Die Witwe von Pisa - 2

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einmal der Schleier fallen müssen?--Jawohl, seufzte ich bei mir selbst,
die Schuppen werden dir von den Augen fallen, armes Lamm!--und so
begleitete ich sie mit heroischer Fassung ins Theater.
Ich glaubte erst, sie habe dieses gemeinsame Vergnügen nur darum
arrangiert, um sich wirklich recht geflissentlich vor aller Welt zu
kompromittieren und mich dadurch moralisch zu binden. Aber sie hatte
noch eine Nebenabsicht. In den Zwischenakten der ziemlich
langweiligen modernen Tragödie, während deren Lucrezia beständig
kandierte Früchte naschte, trat nämlich ein Sänger auf, den ich als
eine ungewöhnliche Figur schon öfters auf den Straßen von Pisa
studiert hatte. Er schlenderte gewöhnlich, in ein zimmetbraunes,
malerisch geschnittenes Tuchwams und weite Hosen von derselben Farbe
gekleidet, einen breiten, phantastischen Hut auf die dicken schwarzen
Haare gedrückt, in Begleitung eines kleinen braunen Weibchens, das ihn
führte, durch die Straßen, immer vor sich hin lächelnd mit einem halb
gutmütigen, halb ironischen Ausdruck, während das feine scharfe
Gesichtchen der Frau einen versteinerten Leidenszug hatte. Ich hatte
mir sagen lassen, dies sei ein ehemals berühmter Sänger, Tobla Seresi,
ein prachtvoller Bariton, der leider den Verstand verloren habe und
darum als Opernsänger nicht mehr zu brauchen sei. Denn er habe
zuweilen Anfälle von Tobsucht, wo dann nur seine kleine Frau, die er
zärtlich liebe, ihn zu behandeln und wieder zahm zu machen verstehe.
Zuweilen singe er auf den Theatern in den Zwischenakten, um sich etwas
zu verdienen; dann stehe das kleine Weibchen immer hinter den Kulissen
und beobachte ängstlich jede Miene in seinem Gesicht.
Dieser Sor Tobia nun sang, wie gesagt, auch an jenem Nachmittage, und
seinetwegen hatte meine Witwe mich hingeschleppt. Denn kaum hatte er
die ersten Töne seiner Arie gesungen, so wandte sich Frau Lucrezia
nach mir um, der ich hinter ihr in der Loge saß, und erzählte mir
weitläufig, daß sie selbst eigentlich die Ursache dieses Unglücks sei.
Vor sechs Jahren, mitten in einem verliebten Duett, das sie mit ihm
gesungen--die Oper, die sie mir auch nannte, habe ich vergessen--sei
der Wahnsinn bei ihm ausgebrochen. Er habe sie nämlich heftig an sich
gezogen, wie es die Rolle mit sich brachte, und ihr mit rollenden
Augen zugeflüstert, wenn sie ihn nicht erhöre, so werde er sie und
sich mit einem vergifteten Kartoffelsalat umbringen. Was an dem Zeug
wahr sein mochte, weiß ich nicht. Genug, sie schwatzte mir in diesem
Stil noch eine Menge Abenteuer vor, damit ich recht einsehen solle,
was sie damals für ein lebensgefährliches Frauenzimmer gewesen sei.
Ich hörte nur halb zu, um nicht den Gesang ganz zu verlieren, der ihr,
obwohl sie Sängerin war, sehr gleichgültig zu sein schien. Als es
dann zu Ende war, warf sie ihren Strauß auf die Bühne und klatschte
mit Ostentation. Einige Amateurs drängten sich aus dem Parterre ins
Orchester und reichten dem Sor Tobia einen riesenhaften Strauß, wie
ein Wagenrad, auf die Szene hinauf, den er mit seinem stillen
ironischen Lachen annahm, unter wütendem Applaus. Das Volk war sehr
liebenswürdig gegen den armen Irren, und ich hörte links und rechts
Ausrufe des Bedauerns und der Teilnahme an seinem Geschicke. Nur
meine Witwe ignorierte ihn ganz kaltblütig, fächerte sich beständig
Kühlung zu und fing gleich wieder an, verzuckerte Orangenscheibchen zu
essen.
Ich gestehe Ihnen, es überlief mich eiskalt neben dieser meiner
Eroberung; ich war froh, daß sie bald aufbrach, und wie sie meinen Arm
nahm und wir nach Hause gingen, kam ich mir recht erbärmlich vor; ich
fühlte mich in einer so schiefen Lage, daß ich längst zusammengestürzt
wäre, wenn ich ein Glockenturm und nicht ein elastischer Organismus
von Fleisch und Bein gewesen wäre. An diesen Tag werde ich denken!
Denn glauben Sie nicht, daß es damit schon vorbei war. Meine Schöne
hatte sich offenbar vorgenommen, heute noch die Sache zwischen uns ins
reine zu bringen, unterhielt mich daher von ihren Vermögensumständen,
die ganz annehmlich schienen, von dem Glück, das sie ihrem Seligen
bereitet, der sie ihrer Schönheit wegen von der Bühne weggeheiratet
habe, obwohl er selbst Komponist gewesen und ihren Gesang zu schätzen
gewußt habe. Sehen Sie, sagte ich in meiner Herzensangst und
versuchte dabei eine scherzhafte Miene zu machen, das würde nun doch
ein Hindernis für uns bilden. Denn in Deutschland gehen alle
südlichen Stimmen bei dem beständigen Schneewetter zu Grunde.--Sie
erwiderte, daß sie dieses Opfer gern bringen würde. Die Ehe, setzte
sie mit einem pathetischen Seufzer hinzu, die Ehe ist ja ein
beständiges Opfer auf dem Altar der Liebe!--Aber, sagte ich, die
lieben Kinder, wie werden die das rauhe Klima ertragen?--Auch das
machte ihr keinen Kummer. Die Bimbi sind ja wohl aufgehoben, sagte
sie. Die Tante übernimmt die beiden kleinsten, die ältesten bleiben
in Florenz.--Schön! sagte ich und dachte bei mir selbst: O du
Rabenmutter! Aber ich lächelte dabei so verbindlich, daß sie kein Arg
hatte; denn das sah ich ihr an, daß sie zum Äußersten entschlossen war
und sich nicht besonnen hätte, mir ebenfalls einen bitteren
Kartoffelsalat anzurichten, wenn sie hinter meine wahre Stimmung
gekommen wäre.
Da kam mir eine Eingebung, die ich für sehr glücklich hielt. Schöne
Frau, sagte ich, Ihr müßt mich erst über einen Punkt beruhigen. Ihr
sagt, Euer Seliger sei unter die Briganten gefallen und nicht
wiedergekommen. Wißt Ihr denn aber gewiß, daß er nicht mehr am Leben
ist? Wenn er nun eines schönen Tages zurückkehrte und Euch
reklamierte, oder gar mir einfach den Hals bräche, zum Dank dafür, daß
ich ihm sein Eigentum inzwischen so gut aufgehoben hätte?
Diese Frage tat ich, als wir schon wieder oben in ihrem Salon auf dem
bewußten Sofa saßen, gerade unter dem Bilde des seligen Komponisten.
Ich fügte noch einige weise Reden über die Zweckmäßigkeit offizieller
Totenscheine hinzu und über den Greuel der Bigamie--Warten Sie! sagte
sie ruhig, stand auf und schloß ein Fach ihres Schreibtisches auf.
Was zog sie daraus hervor? Sie werden es kaum glauben, aber es ist so
buchstäblich wahr wie diese ganze Historie: zwei Fläschchen, beide
wohlverkorkt und mit einer Schweinsblase luftdicht zugeklebt, und in
jedem ein natürliches Menschenohr, kunstreich mit einem reinlichen
Schnitt vom Kopfe abgetrennt und hier in Spiritus aufbewahrt! Ecco!
sagte sie und hielt mir die Fläschchen hin, die ich vor Grausen nicht
in die Hand zu nehmen vermochte. Dies ist wohl besser als mancher
Totenschein. Es sind Carlos Ohren, ich erkannte sie auf der Stelle.
Erst kam das rechte; das schickte mir einer seiner Freunde aus Neapel,
und ich mußte fünftausend Lire als Lösegeld schicken, was ich auch
sogleich tat. Aber es kam doch zu spät an; denn bald darauf erhielt
ich das zweite Fläschchen und einen zweiten Brief des Freundes, worin
stand, die Mordgesellen hätten das Geld genommen, aber als Quittung
darüber eben nur das zweite Ohr ausgeliefert; was aus dem Menschen
geworden, der daran gesessen habe, sei gänzlich dunkel, und ich müsse
mich in Geduld fassen. Was sagen Sie zu dieser Zumutung an eine
zärtliche Gattin? Ich mich in Geduld fassen? Nein, bei mir stand es
sogleich fest: mein Carlo ist nicht mehr! O er hatte so empfindliche
Ohren--und nun wollte man mir einreden, er hätte ihren Verlust
überleben können? Arme und Beine hätten sie ihm amputieren können,
und er hätte weitergelebt! Aber mein Carlo ohne seine
Ohren--nimmermehr!
Ihr müßt das wissen, schöne Frau, sagte ich, und in der Tat, wenn
diese traurigen Reliquien wirklich Eurem Seligen gehört haben-So gewiß
wie dies mein kleiner Finger ist, sagte sie mit großer Überzeugung und
betrachtete dabei die Fläschchen mit so wissenschaftlichem Ernst, wie
etwa ein Naturforscher eine neue Amphibienspezies, die man ihm in
Spiritus zugeschickt hat. Mich überlief eine Gänsehaut.
Dennoch, sagte ich, reicht dieses Vermächtnis schwerlich hin, Euch
ganz frei zu machen. Die Gerichte sind sehr eigensinnig. Sie
verlangen ganz andere Beweise, ehe sie einen Menschen aus dem Register
der Lebendigen streichen.
Darum ist eben der Oheim nach Florenz, versetzte sie gelassen. Er
kennt einige Minister und hofft, daß es ihm gelingen werde, die
legalen Zeugnisse zu erhalten. Mein Mann ist nicht unbekannt, und
sein plötzliches Verschwinden hat Aufsehen gemacht. Die Wahrheit muß
endlich an den Tag kommen.
Damit ging sie wieder an ihren Schreibtisch, verschloß die teuren
Andenken an ihren Seligen und setzte sich ans Klavier, um nun noch
durch--den Zauber der Töne auf mich zu wirken. Aber ich konnte nicht
mehr! Es war mir in der Nähe dieses entsetzlichen Frauenzimmers zu
Mute, als hätte ich mich mit einer Wachsfigur eingelassen, in deren
hohlem Innern eine Spieluhr angebracht sei. Die Haare standen mir zu
Berge, als sie ihr beliebtes "Ah sin' all' ore" anstimmte; ich
schützte Kopfweh vor und stürmte aus dem Hause ins Freie.
Ich flüchtete zu meinem lieben "Nettuno", aber ich konnte keinen
Bissen hinunterbringen; alles widerstand mir, bis auf den Wein, dem es
aber doch nicht gelang, mich ganz in Bewußtlosigkeit einzutauchen.
Immer sah ich die beiden Fläschchen und die kaltblütigen schwarzen
Augen darauf gerichtet und hörte den Klang der Spieluhr aus der hohlen
Automatenbrust. Daß ich es unter diesem Dach nicht länger aushalten
könne, stand bei mir fest. Aber wie sollte ich entrinnen, ohne daß
dieses erbarmungslose Weib Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um
mich aus jedem Schlupfwinkel, den ich in der Stadt nur ersinnen könnte,
wieder hervorzuziehen? Schade, daß Toskana keine Abruzzen hat! Wie
gern wäre ich ebenfalls in die Hände der Briganten geraten, unter der
Bedingung, daß sie mich um keinen Preis wieder auslösen dürften.
Endlich brachte mir der treffliche rote Wein eine Erleuchtung. Ich
mußte nicht nur das Haus, sondern die Stadt verlassen, wenn auch meine
Studien am Kampanile noch sehr einer Revision bedurft hätten. Die
Schwierigkeit bestand vor allem darin, wie ich, ohne Aufsehen zu
erregen, meine Habseligkeiten an den Bahnhof schaffen sollte. Aber in
der Desperation hatte ich einen Einfall, den ich Ihnen für künftige
Notfälle empfehle, sei es im Leben, sei es in Novellen oder
Lustspielen. Ich kaufte noch denselben Abend einen Koffer, den ich in
den "Nettuno" tragen ließ und meinem getreuen Kellner überantwortete.
Das weitere sollte der morgende Tag bringen.
Erst aber brachte die Nacht noch eine letzte Gefahr, nicht die
geringste von allen. Stellen Sie sich vor, was diese Lucrezia für
einen Spuk arrangierte. Ich war zu Bett gegangen, wie gewöhnlich,
ohne ihr noch eine gute Nacht gewünscht zu haben, und die Hoffnung auf
ein glückliches Entkommen ließ mich rasch und sanft einschlafen. Da
werde ich etwa um Mitternacht durch ein heftiges Bellen des Hündchens
und einen plötzlichen Lichtschein aufgeweckt und sehe meine schöne
Witwe vor meinem Bette stehen in einer sehr fragwürdigen Gestalt,
nicht gerade unschicklich, aber immerhin das verfänglichste Kostüm, in
dem sie mir noch erschienen war. Sie haben ja wohl die
"Nachtwandlerin" gesehn und den "Fra Diavolo"? Aus einer dieser Opern
mochte meine Primadonna das weiße gestickte Unterröckchen noch übrig
behalten haben, in weichem sie sich zu mir flüchtete, die Haare
aufgelöst über die schönen Schultern, das Gesicht tragisch verzerrt.
Um Gottes willen, was ist geschehen? rief ich und stützte mich im
Bette auf.--Er ist mir erschienen, wie er leibte und lebte, sagte sie;
er steht noch drinnen an meinem Bette, ich bin halbtot vor Schrecken
und getraue mich nicht wieder hinein!--Possen! sagte ich, ganz
ärgerlich. Ihr habt geträumt, Lucrezia. Legt Euch wieder schlafen
und laßt mich in Frieden,--Nein, nein, sagte sie; kommt und seht ihn
selbst und sagt dann, ob ich träume.--Und dabei faßte sie meine Hand,
wie beschwörend, mit ihren beiden Händen; es fehlte nur noch, daß sie
wie auf dem Theater zu singen anfing. Da wurde mir die Sache doch zu
toll. Gut, sagte ich, ich will jetzt aufstehen und mitkommen. Steht
er wirklich als Geist an Eurem Bette, so daß ich ihn mit diesen meinen
Augen sehe, so ist es meine Ritterpflicht, mir in Eurem Namen diese
ganz zwecklosen und unbequemen Nachtbesuche zu verbitten. Ist aber
von einem Gespenst nichts zu sehen, so tut es mir herzlich leid, aber
ich muß auf Eure Hand verzichten, Lucrezia; denn ich habe einen
angeborenen Abscheu vor Nachtwandlerinnen und bin fest entschlossen,
lieber ledig zu bleiben, als eine Somnambule zu heiraten.--Indem ich
dies sagte, machte ich Miene aufzustehen. Aber sie ließ es nicht so
weit kommen. Sie schüttelte abwehrend ihre schwarzen Haare, winkte
mir mit den schönen weißen Armen eine gute Nacht und verschwand ohne
jede weitere Auseinandersetzung.
Nun mußte ich trotz meines Ärgers aus vollem Halse lachen und schlief
darüber friedlich wieder ein, wurde auch nicht zum zweiten Male
gestört. Aber die ganze Affäre bestärkte mich natürlich in meinem
Entschluß, mich heimlich davonzuschleichen. Denn der Oheim wurde
täglich zurückerwartet, und wer konnte wissen, was sie dem bereits
über mich geschrieben, und wie weit dieser Ehrenmann seine schöne
Nichte durch mich "kompromittiert" glauben mochte. Ich ließ mir am
Morgen nicht das geringste merken, zeichnete erst eine Welle, ging
dann, als die Straße schon sehr belebt war, wie gewöhnlich aus, ein
Päckchen unter dem Arm, das niemand auffiel und in dem ich einen Teil
meiner Wäsche nach dein "Nettuno" transportierte, wo mein neuer Koffer
übernachtet hatte. Auf die Art schaffte ich im Laufe des Vormittags
nach und nach meine sämtliche Habe aus dein Hause, und als ich zuletzt
die Risse und Zeichnungen in einen großen Blechzylinder verpackt den
übrigen Sachen nachtrug, sah es doch in meinem Zimmer nicht anders aus
als sonst, da ich den leeren Koffer, einige leere Mappen und mein
Waschgerät dem Feind als Beute zurückgelassen hatte. Auch die
türkischen Pantoffeln des Seligen standen mit der unschuldigsten Miene
von der Welt unter dem Bette. Die Miete hatte ich auf einen Monat
vorausbezahlt.
Nun können Sie sich denken, mit welchem Hochgefühl der Befreiung und
Errettung ich die schöne Straße nach La Spezia hinsauste, wie ein
Verbrecher, der zu lebenslänglichem Ah sin' all' ore all' ore estreme
verurteilt war und glücklich ausgebrochen ist. Die Gegend ist dort so
schön, daß es mich zu jeder anderen Zeit gewiß verdrossen hätte, auf
der Eisenbahn hindurchzufliegen. Aber wer eine zärtliche Witwe
zurückläßt, kann nicht rasch genug von der Stelle kommen. Erst als
ich spät abends in La Spezia ankam und in der Eroce di Malta abstieg,
glaubte ich mich geborgen und aß, trank und schlief mit leichtem
Herzen. In meinem Zimmerchen war nur ein ganz kleiner Tisch, auf dem
man kaum einen Waschzettel schreiben konnte. Aber--so wandelbar ist
das Gemüt des Menschen--er gefiel mir in seiner Zwerghaftigkeit ganz
ausnehmend, und ich konnte nicht ohne stillen Schauder an jenen Riesen
zurückdenken, der mich ins Netz meiner Armida gelockt hatte.--Seit
Wochen war ich nicht so fröhlich aufgewacht wie am andern Morgen, und
weil es ein wundervoller Tag war, die reinste Junisonne und das Meer
spiegelglatt, bcschloß ich, eine Fahrt auf dem Golf zu machen nach dem
alten Fischer- und Piratennest Portovenere, von dem mir meine Freunde
in Rom so viel erzählt hatten. Da der geringe Wind uns entgegenstand,
mußte mein alter Schiffer zu den Rudern greifen, und zwei ganze
Stunden brauchten wir, bis wir um das Vorgebirge bogen und nun der
verwitterte Häuserhaufen, das malerische Kirchlein und die Insel
Palmaria gegenüber in der vollen Sommersonne vor uns auftauchten. Sie
werden diesen wundersamen Erdenwinkel ohne Zweifel auch besucht haben.
Ist es nicht wirklich, als befände man sich da viele Meilen südlicher
in einem jener Klippennester am Busen von Salern, wo noch Abkömmlinge
der griechischen Kolonisten in homerischer Unbekümmertheit ihre Tage
hinleben? Derselbe schöne Menschenwuchs, dieselbe vorsündflutliche
Kochkunst und ein urweltlicher Schmutz, der in allen Ecken bergehoch
versteinert. Ich traute meinen Augen nicht, als ich die einzige
Hauptgasse hinaufschlenderte durch die Reihen der spinnenden,
singenden und schwatzenden Weiber, die mit losen Haaren und halb im
Hemde unter den Türen saßen und mich anstarrten wie ein Meerwunder,
das die Wellen eben ausgespien. Ach, und die herrliche Vegetation,
das beneidete Aloe-Unkraut auf den Mauertrümmern der verfallenen
Festungswerke, Kaktus, Wein und Oliven bunt durcheinander in den
Gärtchen hinter den grauen Häusern, und die kolossalen Feigenbäume,
die sich vor Früchten nicht zu lassen wußten! Wenn man sich in der
reinlichen Toskana einen Monat lang herumgetrieben hat, tut einem
diese Rückkehr in das Paradies, das der Besen einer löblichen Polizei
noch niemals ausgefegt hat, über alle Maßen wohl. Ich wurde nicht
müde, die Gäßchen hinauf- und hinunterzuklettern, aus den leeren
Fensterbögen des alten Kirchleins auf dem äußersten Felsenvorsprung in
die schöne Brandung hinunterzustarren, und dann wieder im Schatten der
Festungsmauer im dürren Grase zu liegen und über die weißen Dächer weg
auf den blauen Golf hinabzusehen, wo die Schiffe kamen und gingen,
alles ganz wie vor tausend Jahren, bis auf die Rauchwolken, die aus
den Schornsteinen der Dampfer gen Himmel stiegen. Ich war so völlig
der Gegenwart entrückt, daß ich auch meine jüngsten Abenteuer nur wie
etwas längst Vergangenes bedachte und mich sogar auf den Namen meiner
Witwe einen Augenblick nicht mehr besinnen konnte.
Endlich trieb mich denn doch der Hunger wieder in das Nest zurück, und
nachdem ich einige Male zwischen den beiden Häusern auf und ab
gewandert war, über deren Türe albergo e trattoria geschrieben stand,
entschied ich mich für das obere, vor dessen Tür ein paar
piemontesische Soldaten Limonade gazeuse tranken und Karten spielten,
während das andere von Matrosen wimmelte. Drinnen sah es freilich
hier wie dort zigeunermäßig genug aus. Aber die gutmütige Wirtin wies
mich eine Treppe hinauf in den "Salorie" und versprach, mir in fünf
Minuten ein Mittagessen herzurichten. Während ich darauf wartete und
die Tochter, ein stummes halbwüchsiges Mädchen, den Tisch deckte, sah
ich mir die Bilder an, die eingerahmt an den Wänden hingen, einige
französische Stahlstiche aus der Geschichte von Paul und Virginie,
eine Madonna, mit goldenen Herzen beklebt, und die italienischen
Nationalheiligen: Cavour, Garibaldi und der König-Ehrenmann. Der Saal
hatte noch eine Tür zur Linken. Ohne mir was dabei zu denken, hatte
ich schon die Klinke in der Hand, als die Wirtin eben hereintrat und
mit einer halb erschrockenen, halb unwilligen Gebärde mir winkte, von
dieser Türe zurückzubleiben. Ich entschuldigte mich, daß ich es ganz
arglos getan, um zu sehn, ob sie nicht noch Zimmer hätten, wo man etwa
übernachten könne. Nein, nein, gab die Frau hastig zur Antwort. Die
übrigen Zimmer brauchen wir selbst.--Ich tröstete mich leicht hierüber.
Denn der Gedanke, in dieser verräucherten Herberge hausen zu müssen,
war nicht eben verführerisch. So setzte ich mich zu Tische und fand
das Essen, mit Ausnahme einer fossilen Kotelette und des ranzigen
Öles-, das sie mir an die grünen Bohnen gegossen hatten, noch
erträglicher, als ich gefürchtet. Sie trugen mir ein paar delikate
gebackene Fischchen auf, und der Wein war sehr trinkbar, so daß ich,
nach dem heißen Tage, mich in vollen Zügen daran labte und noch ehe
sie mir die trockenen Feigen und die versteinerten Biskuits zum
Nachtisch gebracht hatten, auf dem Stuhl, wo ich saß, in einen festen
Nachmittagsschlaf versank.
Ich mochte wohl ein paar Stunden in dem totenstillen Saal geschlummert
haben, als mich plötzlich ein wunderliches Klingen ganz in meiner Nähe
aufweckte. Ich öffnete die Augen, blieb aber ganz ruhig sitzen und
horchte umher. Es klang, als würde auf einem uralten Klavezimbel
gespielt, und die Töne kamen aus dem Zimmer nebenan, das zu betreten
mir die Wirtin verboten hatte.
Daß ich neugierig wurde und auf den Zehen an die Türe schlich, um
durchs Schlüsselloch zu sehen, werden Sie mir nicht verdenken. Wenn
bloß ihr Novellisten das Vorrecht hättet, in fremden Ländern eurer
Neugier die Zügel schießen zu lassen, könnten wir andern ehrlichen
Menschen nur lieber gleich zu Hause bleiben. Und welches Glück, daß
ich mich hier aufs Horchen legte! Zwar die Musik verriet mir nicht
viel. Eine heisere Männerstimme sang allerlei abgerissene Verse eines
Operntextes, von denen ich nur die üblichen Naturlaute:
Deh perfida! Ah barbaro!
und:
Cottie? Tiranna! O dio!
Strappami il cor dal seno--
verstand. Das alte Instrument stand an der Wand gegenüber, so daß der
Sänger, der davor saß, mir den Rücken zugekehrt hatte. Aber jetzt
drehte er sich nach der Seite, um in einem Haufen geschriebener Noten
zu wühlen, die neben ihm auf dem Bette lagen. Und nun raten Sie
einmal, wer es war?
Doch nicht der verrückte Bariton, Tobia Seresi?
Noch toller! Noch erstaunlicher! So abenteuerlich, daß ich Ihnen
nicht raten würde, dies zu erfinden, und nicht zumuten könnte, es zu
glauben, wenn ich es nicht erlebt hätte: Sor Carlo, der Mann meiner
Witwe!
Das ist stark, sagte ich. Ich bin sehr geneigt zu glauben, daß der
Wein von Portovenere Ihnen zu dieser Vision verhalf, oder daß alles
nur ein Sommernachmittagstraum war.
Sie irren sich sehr, fuhr er fort. Hören Sie nur weiter. Daß ich
anfangs selbst zu träumen meinte, können Sie sich wohl denken. Aber
es war Zug für Zug dasselbe Gesicht, das ich über dem Sofa der Frau
Lucrezia unter Glas und Rahmen oft genug studiert hatte.
Und die Ohren? fragte ich.
Die konnte ich nicht sehen. Die Haare schienen schon seit Monaten
nicht mehr geschnitten worden zu sein und hingen dicht um den Kopf bis
auf die Schultern herab. In der Überraschung muß ich wohl an der Tür
gerappelt haben. Denn plötzlich drehte er sich vollends herum und
rief: Seid Ihr's, Frau Beatrice?--So hieß nämlich die Wirtin.
Nun war ich doch einmal verraten und beschloß, mich lieber ganz und
gar zu enthüllen. Ich rief ihm durchs Schlüsselloch zu, die Frau sei
es nicht, aber ein Freund, der zwei Worte mit ihm zu sprechen wünsche.
Dabei nannte ich seinen Namen und sah, wie er heftig erschrak und
einen Augenblick zu überlegen schien, ob er sich nicht verleugnen
solle. Aber was konnte das helfen, wenn er doch einmal von einem
Fremden entdeckt war? So schloß er denn die Tür auf, und ich werde
niemals den wunderlichen Blick vergessen, mit dem er mich musterte,
etwa wie Lazarus, als er von den Toten auferweckt wurde. Lieber Sor
Carlo, sagte ich, was zum Teufel haben Sie gemacht? Warum begraben
Sie sich bei lebendigem Leibe in diesem elenden Fischernest, während
ganz Pisa in Alarm ist um Ihr Verschwinden und Ihre trauernde Witwe
Tag und Nacht keine Ruhe hat bis sie-Hier fiel er mir zum Glück in das
Wort; ich hätte sonst am Ende die gute Lucrezia verleumderischerweise
als ganz untröstlich geschildert.
Was? sagte er. Meine Witwe? Weiß denn meine Frau nicht, daß ich wohl
aufgehoben bin?
Nun erzählte ich ihm, natürlich ohne meine eigenen zarten Beziehungen
zu dieser liebevollen Seele zu verraten, wie ich die Dinge in Pisa
gefunden, gestand ihm auch, daß ich in seinem Hause gewohnt und Zeuge
von dem Kummer der einsamen Verlassenen gewesen sei. Wie ich aber auf
die beiden Reliquienfläschchen zu reden kam, unterbrach er mich in
heftiger Aufregung. Unerhört! rief er und zerwühlte sich das Haar, so
daß ich nun das Vorhandensein eines ungestutzten Ohrenpaares
konstatieren konnte. O ich bin schändlich betrogen worden! Man hat
mir eine Rolle in einem Possenspiel zugeteilt, die mich bis an mein
Lebensende lächerlich machen wird!--So schrie und tobte er in seinem
kleinen Stübchen herum, und es dauerte lange, bis er sich so weit
beruhigte, um sich aufs Bett zu setzen und mir den Zusammenhang dieser
tragikomischen Geschichte zu enthüllen.
Da er mich mit Recht wie einen Hausfreund betrachtete--ich war es
gottlob nicht in der verwegensten Bedeutung--so suchte er durchaus
nichts zu verstecken oder zu beschönigen, sondern erzählte mir von
Anfang an seine Liebes-, Heirats- und Leidensgeschichte. Er hatte
seine Frau auf der Bühne kennengelernt und sich ebenso heftig in ihre
Schönheit verliebt, wie er ihren Gesang verabscheute. Denn sie habe
so ganz unheilbar falsch gesungen, daß sie die Ohren ebenso gemartert
habe, wie sie die Augen entzückte. Er gestand mir sogar, seiner
festen Überzeugung nach sei der arme Tobia Seresi bloß dadurch um den
Verstand gekommen, daß er genötigt gewesen sei, einen ganzen Winter
hindurch Duette mit ihr zu singen. Unter solchen Umständen habe er,
Sor Carlo, sich endlich nicht anders zu helfen gewußt, als indem er
sie von der Bühne wegheiratete. Aber leider habe das häusliche Glück
und ihre Hausfrauen- und Mutterpflichten das verhängnisvolle Talent
nicht ersticken können. Dazu nun ihre Liebhaberei für geräuschvolle
Haustiere, das unvermeidliche Kindergeschrei, der Lärm auf der
Straße--kurz, seine Nerven hätten endlich so sehr gelitten, daß an
Komponieren kein Gedanke mehr gewesen sei. Nun habe sie alles
Mögliche ihm zuliebe getan. Aber sein Gehör sei jetzt schon so
überreizt gewesen, daß er sich eingebildet habe, sie niese sogar
falsch und ihre Schuhe knarrten um einen Viertelston zu hoch. Endlich
habe er sich entschlossen, eine Erholungsreise nach Neapel anzutreten,
und hier sei das Leiden auch bald milder geworden, zumal da er in dem
stillen Landhause eines Schulfreundes, eines Arztes, ganz ungestört
seinen Lieblingsarbeiten nachgehen konnte. Überdies fand er
endlich hier unten einen jungen Poeten, der ihm einen Operntext ganz
nach seinen Wünschen dichtete. jetzt nur sechs Monate in ungestörter
Arbeitsruhe, und er wollte ein Werk zustande bringen, das ihn auf
einen Schlag in ganz Italien berühmt machen sollte. Aber schon kamen
die ungeduldigsten, sehnsüchtigsten Briefe seiner jungen Frau. Wenn
er nicht zurückkehre, werde sie alles, Haus und Kinder, im Stiche
lassen und ihren heißgeliebten Carlo aufsuchen. Und sie wäre es
imstande gewesen! seufzte der Gatte; denn sie konnte nicht ohne mich
leben, und ihre Eifersucht war nicht die geringste meiner häuslichen
Annehmlichkeiten.--In dieser Not fragte er seinen Freund um Rat, der
ebenfalls nichts lebhafter wünschte als den Ruhm und das schöpferische
Glück des Freundes. Laß du mich nur machen! habe jener gesagt. Ich
verspreche dir, daß sie dich bis zur Vollendung deines Werks in Ruhe
lassen soll. Nur mußt du mir dagegen geloben, in der ganzen Zeit
weder an sie zu schreiben, noch dich vor irgend einem Menschen sehen
zu lassen, der ihr mündlich Nachricht von dir bringen könnte. Im
übrigen werde ich es so einrichten, wie es für alle Teile das
zuträglichste ist.--Diesen Vertrag sei er unbedenklich eingegangen, da
er schon ganz von seiner Arbeit erfüllt gewesen sei und ja auch gewußt
habe, daß inzwischen zu Hause alles wohl stehe. Die ersten Monate des
Winters habe er in einem stillen Hause nahe bei Amalfi zugebracht und
hier die Skizze seiner Oper vollendet. Sein Freund, der Arzt, habe
ihn mit Geld versehen und alle vier Wochen geschrieben, Frau und
Kinder seien wohl und ließen ihn grüßen. Als er dann soweit war, daß
die vollständige Partitur geschrieben werden mußte, was er ohne
Instrument nicht gut zustande bringen konnte, habe er Amalfi verlassen
und sich nach einem kurzen Besuch in Neapel nach Portovenere
zurückgezogen, wohin von La Spezia aus ein altes Klavier leichter zu
schaffen war. Hier hause er nun friedlich seit fünf Monaten. Nur
noch eine Woche, so sei auch das Finale des letzten Aktes glücklich
instrumentiert, und nun erfahre er zu seinem Entsetzen, daß sein
Freund seine Arglosigkeit aufs Schnödeste mißbraucht und auf seine
Kosten eine Farce in Szene gesetzt habe, die ihn, da er eben an die
Schwelle des Ruhmes gelangt sei, ohne Erbarmen vor ganz Italien zum
Gelächter machen müsse.
Fassen Sie sich nur, sagte ich, während ich selbst Mühe hatte, mein
Lachen zu unterdrücken. Es ist noch gar nichts verloren. Von den
beiden herrenlosen Ohren, die Ihr zynischer Freund auf der Anatomie
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