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Effi Briest - 02

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  keine halbe Stunde gedauert hatte, war Effi wieder nach drüben
  zurückgekehrt, wo man auf der Gartenveranda eben den Kaffee nehmen
  wollte. Schwiegervater und Schwiegersohn gingen auf dem Kieswege
  zwischen den zwei Platanen auf und ab. Briest sprach von dem
  Schwierigen einer landrätlichen Stellung; sie sei ihm verschiedentlich
  angetragen worden, aber er habe jedesmal gedankt. »So nach meinem
  eigenen Willen schalten und walten zu können ist mir immer das liebste
  gewesen, jedenfalls lieber - Pardon, Innstetten -, als so die Blicke
  beständig nach oben richten zu müssen. Man hat dann bloß immer Sinn
  und Merk für hohe und höchste Vorgesetzte. Das ist nichts für mich.
  Hier leb ich so freiweg und freue mich über jedes grüne Blatt und über
  den wilden Wein, der da drüben in die Fenster wächst.«
  Er sprach noch mehr dergleichen, allerhand Antibeamtliches, und
  entschuldigte sich von Zeit zu Zeit mit einem kurzen, verschiedentlich
  wiederkehrenden »Pardon, Innstetten«. Dieser nickte mechanisch
  zustimmend, war aber eigentlich wenig bei der Sache, sah vielmehr wie
  gebannt immer aufs neue nach dem drüben am Fenster rankenden wilden
  Wein hinüber, von dem Briest eben gesprochen, und während er dem
  nachhing, war es ihm, als säh' er wieder die rotblonden Mädchenköpfe
  zwischen den Weinranken und höre dabei den übermütigen Zuruf: »Effi,
  komm.«
  Er glaubte nicht an Zeichen und ähnliches, im Gegenteil, wies alles
  Abergläubische weit zurück. Aber er konnte trotzdem von den zwei
  Worten nicht los, und während Briest immer weiterperorierte, war es
  ihm beständig, als wäre der kleine Hergang doch mehr als ein bloßer
  Zufall gewesen.
  Innstetten, der nur einen kurzen Urlaub genommen, war schon am
  folgenden Tag wieder abgereist, nachdem er versprochen, jeden Tag
  schreiben zu wollen. »Ja, das mußt du«, hatte Effi gesagt, ein Wort,
  das ihr von Herzen kam, da sie seit Jahren nichts Schöneres kannte als
  beispielsweise den Empfang vieler Geburtstagsbriefe. Jeder mußte ihr
  zu diesem Tag schreiben. In den Brief eingestreute Wendungen, etwa wie
  »Gertrud und Klara senden Dir mit mir ihre herzlichsten Glückwünsche«,
  waren verpönt; Gertrud und Klara, wenn sie Freundinnen sein wollten,
  hatten dafür zu Sorgen, daß ein Brief mit selbständiger Marke daläge,
  womöglich - denn ihr Geburtstag fiel noch in die Reisezeit mit einer
  fremden, aus der Schweiz oder Karlsbad.
  Innstetten, wie versprochen, schrieb wirklich jeden Tag; was aber den
  Empfang seiner Briefe ganz besonders angenehm machte, war der Umstand,
  daß er allwöchentlich nur einmal einen ganz kleinen Antwortbrief
  erwartete. Den erhielt er dann auch, voll reizend nichtigen und
  ihn jedesmal entzückenden Inhalts. Was es von ernsteren Dingen
  zu besprechen gab, das verhandelte Frau von Briest mit ihrem
  Schwiegersohn: Festsetzungen wegen der Hochzeit, Ausstattungs- und
  Wirtschaftseinrichtungsfragen. Innstetten, schon an die drei Jahre
  im Amt, war in seinem Kessiner Hause nicht glänzend, aber doch sehr
  standesgemäß eingerichtet, und es empfahl sich, in der Korrespondenz
  mit ihm ein Bild von allem, was da war, zu gewinnen, um nichts
  Unnützes anzuschaffen. Schließlich, als Frau von Briest über all diese
  Dinge genugsam unterrichtet war, wurde seitens Mutter und Tochter eine
  Reise nach Berlin beschlossen, um, wie Briest sich ausdrückte, den
  »Trousseau« für Prinzessin Effi zusammenzukaufen. Effi freute sich
  sehr auf den Aufenthalt in Berlin, um so mehr, als der Vater darein
  gewilligt hatte, im Hotel du Nord Wohnung zu nehmen. Was es koste,
  könne ja von der Ausstattung abgezogen werden; Innstetten habe ohnehin
  alles. Effi ganz im Gegensatz zu der solche »Mesquinerien« ein für
  allemal sich verbittenden Mama - hatte dem Vater, ohne jede Sorge
  darum, ob er's scherz- oder ernsthaft gemeint hatte, freudig
  zugestimmt und beschäftigte sich in ihren Gedanken viel, viel mehr mit
  dem Eindruck, den sie beide, Mutter und Tochter, bei ihrem Erscheinen
  an der Table d'hôte machen würden, als mit Spinn und Mencke,
  Goschenhofer und ähnlichen Firmen, die vorläufig notiert worden waren.
  Und diesen ihren heiteren Phantasien entsprach denn auch ihre Haltung,
  als die große Berliner Woche nun wirklich da war. Vetter Briest vom
  Alexanderregiment, ein ungemein ausgelassener junger Leutnant, der
  die »Fliegenden Blätter« hielt und über die besten Witze Buch führte,
  stellte sich den Damen für jede dienstfreie Stunde zur Verfügung,
  und so saßen sie denn mit ihm bei Kranzler am Eckfenster oder zu
  statthafter Zeit auch wohl im Café Bauer und fuhren nachmittags in den
  Zoologischen Garten, um da die Giraffen zu sehen, von denen Vetter
  Briest, der übrigens Dagobert hieß, mit Vorliebe behauptete, sie sähen
  aus wie adlige alte Jungfern. Jeder Tag verlief programmäßig, und
  am dritten oder vierten Tag gingen sie, wie vorgeschrieben, in die
  Nationalgalerie, weil Vetter Dagobert seiner Cousine die »Insel der
  Seligen« zeigen wollte. Fräulein Cousine stehe zwar auf dem Punkte,
  sich zu verheiraten, es sei aber doch vielleicht gut, die »Insel der
  Seligen« schon vorher kennengelernt zu haben. Die Tante gab ihm einen
  Schlag mit dem Fächer, begleitete diesen Schlag aber mit einem so
  gnädigen Blick, daß er keine Veranlassung hatte, den Ton zu ändern.
  Es waren himmlische Tage für alle drei, nicht zum wenigsten
  für den Vetter, der so wundervoll zu chaperonnieren und kleine
  Differenzen immer rasch auszugleichen verstand. An solchen
  Meinungsverschiedenheiten zwischen Mutter und Tochter war nun,
  wie das so geht, all die Zeit über kein Mangel, aber sie traten
  glücklicherweise nie bei den zu machenden Einkäufen hervor. Ob man
  von einer Sache sechs oder drei Dutzend erstand, Effi war mit allem
  gleichmäßig einverstanden, und wenn dann auf dem Heimweg von dem Preis
  der eben eingekauften Gegenstände gesprochen wurde, so verwechselte
  sie regelmäßig die Zahlen. Frau von Briest, sonst so kritisch, auch
  ihrem eigenen geliebten Kinde gegenüber, nahm dies anscheinend
  mangelnde Interesse nicht nur von der leichten Seite, sondern erkannte
  sogar einen Vorzug darin. Alle diese Dinge, so sagte sie sich,
  bedeuten Effi nicht viel. Effi ist anspruchslos; sie lebt in ihren
  Vorstellungen und Träumen, und wenn die Prinzessin Friedrich Karl
  vorüberfährt und sie von ihrem Wagen aus freundlich grüßt, so gilt ihr
  das mehr als eine ganze Truhe voll Weißzeug.
  Das alles war auch richtig, aber doch nur halb. An dem Besitze mehr
  oder weniger alltäglicher Dinge lag Effi nicht viel, aber wenn sie mit
  der Mama die Linden hinauf- und hinunterging und nach Musterung der
  schönsten Schaufenster in den Demuthschen Laden eintrat, um für die
  gleich nach der Hochzeit geplante italienische Reise allerlei Einkäufe
  zu machen, so zeigte sich ihr wahrer Charakter. Nur das Eleganteste
  gefiel ihr, und wenn sie das Beste nicht haben konnte, so verzichtete
  sie auf das Zweitbeste, weil ihr dies Zweite nun nichts mehr
  bedeutete. Ja, sie konnte verzichten, darin hatte die Mama recht, und
  in diesem Verzichtenkönnen lag etwas von Anspruchslosigkeit; wenn es
  aber ausnahmsweise mal wirklich etwas zu besitzen galt, so mußte dies
  immer was ganz Apartes sein. Und darin war sie anspruchsvoll.
  
  Viertes Kapitel
  Vetter Dagobert war am Bahnhof, als die Damen ihre Rückreise nach
  Hohen-Cremmen antraten. Es waren glückliche Tage gewesen, vor
  allem auch darin, daß man nicht unter unbequemer und beinahe
  unstandesgemäßer Verwandtschaft gelitten hatte. »Für Tante Therese«,
  so hatte Effi gleich nach der Ankunft gesagt, »müssen wir diesmal
  inkognito bleiben. Es geht nicht, daß sie hier ins Hotel kommt.
  Entweder Hotel du Nord oder Tante Therese; beides zusammen paßt
  nicht.« Die Mama hatte sich schließlich einverstanden damit erklärt,
  ja, dem Liebling zur Besiegelung des Einverständnisses einen Kuß auf
  die Stirn gegeben.
  Mit Vetter Dagobert war das natürlich etwas ganz anderes gewesen, der
  hatte nicht bloß den Gardepli, der hatte vor allem auch mit Hilfe
  jener eigentümlich guten Laune, wie sie bei den Alexanderoffizieren
  beinahe traditionell geworden, sowohl Mutter wie Tochter von Anfang
  an anzuregen und aufzuheitern gewußt, und diese gute Stimmung dauerte
  bis zuletzt. »Dagobert«, so hieß es noch beim Abschied, »du kommst
  also zu meinem Polterabend, und natürlich mit Cortège. Denn
  nach den Aufführungen (aber kommt mir nicht mit Dienstmann oder
  Mausefallenhändler) ist Ball. Und du mußt bedenken, mein erster
  großer Ball ist vielleicht auch mein letzter. Unter sechs Kameraden
  - natürlich beste Tänzer - wird gar nicht angenommen. Und mit dem
  Frühzug könnt ihr wieder zurück.« Der Vetter versprach alles, und so
  trennte man sich.
  Gegen Mittag trafen beide Damen an ihrer havelländischen Bahnstation
  ein, mitten im Luch, und fuhren in einer halben Stunde nach
  Hohen-Cremmen hinüber. Briest war sehr froh, Frau und Tochter wieder
  zu Hause zu haben, und stellte Fragen über Fragen, deren Beantwortung
  er meist nicht abwartete. Statt dessen erging er sich in Mitteilung
  dessen, was er inzwischen erlebt. »Ihr habt mir da vorhin von der
  Nationalgalerie gesprochen und von der 'Insel der Seligen' - nun, wir
  haben hier, während ihr fort wart, auch so was gehabt: unser Inspektor
  Pink und die Gärtnersfrau. Natürlich habe ich Pink entlassen müssen,
  übrigens ungern. Es ist sehr fatal, daß solche Geschichten fast immer
  in die Erntezeit fallen. Und Pink war sonst ein ungewöhnlich tüchtiger
  Mann, hier leider am unrechten Fleck. Aber lassen wir das; Wilke wird
  schon unruhig.«
  Bei Tische hörte Briest besser zu; das gute Einvernehmen mit dem
  Vetter, von dem ihm viel erzählt wurde, hatte seinen Beifall, weniger
  das Verhalten gegen Tante Therese. Man sah aber deutlich, daß er
  inmitten seiner Mißbilligung sich eigentlich darüber freute; denn ein
  kleiner Schabernack entsprach ganz seinem Geschmack, und Tante Therese
  war wirklich eine lächerliche Figur. Er hob sein Glas und stieß mit
  Frau und Tochter an. Auch als nach Tisch einzelne der hübschesten
  Einkäufe von ihm ausgepackt und seiner Beurteilung unterbreitet
  wurden, verriet er viel Interesse, das selbst noch anhielt oder
  wenigstens nicht ganz hinstarb, als er die Rechnung überflog. »Etwas
  teuer, oder sagen wir lieber sehr teuer; indessen es tut nichts. Es
  hat alles so viel Schick, ich möchte sagen so viel Animierendes, daß
  ich deutlich fühle, wenn du mir solchen Koffer und solche Reisedecke
  zu Weihnachten schenkst, so sind wir zu Ostern auch in Rom und machen
  nach achtzehn Jahren unsere Hochzeitsreise. Was meinst du, Luise?
  Wollen wir nachexerzieren? Spät kommt ihr, doch ihr kommt.«
  Frau von Briest machte eine Handbewegung, wie wenn sie sagen wollte:
  »Unverbesserlich«, und überließ ihn im übrigen seiner eigenen
  Beschämung, die aber nicht groß war.
  Ende August war da, der Hochzeitstag (3. Oktober) rückte näher,
  und sowohl im Herrenhause wie in der Pfarre und Schule war man
  unausgesetzt bei den Vorbereitungen zum Polterabend. Jahnke, getreu
  seiner Fritz-Reuter-Passion, hatte sich's als etwas besonders
  »Sinniges« ausgedacht, Bertha und Hertha als Lining und Mining
  auftreten zu lassen, natürlich plattdeutsch, während Hulda das
  Käthchen von Heilbronn in der Holunderbaumszene darstellen sollte,
  Leutnant Engelbrecht von den Husaren als Wetter vom Strahl. Niemeyer,
  der sich den Vater der Idee nennen durfte, hatte keinen Augenblick
  gesäumt, auch die versäumte Nutzanwendung auf Innstetten und Effi
  hinzuzudichten. Er selbst war mit seiner Arbeit zufrieden und hörte,
  gleich nach der Leseprobe, von allen Beteiligten viel Freundliches
  darüber, freilich mit Ausnahme seines Patronatsherrn und alten
  Freundes Briest, der, als er die Mischung von Kleist und Niemeyer
  mit angehört hatte, lebhaft protestierte, wenn auch keineswegs aus
  literarischen Gründen. »Hoher Herr und immer wieder Hoher Herr - was
  soll das? Das leitet in die Irre, das verschiebt alles. Innstetten,
  unbestritten, ist ein famoses Menschenexemplar, Mann von Charakter
  und Schneid, aber die Briests - verzeih den Berolinismus, Luise-, die
  Briests sind schließlich auch nicht von schlechten Eltern. Wir sind
  doch nun mal eine historische Familie, laß mich hinzufügen Gott sei
  Dank, und die Innstettens sind es nicht; die Innstettens sind bloß
  alt, meinetwegen Uradel, aber was heißt Uradel? Ich will nicht, daß
  eine Briest oder doch mindestens eine Polterabendfigur, in der jeder
  das Widerspiel unserer Effi erkennen muß - ich will nicht, daß eine
  Briest mittelbar oder unmittelbar in einem fort von 'Hoher Herr'
  spricht. Da müßte denn doch Innstetten wenigstens ein verkappter
  Hohenzoller sein, es gibt ja dergleichen. Das ist er aber nicht, und
  so kann ich nur wiederholen, es verschiebt die Situation.«
  Und wirklich, Briest hielt mit besonderer Zähigkeit eine ganze
  Zeitlang an dieser Anschauung fest. Erst nach der zweiten Probe,
  wo das »Käthchen«, schon halb im Kostüm, ein sehr eng anliegendes
  Sammetmieder trug, ließ er sich - der es auch sonst nicht an
  Huldigungen gegen Hulda fehlen ließ - zu der Bemerkung hinreißen,
  das Käthchen liege sehr gut da, welche Wendung einer Waffenstreckung
  ziemlich gleichkam oder doch zu solcher hinüberleitete. Daß alle diese
  Dinge vor Effi geheimgehalten wurden, braucht nicht erst gesagt zu
  werden. Bei mehr Neugier auf seiten dieser letzteren wäre das nun
  freilich ganz unmöglich gewesen, aber Effi hatte so wenig Verlangen,
  in die Vorbereitungen und geplanten Überraschungen einzudringen, daß
  sie der Mama mit allem Nachdruck erklärte, sie könne es abwarten,
  und Wenn diese dann zweifelte, so schloß Effi mit der wiederholten
  Versicherung: Es wäre wirklich so, die Mama könne es glauben. Und
  warum auch nicht? Es sei ja doch alles nur Theateraufführung und
  hübscher und poetischer als »Aschenbrödel«, das sie noch am letzten
  Abend in Berlin gesehen hätte, hübscher und poetischer könne es ja
  doch nicht Sein. Da hätte sie wirklich selber mitspielen mögen, wenn
  auch nur, um dem lächerlichen Pensionslehrer einen Kreidestrich auf
  den Rücken zu machen. »Und wie reizend im letzten Akt 'Aschenbrödels
  Erwachen als Prinzessin' oder wenigstens als Gräfin; wirklich, es
  war ganz wie ein Märchen.« In dieser Weise sprach sie oft, war meist
  ausgelassener als vordem und ärgerte sich bloß über das beständige
  Tuscheln und Geheimtun der Freundinnen. »Ich wollte, sie hätten sich
  weniger wichtig und wären mehr für mich da. Nachher bleiben sie doch
  bloß stecken, und ich muß mich um sie ängstigen und mich schämen, daß
  es meine Freundinnen sind.« So gingen Effis Spottreden, und es war
  ganz unverkennbar, daß sie sich um Polterabend und Hochzeit nicht
  allzusehr kümmerte. Frau von Briest hatte so ihre Gedanken darüber,
  aber zu Sorgen kam es nicht, weil sich Effi, was doch ein gutes
  Zeichen war, ziemlich viel mit ihrer Zukunft beschäftigte und sich,
  phantasiereich wie sie war, viertelstundenlang in Schilderungen ihres
  Kessiner Lebens erging, Schilderungen, in denen sich nebenher und
  sehr zur Erheiterung der Mama eine merkwürdige Vorstellung von
  Hinterpommern aussprach oder vielleicht auch, mit kluger Berechnung,
  aussprechen sollte. Sie gefiel sich nämlich darin, Kessin als
  einen halbsibirischen Ort aufzufassen, wo Eis und Schnee nie recht
  aufhörten.
  »Heute hat Goschenhofer das letzte geschickt«, sagte Frau von Briest,
  als sie wie gewöhnlich in Front des Seitenflügels mit Effi am
  Arbeitstisch saß, auf dem die Leinen- und Wäschevorräte beständig
  wuchsen, während der Zeitungen, die bloß Platz wegnahmen, immer
  weniger wurden. »Ich hoffe, du hast nun alles, Effi. Wenn du aber noch
  kleine Wünsche hegst, so mußt du sie jetzt aussprechen, womöglich in
  dieser Stunde noch. Papa hat den Raps vorteilhaft verkauft und ist
  ungewöhnlich guter Laune.«
  »Ungewöhnlich? Er ist immer in guter Laune.«
  »In ungewöhnlich guter Laune«, wiederholte die Mama. »Und sie muß
  genutzt werden. Sprich also. Mehrmals, als wir noch in Berlin waren,
  war es mir, als ob du doch nach dem einen oder anderen noch ein ganz
  besonderes Verlangen gehabt hättest.«
  »Ja, liebe Mama, was soll ich da sagen. Eigentlich habe ich ja alles,
  was man braucht, ich meine, was man hier braucht. Aber da mir's nun
  mal bestimmt ist, so hoch nördlich zu kommen ... ich bemerke, daß ich
  nichts dagegen habe, im Gegenteil, ich freue mich darauf, auf die
  Nordlichter und auf den helleren Glanz der Sterne ... da mir's nun mal
  so bestimmt ist, so hätte ich wohl gern einen Pelz gehabt.«
  »Aber Effi, Kind, das ist doch alles bloß leere Torheit. Du kommst ja
  nicht nach Petersburg oder nach Archangel.«
  »Nein; aber ich bin doch auf dem Wege dahin...«
  »Gewiß, Kind. Auf dem Wege dahin bist du; aber was heißt das? Wenn du
  von hier nach Nauen fährst, bist du auch auf dem Wege nach Rußland. Im
  übrigen, wenn du's wünschst, so sollst du einen Pelz haben. Nur das
  laß mich im voraus sagen, ich rate dir davon ab. Ein Pelz ist für
  ältere Personen, selbst deine alte Mama ist noch zu jung dafür, und
  wenn du mit deinen siebzehn Jahren in Nerz oder Marder auftrittst, so
  glauben die Kessiner, es sei eine Maskerade.«
  Das war am 2. September, daß sie so sprachen, ein Gespräch, das sich
  wohl fortgesetzt hätte, wenn nicht gerade Sedantag gewesen wäre. So
  aber wurden sie durch Trommel- und Pfeifenklang unterbrochen, und
  Effi, die schon vorher von dem beabsichtigten Aufzuge gehört,
  aber es wieder vergessen hatte, stürzte mit einem Male von dem
  gemeinschaftlichen Arbeitstisch fort und an Rondell und Teich vorüber
  auf einen kleinen, an die Kirchhofsmauer angebauten Balkon zu, zu dem
  sechs Stufen, nicht viel breiter als Leitersprossen, hinaufführten. Im
  Nu war sie oben, und richtig, da kam auch schon die ganze Schuljugend
  heran, Jahnke gravitätisch am rechten Flügel, während ein kleiner
  Tambourmajor, weit voran, an der Spitze des Zuges marschierte, mit
  einem Gesichtsausdruck, als ob ihm obläge, die Schlacht bei Sedan noch
  einmal zu schlagen. Effi winkte mit dem Taschentuch, und der Begrüßte
  versäumte nicht, mit seinem blanken Kugelstock zu salutieren.
  Eine Woche später saßen Mutter und Tochter wieder am alten Fleck, auch
  wieder mit ihrer Arbeit beschäftigt. Es war ein wunderschöner Tag; der
  in einem zierlichen Beet um die Sonnenuhr herum stehende Heliotrop
  blühte noch, und die leise Brise, die ging, trug den Duft davon zu
  ihnen herüber.
  »Ach, wie wohl ich mich fühle«, sagte Effi, »so wohl und so glücklich;
  ich kann mir den Himmel nicht schöner denken. Und am Ende, wer weiß,
  ob sie im Himmel so wundervollen Heliotrop haben.«
  »Aber Effi, so darfst du nicht sprechen; das hast du von deinem Vater,
  dem nichts heilig ist und der neulich sogar sagte, Niemeyer sähe
  aus wie Lot. Unerhört. Und was soll es nur heißen? Erstlich weiß er
  nicht, wie Lot ausgesehen hat, und zweitens ist es eine grenzenlose
  Rücksichtslosigkeit gegen Hulda. Ein Glück, daß Niemeyer nur die
  einzige Tochter hat, dadurch fällt es eigentlich in sich zusammen. In
  einem freilich hat er nur zu recht gehabt, in all und jedem, was er
  über 'Lots Frau', unsere gute Frau Pastorin, sagte, die uns denn auch
  wirklich wieder mit ihrer Torheit und Anmaßung den ganzen Sedantag
  ruinierte. Wobei mir übrigens einfällt, daß wir, als Jahnke mit der
  Schule vorbeikam, in unserem Gespräch unterbrochen wurden - wenigstens
  kann ich mir nicht denken, daß der Pelz, von dem du damals sprachst,
  dein einziger Wunsch gewesen sein sollte. Laß mich also wissen,
  Schatz, was du noch weiter auf dem Herzen hast.« »Nichts, Mama.«
  »Wirklich nichts?«
  »Nein, wirklich nichts; ganz im Ernst ... Wenn es aber doch am Ende
  was sein sollte ...«
  »Nun ...«
  »... so müßte es ein japanischer Bettschirm sein, schwarz und goldene
  Vögel darauf, alle mit einem langen Kranichschnabel ... Und dann
  vielleicht noch eine Ampel für unser Schlafzimmer, mit rotem Schein.«
  Frau von Briest schwieg.
  »Nun siehst du, Mama, du schweigst und siehst aus, als ob ich etwas
  besonders Unpassendes gesagt hätte.«
  »Nein, Effi, nichts Unpassendes. Und vor deiner Mutter nun schon gewiß
  nicht. Denn ich kenne dich ja. Du bist eine phantastische kleine
  Person, malst dir mit Vorliebe Zukunftsbilder aus, und je
  farbenreicher sie sind, desto schöner und begehrlicher erscheinen sie
  dir. Ich sah das so recht, als wir die Reisesachen kauften. Und nun
  denkst du dir's ganz wundervoll, einen Bettschirm mit allerhand
  fabelhaftem Getier zu haben, alles im Halblicht einer roten Ampel. Es
  kommt dir vor wie ein Märchen, und du möchtest eine Prinzessin sein.«
  Effi nahm die Hand der Mama und küßte sie. »Ja, Mama, so bin ich.«
  »Ja, so bist du. Ich weiß es wohl. Aber meine liebe Effi, wir müssen
  vorsichtig im Leben sein, und zumal wir Frauen. Und wenn du nun nach
  Kessin kommst, einem kleinen Ort, wo nachts kaum eine Laterne brennt,
  so lacht man über dergleichen. Und wenn man bloß lachte. Die, die dir
  ungewogen sind, und solche gibt es immer, sprechen von schlechter
  Erziehung, und manche sagen auch wohl noch Schlimmeres.«
  »Also nichts Japanisches und auch keine Ampel. Aber ich bekenne dir,
  ich hatte es mir so schön und poetisch gedacht, alles in einem roten
  Schimmer zu sehen.«
  Frau von Briest war bewegt. Sie stand auf und küßte Effi. »Du bist ein
  Kind. Schön und poetisch. Das sind so Vorstellungen. Die Wirklichkeit
  ist anders, und oft ist es gut, daß es statt Licht und Schimmer ein
  Dunkel gibt.«
  Effi schien antworten zu wollen, aber in diesem Augenblick kam Wilke
  und brachte Briefe. Der eine war aus Kessin von Innstetten. »Ach, von
  Geert«, sagte Effi, und während sie den Brief beiseite steckte, fuhr
  sie in ruhigem Ton fort:
  »Aber das wirst du doch gestatten, daß ich den Flügel schräg in die
  Stube stelle. Daran liegt mir mehr als an einem Kamin, den mir Geert
  versprochen hat. Und das Bild von dir, das stell ich dann auf eine
  Staffelei; ganz ohne dich kann ich nicht sein. Ach, wie werd ich mich
  nach euch sehnen, vielleicht auf der Reise schon und dann in Kessin
  ganz gewiß. Es soll ja keine Garnison haben, nicht einmal einen
  Stabsarzt, und ein Glück, daß es wenigstens ein Badeort ist. Vetter
  Briest, und daran will ich mich aufrichten, dessen Mutter und
  Schwester immer nach Warnemünde gehen - nun, ich sehe doch wirklich
  nicht ein, warum der die lieben Verwandten nicht auch einmal nach
  Kessin hin dirigieren sollte. Dirigieren, das klingt ohnehin so
  nach Generalstab, worauf er, glaub ich, ambiert. Und dann kommt er
  natürlich mit und wohnt bei uns. Übrigens haben die Kessiner, wie mir
  neulich erst wer erzählt hat, ein ziemlich großes Dampfschiff, das
  zweimal die Woche nach Schweden hinüberfährt. Und auf dem Schiff ist
  dann Ball (sie haben da natürlich auch Musik), und er tanzt sehr
  gut ...«
  »Wer?«
  »Nun, Dagobert.«
  »Ich dachte, du meintest Innstetten. Aber jedenfalls ist es an der
  Zeit, endlich zu wissen, was er schreibt ... Du hast ja den Brief noch
  in der Tasche.«
  »Richtig. Den hätt ich fast vergessen.« Und sie öffnete den Brief und
  überflog ihn.
  »Nun, Effi, kein Wort? Du strahlst nicht und lachst nicht einmal,
  und er schreibt doch immer so heiter und unterhaltlich und gar nicht
  väterlich weise.«
  »Das würde ich mir auch verbitten. Er hat sein Alter, und ich habe
  meine Jugend. Und ich würde ihm mit den Fingern drohen und ihm sagen:
  'Geert, überlege, was besser ist.'« »Und dann würde er dir antworten:
  'Was du hast, Effi, das ist das Bessere.' Denn er ist nicht nur ein
  Mann der feinsten Formen, er ist auch gerecht und verständig und weiß
  recht gut, was Jugend bedeutet. Er sagt sich das immer und stimmt sich
  auf das Jugendliche hin, und wenn er in der Ehe so bleibt, so werdet
  ihr eine Musterehe führen.«
  »Ja, das glaube ich auch, Mama. Aber kannst du dir vorstellen, und ich
  schäme mich fast, es zu sagen, ich bin nicht so sehr für das, was man
  eine Musterehe nennt.«
  »Das sieht dir ähnlich. Und nun sage mir, wofür bist du denn
  eigentlich?«
  »Ich bin... nun, ich bin für gleich und gleich und natürlich auch für
  Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht sein
  können, weil Liebe, wie Papa sagt, doch nur ein Papperlapapp ist
  (was ich aber nicht glaube), nun, dann bin ich für Reichtum und ein
  vornehmes Haus, ein ganz vornehmes, wo Prinz Friedrich Karl zur Jagd
  kommt, auf Elchwild oder Auerhahn, oder wo der alte Kaiser vorfährt
  und für jede Dame, auch für die jungen, ein gnädiges Wort hat. Und
  wenn wir dann in Berlin sind, dann bin ich für Hofball und Galaoper,
  immer dicht neben der großen Mittelloge.«
  »Sagst du das so bloß aus Übermut und Laune?«
  »Nein, Mama, das ist mein völliger Ernst. Liebe kommt zuerst, aber
  gleich hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung
  - ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen oder
  weinen muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile.«
  »Wie bist du da nur mit uns fertig geworden?«
  »Ach, Mama, wie du nur so was sagen kannst. Freilich, wenn im Winter
  die liebe Verwandtschaft vorgefahren kommt und sechs Stunden bleibt
  oder wohl auch noch länger, und Tante Gundel und Tante Olga mich
  mustern und mich naseweis finden - und Tante Gundel hat es mir auch
  mal gesagt -, ja, da macht sich's mitunter nicht sehr hübsch, das
  muß ich zugeben. Aber sonst bin ich hier immer glücklich gewesen, so
  glücklich.«
  Und während sie das sagte, warf sie sich heftig weinend vor der Mama
  auf die Knie und küßte ihre beiden Hände.
  »Steh auf, Effi. Das sind so Stimmungen, die über einen kommen,
  wenn man so jung ist wie du und vor der Hochzeit steht und vor dem
  Ungewissen. Aber nun lies mir den Brief vor, wenn er nicht was ganz
  Besonderes enthält oder vielleicht Geheimnisse.«
  »Geheimnisse«, lachte Effi und sprang in plötzlich veränderter
  Stimmung wieder auf. »Geheimnisse! Ja, er nimmt immer einen Anlauf,
  aber das meiste könnte ich auf dem Schulzenamt anschlagen lassen, da,
  wo immer die landrätlichen Verordnungen stehen. Nun, Geert ist ja auch
  Landrat.«
  »Lies, lies.«
  »Liebe Effi! ... So fängt es nämlich immer an, und manchmal nennt er
  mich auch seine 'kleine Eva'.«
  »Lies, lies ... Du sollst ja lesen.«
  »Also: Liebe Effi! Je näher wir unsrem Hochzeitstage kommen, je
  sparsamer werden Deine Briefe. Wenn die Post kommt, suche ich immer
  zuerst nach Deiner Handschrift, aber wie Du weißt (und ich hab es ja
  auch nicht anders gewollt), in der Regel vergeblich. Im Hause sind
  jetzt die Handwerker, die die Zimmer, freilich nur wenige, für Dein
  Kommen herrichten sollen. Das Beste wird wohl erst geschehen, wenn wir
  auf der Reise sind. Tapezierer Madelung, der alles liefert, ist ein
  Original, von dem ich Dir mit nächstem erzähle, vor allem aber, wie
  glücklich ich bin über Dich, über meine süße kleine Effi. Mir brennt
  hier der Boden unter den Füßen, und dabei wird es in unserer guten
  Stadt immer stiller und einsamer. Der letzte Badegast ist gestern
  abgereist; er badete zuletzt bei neun Grad, und die Badewärter waren
  immer froh, wenn er wieder heil heraus war. Denn sie fürchteten einen
  Schlaganfall, was dann das Bad in Mißkredit bringt, als ob die Wellen
  hier schlimmer wären als woanders. Ich juble, wenn ich denke, daß ich
  in vier Wochen schon mit Dir von der Piazzetta aus nach dem Lido fahre
  oder nach Murano hin, wo sie Glasperlen machen und schönen Schmuck.
  Und der schönste sei für Dich. Viele Grüße den Eltern und den
  zärtlichsten Kuß Dir von Deinem Geert.« Effi faltete den Brief wieder
  zusammen, um ihn in das Kuvert zu stecken.
  »Das ist ein sehr hübscher Brief«, sagte Frau von Briest, »und daß er
  in allem das richtige Maß hält, das ist ein Vorzug mehr.«
  »Ja, das rechte Maß, das hält er.«
  »Meine liebe Effi, laß mich eine Frage tun; wünschtest du, daß der
  Brief nicht das richtige Maß hielte, wünschtest du, daß er zärtlicher
  wäre, vielleicht überschwenglich zärtlich?« »Nein, nein, Mama. Wahr
  und wahrhaftig nicht, das wünsche ich nicht. Da ist es doch besser
  so.«
  »Da ist es doch besser so. Wie das nun wieder klingt. Du bist so
  sonderbar. Und daß du vorhin weintest. Hast du was auf deinem Herzen?
  Noch ist es Zeit. Liebst du Geert nicht?« »Warum soll ich ihn nicht
  lieben? Ich liebe Hulda, und ich liebe Bertha, und ich liebe Hertha.
  Und ich liebe auch den alten Niemeyer. Und daß ich euch liebe, davon
  spreche ich gar nicht erst. Ich liebe alle, die's gut mit mir meinen
  
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