Die Regentrude - 2

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Weidenallee in einen großen Park gelangt. Aus der weiten, jetzt freilich
versengten Rasenfläche erhoben sich überall Gruppen hoher prachtvoller
Bäume. Zwar war ihr Laub zum Teil abgefallen oder hing dürr und schlaff
an den Zweigen, aber der kühne Bau ihrer Äste strebte noch in den Himmel,
und die mächtigen Wurzeln griffen noch weit über die Erde hinaus. Eine
Fülle von Blumen, wie die beiden sie nie zuvor gesehen, bedeckte hie und
da den Boden; aber alle diese Blumen waren welk und düftelos und schienen
mitten in der höchsten Blüte von der tödlichen Glut getroffen zu sein.
"Wir sind am rechten Orte, denk ich!" sagte Andrees.
Maren nickte. "Du mußt nun hier zurückbleiben, bis ich wiederkomme."
"Freilich", erwiderte er, indem er sich in dem Schatten einer großen Eiche
ausstreckte. "Das übrige ist nun deine Sach! Halt nur das Sprüchlein
fest und verred dich nicht dabei!"-So ging sie denn allein über den weiten
Rasen und unter den himmelhohen Bäumen dahin, und bald sag der
Zurückbleibende nichts mehr von ihr. Sie aber schritt weiter und weiter
durch die Einsamkeit. Bald hörten die Baumgruppen auf, und der Boden
senkte sich. Sie erkannte wohl, daß sie in dem ausgetrockneten Bette
eines Gewässers ging; weißer Sand und Kiesel bedeckten den Boden,
dazwischen lagen tote Fische und blinkten mit ihren Silberschuppen in der
Sonne. In der Mitte des Beckens sah sie einen grauen fremdartigen Vogel
stehen; er schien ihr einem Reiher ähnlich zu sein, doch war er von
solcher Größe, daß sein Kopf, wenn er ihn aufrichtete, über den eines
Menschen hinwegragen mußte; jetzt hatte er den langen Hals zwischen den
Flügel zurückgelegt und schien zu schlafen. Maren fürchtete sich. Außer
dem regungslosen unheimlichen Vogel war kein lebendes Wesen sichtbar,
nicht einmal das Schwirren einer Fliege unterbrach hier die Stille; wie
ein Entsetzen lag das Schweigen über diesem Orte. Einen Augenblick trieb
sie die Angst, nach ihrem Geliebten zu rufen, aber sie wagte es wiederum
nicht; denn den Laut ihrer eignen Stimme in dieser Öde zu hören, dünkte
sie noch schauerlicher als alles andre.
So richtete sie denn ihre Augen fest in die Ferne, so sich wieder dichte
Baumgruppen über den Boden zu erheben schienen, und schritt weiter, ohne
rechts oder links zu sehen. Der große Vogel rührte sich nicht, als sie
mit leisem Tritt an ihm vorüberging, nur für einen Augenblick blitzte es
schwarz unter der weißen Augenhaut hervor.--Sie atmete auf.--Nachdem sie
noch eine weite Strecke hingeschritten, verengte sich das Seebett zu der
Rinne eines mäßigen Baches, der unter einer breiten Lindengruppe
durchführte. Das Geäst dieser mächtigen Bäume war so dicht, daß
ungeachtet des mangelhaften Laubes kein Sonnenstrahl hindurchdrang. Maren
ging in dieser Rinne weiter; die plötzliche Kühle um sie her, das hohe
dunkle Gewölk der Wipfel über ihr; es schien ihr fast, als gehe sie durch
eine Kirche. Plötzlich aber wurden ihre Augen von einem blenden Licht
getroffen; die Bäume hörten auf, und vor ihr erhob sich ein graues Gestein,
auf das die grellste Sonne niederbrannte.
Maren selbst stand in einem leeren sandigen Becken, in welches sonst ein
Wasserfall über die Felsen hinabgestürzt sein mochte, der dann unterhalb
durch die Rinne seinen Abfluß in den jetzt verdunsteten See gehabt hatte.
Sie suchte mit den Augen, wo wohl der Weg zwischen den Klippen
hinaufführte. Plötzlich aber schrak sie zusammen. Denn das dort auf der
halben Höhe des Absturzes konnte nicht zum Gestein gehören; wenn es auch
ebenso grau war und starr wie dieses in der regungslosen Luft lag, so
erkannte sie doch bald, daß es ein Gewand sei, welches in Falten eine
ruhende Gestalt bedeckte.--Mit verhaltenem Atem stieg sie näher. Da sah
sie es deutlich; es war eine schöne mächtige Frauengestalt. Der Kopf lag
tief aufs Gestein zurückgesunken; die blonden Haare, die bis zur Hüfte
hinabflossen, waren voll Staub und dürren Laubes. Maren betrachtete sie
aufmerksam. Sie muß sehr schön gewesen sein, dachte sie, ehe diese Wangen
so schlaff und diese Augen so eingesunken waren. Ach, und wie bleich ihre
Lippen sind! Ob es denn wohl die Regentrude sein mag?--Aber die da
schläft nicht; das ist eine Tote! Oh, es ist entsetzlich einsam hier!
Das kräftige Mädchen hatte sich indessen bald gefaßt. Sie trat ganz dicht
herzu, und niederkniend und zu ihr hinabgebeugt, legte sie ihre frischen
Lippen an das marmorblasse Ohr der Ruhenden. Dann, all ihren Mut
zusammennehmend, sprach sie laut und deutlich:
"Dunst ist die Welle,
Staub ist die Quelle!
Stumm sind die Wälder,
Feuermann tanzt über die Felder!"

Da rang sich ein tiefer klagender Laut aus dem bleichen Munde hervor; doch
das Mädchen sprach immer stärker und eindringlicher:
"Nimm dich in acht!
Eh du erwacht,
Holt dich die Mutter
Heim in der Nacht!"

Da rauschte es sanft durch die Wipfel der Bäume, und in der Ferne donnerte
es leise wie von einem Gewitter. Zugleich aber und, wie es schien, von
jenseits des Gesteins kommend, durchschnitt ein greller Ton die Luft, wie
der Wutschrei eines bösen Tieres. Als Maren emporsah, stand die Gestalt
der Trude hoch aufgerichtet vor ihr. "Was willst du?" fragte sie.
"Ach, Frau Trude", antwortete das Mädchen noch immer kniend. "Ihr habt so
grausam lang geschlafen, daß alles Laub und alle Kreatur verschmachten
will!"
Die Trude sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, als mühe sie sich, aus
schweren Träumen zu kommen.
Endlich fragte sie mit tonloser Stimme: "Stürzt denn der Quell nicht mehr?"
"Nein, Frau Trude", erwiderte Maren.
"Kreist denn mein Vogel nicht mehr über dem See?"
"Er steht in der heißen Sonne und schläft."
"Weh!" wimmerte die Regenfrau. "So ist es hohe Zeit. Steh auf und folge
mir, aber vergiß nicht den Krug, der dort zu deinen Füßen liegt!"
Maren tat, wie ihr geheißen, und beide stiegen nun an der Seite des
Gesteins hinauf.--Noch mächtigere Baumgruppen, noch wunderbarere Blumen
waren hier der Erde entsprossen, aber auch hier war alles welk und
düftelos.--Sie gingen an der Rinne des Baches entlang, der hinter ihnen
seinen Abfall vom Gestein gehabt hatte. Langsam und schwankend schritt
die Trude dem Mädchen voran, nur dann und wann die Augen traurig
umherwendend. Dennoch meinte Maren, es bleibe ein grüner Schimmer auf dem
Rasen, den ihr Fuß betreten, und wenn die grauen Gewänder über das dürre
Gras schleppten, da rauschte es so eigen, daß sie immer darauf hinhören
mußte. "Regnet es denn schon, Frau Trude?" fragte sie.
"Ach nein, Kind, erst mußt du den Brunnen aufschließen!"
"Den Brunnen? Wo ist denn der?"
Sie waren eben aus einer Gruppe von Bäumen herausgetreten. "Dort!" sagte
die Trude, und einige tausend Schritte vor ihnen sah Maren einen
ungeheuren Bau emporsteigen. Er schien von grauem Gestein zackig und
unregelmäßig aufgetürmt; bis in den Himmel, meinte Maren, denn nach oben
hinauf war alles wie in Duft und Sonnenglanz zerflossen. Am Boden aber
wurde die in riesenhaften Erkern vorspringende Front überall von hohen
spitzbogigen Tor- und Fensterhöhlen durchbrochen, ohne daß jedoch von
Fenstern oder Torflügeln selbst etwas zu sehen gewesen wäre.
Eine Weile schritten sie gerade darauf zu, bis sie durch den Uferabsturz
eines Stromes aufgehalten wurden, der den Bau rings zu umgeben schien.
Auch hier war jedoch das Wasser bis auf einen schmalen Faden, der noch in
der Mitte floß, verdunstet; ein Nachen lag zerborsten auf der trockenen
Schlammdecke des Strombettes.
"Schreite hindurch!" sagte die Trude. "Über dich hat er keine Gewalt.
Aber vergiß nicht, von dem Wasser zu schöpfen; du wirst es bald
gebrauchen!"
Als Maren, dem Befehl gehorchend, von dem Ufer herabtrat, hätte sie fast
den Fuß zurückgezogen, denn der Boden war hier so heiß, daß sie die Glut
durch ihre Schuhe fühlte. Ei was, mögen die Schuhe verbrennen! dachte sie
und schritt rüstig mit ihrem Kruge weiter. Plötzlich aber blieb sie
stehen; der Ausdruck des tiefsten Entsetzens trat in ihre Augen. Denn
neben ihr zerriß die trockene Schlammdecke, und eine große braunrote Faust
mit krummen Fingern fuhr daraus hervor und griff nach ihr.
"Mut!" hörte sie die Stimme der Trude hinter sich vom Ufer her.
Da erst stieß sie einen lauten Schrei aus, und der Spuk verschwand.
"Schließe die Augen!" hörte sie wiederum die Trude rufen.--Da ging sie mit
geschlossenen Augen weiter; als sie aber das Wasser ihren Fuß berühren
fühlte, bückte sie sich und füllte ihre Krug. Dann stieg sie leicht und
ungefährdet am andern Ufer wieder hinauf.
Bald hatte sie das Schloß erreicht und trat mit klopfendem Herzen durch
eines der großen offenen Tore. Drinnen aber blieb sie staunend an dem
Eingange stehen. Das ganze Innere schien nur ein einziger unermeßlicher
Raum zu sein. Mächtige Säulen von Tropfstein trugen in beinahe
unabsehbarer Höhe eine seltsame Decke; fast meinte Maren, es seinen nichts
als graue riesenhafte Spinngewebe, die überall in Bauschen und Spitzen
zwischen den Knäufen der Säulen herabhingen. Noch immer stand sie wie
verloren an derselben Stelle und blickte bald vor sich hin, bald nach
einer und der andern Seite, aber diese ungeheuren Räume schienen außer
nach der Front zu, durch welche Maren eingetreten war, ganz ohne Grenzen
zu sein; Säule hinter Säule erhob sich, und wie sehr sie sich auch
anstrengte, sie konnte nirgends ein Ende absehen. Da blieb ihr Auge an
einer Vertiefung des Bodens haften. Und siehe! Dort, unweit von ihr, war
der Brunnen; auch den goldenen Schlüssel sah sie auf der Falltür liegen.
Während sie darauf zuging, bemerkte sie, daß der Fußboden nicht etwa, wie
sie es in ihrer Dorfkirche gesehen, mit Steinplatten, sondern überall mit
vertrockneten Schilf- und Wiesenpflanzen bedeckt war. Aber es nahm sie
jetzt schon nichts mehr wunder.
Nun stand sie am Brunnen und wollte eben den Schlüssel ergreifen; da zog
sie rasch die Hand zurück. Denn deutlich hatte sie es erkannt, der
Schlüssel, der ihr in dem grellen Licht eines von außen hereinfallenden
Sonnenstrahl entgegenleuchtete, war von Glut und nicht von Gold rot. Ohne
Zaudern goß sie ihren Krug darüber aus, daß das Zischen des verdampfenden
Wassers in den weiten Räumen widerhallte. Dann schloß sie rasch den
Brunnen auf. Ein frischer Duft stieg aus der Tiefe, als sie die Falltür
zurückgeschlagen hatte, und erfüllte bald alles mit einem feinen feuchten
Staube, der wie ein zartes Gewölk zwischen den Säulen emporstieg.
Sinnend und in der frischen Kühle aufatmend, ging Maren umher. Da begann
zu ihren Füßen ein neues Wunder. Wie ein Hauch rieselte ein lichtes Grün
über die verdorrte Pflanzendecke, die Halme richteten sich auf, und bald
wandelte das Mädchen durch eine Fülle sprießender Blätter und Blumen. Am
Fuße der Säulen wurde es blau von Vergißmeinnicht; dazwischen blühten
gelbe und braunviolette Iris auf und verhauchten ihren zarten Duft. An
den Spitzen der Blätter klommen Libellen empor, prüften ihre Flügel und
schwebten dann schillernd und gaukelnd über den Blumenkelchen, während der
frische Duft, der fortwährend aus dem Brunnen stieg, immer mehr die Luft
erfüllte und wie Silberfunken in den hereinfallenden Sonnenstrahlen tanzte.
Indessen Maren noch des Entzückens und Bestaunens kein Ende finden konnte,
hörte sie hinter sich ein behagliches Stöhnen wie von einer süßen
Frauenstimme. Und wirklich, als sie ihre Augen nach der Vertiefung des
Brunnens wandte, sah sie auf dem grünen Moosrande, der dort emporgekeimt
war, die ruhende Gestalt einer wunderbar schön blühenden Frau. Sie hatte
ihren Kopf auf den nackten glänzenden Arm gestützt, über den das blonde
Haar wie in seidenen Wellen herabfiel, und ließ ihre Augen oben zwischen
den Säulen an der Decke wandern.
Auch Maren blickte unwillkürlich hinauf. Da sah sie nun wohl, daß das,
was sie für große Spinngewebe gehalten, nichts andres war als die zarten
Florgewebe der Regenwolken, die durch den aus dem Brunnen aufsteigenden
Duft gefüllt und schwer und schwerer wurden. Eben hatte sich ein solches
Gewölk in der Mitte der Decke abgelöst und sank leise schwebend herab, so
daß Maren das Gesicht der schönen Frau am Brunnen nur noch wie durch einen
grauen Schleier leuchten sah. Da klatschte diese in die Hände, und
sogleich schwamm die Wolke der nächsten Fensteröffnung zu und floß durch
dieselbe ins Freie hinaus.
"Nun!" rief die schöne Frau. "Wie gefällt dir das?" Dabei lächelte ihr
roter Mund, und ihre weißen Zähne blitzten.
Dann winkte sie Maren zu sich, und diese mußte sich neben ihr ins Moos
setzen; und als eben wieder ein Duftgewebe von der Decke niedersank, sagte
sie: "Nun klatsch in deine Hände!" Und als Maren das getan und auch diese
Wolke, wie die erste, ins Freie hinausgezogen war, rief sie: "Siehst du
wohl, wie leicht das ist! Du kannst es besser noch als ich!"
Maren betrachtete verwundert die schöne übermütige Frau. "Aber", fragte
sie, "wer seid Ihr denn so eigentlich?"
"Wer ich bin? Nun, Kind, du bist aber einfältig!"
Das Mädchen sah sie noch einmal mit ungewissen Augen an; endlich sagte sie
zögernd: "Ihr seid doch nicht gar die Regentrude?"
"Und wer sollte ich denn anders sein?"
"Aber verzeiht! Ihr seid ja so schön und lustig jetzt!"
Da wurde die Trude plötzlich ganz still. "Ja", rief sie, "ich muß dir
dankbar sein. Wenn du mich nicht geweckt hättest, wäre der Feuermann
Meister geworden, und ich hätte wieder hinab müssen zu der Mutter unter
die Erde." Und indem sie ein wenig wie vor innerem Grauen die weißen
Schultern zusammenzog, setzte sie hinzu: "Und es ist ja doch so schön und
grün hier oben!"
Dann mußte Maren erzählen, wie sie hierhergekommen, und die Trude legte
sich ins Moos zurück und hörte zu. Mitunter pflückte sie eine der Blumen,
die neben ihr emporsproßten, und steckte sie sich oder dem Mädchen ins
Haar. Als Maren von dem mühseligen Gange auf dem Weidendamme berichtete,
seufzte die Trude und sagte: "Der Damm ist einst von euch Menschen selbst
gebaut worden; aber es ist schon lange, lange her! Solche Gewänder, wie
du sie trägst, sah ich nie bei ihren Frauen. Sie kamen damals öfters zu
mir, ich gab ihnen Keime und Körner zu neuen Pflanzen und Getreiden, und
sie brachten mir zum Dank von ihren Früchten. Wie sie meiner nicht
vergaßen, so vergaß ich ihrer nicht, und ihre Felder waren niemals ohne
Regen. Seit lange aber sind die Menschen mir entfremdet, es kommt niemand
mehr zu mir. Da bin ich denn vor Hitze und lauter Langerweile
eingeschlafen, und der tückische Feuermann hätte fast den Sieg erhalten."
Maren hatte sich währenddessen ebenfalls mit geschlossenen Augen auf das
Moos zurückgelegt, es taute so sanft um sie her, und die Stimme der
schönen Trude klang so süß und traulich.
"Nur einmal", fuhr diese fort, "aber das ist auch schon lange her, ist
noch ein Mädchen gekommen, sie sah fast aus wie du und trug fast
ebensolche Gewänder. Ich schenkte ihr von meinem Wiesenhonig, und das war
die letzte Gabe, die ein Mensch aus meiner Hand empfangen hat."
"Seht nur", sagte Maren, "das hat sich gut getroffen! Jenes Mädchen muß
die Urahne von meinem Schatz gewesen sein, und der Trank, der mich heute
so gestärkt hat, war gewiß von Eurem Wiesenhonig!"
Die Regenfrau dachte wohl noch an ihre junge Freundin von damals; denn sie
fragte: "Hat sie denn noch so schöne braune Löckchen an der Stirn?"
"Wer denn, Frau Trude?"
"Nun, die Urahne, wie du sie nennst!"
"O nein, Frau Trude", erwiderte Maren, und sie fühlte sich in diesem
Augenblick ihrer mächtigen Freundin fast ein wenig überlegen--, "die
Urahne ist ja ganz steinalt geworden!"
"Alt?" fragte die schöne Frau. Sie verstand das nicht, denn sie kannte
nicht das Alter.
Maren hatte große Mühe, ihr es zu erklären. "Merket nur", sagte sie
endlich, "graues Haar und rote Augen und häßlich, verdrießlich sein! Seht,
Frau Trude, das nennen wir alt!"
"Freilich", erwiderte diese, "ich entsinne mich nun; es waren auch solche
unter den Frauen der Menschen; aber die Urahne soll zu mir kommen, ich
mache sie wieder froh und schön."
Maren schüttelte den Kopf. "Das geht ja nicht, Frau Trude", sagte sie,
"die Urahne ist ja längst unter der Erde."
Die Trude seufzte. "Arme Urahne."
Hierauf schwiegen beide, während sie noch immer behaglich ausgestreckt im
weichen Moose lagen. "Aber Kind!" rief plötzlich die Trude, "da haben wir
über all dem Geplauder ja ganz das Regenmachen vergessen. Schlag doch nur
die Augen auf! Wir sind ja unter lauter Wolken ganz begraben; ich sehe
dich schon gar nicht mehr!"
"Ei, da wird man ja naß wie eine Katze!" rief Maren, als sie die Augen
aufgeschlagen hatte.
Die Trude lachte. "Klatsch nur ein wenig in die Hände, aber nimm dich in
acht, daß du die Wolke nicht zerreißt!"
So begannen beide leise in die Hände zu klopfen; und alsbald entstand ein
Gewoge und Geschiebe, die Nebelgebilde drängten sich nach den Öffnungen
und schwammen, eins nach dem andern, ins Freie hinaus. Nach kurzer Zeit
sah Maren schon wieder den Brunnen vor sich und den grünen Boden mit den
gelben und violetten Irisblüten. Dann wurden auch die Fensterhöhlen frei,
und sie sah weithin über den Bäumen des Gartens die Wolken den ganzen
Himmel überziehen. Allmählich verschwand die Sonne. Noch ein paar
Augenblicke, und sie hörte es draußen wie einen Schauer durch die Bäume
und Gebüsche wehen, und dann rauschte es hernieder, mächtig und unablässig.
Maren saß aufgerichtet mit gefaltenen Händen. "Frau Trude, es regnet",
sagte sie leise.
Diese nickte kaum merklich mit ihrem schönen blonden Kopfe; sie saß wie
träumend.
Plötzlich aber entstand draußen ein lautes Prasseln und Heulen, und als
Maren erschrocken hinausblickte, sah sie aus dem Bette des
Umgebungsstromes, den sie kurz vorher überschritten hatte, sich ungeheure
weiße Dampfwolken stoßweise in die Luft erheben. In demselben Augenblicke
fühlte sie sich auch von den Armen der schönen Regenfrau umfangen, die
sich zitternd an das neben ihr ruhende junge Menschenkind schmiegte. "Nun
gießen sie den Feuermann aus", flüsterte sie, "horch nur, wie er sich
wehrt! Aber es hilft ihm doch nichts mehr."
Eine Weile hielten sie sich so umschlossen; da wurde es stille draußen,
und es war nun nichts zu hören als das sanfte Rauschen des Regens.--Da
standen sie auf, und die Trude ließ die Falltür des Brunnens herab und
verschloß sie.
Maren küßte ihre weiße Hand und sagte: "Ich danke Euch, liebe Frau Trude,
für mich und alle Leute in unserm Dorfe! Und"--setzte sie ein wenig
zögernd hinzu--"nun möchte ich wieder heimgehen!"
"Schon gehen?" fragte die Trude.
"Ihr wißt es ja, mein Schatz wartet auf mich; er mag schon wacker naß
geworden sein."
Die Trude erhob den Finger. "Wirst du ihn auch später niemals warten
lassen?"
"Gewiß nicht, Frau Trude!"
"So geh', mein Kind; und wenn du heimkommst, so erzähle den andern
Menschen von mir, daß sie meiner fürder nicht vergessen.--Und nun komm!
Ich werde dich geleiten."
Draußen unter dem frischen Himmelstau war schon überall das Grün des
Rasens und an Baum und Büschen das Laub hervorgesprossen.--Als sie an den
Strom kamen, hatte das Wasser sein ganzes Bett wieder ausgefüllt, und als
erwartete er sie, ruhte der Kahn, wie von unsichtbarer Hand
wiederhergestellt, schaukelnd an dem üppigen Grase des Uferrandes. Sie
stiegen ein, und leise glitten sie hinüber, während die Tropfen spielend
und klingend in die Flut fielen. Da, als sie eben an das andre Ufer
traten, schlugen neben ihnen die Nachtigallen ganz laut aus dem Dunkel des
Gebüsches. "Oh", sagte die Trude und atmete so recht aus Herzensgrunde,
"es ist noch Nachtigallenzeit, es ist noch nicht zu spät!"
Da gingen sie an dem Bach entlang, der zu dem Wasserfall führte. Der
stürzte sich schon wieder tosend über die Felsen und floß dann strömend in
der breiten Rinne unter den dunklen Linden fort. Sie mußten, als sie
hinabgestiegen waren, an der Seite unter den Bäumen hingehen. Als sie
wieder ins Freie traten, sah Maren den fremden Vogel in großen Kreisen
über einem See schweben, dessen weites Becken sich zu ihren Füßen dehnte.
Bald gingen sie unten längs dem Ufer hin, fortwährend die süßesten Düfte
atmend und auf das Anrauschen der Wellen horchend, die über glänzende
Kiesel an dem Strande hinaufströmten. Tausende von Blumen blühten überall,
auch Veilchen und Maililien bemerkte Maren, und andere Blumen, deren Zeit
eigentlich längst vorüber war, die aber wegen der bösen Glut nicht hatten
zur Entfaltung kommen können. "Die wollen auch nicht zurückbleiben",
sagte die Trude, "das blüht nun alles durcheinander hin."
Mitunter schüttelte sie ihr blondes Haar, daß die Tropfen wie Funken um
sie her sprühten, oder sie schränkte ihre Hände zusammen, daß von ihren
vollen weißen Armen das Wasser wie in eine Muschel hinabfloß. Dann wieder
riß sie die Hände auseinander, und wo die hingesprühten Tropfen die Erde
berührten, da stiegen neue Düfte auf, und ein Farbenspiel von frischen,
nie gesehenen Blumen drängte sich leuchtend aus dem Rasen.
Als sie um den See herum waren, blickte Maren noch einmal auf die weite,
bei dem niederfallenden Regen kaum übersehbare Wasserfläche zurück; es
schauerte sie fast bei dem Gedanken, daß sie am Morgen trockenen Fußes
durch die Tiefe gegangen sei. Bald mußten sie dem Platze nahe sein, wo
sie ihren Andrees zurückgelassen hatte. Und richtig! Dort unter den
hohen Bäumen lag er mit aufgestütztem Arm; er schien zu schlafen. Als
aber Maren auf die schöne Trude blickte, wie sie mit dem roten lächelnden
Munde so stolz neben ihr über den Rasen schritt, erschien sie sich
plötzlich in ihren bäuerischen Kleidern so plump und häßlich, daß sie
dachte: Ei, das tut nicht gut, die braucht der Andrees nicht zu sehen!
Laut aber sprach sie: "Habt Dank für Euer Geleite, Frau Trude, ich finde
mich nun schon selber!"
"Aber ich muß doch deinen Schatz noch sehen!"
"Bemüht Euch nicht, Frau Trude", erwiderte Maren, "es ist eben ein Bursch
wie die andern auch und just gut genug für ein Mädel vom Dorf."
Die Trude sah sie mit durchdringenden Augen an. "Schön bist du, Närrchen!"
sagte sie und erhob drohend ihren Finger: "Bist du denn aber auch in
deinem Dorf die Allerschönste?"
Da stieg dem hübschen Mädchen das Blut ins Gesicht, daß ihr die Augen
überliefen. Die Trude aber lächelte schon wieder. "So merk denn auf!"
sagte sie; "weil nun doch alle Quellen wieder springen, so könnt ihr einen
kürzern Weg haben. Gleich unten links am Weidendamm liegt ein Nachen.
Steig getrost hinein; er wird euch rasch und sicher in eure Heimat bringen!
--Und nun leb wohl!" rief sie und legte ihren Arm um den Nacken des
Mädchens und küßte sie. "Oh, wie süß frisch schmeckt doch solch ein
Menschenmund!"
Dann wandte sie sich und ging unter den fallenden Tropfen über den Rasen
dahin. Dabei hub sie an zu singen; das klang süß und eintönig; und als
die schöne Gestalt zwischen den Bäumen verschwunden war, da wußte Maren
nicht, hörte sie noch immer aus der Ferne den Gesang, oder war es nur das
Rauschen des niederfallenden Regens.
Eine Weile noch blieb das Mädchen stehen; dann, wie in plötzlicher
Sehnsucht, streckte sie die Arme aus. "Lebt wohl, schöne, liebe
Regentrude, lebt wohl!" rief sie.--Aber keine Antwort kam zurück; sie
erkannte es nun deutlich, es war nur noch der Regen, der herniederrauschte.
Als sie hierauf langsam dem Eingange des Gartens zuschritt, sah sie den
jungen Bauer hoch aufgerichtet unter den Bäumen stehen. "Wonach schaust
du denn so?" fragte sie, als sie näher gekommen war.
"Alle Tausend, Maren!" rief Andrees, "was war denn das für ein sauber
Weibsbild?"
Das Mädchen aber ergriff den Arm des Burschen und drehte ihn mit einem
derben Ruck herum. "Guck dir nur nicht die Augen aus!" sagte sie, "das
ist keine für dich; das war die Regentrude!"
Andrees lachte. "Nun, Maren", erwiderte er, "daß du sie richtig
aufgeweckt hast, das hab' ich hier schon merken können; denn so naß, mein
ich, ist der Regen noch nimmer gewesen, und so etwas von Grünwerden hab'
ich auch all mein Lebtag noch nicht gesehen!--Aber nun komm! Wir wollen
heim, und dein Vater soll uns sein gegebenes Wort einlösen."
Unten am Weidendamm fanden sie den Nachen und stiegen ein. Das ganze
weite Tiefland war schon überflutet, auf dem Wasser und in der Luft lebte
es von aller Art Gevögel; die schlanken Seeschwalben schossen schreiend
über ihnen hin und tauchten die Spitzen ihrer Flügel in die Flut, während
die Silbermöwe majestätisch neben ihrem fortschießenden Kahn dahinschwamm;
auf dem grünen Inselchen, an denen sie hier und dort vorbeikamen, sahen
sie die Bruushähne mit den goldenen Kragen ihre Kampfspiele halten.
So glitten sie rasch dahin. Noch immer fiel der Regen, sanft, doch
unablässig. Jetzt aber verengte sich das Wasser, und bald war es nur noch
ein mäßig breiter Bach.
Andrees hatte schon eine Zeitlang mit der Hand über den Augen in die Ferne
geblickt. "Sieh doch, Maren", rief er, "ist das nicht meine Roggenkoppel?"
"Freilich, Andrees; und prächtig grün ist sie geworden! Aber siehst du
denn nicht, daß es unser Dorfbach ist, auf dem wir fahren?"
"Richtig, Maren; aber was ist denn das dort? Das ist ja alles überflutet!"
"Ach, du lieber Gott!" rief Maren, "das sind ja meines Vaters Wiesen!
Sieh nur, das schöne Heu, es schwimmt ja alles."
Andrees drückte dem Mädchen die Hand. "Laß nur, Maren!" sagte er, "der
Preis ist, denk ich, nicht zu hoch, und meine Felder tragen ja nun um
desto besser."
Bei der Dorflinde legte der Nachen an. Sie traten ans Ufer, und bald
gingen sie Hand in Hand die Straße hinab. Da wurde ihnen von allen Seiten
freundlich zugenickt; denn Mutter Stine mochte in ihrer Abwesenheit doch
ein wenig geplaudert haben.
"Es regnet!" riefen die Kinder, die unter den Tropfen durch über die
Straße liefen. "Es regnet!" sagte der Vetter Schulze, der behaglich aus
seinem offenen Fenster schaute und den beiden mit kräftigem Drucke die
Hand schüttelte. "Ja, ja, es regnet!" sagte auch der Wiesenbauer, der
wieder mit der Meerschaumpfeife in der Torfahrt seines stattlichen Hauses
stand. "Und du, Maren, hast mich haute morgen wacker angelogen. Aber
kommt nur herein, ihr beiden! Der Andrees, wie der Vetter Schulze sagt,
ist allewege ein guter Bursch, seine Ernte wird heuer auch noch gut, und
wenn es etwan wieder drei Jahre Regen geben sollte, so ist es am Ende doch
so übel nicht, wenn Höhen und Tiefen beieinander kommen. Drum geht
hinüber zu Mutter Stine, da wollen wir die Sache allfort in Richtigkeit
bringen!"

Mehrere Wochen waren seitdem vergangen. Der Regen hatte längst wieder
aufgehört, und die letzten schweren Erntewagen waren mit Kränzen und
flatternden Bändern in die Scheuern eingefahren; da schritt im schönsten
Sonnenschein ein großer Hochzeitszug der Kirche zu. Maren und Andrees
waren die Brautleute; hinter ihnen gingen Hand in Hand Mutter Stine und
der Wiesenbauer. Als sie fast bei der Kirchentür angelangt waren, daß sie
schon den Choral vernahmen, den drinnen zu ihrem Empfang der alte Kantor
auf der Orgel spielte, zog plötzlich ein weißes Wölkchen über ihnen am
blauen Himmel auf, und ein paar leichte Regentropfen fielen der Braut in
ihren Kranz.--"Das bedeutet Glück!" riefen die Leute, die auf dem Kirchhof
standen. "Das war die Regentrude!" flüsterten Braut und Bräutigam und
drückten sich die Hände.
Dann trat der Zug in die Kirche; die Sonne schien wieder, die Orgel aber
schwieg, und der Priester verrichtete sein Werk.
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