zu haben. Und der Fall lag nicht so ganz gewöhnlich.
  Ein schwächerer Diagnostiker hätte sich doch vielleicht hinters Licht
  führen lassen.
  Wie immer Deine Sophie.«
  
  Zweiunddreißigstes Kapitel
  Drei Jahre waren vergangen, und Effi bewohnte seit fast ebenso
  langer Zeit eine kleine Wohnung in der Königgrätzer Straße, zwischen
  Askanischem Platz und Halleschem Tor: ein Vorder- und Hinterzimmer und
  hinter diesem die Küche mit Mädchengelaß, alles so durchschnittsmäßig
  und alltäglich wie nur möglich. Und doch war es eine apart hübsche
  Wohnung, die jedem, der sie sah, angenehm auffiel, am meisten
  vielleicht dem alten Geheimrat Rummschüttel, der, dann und wann
  vorsprechend, der armen jungen Frau nicht bloß die nun weit
  zurückliegende Rheumatismus- und Neuralgiekomödie sondern auch alles,
  was seitdem sonst noch vorgekommen war, längst verziehen hatte, wenn
  es für ihn der Verzeihung überhaupt bedurfte. Denn Rummschüttel kannte
  noch ganz anderes.
  Er war jetzt ausgangs Siebzig, aber wenn Effi, die seit einiger Zeit
  ziemlich viel kränkelte, ihn brieflich um seinen Besuch bat, so war er
  am anderen Vormittag auch da und wollte von Entschuldigungen, daß es
  so hoch sei, nichts wissen. »Nur keine Entschuldigungen, meine liebe
  gnädigste Frau; denn erstens ist es mein Metier, und zweitens bin ich
  glücklich und beinahe stolz, die drei Treppen so gut noch steigen
  zu können. Wenn ich nicht fürchten müßte, Sie zu belästigen - denn
  ich komme doch schließlich als Arzt und nicht als Naturfreund und
  Landschaftsschwärmer -, so käme ich wohl noch öfter, bloß um Sie zu
  sehen und mich hier etliche Minuten an Ihr Hinterfenster zu setzen.
  Ich glaube, Sie würdigen den Ausblick nicht genug.«
  »O doch, doch«, sagte Effi; Rummschüttel aber ließ sich nicht stören
  und fuhr fort: »Bitte, meine gnädigste Frau, treten Sie hier heran,
  nur einen Augenblick, oder erlauben Sie mir, daß ich Sie bis an das
  Fenster führe. Wieder ganz herrlich heute. Sehen Sie doch nur die
  verschiedenen Bahndämme, drei, nein, vier, und wie es beständig darauf
  hin und her gleitet ... und nun verschwindet der Zug da wieder hinter
  einer Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den weißen
  Rauch durchleuchtet! Wäre der Matthäikirchhof nicht unmittelbar
  dahinter, so wäre es ideal.«
  »Ich sehe gern Kirchhöfe.«
  »Ja, Sie dürfen das sagen. Aber unsereins! Unsereinem kommt
  unabweislich immer die Frage, könnten hier nicht vielleicht einige
  weniger liegen? Im übrigen, meine gnädigste Frau, bin ich mit Ihnen
  zufrieden und beklage nur, daß Sie von Ems nichts wissen wollen; Ems
  bei Ihren katarrhalischen Affektionen, würde Wunder ...«
  Effi schwieg.
  »Ems würde Wunder tun. Aber da Sie's nicht mögen (und ich finde mich
  darin zurecht), so trinken Sie den Brunnen hier. In drei Minuten
  sind Sie im Prinz Albrechtschen Garten, und wenn auch die Musik
  und die Toiletten und all die Zerstreuungen einer regelrechten
  Brunnenpromenade fehlen, der Brunnen selbst ist doch die Hauptsache.«
  Effi war einverstanden, und Rummschüttel nahm Hut und Stock. Aber
  er trat noch einmal an das Fenster heran. »Ich höre von einer
  Terrassierung des Kreuzbergs sprechen, Gott segne die Stadtverwaltung,
  und wenn dann erst die kahle Stelle da hinten mehr in Grün stehen
  wird ... Eine reizende Wohnung. Ich könnte Sie fast beneiden ... Und
  was ich schon längst einmal sagen wollte, meine gnädige Frau, Sie
  schreiben mir immer einen so liebenswürdigen Brief. Nun, wer freute
  sich dessen nicht? Aber es ist doch jedesmal eine Mühe ... Schicken
  Sie mir doch einfach Roswitha.«
  Effi dankte ihm, und so schieden sie.
  »Schicken Sie mir doch einfach Roswitha ...« hatte Rummschüttel
  gesagt. Ja, war denn Roswitha bei Effi? War sie denn statt in der
  Keith- in der Königgrätzer Straße? Gewiß war sie's, und zwar sehr
  lange schon, gerade so lange, wie Effi selbst in der Königgrätzer
  Straße wohnte. Schon drei Tage vor diesem Einzug hatte sich Roswitha
  bei ihrer lieben gnädigen Frau sehen lassen, und das war ein
  großer Tag für beide gewesen, so sehr, daß dieses Tages hier noch
  nachträglich gedacht werden muß.
  Effi hatte damals, als der elterliche Absagebrief aus Hohen-Cremmen
  kam und sie mit dem Abendzug von Ems nach Berlin zurückreiste, nicht
  gleich eine selbständige Wohnung genommen, sondern es mit einem
  Unterkommen in einem Pensionat versucht. Es war ihr damit auch
  leidlich geglückt. Die beiden Damen, die dem Pensionat vorstanden,
  waren gebildet und voll Rücksicht und hatten es längst verlernt,
  neugierig zu sein. Es kam da so vieles zusammen, daß ein
  Eindringenwollen in die Geheimnisse jedes einzelnen viel zu
  umständlich gewesen wäre. Dergleichen hinderte nur den Geschäftsgang.
  Effi, die die mit den Augen angestellten Kreuzverhöre der Zwicker noch
  in Erinnerung hatte, fühlte sich denn auch von dieser Zurückhaltung
  der Pensionsdamen sehr angenehm berührt; als aber vierzehn Tage
  vorüber waren, empfand sie doch deutlich, daß die hier herrschende
  Gesamtatmosphäre, die physische wie die moralische, nicht wohl
  ertragbar für sie sei. Bei Tisch waren sie meist zu sieben, und zwar
  außer Effi und der einen Pensionsvorsteherin (die andere leitete
  draußen das Wirtschaftliche) zwei die Hochschule besuchende
  Engländerinnen, eine adelige Dame aus Sachsen, eine sehr hübsche
  galizische Jüdin, von der niemand wußte, was sie eigentlich vorhatte,
  und eine Kantorstochter aus Polzin in Pommern, die Malerin werden
  wollte. Das war eine schlimme Zusammensetzung, und die gegenseitigen
  Überheblichkeiten, bei denen die Engländerinnen merkwürdigerweise
  nicht absolut obenan standen, sondern mit der vom höchsten Malergefühl
  erfüllten Polzinerin um die Palme rangen, waren unerquicklich; dennoch
  wäre Effi, die sich passiv verhielt, über den Druck, den diese
  geistige Atmosphäre übte, hinweggekommen, wenn nicht, rein physisch
  und äußerlich, die sich hinzugesellende Pensionsluft gewesen wäre.
  Woraus sich diese eigentlich zusammensetzte, war vielleicht überhaupt
  unerforschlich, aber daß sie der sehr empfindlichen Effi den Atem
  raubte, war nur zu gewiß, und so sah sie sich, aus diesem äußerlichen
  Grunde, sehr bald schon zur Aus- und Umschau nach einer anderen
  Wohnung gezwungen, die sie denn auch in verhältnismäßiger Nähe fand.
  Es war dies die vorgeschilderte Wohnung in der Königgrätzer Straße.
  Sie sollte dieselbe zu Beginn des Herbstvierteljahres beziehen, hatte
  das Nötige dazu beschafft und zählte während der letzten Septembertage
  die Stunden bis zur Erlösung aus dem Pensionat.
  An einem dieser letzten Tage - sie hatte sich eine Viertelstunde zuvor
  aus dem Eßzimmer zurückgezogen und gedachte sich eben auf einem mit
  einem großblumigen Wollstoff überzogenen Seegrassofa auszuruhen -
  wurde leise an ihre Tür geklopft.
  »Herein.«
  Das eine Hausmädchen, eine kränklich aussehende Person von Mitte
  Dreißig, die durch beständigen Aufenthalt auf dem Korridor des
  Pensionats den hier lagernden Dunstkreis überallhin in ihren
  Falten mitschleppte, trat ein und sagte: Die gnädige Frau möchte
  entschuldigen, aber es wolle sie jemand sprechen.
  »Wer?«
  »Eine Frau.«
  »Und hat sie ihren Namen genannt?« »Ja, Roswitha.«
  Und siehe da, kaum daß Effi diesen Namen gehört hatte, so schüttelte
  sie den Halbschlaf von sich und sprang auf und lief auf den Korridor
  hinaus, um Roswitha bei beiden Händen zu fassen und in ihr Zimmer zu
  ziehen.
  »Roswitha. Du. Ist das eine Freude. Was bringst du? Natürlich was
  Gutes. Ein so gutes altes Gesicht kann nur was Gutes bringen. Ach, wie
  glücklich ich bin, ich könnte dir einen Kuß geben; ich hätte nicht
  gedacht, daß ich noch solche Freude haben könnte. Mein gutes altes
  Herz, wie geht es dir denn? Weißt du noch, wie's damals war, als der
  Chinese spukte? Das waren glückliche Zeiten. Ich habe damals gedacht,
  es wären unglückliche, weil ich das Harte des Lebens noch nicht
  kannte. Seitdem habe ich es kennengelernt. Ach, Spuk ist lange nicht
  das Schlimmste! Komm, meine gute Roswitha, komm, setz dich hier zu mir
  und erzähle mir ... Ach, ich habe solche Sehnsucht. Was macht Annie?«
  Roswitha konnte kaum reden und sah sich in dem sonderbaren Zimmer um,
  dessen grau und verstaubt aussehende Wände in schmale Goldleisten
  gefaßt waren. Endlich aber fand sie sich und sagte, daß der gnädige
  Herr nun wieder aus Glatz zurück sei; der alte Kaiser habe gesagt,
  sechs Wochen in solchem Falle sei gerade genug, und auf den Tag, wo
  der gnädige Herr wieder da sein würde, darauf habe sie bloß gewartet,
  wegen Annie, die doch eine Aufsicht haben müsse. Denn Johanna sei
  wohl eine sehr propre Person, aber sie sei doch noch zu hübsch und
  beschäftige sich noch zu viel mit sich selbst und denke vielleicht
  Gott weiß was alles. Aber nun, wo der gnädige Herr wieder aufpassen
  und in allem nach dem Rechten sehen könne, da habe sie sich's doch
  antun wollen und mal sehen, wie's der gnädigen Frau gehe ...
  »Das ist recht, Roswitha ...«
  Und habe mal sehen wollen, ob der gnädigen Frau was fehle und ob
  sie sie vielleicht brauche, dann wolle sie gleich hierbleiben und
  beispringen und alles machen und dafür sorgen, daß es der gnädigen
  Frau wieder gutgehe.
  Effi hatte sich in die Sofaecke zurückgelehnt und die Augen
  geschlossen. Aber mit eins richtete sie sich auf und sagte: »Ja,
  Roswitha, was du da sagst, das ist ein Gedanke; das ist was. Denn du
  mußt wissen, ich bleibe hier nicht in dieser Pension, ich habe da
  weiterhin eine Wohnung gemietet und auch Einrichtung besorgt, und in
  drei Tagen will ich da einziehen. Und wenn ich da mit dir ankäme und
  zu dir sagen könnte: 'Nein, Roswitha, da nicht, der Schrank muß dahin
  und der Spiegel da', ja, das wäre was, das sollte mir schon gefallen.
  Und wenn wir dann müde von all der Plackerei wären, dann sagte ich:
  'Nun, Roswitha, gehe da hinüber und hole uns eine Karaffe Spatenbräu,
  denn wenn man gearbeitet hat, dann will man doch auch trinken, und
  wenn du kannst, so bring uns auch etwas Gutes aus dem Habsburger Hof
  mit, du kannst ja das Geschirr nachher wieder herüberbringen' - ja,
  Roswitha, wenn ich mir das denke, da wird mir ordentlich leichter ums
  Herz. Aber ich muß dich doch fragen, hast du dir auch alles überlegt?
  Von Annie will ich nicht sprechen, an der du doch hängst, sie ist ja
  fast wie dein eigen Kind - aber trotzdem, für Annie wird schon gesorgt
  werden, und die Johanna hängt ja auch an ihr. Also davon nichts. Aber
  bedenke, wie sich alles verändert hat, wenn du wieder zu mir willst.
  Ich bin nicht mehr wie damals; ich habe jetzt eine ganz kleine Wohnung
  genommen, und der Portier wird sich wohl nicht sehr um dich und um
  mich bemühen. Und wir werden eine sehr kleine Wirtschaft haben, immer
  das, was wir sonst unser Donnerstagessen nannten, weil da reingemacht
  wurde. Weißt du noch? Und weißt du noch, wie der gute Gieshübler mal
  dazukam und sich zu uns setzen mußte, und wie er dann sagte: So was
  Delikates habe er noch nie gegessen. Du wirst dich noch erinnern,
  er war immer so schrecklich artig, denn eigentlich war er doch der
  einzige Mensch in der Stadt, der von Essen was verstand. Die andern
  fanden alles schön.«
  Roswitha freute sich über jedes Wort und sah schon alles in bestem
  Gange, bis Effi wieder sagte: »Hast du dir das alles überlegt? Denn
  du bist doch - ich muß das sagen, wiewohl es meine eigne Wirtschaft
  war -, du bist doch nun durch viele Jahre hin verwöhnt, und es kam nie
  darauf an, wir hatten es nicht nötig, sparsam zu sein; aber jetzt muß
  ich sparsam sein, denn ich bin arm und habe nur, was man mir gibt, du
  weißt, von Hohen-Cremmen her. Meine Eltern sind sehr gut gegen mich,
  soweit sie's können, aber sie sind nicht reich. Und nun sage, was
  meinst du?«
  »Daß ich nächsten Sonnabend mit meinem Koffer anziehe, nicht am Abend,
  sondern gleich am Morgen, und daß ich da bin, wenn das Einrichten
  losgeht. Denn ich kann doch ganz anders zufassen wie die gnädige
  Frau.«
  »Sage das nicht, Roswitha. Ich kann es auch. Wenn man muß, kann man
  alles.«
  »Und dann, gnädigste Frau, Sie brauchen sich wegen meiner nicht zu
  fürchten, als ob ich mal denken könnte: 'für Roswitha ist das nicht
  gut genug'. Für Roswitha ist alles gut, was sie mit der gnädigen Frau
  teilen muß, und am liebsten, wenn es was Trauriges ist. Ja, darauf
  freue ich mich schon ordentlich. Dann sollen Sie mal sehen, das
  verstehe ich. Und wenn ich es nicht verstünde, dann wollte ich es
  schon lernen. Denn, gnädige Frau, das hab' ich nicht vergessen, als
  ich da auf dem Kirchhof saß, mutterwindallein, und bei mir dachte, nun
  wäre es doch wohl das beste, ich läge da gleich mit in der Reihe. Wer
  kam da? Wer hat mich da bei Leben erhalten? Ach, ich habe so viel
  durchzumachen gehabt. Als mein Vater damals mit der glühenden Stange
  auf mich loskam ...«
  »Ich weiß schon, Roswitha ...«
  »Ja, das war schlimm genug. Aber als ich da auf dem Kirchhof saß, so
  ganz arm und verlassen, das war doch noch schlimmer. Und da kam die
  gnädige Frau. Und ich will nicht selig werden, wenn ich das vergesse.«
  Und dabei stand sie auf und ging aufs Fenster zu. »Sehen Sie, gnädige
  Frau, den müssen Sie doch auch noch sehen.«
  Und nun trat auch Effi heran.
  Drüben, auf der anderen Seite der Straße, saß Rollo und sah nach den
  Fenstern der Pension hinauf.
  Wenige Tage danach bezog Effi, von Roswitha unterstützt, ihre Wohnung
  in der Königgrätzer Straße, darin es ihr von Anfang an gefiel. Umgang
  fehlte freilich, aber sie hatte während ihrer Pensionstage von dem
  Verkehr mit Menschen so wenig Erfreuliches gehabt, daß ihr das
  Alleinsein nicht schwerfiel, wenigstens anfänglich nicht. Mit Roswitha
  ließ sich allerdings kein ästhetisches Gespräch führen, auch nicht
  mal sprechen über das, was in der Zeitung stand; aber wenn es einfach
  menschliche Dinge betraf und Effi mit einem »ach, Roswitha, mich
  ängstigt es wieder ...« ihren Satz begann, dann wußte die treue Seele
  jedesmal gut zu antworten und hatte immer Trost und meist auch Rat.
  Bis Weihnachten ging es vorzüglich; aber der Heiligabend verlief
  schon recht traurig, und als das neue Jahr herankam, begann Effi ganz
  schwermütig zu werden. Es war nicht kalt, nur grau und regnerisch, und
  wenn die Tage kurz waren, so waren die Abende desto länger. Was tun?
  Sie las, sie stickte, sie legte Patience, sie spielte Chopin, aber
  diese Notturnos waren auch nicht angetan, viel Licht in ihr Leben zu
  tragen, und wenn Roswitha mit dem Teebrett kam und außer dem Teezeug
  auch noch zwei Tellerchen mit einem Ei und einem in kleine Scheiben
  geschnittenen Wiener Schnitzel auf den Tisch setzte, sagte Effi,
  während sie das Piano schloß: »Rücke heran, Roswitha. Leiste mir
  Gesellschaft.«
  Roswitha kam denn auch. »Ich weiß schon, die gnädige Frau haben wieder
  zuviel gespielt; dann sehen Sie immer so aus und haben rote Flecke.
  Der Geheimrat hat es doch verboten.«
  »Ach, Roswitha, der Geheimrat hat leicht verbieten, und du hast es
  auch leicht, all das nachzusprechen. Aber was soll ich denn machen?
  Ich kann doch nicht den ganzen Tag am Fenster sitzen und nach der
  Christuskirche hin übersehen. Sonntags, beim Abendgottesdienst, wenn
  die Fenster beleuchtet sind, sehe ich ja immer hinüber; aber es hilft
  
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