Die Ratten: Berliner Tragikomödie - 9

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Frau John
Wie denn? Wo denn? Wat denn? Warum denn in Jange?
John
Det Kinderbejängnis is sistiert und zwee Burschen von de Leidtrajenden,
wat richtig dufte Kunden sind, festjenomm! jawoll! Det is nu so weit,
Herr Direktor! Ick bin nu'n Mann, wo mit eene Frau verkuppelt is, wo een
Bruder hat, wo hinterher sind, mit Rejierungsräte und Mordkommission,
weil er draußen, nich weit von de Spree unter een Fliederstrauch eene
hat umjebracht.
Direktor Hassenreuter
Aber werter Herr John: das mag Gott verhüten.
Frau John
Det is jelochen! Mein Bruder tut so wat nich.
John
I, det is det Neieste, Jette. Herr Direkter, ick ha neilich schonn
jesacht, wat det for'ne Sorte Bruder is. -- (Er bemerkt und nimmt einen
Fliederstrauch vom Tisch.) -- Sehen Se ma det hier! Det Unjeheuer is
hier jewesen. Wo wiederkommt, bin ick der erschte, wo ihm, Hände und
Füße jebunden, an der Jerechtigkeet ausliefern dut.
Er sucht den Raum ab.
Frau John
Mach du Rotznäsen wat weeß von Jerechtigkeet. Jerechtigkeet is noch nich
ma oben in Himmel. Keen Mensch nich war hier! Und det bisken Flieder ha
ick von Hangelsberg mitjebracht, wo'n jroßer Strauch hinter'n Hause bei
deine Schwester is.
John
Du warst ja jar nich bei meine Schwester, Jette. Det hat mich Quaquaro
ja ebent jesacht! det ham se uf Polizei ja festjestellt. Se ham dir
jesehn bei de Spree in de Anlachen ...
Frau John
Lieche!
John
Und och in de Laubenkolonie wo du in 'ne Laube jenächtigt hast.
Frau John
Wat? Kommst du in dein eechnet Haus allens kurz und kleen demolieren?
John
Jut so! recht so! det so weit jekommen is. Nu is det mit uns weiter keen
Verstecken! Det ha ick allens vorausjewußt.
Direktor Hassenreuter
mit Spannung.
Hat sich das polnische Mädchen wieder gezeigt, das neulich wie eine
Löwin um das Knobbesche Kindchen gestritten hat?
John
Eben det is et. Det ham se heut morchen dot jefunden. Und det sach ick
so hin, ohne det mir de Zunge in Maule absterben dut: det Mächen hat
Bruno Mechelke ums Leben jebracht.
Direktor Hassenreuter
schnell.
Dann ist es wohl seine Geliebte gewesen.
John
Fragen Se Muttern! Det weeß ick nich! Det war meine Angst, deshalb bin
ick schonn lieber jar nich zu Hause jekomm, det mein eechnet Weib mit
so'ne Jesellschaft behaftet is und hat keene Kraft nich abzuschütteln.
Direktor Hassenreuter
Kommt Kinder!
John
Warum denn? Immer bleiben Se man.
Frau John
De brauchst nich jehn und Fenster ufreißen und alle Welt uf de Jasse
schrein! Det is schlimm jenug, wenn uns Schicksal mit so'n Unjlück
jetroffen hat. Plärr! aber dann siehste mir bald nich mehr wieder.
John
Jerade! Nu jerade! Ick rufe wer't wissen will von de Jasse, von Flur,
dem Tischler vom Hof, de Jungs, de Mächens, wo in de Konfirmationsstunde
jehn, die ruf ick rin und erzähle, wie weit eene Frau mit ihre
Affenliebe zu ihren Lump von Bruder jekommen is.
Direktor Hassenreuter
Diese hübsche junge Person, die das Kind beanspruchte, ist heute
tatsächlich tot, Herr John?
John
Kann sind, det se hibsch is, ick weeß et nich, ob se hibsch oder häßlich
jewesen is. Aber det se in Schauhaus liecht, det is sicher.
Frau John
Ick weeß et, wat se jewesen is! Een schlechtet jemeinet Weibstick is et
jewesen! Wo mit Kerle hat abjejeben und von een Tiroler, der nischt hat
von wissen jewollt, hat Kind jehat! Det hat se an liebsten in
Mutterleibe schon umjebracht. Denn is se 't holen jekomm mit de
Kielbacke, wo als Engelmachersche schon ma anderthalb Jahre Plötzensee
abjesessen hat. Ob se mit Brunon och wat jehabt hat, wo soll ick det
wissen? Kann sind, kann och nich sind! Und wat soll mir det allens
ieberhaupt anjehn, wat Bruno meinswechen verbrochen hat.
Direktor Hassenreuter
Also haben Sie doch das Mädchen gekannt, Frau John.
Frau John
Woso? ick ha jar nich jekannt, Herr Direkter! Ick sache bloß, wat'n
jeder, wie'n jeder von det Mächen jeäußert hat.
Direktor Hassenreuter
Sie sind eine ehrenhafte Frau, Sie ein ehrenhafter Mann, Herr John. Die
Sache mit Ihrem mißratenen Schwager und Bruder ist schließlich etwas,
was meinethalben eine furchtbare Tatsache ist, aber Ihr Familienleben
doch im Grunde nicht ernstlich erschüttert ... aber bleiben Sie ehrlich
...
John
Nich in de Hand! In so'ne Nähe, bei solchet Jesindel bleib ick nich. --
(Er schlägt mit der Faust auf den Tisch, klopft an die Wände, stampft
auf den Fußboden.) -- Horchen Se ma, wie det knackt, wie Putz hinter de
Tapete runterjeschoddert kommt! Allens is hier morsch! Allens faulet
Holz! Allens unterminiert, von Unjeziefer, von Ratten und Mäuse
zerfressen! -- (Er wippt auf der Diele.) -- Allens schwankt! Allens kann
jeden Ojenblick bis in Keller durchbrechen. -- (Er öffnet die Tür.) --
Selma! Selma! -- Hier mach ick mir fort, eh' det allens een Schutthaufen
drunter und drieber zusammenbricht.
Frau John
Wat wißte mit Selma?
John
Selma nimmt det Kind und ick reise mit Selman und det Kind und bringe
mein Kind zu meine Schwester.
Frau John
Denn soßte Bescheid kriechen! Versuch det man!
John
Soll mein Kind in so'ne Umjebung jroßwachsen, womeglich det ma wie Bruno
ieber Dächer jehetzt und det och ma womeglich in Zuchthaus endet?
Frau John
schreit ihn an.
Det is jar nich dein Kind! Vastehste mich?
John
So? Det wolln wir ma sehn, ob een rechtlicher Mann nich Herr sollte sind
ieber sein eechnet Kind, wo Mutter nich bei Verstande is und in de Hände
von Mordjesindel. Det will ick ma sehn, wer in Rechte is un wer stärker
is! Selma!
Frau John
Ick schrei! ick reiße det Fenster uf! Frau Direkter, se wollen eene
Mutter ihr Kind rauben! Det is mein Recht, det ick Mutter von mein
Kindeken bin! Det is doch mein Recht? Ha ick nich recht, Frau Direkter?
Se umzingeln mir! Se wollen mir mein Recht versetzen! Soll mir det nich
jeheren, wat ick vor Wegwurf ufjelesen, wo vor Tod in Lumpen jelechen
hat und wo ick ha mihsam erscht missen reiben und kneten, bis bisken
Atem jeholt und langsam lebendig geworden is? Wo ick nich war, det wäre
schonn vor drei Wochen längst in de Erde verscharrt jewesen.
Direktor Hassenreuter
Herr John, zwischen Eheleuten den Schiedsmann spielen ist meine Sache im
allgemeinen nicht. Dazu ist dies Geschäft zu undankbar und man macht
dabei meistens böse Erfahrungen. Sie sollten aber in Ihrem zweifellos
mit Recht verwundeten Ehrgefühl sich nicht zu Übereilungen hinreißen
lassen. Denn schließlich ist doch Ihre Frau für die Tat ihres Bruders
nicht verantwortlich. Lassen Sie ihr das Kind! Machen Sie nicht das
Unglück schlimmer durch eine überflüssige Härte, die Ihre Frau aufs
empfindlichste kränken muß.
Frau John
Paul, det Kind is aus meinen Leibe jeschnitten! Det Kind is mit meinen
Blute erkoft. Nich jenug, alle Welt is hinter mich her und will et mich
abjagen! Nu kommst och du noch und machst et nich anders, det is der
Dank! als wenn det ick ringsum von hungrige Welfe umjeben bin. Mir
kannste dot machen! mein Kindeken soßte nich anfassen.
John
Ick komme zu Hause, Herr Direkter! Ick bin heut morchen erst mit mein
ganzes Zeug quietschverjnügt von de Bahn jekomm! Hamburg, Altona, allens
abjebrochen. Wenn och Verdienst jeringer is, dachte ick, wißt lieber bei
deine Familie sind! Bißken Kind uf'n Arm nehmen! Bißken Kind uf'n Knie
nehmen! Det war unjefähr so meine Inbildung ...
Frau John
Paul! Hier Paul! -- (Sie tritt ihm ganz nahe.) -- Reiß mir det Herz
aus'n Leibe! --
Sie starrt ihn lange an, dann läuft sie in den Verschlag, wo man sie
laut weinen hört.
Selma kommt vom Flur. Sie trägt Trauerkleidung und einen kleinen
Grabkranz in der Hand.
Selma
Wat soll ick? Se ham mir jeruft, Herr John.
John
Zieh dir an, Selma. Frach deine Mutter, ob det de kannst mit mir jehn zu
meine Schwester nach Hangelsberg. Kannst dir'n Jroschen Jeld bei
verdienen. Nimmst mein Kindeken uf'n Arm und bejleitest mir.
Selma
Nee! det Kind faß ick nu nich mehr an, Herr John.
John
Woso nich?
Selma
Nee, ick furcht mir, Herr John. Ick ha so'ne Angst, so hat mir Mama und
Polizeileutnam anjeschrien.
Frau John
erscheint.
I, weshalb ham se dir anjeschrien?
Selma
heult los.
Schutzmann Schierke hat mich sojar eene runterjehaut.
Frau John
I, dem wer' ick nochma ... det soll der nochma versuchen.
Selma
Wat soll ick denn wissen, warum mich det polsche Mächen hat mein
Brüderken wegjenomm. Hätt ick jewußt, det mein Brüderken sterben soll,
ick hätt' ihr ja lieber an Hals jesprung. Nu steht Jundofriedchen in
Särjiken uf de Treppe. Ick jlobe, Mama hat Krämpfe jekricht und liecht
bei Quaquaron hinten in Alkoven. Mir wolln se in Firsorche schaffen,
Frau John. --
Sie flennt.
Frau John
Denn freu' dir! Schlimmer kann et nich komm, als et bei dich zu Hause
is.
Selma
Ick komm vor Jericht! womeglich wer' Moabit jeschafft.
Frau John
Woso det?
Selma
Weil ick soll haben det Kindeken, wat det polsche Freilein jeboren hat,
von Oberboden runter bei Sie, Frau John, in de Wohnung jetrachen.
Direktor Hassenreuter
Also ist tatsächlich oben ein Kindchen geboren worden?
Selma
Jewiß.
Direktor Hassenreuter
Auf welchem Boden?
Selma
Na, bei de Kamedienspieler doch! Wat jeht det mich an? Wat soll ick von
wissen? Ick kann bloß sachen ...
Frau John
Nu mach det de fortkommst! Selma, du hast'n reenet Jewissen! Wat de
Leute quasseln, kimmert dir nich.
Selma
Ick will ja och nischt verraten, Frau John.
John
packt Selma, die fortlaufen will, und hält sie fest.
Et wird nich jejang! et wird herjekomm! -- Wahrheet! Ick verrate nischt,
hast du jesacht: det ham Se doch och jehert, Frau Direkter? Hat Herr
Spitta und hat det Freilein jehert! -- Wahrheet! -- Bevor ick nich weeß,
wat mit Bruno und seine Jeliebte is und wo ihr womeglich det Kindchen
habt wechjeschafft, det is mich ejal, kommst du nich von de Stelle!
Frau John
Paul, ick schwere vor Jott, wechjeschafft ha ick et nich.
John
Na, und? ... Raus wat du weeßt, Mächen! Det ha ick schon lange jemerkt,
det zwischen dich und meine Frau een jeheimet Jestecke is. Det Zwinkern
und Anplinkern is jetzt verjebliche Mihe. Is det Kind tot oder lebt et
noch?
Selma
Nee, det Kind is lebendich, Herr John.
Direktor Hassenreuter
Was du unter deine Schürze oder sonstwie hier hast heruntergebracht?
John
Wenn et dot is, denn rechne druf, denn wirst du wie Bruno een Kopp
kürzer jemacht.
Selma
Ick sach't ja: det Kindeken is lebendich.
Direktor Hassenreuter
Ich denke, du hast gar kein Kind vom Boden heruntergebracht?
John
Und von die janze Jeschichte, Mutter, wißt du nischt wissen? -- (Frau
John sieht ihn starr an, Selma blickt hilflos und verwirrt auf Frau
John.) -- Mutter, du hast det Kindchen von Brunon und die polsche Person
beiseite jeschafft und denn wo se jekomm is, haste det Würmiken von de
Knobbe unterjeschoben.
Walburga
sehr bleich, mit Überwindung.
Sagen Sie mal, Frau John, was ist denn an jenem Tage geschehen, wo ich
dummerweise, als Papa kam, mit Ihnen auf den Boden geflüchtet bin? Ich
will dir das später erklären, Papa. Damals habe ich, wie mir nach und
nach deutlich geworden ist, das polnische Mädchen und zwar erst mit Frau
John und dann mit ihrem Bruder zusammengesehn.
Direktor Hassenreuter
Du, Walburga?
Walburga
Ja, Papa. Bei dir war damals Alice Rütterbusch und ich hatte mich mit
Erich verabredet, der dann auch, aber ohne mich zu treffen, denn ich
blieb versteckt, zu dir gekommen ist.
Direktor Hassenreuter
Ich kann mich dessen nicht mehr erinnern.
Frau Direktor Hassenreuter
zum Direktor.
Das Mädel hat um dieser Sache willen, Papa, wirklich schon schlaflose
Nächte gehabt.
Direktor Hassenreuter
Wenn Ihnen an dem Rate eines ehemaligen Juristen, der durchs
Referendarexamen gepurzelt und dann erst zur Kunst abgesprungen ist ...
wenn Ihnen an dem Rat eines solchen Mannes irgendwie etwas liegt, so
lassen Sie sich jetzt sagen, Frau John, daß in Ihrem Fall ganz
rücksichtslose Offenheit die beste Verteidigung ist.
John
Jette, wo habt ihr dem Kindeken hinjeschafft? Kriminalinspektor hat mich
jesacht, det fällt mir jetzt in, det se nach det Kind von de dote Person
suchen. Jette, um Jottet Himmelswillen! mag sind wat will, bloß det du
dir nich in Verdacht kommen dust, det du um Folchen von Liederlichkeit
von dein Bruder womeglich aus de Welt zu schaffen, dir an det Neujeborne
vergriffen hast.
Frau John
lacht.
Ick? und mir an Adelbertchen vergreifen, Paul.
John
Hier redet keener von Adelbertchen -- (zu Selma) -- Ick dreh dir den
Hals um oder du sachst, wo det Kleene von Brunon und det polsche Mächen
-- uf de Stelle! -- jeblieben is.
Selma
Et is doch bei Sie in Verschlage, Herr John.
John
Wo is et, Jette?
Frau John
Det sach ick nich. --
Das Kind beginnt zu schreien.
John
zu Selma.
Wahrheet! oder ick iberliefer dir uf de Polizei, vastehst de! siehste
dem Strick! an Hände und Fieße zusammenjebunden.
Selma
in höchster Angst, unwillkürlich.
Et schreit doch! Se kenn doch det Kindeken janz jut, Herr John.
John
Ick? --
Er sieht verständnislos erst Selma, dann den Direktor an. Ihn
durchblitzt eine Ahnung, als er seine Frau ins Auge faßt. Er glaubt
zu begreifen und gerät ins Wanken.
Frau John
Laß dir von so'ne niederträchtiche Lieche nich umjarnen, Paul. Det is
allens von ihre feine Mutter aus Rache bloß mit det Mächen anjestellt!
Paul, wat dust du mir denn so ankieken?
Selma
Det is Jemeenheet, det Se mich nu och noch wolln schlecht machen, Mutter
John. Dann wer' ick mir hieten, noch Blatt vorn Mund nehmen. Wissen janz
jut, det ick ha det Kindchen von det Freilein runterjetragen und ha bei
Ihn hier in frisch jemachte Bettchen jelegt. Det kann ick beschwören!
det will ick beeidigen!
Frau John
Lieche! Du sagst, det mein Kind nich mein Kindeken is?
Selma
Sie haben iberhaupt jar keen Kind nich jehat, Frau John.
Frau John
umklammert Johns Knie.
Det is ja nich wahr.
John
Laß mich in Ruh! beschmutze mir nich, Henerjette.
Frau John
Paul, ick konnte nich anders, ick mußte det tun. Ick war selber
betrochen, denn hat ick dir in Brief nach Hamburg Bescheed jesacht. Denn
warste vajnügt, und denn mocht ick nich mehr zurick und denn dacht ick,
et muß sind! Et kann och uf andere Weise sind, und denn ...
John
unheimlich ruhig.
Laß mir man iberlechen, Jette. -- (Er geht an eine Kommode, zieht
einen Schub auf und schleudert allerlei Kinderwäsche und
Kinderkleidungsstücke, die er daraus nimmt, mitten in die Stube.) --
Versteht eener det, wat se Woche um Woche, Monat um Monat, janze Tage
und halbe Nächte lang mit blutige Finger jestichelt hat?
Frau John
sammelt in wahnsinniger Hast die Wäsche und Kleidungsstücke auf
und versteckt sie sorgfältig im Tischschub oder wo sonst.
Paul det nich! Allens kannste dun! aber reiß mich nich Fetzen von
nackten Leibe!
John
hält inne, faßt sich an die Stirn, sinkt auf einen Stuhl.
Wenn det wahr is, Mutter, da schäm ick mir ja in Abjrund rin. --
Er kriecht in sich zusammen, legt die Arme über den Kopf und
verbirgt sein Gesicht. Es tritt eine Stille ein.
Direktor Hassenreuter
Wie konnten Sie sich nur auf einen solchen Weg des Irrtums und des
Betruges drängen lassen, Frau John? Sie haben sich ja verstrickt auf das
allerfurchtbarste! Kommt Kinder! Wir können hier leider nichts weiter
tun.
John
steht auf.
Nehm Se mir man mit, Herr Direkter.
Frau John
Jeh! immer jeh! ick brauche dir nich!
John
wendet sich, kalt.
Also det Kind haste dich beschafft und wie Mutter hat wieder haben
jewollt, hast se lassen von Brunon umbringen?
Frau John
Du bist nich mein Mann! Wat soll det heeßen? Du bist von de Polizei
jekoft! Du hast Jeld jekricht, mir an't Messer zu liefern! Jeh Paul! du
bist jar keen Mensch! Du bist eener wo Jift in de Ochen, und Hauer wie
Welfe hat! Immer pfeif, det se kommen und det se mir festnehmen! Immer
zu doch! Nu seh' ick dir, wie det du bist! Ick verachte dir bis zun
Jüngsten Dache.
Frau John will durch die Tür davonlaufen. Da erscheinen Schutzmann
Schierke und Quaquaro.
Schierke
Halt! Aus die Stube raus kommt keener nich.
John
Immer komm rin, Emil! Herr Schutzmann, immer komm Se ruhig rin. Et is
allens in Ordnung! Allens is richtich.
Quaquaro
Reg dir nich uf, Paul, dir betrifft et ja nich.
John
mit aufsteigendem Jähzorn.
Hast du jelacht, Emil?
Quaquaro
I, Menschenskind! Herr Schierke soll bloß det Kleene per Droschke in't
Waisenhaus wechschaffen.
Schierke
Jawoll. So is et. Wo steckt det Kind?
John
Soll ick wissen, wo jedet ausgestoppte Balch von Lumpenspeicher, womit
olle Hexen mit Besen Fets treiben, an Ende hinjekomm is? Paßt ma uf
Schornstein uf, det se nich oben rausfliechen.
Frau John
Paul!! -- Nu soll et nich leben! Nu jerade! Nu och nich! Nu brauch et
nich leben! Nu muß et mit mich mit unter de Erde komm.
Frau John war blitzschnell hinter den Verschlag gelaufen. Sie kommt
mit dem Kinde wieder und will mit ihm zur Tür hinaus. Der Direktor
und Spitta werfen sich der Verzweifelten entgegen, in der Absicht,
das Kind zu retten.
Direktor Hassenreuter
Halt! Hier greife ich ein! Hier bin ich zuständig! Wem das Knäblein hier
auch immer gehören mag -- um so schlimmer, wenn seine Mutter ermordet
ist! -- es ist in meinem Fundus geboren! Vorwärts, Spitta! Kämpfen Sie,
Spitta! Hier sind Ihre Eigenschaften am Platz! Vorwärts! Vorsicht! So!
Bravo! Als wär' es das Jesuskind! Bravo! Sie selber sind frei, Frau
John! Wir halten Sie nicht. Sie brauchen uns nur das Jungchen hier
lassen.
Frau John stürzt hinaus.
Schierke
Hier jeblieben!
Frau Direktor Hassenreuter
Die Frau ist verzweifelt! Aufhalten! Festhalten!
John
plötzlich verändert.
Jebt uf Muttern acht! Mutter! Ufhalten! Festhalten! -- Mutter! Mutter!
Selma, Schierke und John eilen Frau John nach. Spitta, der Direktor,
Frau Direktor und Walburga sind um das Kind bemüht, das auf den
Tisch gebettet wird.
Direktor Hassenreuter
der das Kind sorgfältig auf den Tisch bettet.
Meinethalben mag diese entsetzliche Frau doch verzweifelt sein! Deshalb
braucht sie das Kind nicht zugrunde richten.
Frau Direktor Hassenreuter
Aber liebster Papa, das merkt man doch, daß diese Frau ihre Liebe,
närrisch bis zum Wahnsinn, gerade an diesen Säugling geheftet hat.
Unbedachtsame harte Worte, Papa, können die unglückselige Person in den
Tod treiben.
Direktor Hassenreuter
Harte Worte habe ich nicht gebraucht, Mama.
Spitta
Mir sagt ein ganz bestimmtes Gefühl: erst jetzt hat das Kind seine
Mutter verloren.
Quaquaro
Det stimmt. Vater is nich, will nischt von wissen, hat jestern in de
Hasenheide mit eene Karussellbesitzerswitwe Hochzeit jemacht! Mutter war
liederlich! Und bei de Kielbacken, wo Kinder in Fleje hat, sterben von's
Dutzend mehrschtens zehn. Nu is et so weit: det jeht jetzt och zujrunde.
Direktor Hassenreuter
Sofern es nämlich bei dem Vater dort oben, der alles sieht, nicht anders
beschlossen ist.
Quaquaro
Meen Se Pauln? den Mauerpolier! Nu nicht mehr! dem kenn' ick! wo der
uf'n Ehrenpunkt kitzlich is.
Frau Direktor Hassenreuter
Wie das Kindchen da liegt! es ist unbegreiflich. Feine Leinwand! Spitzen
sogar! Schmuck und frisch wie ein Püppchen. Es wendet sich einem das
Herz um, zu denken, wie es so plötzlich zu einer von aller Welt
verlassenen Waise geworden ist.
Spitta
Wäre ich Richter in Israel ...
Direktor Hassenreuter
Sie würden der John ein Denkmal setzen! Mag sein, daß in diesen
verkrochenen Kämpfen und Schicksalen manches heroisch und manches
verborgen Verdienstliche ist. Aber Kohlhaas von Kohlhaasenbrück konnte
da mit seinem Gerechtigkeitswahnsinn auch nicht durchkommen. Treiben wir
praktisches Christentum! Vielleicht können wir uns des Kindchens
annehmen.
Quaquaro
Lassen Se da bloß de Finger von!
Direktor Hassenreuter
Warum?
Quaquaro
Außer det Se Jeld wollen los werden und uf de Quengeleien und
Scherereien mit de Armenverwaltung, mit Polizei und Jericht womechlich
happich sind.
Direktor Hassenreuter
Dazu hätte ich allerdings keine Zeit übrig.
Spitta
Finden Sie nicht, daß hier ein wahrhaft tragisches Verhängnis wirksam
gewesen ist?
Direktor Hassenreuter
Die Tragik ist nicht an Stände gebunden. Ich habe Ihnen das stets
gesagt.
Selma, atemlos, öffnet die Flurtür.
Selma
Herr John, Herr John, Herr Mauerpolier.
Frau Direktor Hassenreuter
Herr John ist nicht hier. Was willst du denn, Selma?
Selma
Herr John. Se solln uf de Straße kommn.
Direktor Hassenreuter
Nur Ruhe, Ruhe. Was gibt's denn, Selma?
Selma
atemlos.
Ihre Frau ... Ihre Frau ... Janze Straße steht voll ... Omnibus,
Pferdebahnwagen is jar keen Durchkommen ... Arme ausjestreckt ... Ihre
Frau liecht lang uf Jesichte unten.
Frau Direktor Hassenreuter
Was ist denn geschehen?
Selma
Herrjott, Herrjott in Himmel, Mutter John hat sich umjebracht.

Ende.


Gerhart Hauptmanns Gesammelte Werke in sechs Bänden

1. Bd.: Soziale Dramen: Einleitung / Vor Sonnenaufgang / Die Weber /
Der Biberpelz / Der rote Hahn.
2. Bd.: Soziale Dramen und Prosa: Fuhrmann Henschel / Rose Bernd /
Bahnwärter Thiel / Der Apostel.
3. Bd.: Familiendramen: Das Friedensfest / Einsame Menschen /
Kollege Crampton / Michael Kramer.
4. Bd.: Märchendramen: Hanneles Himmelfahrt / Die versunkene Glocke
/ Der arme Heinrich.
5. Bd.: Historische Dramen: Florian Geyer.
6. Bd.: Märchendramen und Fragmentarisches: Elga / Schluck und Jau /
Und Pippa tanzt / Helios / Das Hirtenlied.
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gedruckt. Titel und Einband von E. R. Weiß. Preis geheftet 24
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Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama. 13. Auflage.
Das Friedensfest. Bühnendichtung. 7. Auflage.
Einsame Menschen. Drama. 24. Auflage.
De Waber. Schauspiel. (Originalausgabe.) 2. Auflage.
Die Weber. Schauspiel. (Übertragung.) 40. Auflage.
Kollege Crampton. Komödie. 8. Auflage.
Bahnwärter Thiel -- Der Apostel. Novellistische Studien. 8. Auflage.
Der Biberpelz. Eine Diebskomödie. 14. Auflage.
Hanneles Himmelfahrt. Eine Traumdichtung. 20. Auflage.
Florian Geyer. 9. Auflage.
Die versunkene Glocke. Ein deutsches Märchendrama. 75. Auflage.
Fuhrmann Henschel. Schauspiel. (Originalausg.) 16. Aufl.
Fuhrmann Henschel. Schauspiel. (Übertragung.) 16. Aufl.
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