Die zärtlichen Schwestern - 2

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ersten besiegen, wenn sie am ruhigsten zu sein scheinen? Das Herz der
Menschen ist der größte Betrüger. Und der Klügste weiß oft selbst
nicht, was in ihm vorgeht. Wir lieben und werden es zuweilen nicht
eher gewahr, als bis wir nicht mehr geliebt werden. Dieses alles
sollen Sie nicht glauben, weil ich's sage. Nein, weil es die größten
Kenner des menschlichen Herzens, ein Sokrates, ein Plato, ein Seneca
und viele von den neuern Philosophen gesagt haben.
Julchen. Ich kenne alle diese Männer nicht und verlange sie auch
nicht zu kennen. Aber wenn sie so weise gewesen sind, wie Sie
behaupten, so werden sie wohl auch gesagt haben, daß man ein unruhiges
Herz durch viele Vorstellungen nicht noch unruhiger machen soll. Und
ich traue dem Plato und Seneca, und wie sie alle heißen, so viel
Einsicht und Höflichkeit zu, daß sie Sie bitten würden, mich zu
verlassen, wenn sie zugegen wären. Sobald ich die Leidenschaften und
insonderheit die Liebe nicht mehr regieren kann: so will ich Ihre
Philosophie um Beistand ansprechen.
Der Magister. Ihre Aufrichtigkeit gefällt mir, ob sie mir gleich zu
widersprechen scheint. Aber ich würde mich für sehr unphilosophisch
halten, wenn ich den Widerspruch nicht gelassen anhören könnte. Sie
sollen mich nicht beleidiget haben. Nein! Aber Sie sagen, Sie sind
unruhig. Sollte es itzt nicht Zeit sein, diese Unruhe durch
Überlegung zu dämpfen? Was verursacht Ihre Unruhe? Ist's der Affekt
der Liebe oder des Abscheus? Der Furcht oder des Verlangens? Ich
wollte wünschen, daß Sie ein anschauendes Erkenntnis davon hätten.
Wenn man die Ursache eines moralischen Übels weiß: so weiß man auch
das moralische Gegenmittel. Ich meine es gut mit Ihnen. Ich rede
begreiflich, und ich wollte, daß ich noch deutlicher reden könnte.
Julchen. Ich setze nicht das geringste Mißtrauen weder in Ihre
Aufrichtigkeit noch in Ihre Gelehrsamkeit. Aber ich bin verdrießlich.
Ich weiß nicht, was mir fehlt, und mag es auch zu meiner Ruhe nicht
wissen. Verlassen Sie mich. Sie sind mir viel zu scharfsinnig.
Der Magister. Warum loben Sie mich? Wenn Sie so viele Jahre der
Wahrheit nachgedacht hätten als ich: so würden Sie vielleicht ebenso
helle denken. Unterdrücken Sie Ihre Unruhe und überlegen Sie das
Glück, das sich Ihnen heute auf Ihr ganzes Leben anbietet. Herr Damis
verlangt Ihr Herz und scheint es auch zu verdienen. Was sagt Ihr
Verstand dazu? Auf die Wahl in der Liebe kömmt das ganze Glück der
Ehe an; und kein Irrtum bestraft uns so sehr als der, den wir in der
Liebe begehn. Allein wenn kann man sich leichter irren als bei dieser
Gelegenheit?
Julchen. Ich glaube, daß dieser Unterricht recht gut ist. Aber was
wird er mir nützen, da ich nicht lieben will?
Der Magister. Sie reden sehr hitzig. Dennoch werde ich nicht aus
meiner Gelassenheit kommen. Sie wollen nicht lieben, nicht heiraten?
Aber wissen Sie denn auch, daß Sie dazu verbunden sind? Soll ich
Ihnen den Beweis aus meinem Rechte der Natur vorlegen? Sie wollen
doch, daß das menschliche Geschlecht erhalten werden soll? Dieses ist
ein Zweck, den uns die Natur lehrt. Das Mittel dazu ist die Liebe.
Wer den Zweck will, der muß auch das Mittel wollen, wenn er anders
verständig ist. Sehn Sie denn nicht, daß Sie zur Ehe verbunden sind?
Sagen Sie mir nur, ob Sie die Kraft dieser Gründe nicht fühlen?
Julchen. Ich fühle sie in der Tat nicht. Und wenn die Liebe nichts
ist als eine Pflicht: so wundert mich's, wie sie so viele Herzen an
sich ziehen kann. Ich will ungelehrt lieben. Ich will warten, bis
mich die Liebe durch ihren Reiz bezaubern wird.
Der Magister. Jungfer Muhme, das heißt halsstarrig sein, wenn man die
Augen vor den klärsten Beweisen zuschließt. Wenn Sie erkennen, daß
Sie zur Ehe verbunden sind, wie könnte denn Ihr Wille undeterminiert
bleiben? Ist denn der Beifall im Verstande und der Entschluß im
Willen nicht eine und ebendieselbe Handlung unserer Seele? Warum
wollen Sie sich denn nicht zur Heirat mit dem Herrn Damis entschließen,
da Sie sehen, daß Sie eine Pflicht dazu haben?
Julchen. Nehmen Sie mir's nicht übel, Herr Magister, daß ich Sie
verlasse, ohne von Ihrer Sittenlehre überzeugt zu sein. Was kann ich
armes Mädchen dafür, daß ich nicht so viel Einsicht habe als Plato,
Seneca und Ihre andern weisen Männer? Machen Sie es mit diesen Leuten
aus, warum ich keine Lust zur Heirat habe, da ich doch durch ihren
Beweis dazu verbunden bin. Ich habe noch etliche Anstalten in der
Küche zu machen.

Zehnter Auftritt
Der Magister. Cleon.

Der Magister. Ich habe deiner Tochter Julchen alle mögliche
Vorstellungen getan. Ich habe mit der größten Selbstverleugnung mit
ihr gesprochen. Ich habe ihr die stärksten Beweise angeführt; aber...
Cleon. O hättest du ihr lieber ein paar Exempel von glücklich
verheirateten Mädchen angeführt.
Der Magister. Sie widersprach mir mehr als einmal; aber ich kam nicht
aus meiner Gelassenheit. Ich erwies ihr, daß sie verbunden wäre zu
heiraten.
Cleon. Du hast dir viel Mühe geben. Ich denke, wenn ein Mädchen
achtzehn Jahre alt ist: so wird sie nicht viel wider diesen Beweis
einwenden können.
Der Magister. Julchen sah alles ein. Ich machte es ihr sehr deutlich.
Denn wenn man mit Ungelehrten zu tun hat, die nicht abstrakt denken
können: so muß man sich herunterlassen und das Ingenium zuweilen zu
Hülfe nehmen.
Cleon. Aber wie weit hast du Julchen durch deine Gründe gebracht?
Will sie den Herrn Damis heiraten? Hat sie denn ihre Herzensmeinung
nicht verraten? Ich kann ja den rechtschaffenen Mann nicht länger
aufhalten. Er meint es so redlich und hat so viele Verdienste.
Der Magister. Sie sagte, sie wäre unruhig. Und das war eben schlimm.
Denn die Gründe der Philosophie fordern ein ruhiges Herz, wenn sie
die Überzeugung wirken sollen. Wenn der Verstand durch die Triebe des
Willens bestürmt wird: so ist er nicht aufmerksam. Und ohne
Aufmerksamkeit sind die schärfsten Beweise nichts als stumpfe Pfeile.
Cleon. Rede nicht so tiefsinnig. Du hättest sie eben sollen ruhig
machen: so sähe ich den Nutzen von deiner Geschicklichkeit.
Der Magister. Ich versuchte alles. Ich zeigte ihr die schöne Seite
der Liebe. Ich sagte ihr erstlich, daß eine glückliche Ehe das größte
Vergnügen wäre.
Cleon. Ja, die glücklichen Ehen sind etwas sehr Schönes. Aber du
hättest ihr sagen sollen, daß ihre Ehe wahrscheinlicherweise sehr
glücklich werden würde. Das ist meine Absicht gewesen, warum ich dich
zu ihr geschickt habe.
Der Magister. Kurz und gut, durch Lehrsätze und Erweise ist sie nicht
zu gewinnen, das sehe ich wohl. Sie versteht wohl die einzelnen Sätze;
aber wenn sie sie in Gedanken zusammen verbinden und dem Schlusse das
Leben geben soll: so weichet ihr Verstand zurück, und sie wird
ungehalten, daß er sie verläßt.
Cleon. Also kannst du mir weiter nicht helfen und sie nicht überreden?
Der Magister. Es gibt noch gewisse witzige Beweise zur Überredung,
die man Beweise kat' anJrwpon nennen könnte. Dergleichen sind bei den
alten Rednern die Fabeln und Allegorien oder Parabeln. Bei Leuten,
die nicht scharf denken können, tun diese witzigen Blendwerke oft gute
Dienste. Ich will sehen, ob ich durch mein Ingenium das ausrichten
kann, was sie meinem Verstande versagt hat. Vielleicht macht ihr eine
Fabel mehr Lust zur Heirat als eine Demonstration. Ich will eine
machen und sie ihr vorlesen und tun, als ob ich sie in dem Fabelbuche
eines jungen Menschen in Leipzig gefunden hätte, der sich durch seine
Fabeln und Erzählungen bei der Schuljugend so beliebt gemacht hat.
Cleon. Ach ja, das tue doch, damit wir alles versuchen. Wenn die
Fabel hübsch ist: so kannst du sie gleich auf meiner Tochter Hochzeit
der Welt mitteilen. Mache nur nicht gar zu lange darüber. Eine Fabel
ist ja keine Predigt. Es muß ja nicht alles so akkurat sein. Meine
Tochter wird dich nicht verraten. Mache, daß sie ja spricht: so will
ich dir ohne Fabel, aber recht aufrichtig danken.
(Der Magister geht ab.)

Eilfter Auftritt
Cleon. Lottchen.

Lottchen. Papa, der Herr Vormund des Herrn Damis hat durch seinen
Bedienten dieses Zettelchen an Sie geschickt.
Cleon (er liest). »Weil Sie es verlangen: so werde ich die Ehre haben,
gegen die Kaffeezeit zu Ihnen zu kommen. Ich lasse mir die Wahl des
Herrn Damis, meines Mündels, sehr wohl gefallen. Er hätte nicht
glücklicher wählen können. Kurz, ich will mich diesen Nachmittag mit
Ihnen und Ihren Jungfern Töchtern recht vergnügen, weil ich ohnedies
heute eine angenehme Nachricht vom Hofe erhalten habe. Zugleich muß
ich Ihnen melden, daß heute oder morgen das Testament Ihrer seligen
Frau Muhme, der Frau Stephan, geöffnet werden soll. Ich glaube gewiß,
daß sie Ihnen etwas vermacht hat. Vielleicht kann ich Ihnen die
Gewißheit davon um vier Uhr mitbringen. Ich bin« usw.
Das geht ja recht gut, meine liebe Tochter. Ich dachte immer, der
Herr Vormund würde seine Einwilligung nicht zur Heirat geben, weil
meine Tochter kein Vermögen hat.
Lottchen. Das habe ich gar nicht befürchtet. Der Herr Vormund ist ja
die Leutseligkeit und Menschenliebe selbst und macht sich gewiß eine
Freude daraus, zu dem Glücke eines Frauenzimmers etwas beizutragen,
der man keinen größern Vorwurf machen kann, als daß sie nicht reich
ist.
Cleon. Tochter, du hast sehr recht. Es ist ein lieber Mann. Ich
habe nur gedacht, daß er einen gewissen Fehler haben müßte, weil er
schon nahe an vierzig ist und noch kein Amt hat. Aber was hilft uns
das alles, wenn Julchen den Herrn Damis nicht haben will?
Lottchen. Machen Sie sich keine Sorge, lieber Papa. Julchen ist so
gut als besiegt. Und ich denke, es könnte ihr kein größer Unglück
widerfahren, als wenn man ihr ihren Schatz, die sogenannte Freiheit,
ungeraubt ließe. Ich habe die sichersten Merkmale, daß sie den Herrn
Damis liebt.
Cleon. Sollte es möglich sein? Ich dürfte es bald selbst glauben.
Ihr losen Mädchen tut immer, als wenn euch nichts an den Männern läge,
und heimlich habt ihr doch eine herzliche Freude an ihnen. Je nun,
die Liebe ist auch nötig in der Welt, sonst hätte sie uns der Himmel
nicht gegeben.
Lottchen. Papa, diese Satire auf die losen Mädchen trifft mich nicht.
Ich dächte, ich machte kein Geheimnis aus meiner Liebe. Wenigstens
halte ich die vernünftige Liebe für kein größer Verbrechen als die
vernünftige Freundschaft. Unser Leben ist vielleicht deswegen mit so
vielen Beschwerlichkeiten belegt, daß wir es uns desto mehr durch die
Liebe sollen leicht und angenehm zu machen suchen.
Cleon. Mein Kind, wenn mir die Frau Muhme Stephan etwas vermacht
haben sollte: so sähe ich's sehr gerne, wenn ich euch, meine Töchter,
auf einen Tag versprechen und euch in kurzem auf einen Tag die
Hochzeit ausrichten könnte. Ich wollte gern das ganze Vermächtnis
dazu hergeben.
Lottchen. Sie sind ein liebreicher Vater. Nein, wenn Sie auch durch
das Testament etwas bekommen sollten: so würde es doch ungerecht sein,
wenn wir Sie durch unsre Heiraten gleich um alles brächten. Nein,
lieber Papa, ich kann noch lange warten. Und mein Geliebter wird sich
ohnedies nicht zur Ehe entschließen, bis er nicht eine hinlängliche
Versorgung hat.
Cleon. Tue dein möglichstes, daß Julchen heute noch ja spricht. Die
Mädchen müssen wohl ein wenig spröde tun; aber sie müssen es den
Junggesellen auch nicht so gar sauer machen.
Lottchen. Papa, unsere selige Mama sagte nicht so.
Cleon. Loses Kind, ein Vater darf ja wohl ein Wort reden. Ich bin ja
auch jung gewesen, und meine Jugend reut mich gar nicht. Ich und
deine selige Mutter haben uns ein Jahr vor der Ehe und sechzehn Jahre
in der Ehe wie die Kinder vertragen. Sie hat mir tausend vergnügte
Stunden gemacht, und ich will's ihr noch in der Ewigkeit danken. Sie
hat auch euch, meine Kinder, ohne Ruhm zu melden, recht gut gezogen.
Ich weine vielmal, wenn ich des Abends nach der Betstunde von euch
gehe und eure Andacht, insonderheit die deinige, sehe. Es wird dir
gewiß wohlgehen. Verlasse dich darauf. Du tust mir viel Gutes. Du
führst meine ganze Haushaltung. Sei zufrieden mit deinem Schicksale.
Ich lasse dir nach meinem Tode einen ehrlichen Namen und eine gute
Auferziehung. Laß mich ja zu meiner seligen Frau ins Grab legen. Ich
will schlafen, wo sie schläft.
Lottchen. Ach, Papa, warum machen Sie mich weichmütig? Sie werden,
wenn es nach meinem Wunsche geht, noch lange leben und erfahren, daß
ich meinen Ruhm in der Pflicht, Ihnen zu dienen, suche. Und wenn ich
Sie hundert Jahre versorge: so habe ich nichts mehr getan, als was mir
meine Schuldigkeit befiehlt. Heute müssen Sie vergnügt sein. Doch
vielleicht ist die traurige Empfindung, die in Ihnen entstanden ist,
die angenehmste, die nur ein rechtschaffener Vater fühlen kann. Aber,
lieber Papa, es ist kein Wein mehr im Keller als das gute Faß, das Sie
in meinem Geburtsjahre eingelegt haben. Was werden wir heute unsern
Gästen für Wein vorsetzen?
Cleon. Tochter, zapfe das Faß an. Und wenn es Nektar wäre: so ist er
für den heutigen Tag nicht zu gut. Es wird bald Mittagszeit sein.
Ich will immer gehen und die Forellen aus dem Fischhälter langen.
Wenn ich Julchen sehe: so will ich dir sie wohl wieder herschicken,
wenn du noch einmal mit ihr reden willst.
Lottchen. Recht gut, Papa, ich will noch einige Augenblicke hier
warten.

Zwölfter Auftritt
Lottchen. Siegmund.

Siegmund. Ich habe schon einen Augenblick mit Julchen gesprochen.
Sie ist ungehalten auf den Herrn Damis, aber ihre ganze Anklage
scheint mir nichts als eine Liebeserklärung in einer fremden Sprache
zu sein. Ich hätte nicht gedacht, daß sie so zärtlich wäre. Die
Liebe und Freundschaft reden zugleich aus ihren Augen und aus ihrem
Munde, je mehr sie nach ihrer Meinung die erste verbergen will.
Lottchen. Ei, ei, mein lieber Herr Siegmund! Ich könnte bald einige
Minuten eifersüchtig werden. Nicht wahr, meine Schwester ist
reizender als ich? Aber dennoch lieben Sie mich.
Siegmund. Wer kann Sie einmal lieben und nicht beständig lieben?
Ihre Jungfer Schwester hat viele Verdienste; aber Sie haben ihrer weit
mehr. Sie kennen mein Herz. Dieses muß Ihnen für meine Treue der
sicherste Bürge sein.
Lottchen. Ja, ich kenne es und bin stolz darauf. Ach, mein liebster
Freund, ich muß Ihnen sagen, daß uns vielleicht ein kleines Glück
bevorsteht. Wollte doch der Himmel, daß es zu Ihrer Beruhigung etwas
beitragen könnte! Der Herr Vormund des Herrn Damis hat dem Papa in
einem Billette gemeldet, daß heute das Testament der Frau Muhme
Stephan geöffnet werden würde und daß er glaubte, sie würde den Papa
darinne bedacht haben. O wenn es doch die Vorsicht wollte, daß ich so
glücklich würde, Ihre Umstände zu verbessern!
Siegmund. Machen Sie mich nicht unruhig. Sie lieben mich mehr, als
ich verdiene. Gedulden Sie sich, es wird noch alles gut werden und...
Lottchen. Sie sind unruhig? Was fehlt Ihnen? Sagen Sie mir's. Mein
Leben ist mir nicht lieber als Ihre Ruhe.
Siegmund. Ach, mein schönes Kind, es fehlt mir nichts, nichts als das
Glück, Sie ewig zu besitzen. Ich bin etwas zerstreut. Ich habe diese
Nacht nicht wohl geschlafen.
Lottchen. O kommen Sie und werden Sie mir zuliebe munter. Wir wollen
erst zu Julchen auf ihre Stube und dann gleich zur Mahlzeit gehn.
(Ende des ersten Aufzugs.)


Zweiter Aufzug

Erster Auftritt
Cleon. Julchen.

Cleon. Du wirst doch wissen, ob du ihm gut bist?
Julchen. Lieber Papa, woher soll ich's denn wissen? Ich will Ihnen
gerne gehorchen; aber lassen Sie mir nur meine Freiheit.
Cleon. »Ich will Ihnen gerne gehorchen; aber lassen Sie mir nur meine
Freiheit.« Kleiner Affe, was redst du denn? Wenn ich dir deine
Freiheit lassen soll: so brauchst du mir ja nicht zu gehorchen. Ich
will dich gar nicht zwingen. Ich bin dir viel zu gut. Nein, sage mir
nur, ob er dir gefällt.
Julchen. Ob mir Herr Damis gefällt? Vielleicht, Papa. Ich weiß es
nicht gewiß.
Cleon. Tochter, schäme dich nicht, mit deinem Vater aufrichtig zu
reden. Du bist ja erwachsen, und die Liebe ist ja nichts Verbotenes.
Gefällt dir seine Person, seine Bildung?
Julchen. Sie mißfällt mir nicht. Vielleicht... gefällt sie mir gar.
Cleon. Mädchen, was willst du mit deinem »Vielleicht«? Wir reden ja
nicht von verborgenen Sachen: du darfst ja nur dein Herz fragen.
Julchen. Aber wenn nun mein Herz so untreu ist und mir nicht
aufrichtig antwortet?
Cleon. Rede nicht so poetisch. Dein Herz bist du, und du wirst doch
wissen, was in dir vorgeht. Wenn du einen jungen, wohlgebildeten,
geschickten, vernünftigen und reichen Menschen siehst, der dich zur
Frau haben will: so wirst du doch leicht von dir erfahren können, ob
du ihn zum Manne haben möchtest.
Julchen. Zum Manne?... Ach, Papa! lassen Sie mir Zeit. Ich bin
heute unruhig, und in der Unruhe könnte ich mich übereilen. Ich
glaube in der Tat nicht, daß ich ihn liebe, sonst würde ich munter und
zufrieden sein. Wer weiß auch, ob ich ihm gefalle?
Cleon. Wenn du darüber unruhig bist: so hat es gute Wege. Bist du
nicht ein albernes Kind! Wenn du ihm nicht gefielst: so würde er sich
nicht so viel Mühe um dich geben. Er kennt dich vielleicht besser,
als du dich selbst kennst. Stelle dir einmal vor, ob ich deine selige
Mutter, da sie noch Jungfer war, zur Ehe begehret haben würde, wenn
sie mir nicht gefallen hätte. Indem er zu dir sagt: »Jungfer Julchen«,
oder wie er dich nennt... Du kannst mir's ja sagen, wie er dich
heißt.
Julchen. Er heißt mich Mamsell.
Cleon. Kind, du betrügst mich. Er spräche schlechtweg »Mamsell«?
Das kann nicht sein.
Julchen. Zuweilen spricht er auch »liebe Mamsell«.
Cleon. Tochter, du verstellst dich. Ich bin ja dein Vater. Im
Ernste, wie heißt er dich, wenn er's recht gut meint?
Julchen. Ich kann mich selbst nicht besinnen. Er spricht... er
spricht... »mein Julchen«...
Cleon. Warum sprichst du das Wort so kläglich aus? Seufzest du über
deinen Namen? Dein Name ist schön. Also spricht er zu dir: »Mein
Julchen«? Gut, hat er dich nie anders geheißen?
Julchen. Ach ja, lieber Papa. Er heißt mich auch zuweilen: »Mein
schönes Julchen.« Warum fragen Sie mich denn so aus?
Cleon. Laß mir doch meine Freude, du kleiner Narr. Ein
rechtschaffener Vater hat seine Töchter lieb, wenn sie wohlgezogen
sind. Ich bin ja stets freundlich mit euch umgegangen. Aber daß ich
wieder auf das Hauptwerk komme. Ja, indem Herr Damis z. E. zu dir
spricht: »Mein schönes Julchen, ich habe dich...«
Julchen. Oh! Er heißt mich Sie. Er würde nicht du sprechen. Das
wäre sehr vertraut, oder doch wenigstens unhöflich.
Cleon. Nun, nun, wenn er dich auch einmal du hieße, deswegen verlörst
du nichts von deiner Ehre. Hat mich doch meine selige Frau als Braut
mehr als einmal du geheißen, und es klang mir immer schön. Indem er
also zu dir spricht: »Mein schönes Julchen, ich bin Ihnen gut«: so
sagt er auch zugleich, »Sie gefallen mir«; denn sonst würde er das
erste nicht sagen.
Julchen. Das sagt er niemals zu mir.
Cleon. Du machst mich böse. Ich habe es ja mehr als einmal selber
gehört.
Julchen. Daß er zu mir gesagt hätte: »Ich bin Ihnen gut«?
Cleon. Jawohl!
Julchen. Mit Ihrer Erlaubnis, Papa, das hat Herr Damis in seinem
Leben nicht zu mir gesagt. »Ich liebe Sie von Herzen«, das spricht er
wohl; aber niemals, »ich bin Ihnen gut«.
Cleon. Bist du nicht ein zänkisches Mädchen! Wir streiten ja nicht
um die Worte.
Julchen. Aber das klinget doch allemal besser: »Ich liebe Sie von
Herzen«, als das andere.
Cleon. Das mag sein. Ich habe das letzte immer zu meiner lieben Frau
gesagt, und es gefiel ihr ganz wohl. Daß die Welt die Sprache immer
ändert, dafür kann ich nicht. Ihr Mädchen gebt heutzutage auf ein
Wort Achtung wie ein Rechenmeister auf eine Ziffer. Es gefällt dir
also, wenn er so zu dir spricht? Gut, meine Tochter, so nimm ihn doch.
Was wegerst du dich denn? Ich gehe nach der Grube zu. Worauf
willst du denn warten? Kind, ich sage dir's, es dürfte sich keine
Gräfin deines Bräutigams schämen. Herr Damis möchte heute gerne die
völlige Gewißheit haben, ob er...
Julchen. Papa!
Cleon. Nun, was willst du? Nur nicht so verzagt. Ich bin ja dein
Vater. Ich gehe ja mit dir wie mit einer Schwester um.
Julchen. Papa, darf ich etwas bitten?
Cleon. Herzlich gern. Du bist mir so lieb als Lottchen, wenn jene
gleich etwas gelehrter ist. Bitte, was willst du?
Julchen. Ich? Ich bin sehr unentschlossen, sehr verdrießlich.
Cleon. Das ist ja keine Bitte. Rede offenherzig.
Julchen. Ich wollte bitten, daß Sie... mir meine Freiheit ließen.
Cleon. Mit deiner ewigen Freiheit! Ich dachte, du wolltest schon um
das Brautkleid bitten. Ich lasse dir ja deine Freiheit. Du sollst ja
aus freiem Willen lieben, gar nicht gezwungen. Bedenke dich noch eine
Stunde. Überlege es hier allein. Ich will dich nicht länger stören.
Ich will für dich beten. Das will ich tun.

Zweiter Auftritt
Julchen. Damis.

Damis. Darf ich mit Ihnen reden, mein schönes Kind?
Julchen. Es ist gut, daß Sie kommen. Die Gesundheit, die Sie mir
über Tische von der Liebe zubrachten, hat mich recht gekränkt. Meine
Schwester lachte darüber; aber das kann ich nicht. Sie hat heute
überhaupt eine widerwärtige Gemütsart, die sich sogar bis auf Sie,
mein Herr, erstreckt.
Damis. Bis auf mich? Darf ich weiterfragen?
Julchen. Ich sagte ihr, daß Sie meiner Meinung wären und behauptet
hätten, daß mehr Hoheit der Seele zur Freiheit als zur Liebe gehörte.
Darüber spottete sie und sagte dreist, Sie hätten unrecht, wo sie
nicht gar noch mehr sagte. Aber lassen Sie sich nichts gegen sie
merken; sie möchte sonst denken, ich wollte eine Feindschaft anrichten.
Damis. Lottchen wird es nicht so böse gemeint haben. Sie ist ja die
Gutheit und Unschuld selbst.
Julchen. Das konnte ich mir einbilden, daß Sie mir widersprechen
würden. Und ich will es Ihnen nur gestehen, daß ich's zu dem Ende
gesagt habe. Freilich hat meine Schwester mehr Gutheit als ich. Sie
redt von der Liebe, und so gütig bin ich nicht.
Damis. Vergeben Sie es ihr, wenn sie auch etwas von mir gesagt hat.
Ich bin ja nicht ohne Fehler. Und vielleicht würde ich Ihnen mehr
gefallen, wenn ich ihrer weniger hätte.
Julchen. Wozu soll diese Erniedrigung? Wollen Sie mich mit dem Worte
Fehler demütigen?
Damis. Ach, liebstes Kind, werden Sie es denn niemals glauben, wie
gut ich mit Ihnen meine?
Julchen. Daran zweifele ich gar nicht. Sie sind ja meiner Schwester
gewogen; und also wird es Ihnen nicht sauer ankommen, mir Ihre
Gewogenheit in ebendem Grade zu schenken.
Damis. Ja, ich versichere Sie, daß ich Lottchen allen Schönen
vorziehen würde, wenn ich Julchen nicht kennte.
Julchen. Ich sehe, die Gefahr, mich hochmütig zu machen, ist zu wenig,
Sie von einer Schmeichelei abzuschrecken.
Damis. Meine liebe Freundin, ich verliere meine Wohlfahrt, wenn
dieses eine Schmeichelei war. Warum halten Sie mich nicht für
aufrichtig?
Julchen (zerstreut). Ich... ich habe die beste Meinung von Ihnen.
Damis. Warum sprechen Sie diesen Lobspruch mit einem so traurigen
Tone aus? Kostet er Sie so viel? In Wahrheit, ich bin recht
unglücklich. Je länger ich die Ehre habe, Sie zu sehen und zu
sprechen, desto unzufriedner werden Sie. Sagen Sie mir nur, was Sie
beunruhiget. Ich will Ihnen ja Ihre Freiheit nicht rauben. Nein, ich
will nicht den geringsten Anspruch auf Ihr Herz machen. Ich will Sie
ohne alle Belohnung, ohne alle Hoffnung lieben. Wollen Sie mir denn
auch dieses Vergnügen nicht gönnen?
Julchen. Sie sind wirklich großmütiger, als ich geglaubt habe. Wenn
Sie mich lieben wollen, ohne mich zu fesseln: so wird mir Ihr Beifall
sehr angenehm sein. Aber dies ist auch alles, was ich Ihnen sagen
kann. Werfen Sie mir mein verdrießliches Wesen nicht mehr vor. Ich
will gleich so billig sein und Sie verlassen.
Damis. Aber was fehlt Ihnen denn, mein Engel?
Julchen (unruhig). Ich weiß es in Wahrheit nicht. Es ist mir alles
so ängstlich, und es scheint recht, als ob ich das Ängstliche heute
suchte und liebte. Ich bitte Sie recht sehr, lassen Sie deswegen
nichts von Ihrer Hochachtung gegen mich fallen. Es ist unhöflich von
mir, daß ich Sie nicht munterer unterhalte, da Sie unser Gast sind.
Aber der Himmel weiß, ich kann nichts dafür. Ich will mir eine Tasse
Kaffee machen lassen. Vielleicht kann ich mein verdrießliches Wesen
zerstreuen. Aber gehn Sie nicht gleich mit mir. Lottchen möchte mir
sonst einige kleine Spöttereien sagen. Wollen Sie so gütig sein?

Dritter Auftritt
Damis. Lottchen.

Lottchen. Nun, Herr Damis, wie weit sind Sie in Ihrer Liebe? Sie
weinen? Ist das möglich?
Damis. O gönnen Sie mir dieses Glück. Es sind Tränen der Wollust,
die meine ganze Seele vergnügen. Wenn Sie nur das liebenswürdige Kind
hätten sollen reden hören! Wenn Sie nur die Gewalt hätten sehen
sollen, die sie ihrem Herzen antat, um es nicht sehn zu lassen! Sie
sagte endlich aufrichtig, sie wäre unruhig. Ach Himmel! mit welcher
Annehmlichkeit, mit welcher Unschuld sagte sie dies! Sie liebt mich
wohl, ohne es recht zu wissen. Bedenken Sie nur, mein liebes Lottchen,
o bedenken Sie nur, wie...
Lottchen. Warum reden Sie nicht weiter?
Damis. Lassen Sie mich doch mein Glück erst recht überdenken. Sie
nannte ihre Unruhe ein verdrießliches Wesen. Sie bat mich, daß ich
deswegen nichts von der Hochachtung gegen sie sollte fahrenlassen.
Und das Wort Hochachtung drückte sie mit einem Tone aus, der ihm die
Bedeutung der Liebe gab. Sie sagte endlich in aller Unschuld, sie
wollte sich eine Tasse Kaffee machen lassen, um den Nebel in ihrem
Gemüte dadurch zu zerstreuen.
Lottchen. Das gute Mädchen! Wenn der Kaffee eine Arznei für die
Unruhen des Herzens wäre: so würden wir wenig Gemütskrankheiten haben.
Nunmehr wird sie bald empfinden, was Liebe und Freiheit ist. Das
Traurige, das sich in ihrem Bezeigen meldet, scheint mir ein Beweis zu
sein, daß sie ihre Freiheit nicht mehr zu beschützen weiß. Verwandeln
Sie sich nunmehr nach und nach wieder in den Liebhaber, damit Julchen
nicht gar zu sehr bestraft wird.
Damis. Diese Verwandlung wird mir sehr natürlich sein. Aber ich
fürchte, wenn Julchen in Gegenwart so vieler Zeugen mir ihre Liebe
wird bekräftigen sollen: so wird ihr Herz wieder scheu werden. Sie
bat mich, da sie mich verließ, daß ich ihr nicht gleich nachfolgen
sollte, damit ihr Lottchen nicht einige Spöttereien sagen möchte. Wie
furchtsam klingt dieses!
Lottchen. Ja, es heißt aber vielleicht nichts anders, wenn man es in
seine Sprache übersetzt, als: Gehen Sie nicht mit mir, damit Lottchen
nicht so deutlich sieht, daß ich Sie liebe. Ihre Braut scheut sich
nicht vor der Liebe, sondern nur vor dem Namen derselben. Wenn sie
weniger natürliche Schamhaftigkeit hätte, so würde ihre Liebe sich in
einem größern Lichte sehen lassen; aber vielleicht würde sie nicht so
reizend erscheinen. Vielleicht geht es mit der Zärtlichkeit eines
Frauenzimmers wie mit ihren äußerlichen Reizungen, wenn sie gefallen
sollen.
Damis. Was meinen Sie, meine liebe Jungfer Schwester, soll ich...
Aber wie? Ich nenne Sie schon Jungfer Schwester, und ich scheue mich
doch zugleich, Sie deswegen um Vergebung zu bitten?
Lottchen. Ich will den Fehler gleich wieder gutmachen, mein lieber
Herr Bruder. Ich habe Ihnen nun nichts vorzuwerfen. Aber was wollten
Sie sagen?
Damis. Fragen Sie mich nicht. Ich habe es wieder vergessen. Ich
kann gar nicht mehr zu meinen eignen Gedanken kommen. Sie verbergen
sich in die entlegenste Gegend von meiner Seele. Julchen denkt und
sinnt und redt in mir. Und seitdem ich sie traurig gesehen habe, habe
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