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Effi Briest - 15

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  ist ein Rheumatismus. Ich hätte nicht gedacht, daß das so schmerzhaft
  sei.«
  »Siehst du, was ich dir gesagt habe; man soll den Teufel nicht an die
  Wand malen. Gestern hast du noch leichtsinnig darüber gesprochen,
  und heute ist es schon da. Wenn ich Schweigger sehe, werde ich ihn
  fragen, was du tun sollst.« »Nein, nicht Schweigger. Der ist ja ein
  Spezialist. Das geht nicht, und er könnte es am Ende übelnehmen, in so
  was anderem zu Rate gezogen zu werden. Ich denke, das beste ist, wir
  warten es ab. Es kann ja auch vorübergehen. Ich werde den ganzen Tag
  über von Tee und Sodawasser leben, und wenn ich dann transpiriere,
  komm ich vielleicht drüber hin.«
  Frau von Briest drückte ihre Zustimmung aus, bestand aber darauf, daß
  sie sich gut verpflege. Daß man nichts genießen müsse, wie das früher
  Mode war, das sei ganz falsch und schwäche bloß; in diesem Punkt stehe
  sie ganz zu der jungen Schule: tüchtig essen.
  Effi sog sich nicht wenig Trost aus diesen Anschauungen, schrieb ein
  Telegramm an Innstetten, worin sie von dem »leidigen Zwischenfall«
  und einer ärgerlichen, aber doch nur momentanen Behinderung sprach,
  und sagte dann zu Roswitha: »Roswitha, du mußt mir nun auch Bücher
  besorgen; es wird nicht schwerhalten, ich will alte, ganz alte.«
  »Gewiß, gnäd'ge Frau. Die Leihbibliothek ist ja gleich hier nebenan.
  Was soll ich besorgen?«
  »Ich will es aufschreiben, allerlei zur Auswahl, denn mitunter haben
  sie nicht das eine, was man grade haben will.« Roswitha brachte
  Bleistift und Papier, und Effi schrieb auf:
  Walter Scott, Ivanhoe oder Quentin Durward; Cooper, Der Spion;
  Dickens, David Copperfield; Willibald Alexis, Die Hosen des Herrn von
  Bredow.
  Roswitha las den Zettel durch und schnitt in der anderen Stube die
  letzte Zeile fort; sie genierte sich ihret- und ihrer Frau wegen, den
  Zettel in seiner ursprünglichen Gestalt abzugeben.
  Ohne besondere Vorkommnisse verging der Tag. Am andern Morgen war
  es nicht besser und am dritten auch nicht. »Effi, das geht so nicht
  länger. Wenn so was einreißt, dann wird man's nicht wieder los;
  wovor die Doktoren am meisten warnen und mit Recht, das sind solche
  Verschleppungen.«
  Effi seufzte. »Ja, Mama, aber wen sollen wir nehmen? Nur keinen
  jungen; ich weiß nicht, aber es würde mich genieren.«
  »Ein junger Doktor ist immer genant, und wenn er es nicht ist, desto
  schlimmer. Aber du kannst dich beruhigen; ich komme mit einem ganz
  alten, der mich schon behandelt hat, als ich noch in der Heckerschen
  Pension war, also vor etlichen zwanzig Jahren. Und damals war er nah
  an Fünfzig und hatte schönes graues Haar, ganz kraus. Er war ein
  Damenmann, aber in den richtigen Grenzen. Ärzte, die das vergessen,
  gehen unter, und es kann auch nicht anders sein; unsere Frauen,
  wenigstens die aus der Gesellschaft, haben immer noch einen guten
  Fond.«
  »Meinst du? Ich freue mich immer, so was Gutes zu hören. Denn mitunter
  hört man doch auch andres. Und schwer mag es wohl oft sein. Und wie
  heißt denn der alte Geheimrat? Ich nehme an, daß es ein Geheimrat
  ist.«
  »Geheimrat Rummschüttel.«
  Effi lachte herzlich. »Rummschüttel! Und als Arzt für jemanden, der
  sich nicht rühren kann.«
  »Effi, du sprichst so sonderbar. Große Schmerzen kannst du nicht
  haben.«
  »Nein, in diesem Augenblick nicht; es wechselt beständig.«
  Am anderen Morgen erschien Geheimrat Rummschüttel. Frau von Briest
  empfing ihn, und als er Effi sah, war sein erstes Wort: »Ganz die
  Mama.«
  Diese wollte den Vergleich ablehnen und meinte, zwanzig Jahre und
  drüber seien doch eine lange Zeit; Rummschüttel blieb aber bei seiner
  Behauptung, zugleich versichernd: nicht jeder Kopf präge sich ihm ein,
  aber wenn er überhaupt erst einen Eindruck empfangen habe, so bleibe
  der auch für immer. »Und nun, meine gnädigste Frau von Innstetten, wo
  fehlt es, wo sollen wir helfen?«
  »Ach, Herr Geheimrat, ich komme in Verlegenheit, Ihnen auszudrücken,
  was es ist. Es wechselt beständig. In diesem Augenblick ist es wie
  weggeflogen. Anfangs habe ich an Rheumatisches gedacht, aber ich möcht
  beinah glauben, es sei eine Neuralgie, Schmerzen den Rücken entlang,
  und dann kann ich mich nicht aufrichten. Mein Papa leidet an
  Neuralgie, da hab ich es früher beobachten können. Vielleicht ein
  Erbstück von ihm.«
  »Sehr wahrscheinlich«, sagte Rummschüttel, der den Puls gefühlt
  und die Patientin leicht, aber doch scharf beobachtet hatte. »Sehr
  wahrscheinlich, meine gnädigste Frau.« Was er aber still zu sich
  selber sagte, das lautete: »Schulkrank und mit Virtuosität gespielt;
  Evastochter comme il faut.« Er ließ jedoch nichts davon merken,
  sondern sagte mit allem wünschenswerten Ernst: »Ruhe und Wärme sind
  das Beste, was ich anraten kann. Eine Medizin, übrigens nichts
  Schlimmes, wird das Weitere tun.«
  Und er erhob sich, um das Rezept aufzuschreiben: Aqua Amygdalarum
  amararum eine halbe Unze, Syrupus florum Aurantii zwei Unzen.
  »Hiervon, meine gnädigste Frau, bitte ich Sie, alle zwei Stunden einen
  halben Teelöffel voll nehmen zu wollen. Es wird Ihre Nerven beruhigen.
  Und worauf ich noch dringen möchte: keine geistigen Anstrengungen,
  keine Besuche, keine Lektüre.« Dabei wies er auf das neben ihr
  liegende Buch.
  »Es ist Scott.«
  »Oh, dagegen ist nichts einzuwenden. Das beste sind
  Reisebeschreibungen. Ich spreche morgen wieder vor.«
  Effi hatte sich wundervoll gehalten, ihre Rolle gut durchgespielt. Als
  sie wieder allein war - die Mama begleitete den Geheimrat -, schoß ihr
  trotzdem das Blut zu Kopf; sie hatte recht gut bemerkt, daß er ihrer
  Komödie mit einer Komödie begegnet war. Er war offenbar ein überaus
  lebensgewandter Herr, der alles recht gut sah, aber nicht alles
  sehen wollte, vielleicht weil er wußte, daß dergleichen auch mal zu
  respektieren sein könne. Denn gab es nicht zu respektierende Komödien,
  war nicht die, die er selber spielte, eine solche? Bald danach kam die
  Mama zurück, und Mutter und Tochter ergingen sich in Lobeserhebungen
  über den feinen alten Herrn, der trotz seiner beinah Siebzig noch
  etwas Jugendliches habe. »Schicke nur gleich Roswitha nach der
  Apotheke ... Du sollst aber nur alle drei Stunden nehmen, hat er mir
  draußen noch eigens gesagt. So war er schon damals, er verschrieb
  nicht oft und nicht viel; aber immer Energisches, und es half auch
  gleich.«
  Rummschüttel kam den zweiten Tag und dann jeden dritten, weil er sah,
  welche Verlegenheit sein Kommen der jungen Frau bereitete. Dies nahm
  ihn für sie ein, und sein Urteil stand ihm nach dem dritten Besuch
  fest: »Hier liegt etwas vor, was die Frau zwingt, so zu handeln, wie
  sie handelt.« Über solche Dinge den Empfindlichen zu spielen, lag
  längst hinter ihm.
  Als Rummschüttel seinen vierten Besuch machte, fand er Effi auf, in
  einem Schaukelstuhl sitzend, ein Buch in der Hand, Annie neben ihr.
  »Ah, meine gnädigste Frau! Hocherfreut. Ich schiebe es nicht auf die
  Arznei; das schöne Wetter, die hellen, frischen Märztage, da fällt die
  Krankheit ab. Ich beglückwünsche Sie. Und die Frau Mama?«
  »Sie ist ausgegangen, Herr Geheimrat, in die Keithstraße, wo wir
  gemietet haben. Ich erwarte nun innerhalb weniger Tage meinen Mann,
  den ich mich, wenn in unserer Wohnung erst alles in Ordnung sein wird,
  herzlich freue, Ihnen vorstellen zu können. Denn ich darf doch wohl
  hoffen, daß Sie auch in Zukunft sich meiner annehmen werden.«
  Er verbeugte sich.
  »Die neue Wohnung«, fuhr sie fort, »ein Neubau, macht mir freilich
  Sorge. Glauben Sie, Herr Geheimrat, daß die feuchten Wände ...«
  »Nicht im geringsten, meine gnädigste Frau. Lassen Sie drei, vier Tage
  lang tüchtig heizen und immer Türen und Fenster auf, da können Sie's
  wagen, auf meine Verantwortung. Und mit Ihrer Neuralgie, das war nicht
  von solcher Bedeutung. Aber ich freue mich Ihrer Vorsicht, die mir
  Gelegenheit gegeben hat, eine alte Bekanntschaft zu erneuern und eine
  neue zu machen.«
  Er wiederholte seine Verbeugung, sah noch Annie freundlich in die
  Augen und verabschiedete sich unter Empfehlungen an die Mama.
  Kaum daß er fort war, so setzte sich Effi an den Schreibtisch und
  schrieb: »Lieber Innstetten! Eben war Rummschüttel hier und hat mich
  aus der Kur entlassen. Ich könnte nun reisen, morgen etwa; aber heut
  ist schon der 24., und am 28. willst Du hier eintreffen. Angegriffen
  bin ich ohnehin noch. Ich denke, Du wirst einverstanden sein, wenn ich
  die Reise ganz aufgebe. Die Sachen sind ja ohnehin schon unterwegs,
  und wir würden, wenn ich käme, in Hoppensacks Hotel wie Fremde leben
  müssen. Auch der Kostenpunkt ist in Betracht zu ziehen, die Ausgaben
  werden sich ohnehin häufen; unter anderem ist Rummschüttel zu
  honorieren, wenn er uns auch als Arzt verbleibt. Übrigens ein sehr
  liebenswürdiger alter Herr. Er gilt ärztlich nicht für ersten
  Ranges, 'Damendoktor', sagen seine Gegner und Neider. Aber dies
  Wort umschließt doch auch ein Lob; es kann eben nicht jeder mit uns
  umgehen. Daß ich von den Kessinern nicht persönlich Abschied nehme,
  hat nicht viel auf sich. Bei Gieshübler war ich. Die Frau Majorin hat
  sich immer ablehnend gegen mich verhalten, ablehnend bis zur Unart;
  bleibt noch der Pastor und Doktor Hannemann und Crampas. Empfiehl
  mich letzterem. An die Familien auf dem Lande schicke ich Karten;
  Güldenklees, wie Du mir schreibst, sind in Italien (was sie da wollen,
  weiß ich nicht), und so bleiben nur die drei andern. Entschuldige
  mich, so gut es geht. Du bist ja der Mann der Formen und weißt
  das richtige Wort zu treffen. An Frau Von Padden, die mir am
  Silvesterabend so außerordentlich gut gefiel, schreibe ich vielleicht
  selber noch und spreche ihr mein Bedauern aus. Laß mich in einem
  Telegramm wissen, ob Du mit allem einverstanden bist. Wie immer Deine
  Effi.«
  Effi brachte selber den Brief zur Post, als ob sie dadurch die Antwort
  beschleunigen könne, und am nächsten Vormittag traf denn auch das
  erbetene Telegramm von Innstetten ein: »Einverstanden mit allem.« Ihr
  Herz jubelte, sie eilte hinunter und auf den nächsten Droschkenstand
  zu: »Keithstraße Ic.« Und erst die Linden und dann die
  Tiergartenstraße hinunter flog die Droschke, und nun hielt sie vor der
  neuen Wohnung.
  Oben standen die den Tag vorher eingetroffenen Sachen noch bunt
  durcheinander, aber es störte sie nicht, und als sie auf den breiten,
  aufgemauerten Balkon hinaustrat, lag jenseits der Kanalbrücke der
  Tiergarten vor ihr, dessen Bäume schon überall einen grünen Schimmer
  zeigten. Darüber aber ein klarer blauer Himmel und eine lachende
  Sonne.
  Sie zitterte vor Erregung und atmete hoch auf. Dann trat sie vom
  Balkon her wieder über die Türschwelle zurück, hob den Blick und
  faltete die Hände.
  »Nun, mit Gott, ein neues Leben! Es soll anders werden.«
  
  Vierundzwanzigstes Kapitel
  Drei Tage danach, ziemlich spät, um die neunte Stunde, traf Innstetten
  in Berlin ein. Alles war am Bahnhof: Effi, die Mama, der Vetter; der
  Empfang war herzlich, am herzlichsten von seiten Effis, und man hatte
  bereits eine Welt von Dingen durchgesprochen, als der Wagen, den man
  genommen, vor der neuen Wohnung in der Keithstraße hielt. »Ach, da
  hast du gut gewählt, Effi«, sagte Innstetten, als er in das Vestibül
  eintrat, »kein Haifisch, kein Krokodil und hoffentlich auch kein
  Spuk.«
  »Nein, Geert, damit ist es nun vorbei. Nun bricht eine andere Zeit an,
  und ich fürchte mich nicht mehr und will auch besser sein als früher
  und dir mehr zu Willen leben.« Alles das flüsterte sie ihm zu, während
  sie die teppichbedeckte Treppe bis in den zweiten Stock hinanstiegen.
  Der Vetter führte die Mama.
  Oben fehlte noch manches, aber für einen wohnlichen Eindruck war doch
  gesorgt, und Innstetten sprach seine Freude darüber aus. »Effi, du
  bist doch ein kleines Genie«; aber diese lehnte das Lob ab und zeigte
  auf die Mama, die habe das eigentliche Verdienst. »Hier muß es
  stehen«, so habe es unerbittlich geheißen, und immer habe sie's
  getroffen, wodurch natürlich viel Zeit gespart und die gute Laune
  nie gestört worden sei. Zuletzt kam auch Roswitha, um den Herrn zu
  begrüßen, bei welcher Gelegenheit sie sagte, Fräulein Annie ließe sich
  für heute entschuldigen - ein kleiner Witz, auf den sie stolz war und
  mit dem sie auch ihren Zweck vollkommen erreichte.
  Und nun nahmen sie Platz um den schon gedeckten Tisch, und als
  Innstetten sich ein Glas Wein eingeschenkt und »auf glückliche Tage«
  mit allen angestoßen hatte, nahm er Effis Hand und sagte: »Aber Effi,
  nun erzähle mir, was war das mit deiner Krankheit?«
  »Ach, lassen wir doch das, nicht der Rede wert; ein bißchen
  schmerzhaft und eine rechte Störung, weil es einen Strich durch
  unsere Pläne machte. Aber mehr war es nicht, und nun ist es vorbei.
  Rummschüttel hat sich bewährt, ein feiner, liebenswürdiger alter Herr,
  wie ich dir, glaub ich, schon schrieb. In seiner Wissenschaft soll er
  nicht gerade glänzen, aber Mama sagt, das sei ein Vorzug. Und sie wird
  wohl recht haben, wie in allen Stücken. Unser guter Doktor Hannemann
  war auch kein Licht und traf es doch immer. Und nun sag, was macht
  Gieshübler und die anderen alle?«
  »Ja, wer sind die anderen alle? Crampas läßt sich der gnäd'gen Frau
  empfehlen ...«
  »Ah, sehr artig.«
  »Und der Pastor will dir desgleichen empfohlen sein; nur die
  Herrschaften auf dem Lande waren ziemlich nüchtern und schienen auch
  mich für deinen Abschied ohne Abschied verantwortlich machen zu
  wollen. Unsere Freundin Sidonie war sogar spitz, und nur die gute Frau
  von Padden, zu der ich eigens vorgestern noch hinüberfuhr, freute sich
  aufrichtig über deinen Gruß und deine Liebeserklärung an sie. Du seist
  eine reizende Frau, sagte sie, aber ich sollte dich gut hüten. Und als
  ich ihr erwiderte, du fändest schon, daß ich mehr ein Erzieher als ein
  Ehemann sei, sagte sie halblaut und beinahe wie abwesend: 'Ein junges
  Lämmchen, weiß wie Schnee.' Und dann brach sie ab.«
  Vetter Briest lachte. »'Ein junges Lämmchen, weiß wie Schnee.' Da
  hörst du's, Cousine.« Und er wollte sie zu necken fortfahren, gab es
  aber auf, als er sah, daß sie sich verfärbte.
  Das Gespräch, das meist zurückliegende Verhältnisse berührte, spann
  sich noch eine Weile weiter, und Effi erfuhr zuletzt aus diesem und
  jenem, was Innstetten mitteilte, daß sich von dem ganzen Kessiner
  Hausstand nur Johanna bereit erklärt habe, die Übersiedlung nach
  Berlin mitzumachen. Sie sei natürlich noch zurückgeblieben, werde aber
  in zwei, drei Tagen mit dem Rest der Sachen eintreffen; er sei froh
  über ihren Entschluß, denn sie sei immer die Brauchbarste gewesen
  und von einem ausgesprochenen großstädtischen Schick. Vielleicht ein
  bißchen zu sehr. Christel und Friedrich hätten sich beide für zu
  alt erklärt, und mit Kruse zu verhandeln, habe sich von vornherein
  verboten. »Was soll uns ein Kutscher hier?« schloß Innstetten. »Pferd
  und Wagen, das sind tempi passati, mit diesem Luxus ist es in Berlin
  vorbei. Nicht einmal das schwarze Huhn hätten wir unterbringen können.
  Oder unterschätze ich die Wohnung?«
  Effi schüttelte den Kopf, und als eine kleine Pause eintrat, erhob
  sich die Mama; es sei bald elf, und sie habe noch einen weiten Weg,
  übrigens solle sie niemand begleiten, der Droschkenstand sei ja nah
  - ein Ansinnen, das Vetter Briest natürlich ablehnte. Bald darauf
  trennte man sich, nachdem noch ein Rendezvous für den anderen
  Vormittag verabredet war.
  Effi war ziemlich früh auf und hatte - die Luft war beinahe sommerlich
  warm - den Kaffeetisch bis nahe an die geöffnete Balkontür rücken
  lassen, und als Innstetten nun auch erschien, trat sie mit ihm auf
  den Balkon hinaus und sagte: »Nun, was sagst du? Du wolltest den
  Finkenschlag aus dem Tiergarten hören und die Papageien aus dem
  Zoologischen.
  Ich weiß nicht, ob beide dir den Gefallen tun werden, aber möglich ist
  es. Hörst du wohl? Das kam von drüben, drüben aus dem kleinen Park. Es
  ist nicht der eigentliche Tiergarten, aber doch beinah.«
  Innstetten war entzückt und von einer Dankbarkeit, als ob Effi ihm
  das alles persönlich herangezaubert habe. Dann setzten sie sich, und
  nun kam auch Annie. Roswitha verlangte, daß Innstetten eine große
  Veränderung an dem Kinde finden solle, was er denn auch schließlich
  tat. Und dann plauderten sie weiter, abwechselnd über die Kessiner und
  die in Berlin zu machenden Visiten und ganz zuletzt auch über eine
  Sommerreise. Mitten im Gespräch aber mußten sie abbrechen, um
  rechtzeitig beim Rendezvous erscheinen zu können.
  Man traf sich, wie verabredet, bei Helms, gegenüber dem Roten Schloß,
  besuchte verschiedene Läden, aß bei Hiller und war bei guter Zeit
  wieder zu Haus. Es war ein gelungenes Beisammensein gewesen.
  Innstetten herzlich froh, das großstädtische Leben wieder mitmachen
  und auf sich wirken lassen zu können. Tags darauf, am 1. April, begab
  er sich in das Kanzlerpalais, um sich einzuschreiben (eine persönliche
  Gratulation unterließ er aus Rücksicht), und ging dann aufs
  Ministerium, um sich da zu melden. Er wurde auch angenommen, trotzdem
  es ein geschäftlich und gesellschaftlich sehr unruhiger Tag war,
  ja, sah sich seitens seines Chefs durch besonders entgegenkommende
  Liebenswürdigkeit ausgezeichnet. Er wisse, was er an ihm habe, und sei
  sicher, ihr Einvernehmen nie gestört zu sehen.
  Auch im Hause gestaltete sich alles zum Guten. Ein aufrichtiges
  Bedauern war es für Effi, die Mama, nachdem diese, wie gleich
  anfänglich vermutet, fast sechs Wochen lang in Kur gewesen, nach
  Hohen-Cremmen zurückkehren zu sehen, ein Bedauern, das nur dadurch
  einigermaßen gemildert wurde, daß sich Johanna denselben Tag noch
  in Berlin einstellte. Das war immerhin was, und wenn die hübsche
  Blondine dem Herzen Effis auch nicht ganz so nahe stand wie die ganz
  selbstsuchtslose und unendlich gutmütige Roswitha, so war sie doch
  gleichmäßig angesehen, ebenso bei Innstetten wie bei ihrer jungen
  Herrin, weil sie sehr geschickt und brauchbar und der Männerwelt
  gegenüber von einer ausgesprochenen und selbstbewußten Reserviertheit
  war. Einem Kessiner on dit zufolge ließen sich die Wurzeln ihrer
  Existenz auf eine längst pensionierte Größe der Garnison Pasewalk
  zurückführen, woraus man sich auch ihre vornehme Gesinnung, ihr
  schönes blondes Haar und die besondere Plastik ihrer Gesamterscheinung
  erklären wollte. Johanna selbst teilte die Freude, die man allerseits
  über ihr Eintreffen empfand, und war durchaus einverstanden damit,
  als Hausmädchen und Jungfer, ganz wie früher, den Dienst bei Effi zu
  übernehmen, während Roswitha, die der Christel in beinahe Jahresfrist
  ihre Kochkünste so ziemlich abgelernt hatte, dem Küchendepartement
  vorstehen sollte. Annies Abwartung und Pflege fiel Effi selber zu,
  worüber Roswitha freilich lachte. Denn sie kannte die jungen Frauen.
  Innstetten lebte ganz seinem Dienst und seinem Haus. Er war
  glücklicher als vordem in Kessin, weil ihm nicht entging, daß Effi
  sich unbefangener und heiterer gab. Und das konnte sie, weil sie sich
  freier fühlte. Wohl blickte das Vergangene noch in ihr Leben hinein,
  aber es ängstigte sie nicht mehr oder doch um vieles seltener und
  vorübergehender, und alles, was davon noch in ihr nachzitterte, gab
  ihrer Haltung einen eigenen Reiz. In jeglichem, was sie tat, lag etwas
  Wehmütiges, wie eine Abbitte, und es hätte sie glücklich gemacht, dies
  alles noch deutlicher zeigen zu können. Aber das verbot sich freilich.
  Das gesellschaftliche Leben der großen Stadt war, als sie während der
  ersten Aprilwochen ihre Besuche machten, noch nicht vorüber, wohl aber
  im Erlöschen, und so kam es für sie zu keiner rechten Teilnahme mehr
  daran. In der zweiten Hälfte des Mai starb es dann ganz hin, und mehr
  noch als vorher war man glücklich, sich in der Mittagsstunde, wenn
  Innstetten von seinem Ministerium kam, im Tiergarten treffen oder
  nachmittags einen Spaziergang nach dem Charlottenburger Schloßgarten
  machen zu können. Effi sah sich, wenn sie die lange Front zwischen dem
  Schloß und den Orangeriebäumen auf und ab schritt, immer wieder die
  massenhaft dort stehenden römischen Kaiser an, fand eine merkwürdige
  Ähnlichkeit zwischen Nero und Titus, sammelte Tannenäpfel, die von
  den Trauertannen gefallen waren, und ging dann, Arm in Arm mit ihrem
  Manne, bis auf das nach der Spree hin einsam gelegene »Belvedere« zu.
  »Da drin soll es auch einmal gespukt haben«, sagte sie.
  »Nein, bloß Geistererscheinungen.«
  »Das ist dasselbe.«
  »Ja, zuweilen«, sagte Innstetten. »Aber eigentlich ist doch ein
  Unterschied. Geistererscheinungen werden immer gemacht - wenigstens
  soll es hier in dem 'Belvedere' so gewesen sein, wie Vetter Briest
  erst gestern noch erzählte -, Spuk aber wird nie gemacht, Spuk ist
  natürlich.«
  »Also glaubst du doch dran?«
  »Gewiß glaub ich dran. Es gibt so was. Nur an das, was wir in Kessin
  davon hatten, glaub ich nicht recht. Hat dir denn Johanna schon ihren
  Chinesen gezeigt?«
  »Welchen?«
  »Nun, unsern. Sie hat ihn, ehe sie unser altes Haus verließ, oben von
  der Stuhllehne abgelöst und ihn ins Portemonnaie gelegt. Als ich mir
  neulich ein Markstück bei ihr wechselte, hab ich ihn gesehen. Und sie
  hat es mir auch verlegen bestätigt.«
  »Ach, Geert, das hättest du mir nicht sagen sollen. Nun ist doch
  wieder so was in unserm Hause.«
  »Sag ihr, daß sie ihn verbrennt.«
  »Nein, das mag ich auch nicht, und das hilft auch nichts. Aber ich
  will Roswitha bitten ...«
  »Um was? Ah, ich verstehe schon, ich ahne, was du vorhast. Die soll
  ein Heiligenbild kaufen und es dann auch ins Portemonnaie tun. Ist es
  so was?«
  Effi nickte.
  »Nun, tu, was du willst. Aber sag es niemandem.«
  Effi meinte dann schließlich, es lieber doch lassen zu wollen, und
  unter allerhand kleinem Geplauder, in welchem die Reisepläne für den
  Sommer mehr und mehr Platz gewannen, fuhren sie bis an den »Großen
  Stern« zurück und gingen dann durch die Korso-Allee und die breite
  Friedrich-Wilhelm-Straße auf ihre Wohnung zu.
  Sie hatten vor, schon Ende Juli Urlaub zu nehmen und ins bayerische
  Gebirge zu gehen, wo gerade in diesem Jahr wieder die Oberammergauer
  Spiele stattfanden. Es ließ sich aber nicht tun; Geheimrat von
  Wüllesdorf, den Innstetten schon von früher her kannte und der jetzt
  sein Spezialkollege war, erkrankte plötzlich, und Innstetten mußte
  bleiben und ihn vertreten. Erst Mitte August war alles wieder
  beglichen und damit die Reisemöglichkeit gegeben; es war aber nun zu
  spät geworden, um noch nach Oberammergau zu gehen, und so entschied
  man sich für einen Aufenthalt auf Rügen. »Zunächst natürlich
  Stralsund, mit Schill, den du kennst, und mit Scheele, den du nicht
  kennst und der den Sauerstoff entdeckte, was man aber nicht zu wissen
  braucht. Und dann von Stralsund nach Bergen und dem Rugard, von wo
  man, wie mir Wüllersdorf sagte, die ganze Insel übersehen kann, und
  dann zwischen dem Großen und Kleinen Jasmunder-Bodden hin, bis nach
  Saßnitz. Denn nach Rügen reisen heißt nach Saßnitz reisen. Binz ginge
  vielleicht auch noch, aber da sind - ich muß Wüllersdorf noch einmal
  zitieren - so viele kleine Steinchen und Muschelschalen am Strand, und
  wir wollen doch baden.«
  Effi war einverstanden mit allem, was von seiten Innstettens geplant
  wurde, vor allem auch damit, daß der ganze Hausstand auf vier Wochen
  aufgelöst und Roswitha mit Annie nach Hohen-Cremmen, Johanna aber zu
  ihrem etwas jüngeren Halbbruder reisen sollte, der bei Pasewalk eine
  Schneidemühle hatte. So war alles gut untergebracht. Mit Beginn der
  nächsten Woche brach man denn auch wirklich auf, und am selben Abend
  noch war man in Saßnitz. Über dem Gasthaus stand »Hotel Fahrenheit«.
  »Die Preise hoffentlich nach Réaumur«, setzte Innstetten, als er
  den Namen las, hinzu, und in bester Laune machten beide noch einen
  Abendspaziergang an dem Klippenstrand hin und sahen von einem
  Felsenvorsprung aus auf die stille, vom Mondschein überzitterte Bucht.
  Effi war entzückt. »Ach, Geert, das ist ja Capri, das ist ja Sorrent.
  Ja, hier bleiben wir. Aber natürlich nicht im Hotel; die Kellner sind
  mir zu vornehm, und man geniert sich, um eine Flasche Sodawasser zu
  bitten ...«
  »Ja, lauter Attachés. Es wird sich aber wohl eine Privatwohnung finden
  lassen.«
  »Denk ich auch. Und wir wollen gleich morgen danach aussehen.«
  Schön wie der Abend war der Morgen, und man nahm das Frühstück im
  Freien. Innstetten empfing etliche Briefe, die schnell erledigt werden
  mußten, und so beschloß Effi, die für sie freigewordene Stunde sofort
  zur Wohnungssuche zu benutzen. Sie ging erst an einer eingepferchten
  Wiese, dann an Häusergruppen und Haferfeldern vorüber und bog zuletzt
  in einen Weg ein, der schluchtartig auf das Meer zulief. Da, wo
  dieser Schluchtenweg den Strand traf, stand ein von hohen Buchen
  überschattetes Gasthaus, nicht so vornehm wie das Fahrenheitsche, mehr
  ein bloßes Restaurant, in dem, der frühen Stunde halber, noch alles
  leer war. Effi nahm an einem Aussichtspunkt Platz, und kaum daß sie
  von dem Sherry, den sie bestellt, genippt hatte, so trat auch schon
  der Wirt an sie heran, um halb aus Neugier und halb aus Artigkeit ein
  Gespräch mit ihr anzuknüpfen.
  »Es gefällt uns sehr gut hier«, sagte sie, »meinem Manne und mir;
  welch prächtiger Blick über die Bucht, und wir sind nur in Sorge wegen
  einer Wohnung.«
  »Ja, gnädigste Frau, das wird schwerhalten ...«
  »Es ist aber schon spät im Jahr ...«
  »Trotzdem. Hier in Saßnitz ist sicherlich nichts zu finden, dafür
  möcht ich mich verbürgen; aber weiterhin am Strand, wo das nächste
  Dorf anfängt, Sie können die Dächer von hier aus blinken sehen, da
  möcht es vielleicht sein.«
  »Und wie heißt das Dorf?« »Crampas.«
  Effi glaubte nicht recht gehört zu haben. »Crampas«, wiederholte sie
  mit Anstrengung. »Ich habe den Namen als Ortsnamen nie gehört ... Und
  sonst nichts in der Nähe?«
  »Nein, gnädigste Frau. Hier herum nichts. Aber höher hinauf, nach
  Norden zu, da kommen noch wieder Dörfer, und in dem Gasthause, das
  dicht neben Stubbenkammer liegt, wird man Ihnen gewiß Auskunft geben
  können. Es werden dort von solchen, die gerne noch vermieten wollen,
  immer Adressen abgegeben.«
  Effi war froh, das Gespräch allein geführt zu haben, und als sie bald
  danach ihrem Manne Bericht erstattet und nur den Namen des an Saßnitz
  angrenzenden Dorfes verschwiegen hatte, sagte dieser: »Nun, wenn es
  hier herum nichts gibt, so wird es das beste sein, wir nehmen einen
  Wagen (wodurch man sich beiläufig einem Hotel immer empfiehlt) und
  übersiedeln ohne weiteres da höher hinauf, nach Stubbenkammer hin.
  Irgendwas Idyllisches mit einer Geißblattlaube wird sich da wohl
  finden lassen, und finden wir nichts, so bleibt uns immer noch das
  Hotel selbst. Eins ist schließlich wie das andere.«
  Effi war einverstanden, und gegen Mittag schon erreichten sie das
  neben Stubbenkammer gelegene Gasthaus, von dem Innstetten eben
  gesprochen, und bestellten daselbst einen Imbiß. »Aber erst nach einer
  halben Stunde; wir haben vor, zunächst noch einen Spaziergang zu
  machen und uns den Herthasee anzusehen. Ein Führer ist doch wohl da?«
  Dies wurde bejaht, und ein Mann von mittleren Jahren trat alsbald an
  unsere Reisenden heran. Er sah so wichtig und feierlich aus, als ob er
  mindestens ein Adjunkt bei dem alten Herthadienst gewesen wäre.
  Der von hohen Bäumen umstandene See lag ganz in der Nähe, Binsen
  säumten ihn ein, und auf der stillen, schwarzen Wasserfläche schwammen
  zahlreiche Mummeln.
  »Es sieht wirklich nach so was aus«, sagte Effi, »nach Herthadienst.«
  »Ja, gnäd'ge Frau ... Dessen sind auch noch die Steine Zeugen.«
  »Welche Steine?«
  »Die Opfersteine.«
  Und während sich das Gespräch in dieser Weise fortsetzte, traten alle
  drei vom See her an eine senkrechte, abgestochene Kies- und Lehmwand
  heran, an die sich etliche glattpolierte Steine lehnten, alle mit
  einer flachen Höhlung und etlichen nach unten laufenden Rinnen.
  »Und was bezwecken die?«
  »Daß es besser abliefe, gnäd'ge Frau.«
  »Laß uns gehen«, sagte Effi, und den Arm ihres Mannes nehmend, ging
  sie mit ihm wieder auf das Gasthaus zurück, wo nun, an einer Stelle
  mit weitem Ausblick auf das Meer, das vorher bestellte Frühstück
  aufgetragen wurde. Die Bucht lag im Sonnenlicht vor ihnen, einzelne
  Segelboote glitten darüber hin, und um die benachbarten Klippen
  
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