Die Ratten: Berliner Tragikomödie - 6

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Die Damen scheinen mir nicht zu trauen. Sagen Sie ihnen doch, meine
Herren, daß Frau John kein Kind in Pflege hat, und daß sie also
bezüglich des Namens im Irrtum sind.
Käferstein
Ich soll Ihnen sagen, meine Damen, daß Sie wahrscheinlich bezüglich des
Namens im Irrtum sind.
Die Piperkarcka
heftig, verweint.
Hat Kindchen in Flege! Hat mein Kindchen in Flege jehabt. Is Herr von
die Stadt jekommen, hat jesacht, daß Kindchen in schlechte Hände,
verwahrlost is. Hat mich mein Kindeken zujrunde jerichtet.
Direktor Hassenreuter
Sie müssen unbedingt, meine Damen, bezüglich des Namens der Frau, von
der Sie reden, im Irrtum sein. Frau Maurerpolier John hat kein Kind in
Pflege.
Die Piperkarcka
Hat mein Kindchen in Klauen jehabt, hat verhungern lassen, zujrunde
jerichtet! Will sehn Frau John. Will auf Kopf draufsagen! Soll mich
jesund machen kleinet Kind! Muß vor Jericht! Herr hat jesacht, mussen
jehn an Jerichtstelle anzeichen.
Direktor Hassenreuter
Ich bitte Sie, sich nicht aufzuregen. Tatsache ist: Sie irren sich! Wie
kommen Sie nur auf den Gedanken, meine Damen, daß Frau John ein Kindchen
in Pflege hat?
Die Piperkarcka
Weil ick ihr selbst überjeben habe.
Direktor Hassenreuter
Frau John hat aber doch ihr eigenes Kind, mit dem sie, wie mir jetzt
einfällt, auf Besuch zu der Schwester ihres Gatten zu gehen
beabsichtigte.
Die Piperkarcka
Hat kein Kind. Janz und jar nich, Frau John. Ick jeh unten auf
Polizeibureau. Hat jelogen, betrogen. Hat kein Kind. Hat mich mein
Aloischen zujrunde jerichtet.
Direktor Hassenreuter
Bei Gott, meine Damen, Sie irren sich.
Die Piperkarcka
Glaubt mich kein Mensch, daß ich Kindchen jehabt habe. Hat mich mein
Bräutijam Brief jeschrieben, daß nich wahr is, daß schlechtes,
verlogenes Frauenzimmer bin. -- (Sie berührt das Tragbettchen.) -- Is
mein! will nachweisen vor Jericht! Will schwören bei heilige Mutter
Jottes.
Direktor Hassenreuter
Decken Sie doch mal auf, das Kind. -- (Es geschieht. Direktor
Hassenreuter betrachtet den Säugling aufmerksam.) -- Hm! Die Sache wird
sich bald aufklären, sicherlich! -- Erstens ... ich kenne Frau John! --
hätte Frau John diesen Säugling in Pflege gehabt, er könnte ganz
unmöglich so aussehn! ganz einfach, weil Frau John, soweit Kinder in
Frage kommen, das Herz auf dem rechten Flecke hat.
Die Piperkarcka
Will sprechen Frau John. Weiter sagen nichts. Brauche mir nicht vor alle
Welt aufdecken. Alles will haarklein vor Jericht will aussagen, Tag,
Stunde, auch janz jenau Ort, wo jeboren is! Jlauben mir: sollten wohl
Augen aufreißen.
Direktor Hassenreuter
Sie meinen also, mein Fräulein, wenn ich Sie recht verstehe, die Frau
John besitze kein eigenes Kind, und das, was dafür gegolten hat, wäre
das Ihre.
Die Piperkarcka
Schlag Blitz mich nieder, wenn nich so is.
Direktor Hassenreuter
Und dies hier sei eben das strittige Kind? Gott möge Sie diesmal nicht
beim Wort nehmen! -- Nämlich, wie Sie mich sehen, ich bin der Direktor
Hassenreuter, und ich habe persönlich das Kind meiner Aufwartefrau, der
Frau John, drei- oder viermal in Händen gehabt. Ich hab' es sogar auf
der Wage gewogen. Es wiegt über acht Pfund. Dieses arme Wurm hier dürfte
noch nicht zwei Kilo wiegen. Auf Grund dieses Umstandes versichere ich
Ihnen, dies hier ist in der Tat nicht das Kind der Frau John. Es mag
richtig sein, daß es das Ihre ist. Ich könnte das schlechterdings nicht
bezweifeln. Das Kind der Frau John aber kenne ich und bin sicher, daß es
mit diesem durchaus nicht identisch ist.
Frau Kielbacke
respektvoll.
Nee nee, det muß wahr sind: et is nich identisch.
Die Piperkarcka
Det Kindken is janz jenug identisch, wenn och bißchen schlecht jenährt
und schwächlich is. Det is janz richtig hier mit det Kind! Will Eid
schwören, daß richtig identisch is.
Direktor Hassenreuter
Ich bin sprachlos. -- (Zu den Schülern.) -- Unser Unterricht steht heute
unter einem feindlichen Stern, werte Jünglinge! Ich weiß nicht wieso,
aber der Irrtum der Damen beschäftigt mich. -- (Zu den Frauen.) -- Sie
werden sich in der Tür geirrt haben.
Frau Kielbacke
Ick ha selbst mit det Freilein und mit den Herrn von die Vormundschaft
det Kindeken aus die Stube mit Schild Frau Mauerpolier John uf'n
Hausflur jeholt. Frau John war nich da und Mauerpolier John ist in
Altona abwesend.
Schutzmann Schierke kommt, behäbig und gemütlich.
Direktor Hassenreuter
Ah, da ist ja Herr Schierke! Was wünschen Sie denn?
Schierke
Herr Direkter, ick habe erfahren, det zwee Frauensleute hier oben
jeflichtet sind.
Direktor Hassenreuter
Zwei Frauen sind hier. Aber wieso denn geflüchtet?
Frau Kielbacke
Wir sind nich jeflichtet.
Direktor Hassenreuter
Sie fragten nach meiner Aufwärterin.
Schierke
Erlauben Se, det ich se och mal wat frache.
Direktor Hassenreuter
Bitte.
Die Piperkarcka
Laß er man frachen. Deswechen kann ruhig sind.
Schierke
zur Frau Kielbacke.
Wie heißen Sie?
Frau Kielbacke
Ick bin Frau Kielbacke.
Schierke
Woll von det Landeskindererziehungsheim. Wo wohnen Sie?
Frau Kielbacke
In de Linienstraße neun.
Schierke
Ist das Ihr Kind, was Sie bei sich haben?
Frau Kielbacke
Det is Freilein von Piperkarcka ihr Kind.
Schierke
zur Piperkarcka.
Ihr Name?
Die Piperkarcka
Paula von Piperkarcka aus Skorzenin.
Schierke
Die Frau will behaupten, das wäre Ihr Kind. Wollen Sie das also auch
behaupten?
Die Piperkarcka
Herr Schutzmann, ick muß erjebenst um Schutz bitten, weil hier
unrechtmäßigerweise verdächtigt bin. Is Herr von die Stadt mit mich hier
jewesen. Haben mein Kind aus Stube Frau John, wo in Flege jewesen,
rausjeholt ...
Schierke
mit durchbohrendem Blick.
Et kann och die Tire jejenüber bei de Restaurateurswitwe Knobbe jewesen
sind. Wer weeß, wat Sie mit det Kindeken vorhaben, wovon Sie abjesandt
und bestochen sind. 'N jutes Jewissen haben Se nich. Jenommen un denn
hier rufjeschlichen, weil det die rechtmäßige Mutter, Witwe Knobbe, wo
bestohlen is, Treppen und Jänge absuchen, und weil schräg jejenüber
Polizeiwache is.
Die Piperkarcka
Is mich janz jleichgiltig Polizeiwache, bin ...
Direktor Hassenreuter
Sie sind widerlegt, meine beste Person! Wollen Sie denn das gar nicht
begreifen? Sie sagen, unsere John hätte kein Kind. Sie sagen, wollen Sie
bitte gefälligst aufpassen, Sie hätten Ihr Kind, das angeblich für das
von Frau John gegolten habe, aus Frau Johns Zimmer herausgeholt! Nun
also: wir alle hier kennen Frau Johns Kind und das, was Sie da haben,
ist ein anderes! Verstanden?! Was Sie behaupten also, kann, nach Adam
Riese unter gar keinen Umständen zutreffend sein! -- Übrigens wär mir's
jetzt lieb, Herr Schierke, Sie nehmen die Damen mit sich fort, und ich
könnte hier meinen Unterricht fortsetzen.
Schierke
Ja, denn kommen wir bloß mang die Knobben mit ihren Anhang rin. Nämlich
das Kind ist jestohlen worden.
Die Piperkarcka
Aber nich von mich. Is jeraubt von Frau John.
Schierke
Schon jut! -- (Unbeirrt zum Direktor.) -- Und es soll ja, wie't heeßt,
von Vaters Seite, blaublütig sind. Die Knobbe meent ja, et is 'n
Komplott von Feinde, weil man ihr die Rente un womeglich
Kadettenerziehung in 'ne jewisse Jejend nich jennen dut. -- (Es wird mit
Fäusten an die Tür geschlagen.) -- Det is de Knobbe. Da is se schonn.
Direktor Hassenreuter
Herr Schierke, Sie sind mir verantwortlich: dringen die Leute bei mir
ein und erleide ich eine Schädigung, so wende ich mich an den
Polizeipräsidenten: ich bin mit Herrn Maddei gut bekannt. Keine Furcht,
liebe Kinder, ihr seid meine Kronzeugen.
Schierke
an der Tür.
Draußen jeblieben! Hier rin kommen Se nich.
Ein kleiner Janhagel heult auf.
Die Piperkarcka
Soll schreien, was will, bloß mein Kindchen nich nah kommen.
Direktor Hassenreuter
Es ist besser so. Treten Sie einstweilen hier in die Bibliothek hinein.
-- (Er bringt die Piperkarcka, die Kielbacke und das Kind in die
Bibliothek.) -- Und jetzt, Herr Schierke, wollen wir meinethalben diese
Megäre da draußen herein lassen.
Schierke
der die Tür ein wenig öffnet.
So! Aber bloß de Knobben! Komm Se mal rin.
Frau Sidonie Knobbe erscheint. Sie ist eine hohe, abgezehrte
Erscheinung mit stark ramponierter modischer Sommertoilette. Ihr
Gesicht trägt die Stigmata der Straße, zeugt aber übrigens nicht von
schlechter Abkunft. Ihre Allüren sind merkwürdig damenhaft. Sie
redet mit Affektation, ihre Augen deuten auf Alkohol und Morphium.
Frau Knobbe
indem sie hereingesegelt kommt.
Es ist keine Ursache zur Besorgnis, Herr Direktor. Vorwiegend sind es
kleine Jungens und kleine Mädchen, da ich kinderlieb bin, wie Sie
wissen, die mit mir gekommen sind. Verzeihen Sie gütigst, wenn ich hier
eindringe. Eines der Kinder sagte mir, es hätten sich zwei Frauen mit
meinem Söhnchen zu Ihnen heraufgeschlichen. Ich suche mein Söhnchen,
genannt Helfgott Gundofried, da es tatsächlich aus meiner Wohnung
verschwunden ist. Ich möchte Sie aber nicht inkommodieren.
Schierke
Darum wollt' ick och janz jehorsamst bitten, verstehn Se mich.
Frau Knobbe
diese Worte mit hochmütiger Kopfbewegung übergehend.
Ich habe unten im Hof zu meinem Leidwesen einen gewissen Lärm erregt.
Man überblickt von da aus die Fenster, und ich habe mich bei den Leuten
erkundigt, bei der armen Zigarrenarbeiterin im zweiten Stock, bei der
kleinen schwindsüchtigen Näherin am Fenster im dritten Stock, ob meine
Selma mit meinem Söhnchen etwa bei ihnen ist. Es liegt mir fern, Skandal
zu erregen. -- Sie müssen wissen, Herr Direktor -- ich weiß sehr wohl,
daß ich hier unter den Augen eines Mannes von Bedeutung, ja, eines
berühmten Mannes bin! -- Sie müssen wissen, ich bin, was Helfgott
Gundofried angeht, gezwungen, auf meiner Hut zu sein! -- (Mit
schwankender Stimme, das Taschentuch zuweilen an die Augen führend.) --
Ich bin eine arme, vom Schicksal verfolgte Frau, mein Herr, die gesunken
ist und die bessere Tage gesehen hat. Aber ich will Sie damit nicht
langweilen. Ich werde verfolgt! man will mir die letzte Hoffnung nun
auch rauben.
Schierke
Sagen Se kurz, wat Se wünschen. Sputen Se sich.
Frau Knobbe
wie vorher.
Nicht genug: man hat mich veranlaßt, hat mich gezwungen, meinen
ehrlichen Namen abzulegen. Ich habe dann in Paris gelebt und schließlich
einen brutalen Menschen geheiratet, den Pächter von einem süddeutschen
Schützenhaus, weil ich den blöden Gedanken hatte, in meinen
Angelegenheiten dadurch gebessert zu sein. O diese Schurken von Männern,
Herr Direktor!!
Schierke
Det fihrt zu weit. Menagieren Se sich.
Frau Knobbe
Es freut mich, daß ich Gelegenheit finde, endlich mal wieder einem Manne
von Bildung und Geist in die Augen zu sehn. Mein Herr, ich könnte Ihnen
eine Geschichte vortragen ... im Volksmund heiße ich hier die »Gräfin«,
und Gott ist mein Zeuge, in meiner frühen Jugend war ich nicht weit
entfernt davon! Eine Zeitlang war ich auch Schauspielerin! Wie sagte
ich: eine Geschichte vortragen aus meinem Leben, aus meiner
Vergangenheit, die den Vorzug hat, nicht erfunden zu sein.
Schierke
Na wer weeß och.
Frau Knobbe
mit Emphase.
Mein Elend ist nicht erfunden. Trotzdem es erfunden klingt, wenn ich
sage, wie ich eines Nachts im tiefsten Abgrunde meiner Schande einen
Vetter, einen Jugendgespielen, der jetzt Garderittmeister ist, nachts
auf der Straße traf. Er lebt oberirdisch, ich unterirdisch, seit mich
mein adelstolzer Herr Vater verstieß, nachdem ich als junges Ding einen
Fall getan hatte. O Sie ahnen nicht, welcher Stumpfsinn, welche Roheit,
welche Gemeinheit in meinen Kreisen üblich ist. Ich bin ein zertretener
Wurm, Herr Direktor, und doch, dorthin, nach diesem glänzenden Elend,
sehne ich mich nicht eine Sekunde zurück.
Schierke
Nun woll'n wir jefälligst zur Sache kommen.
Direktor Hassenreuter
Bitte, Herr Schierke, mich interessiert das! unterbrechen Sie zunächst
mal die Dame nicht -- (zur Knobbe) -- Sie hatten von Ihrem Vetter
gesprochen. Sagten Sie nicht, daß er Garderittmeister ist?
Frau Knobbe
Er war in Zivil. Er ist Garderittmeister. Er erkannte mich, und wir
feierten schmerzlich selige Stunden alter Erinnerung. In seiner
Begleitung befand sich -- ich nenne den Namen nicht! -- ein blutjunger
Leutnant. Kerlchen wie Milch und Blut, aber zart und schwermütig. Herr
Direktor, ich habe die Scham verlernt! man hat mich neulich sogar aus
einer Kirche herausgewiesen: warum soll eine so zertretene, entehrte,
verlassene, mehrmals vorbestrafte Person vor Ihnen nicht offen bekennen,
daß er der Vater meines Helfgott Gundofried geworden ist.
Direktor Hassenreuter
Des Kindes, das Ihnen entwendet wurde?
Frau Knobbe
Wie die Leute sagen. Es kann ja sein! ich selbst, obgleich meine Feinde
mächtig sind und jedwedes Mittel in der Hand haben, ich bin noch nicht
ganz überzeugt davon. Vielleicht ist es aber doch ein Komplott, von den
Eltern des Vaters angezettelt, Menschen, die, Sie würden erstaunen,
Träger eines der ältesten und berühmtesten Namens und Geschlechtes sind.
Adieu! Herr Direktor, was Sie auch von mir hören sollten, denken Sie
nicht, mein besseres Fühlen ist in dem Sumpfe total erstickt, in den ich
mich stürzen muß. Ich brauche den Sumpf, wo ich gleich und gleich mit
dem Abschaum der Menschheit bin. Da, hier -- (sie weist ihren nackten
Arm vor) -- vergessen! Betäubung! Ich verschaffe es mir mittels Chloral,
mittels Morphium! Ich finde es in den menschlichen Abgründen. Warum
nicht? wem bin ich verantwortlich? Einst wurde meine geliebte Mama
meinetwegen von meinem Vater heruntergemacht! Die Bonne bekam
meinetwegen Krampfanfälle! Mademoiselle und eine englische Miß rissen
sich, weil jede behauptete, daß ich sie mehr liebte, in der Wut
gegenseitig die Chignons vom Kopf. Jetzt ...
Schierke
Sage ick Ihnen, jetzt hören Se uf: wir kenn hier Leute nich Freiheit
berauben. -- (Er öffnet die Bibliothekstür.) -- Jetzt sagen Se, ob det
hier Ihr Kindeken is.
Zuerst tritt die Piperkarcka mit haßerfüllten Augen, Frau Knobbe
anstarrend, aus der Tür. Die Kielbacke mit dem Kinde folgt. Schierke
nimmt das Tuch von dem Kindchen.
Die Piperkarcka
Was wollen von mich? Was kommen mir nachsetzen? Bin ick Zijeuner? Sollen
wohl Kinder stehlen in Häuser jehn? Was? Sind nich gescheit! Werden mich
schön hüten! Hab' selber für mich und mein Kind kaum Essen jenug! Wer
'rumjehn, wer fremde Kinder auflesen und jroß füttern, wo eijnes mir
schon jenug Kummer und Ärjer macht.
Frau Knobbe
glotzt, sieht sich fragend und hilfesuchend um. Holt dann
schnell ein Flakon aus der Tasche und gießt den Inhalt auf ihr
Schnupftuch. Das Schnupftuch führt sie dann an Mund und Nase und
saugt den Duft des Parfüms, um nicht ohnmächtig zu werden.
Hierauf glotzt sie wie vorher.
Direktor Hassenreuter
Ja warum sprechen Sie nicht, Frau Knobbe? Das Mädchen behauptet, daß sie
selbst und nicht Sie, Frau Knobbe, Mutter des kleinen Kindes ist.
Frau Knobbe
erhebt den Schirm, um damit zu schlagen. Man fällt ihr in den
Arm.
Schierke
Det jibt's nich! Det is hier nich Kindererziehung! Det machen Se, wenn
Se unter sich in de Kinderstube alleene sind! -- Die Hauptsache bleibt,
wen jehert hier det Kind? -- Und nu ... und jetzt ... Frau verwitwete
Knobbe, ieberlechen Se sich, det Se hier reenste Wahrheit sachen! So! Is
et Ihret? oder 'n fremdet Kind?
Frau Knobbe
bricht los.
Ich schwöre bei der heiligen Mutter Gottes, bei Jesus Christus, Vater,
Sohn und heiliger Geist, daß ich Mutter von diesem Kinde bin.
Die Piperkarcka
Und ick schwöre bei heilije Mutter Jottes ...
Direktor Hassenreuter
Halt, Fräulein, retten Sie Ihre Seele! -- Es mag meinethalben ein Fall
von den allerverwickeltsten Umständen sein! Sie schwören dabei
vielleicht vollständig gutgläubig, aber Sie werden mir das gewiß
zugeben: jede von Ihnen könnte zwar die Mutter von Zwillingen sein --
ein Kind mit zwei Müttern ist nicht zu denken!
Walburga
die unverwandt und starr, gleich Frau Knobbe, aus der Nähe das
Kind betrachtet.
Papa! Papa! So sieh doch mal erst das Kind.
Frau Kielbacke
weinerlich, entsetzt.
Ja, det Kindeken stirbt schon jlob ick, seit ick hier drin im Zimmer
jewesen bin.
Schierke
Wat?
Direktor Hassenreuter
Wie? -- (Er tritt energisch näher und betrachtet einige Zeit ebenfalls
das Kind.) -- Das Kindchen ist tot! Das ist ohne Frage! -- Hier ist ohne
Zweifel einer gewesen, unsichtbar, der über das unbeteiligte arme,
kleine Streitobjekt ein wahrhaft salomonisches Urteil gesprochen hat.
Die Piperkarcka
versteht nicht.
Wat jiebt denn?
Schierke
Ruhe! -- Komm Sie mit.
Frau Knobbe scheint die Sprache verloren zu haben. Sie steckt ihr
Taschentuch in den Mund. Tief in ihrer Brust röchelt es. Schierke,
die Kielbacke mit dem toten Kinde, gefolgt von Frau Knobbe und der
Piperkarcka ab. Man hört Gemurmel auf dem Flur.
Der Direktor kommt wieder, nachdem er hinter den Abgehenden die Tür
verschlossen hat.
Direktor Hassenreuter
_Sic eunt fata hominum._ Erfinden Sie so was mal, guter Spitta.


Vierter Akt

Die Wohnung des Maurerpoliers John, wie im zweiten Akt. Es ist früh
gegen acht Uhr Sonntags.
Maurerpolier John befindet sich unsichtbar hinter dem Verschlage.
Man kann aus seinem Planschen und Prusten entnehmen, daß er bei der
Morgenwäsche ist. Quaquaro ist eben eingetreten und hat die Klinke
der Flurtür in der Hand.
Quaquaro
Sache ma, is deine Frau zu Hause, Paul?
John
hinterm Verschlag.
Noch nich, Emil. Meine Frau is mit den Jungen bei meine verheirate
Schwester in Hangelsberg. Will aber heut morchen noch wiederkomm. --
(John erscheint, sich abtrocknend, in der Tür des Verschlages.) Schen
juten Morchen, Emil.
Quaquaro
Morchen, Paul.
John
Na wat jibt et Neies? Ick bin vor 'ne halbe Stunde erst von de Bahn aus
Hamburch jekomm.
Quaquaro
Ick sah dir ins Haus jehn un Treppe rufsteichen.
John
aufgeräumt.
Na ja, Emil, du bist eben so 'n richticher Zerberus.
Quaquaro
Sache ma, Paul: wie lange is deine Frau mit det Kleene in Hangelsberg?
John
I, det muß so um die acht Dache so rum sind, Emil. Wiste wat von ehr?
Miete hat se doch woll richtich abjeführt. Ibrigens kann ick jleich
kindigen, Emil. Denn et is nu so weit: wir ziehn an erschten Oktober.
Ick ha Muttern nu endlich breit jekricht, det wir aus det olle wacklige
Staatsjebäude raus und in 'ne beßre Jejend ziehn.
Quaquaro
Nach Altona wiste nu nich mehr zurick?
John
Nee! bleibe in Lande und nähre dir redlich! Ick jeh nich mehr auswärts!
Nich in die Hand! -- Schon erstlich: immer uf Schlafstelle rumdricken!
und denn och: jinger wird eener nich! De Mächens wolln och all nich mehr
recht mehr so anbeißen ... Nee nee, et is jut so, det ma det ewiche
Wanderleben zu Ende is.
Quaquaro
Deine Frau hat et jut anjeschlachen, Paul.
John
gut gelaunt.
Na, junge Ehe, wo ebent erst Kindchen jekomm is!? Ick ha zum Meester
jesacht: ick bin jung verheirat! Denn hat er jefracht, ob meine erschte
Frau jestorben is? O konträr! Janz in't Jejenteil, hab' ick jeantwort:
die is so lebendig und quietschfidel, die hat sojar noch 'ne
quietschfidelen kleenen Berliner zujekricht! -- Wie ick heute Morchen,
Berlin--Hamburg--Stendal--Ültzen zum letztenmal uf'n Lehrter Bahnhof mit
mein janzes Zeug aus de vierte Klasse jestiegen bin, hab' ick 'n lieben
Jott, der Deibel hol mir! so alt wie ick bin, mit een Seufzer jedankt.
Er wird ihm wohl bei den Lärm uf'n Lehrter nich jehert haben.
Quaquaro
Haste jehert, Paul, det drieben de Knobbe ihr Jüngstes och wieder mit
Dot abjejang is?
John
Nee! Wie soll ick da von wat jehert haben. Aber wenn et dot is, denn is
et doch jut, Emil. Als ick det Wurm vor acht Dache jesehn habe, wo
Krämpfe hatte und Selma jekomm is und ick und Mutter haben ihm noch'n
Löffel Zuckerwasser injejossen, da war et doch schon reichlich reif
for't Himmelreich.
Quaquaro
Sache ma, haste denn von die Umstände jar nich jehert, wie und wo det
Kindchen zu Dode jekomm is?
John
Nee! -- (Er zieht eine lange Tabakspfeife hinter dem Sofa hervor.) --
Wart ma! ick brenne mir erst ma 'ne Pipe an. Nee! wo soll ick da von wat
jehert haben.
Quaquaro
Ick verwunder mir aber doch, det deine Frau dir nischt von jeschrieben
hat.
John
I, mit Jette und mit die Knobbekinder is det, seit det mir 'n eegnet
Kind haben, bei Muttern uf eema wie abjeschnappt.
Quaquaro
lauernd.
Deine Frau wollte ja doch immer brennend jerne 'n Sohn haben.
John
Na det is och! Meenste woll etwa, ick nich? For wat rackert eens denn?
For wat schind ick mir denn? Det is doch wat anders, wenn 'n scheenet
rundet Stück Jeld for'n eijnen Sohn oder for Schwesterkinder ufjespart
bleiben dut.
Quaquaro
Weeste denn nich, det 'n fremdet Mächen jekomm is, Paul, und hat
behauptet, det det Kind von de Knobbe jar nich ihr eechnet, sondern det
Kind von det fremde Mächen jewesen is?
John
Nanu? De Knobben und Kinderstehlen? Wenn't Mutter wär! aber de Knobben
doch nich. Sach ma, Emil, wat is denn det for 'ne Jeschichte.
Quaquaro
Na, nu, d'r eene sagt so, d'r andre sagt so. De Knobben sagt, det von
een Komplott mit Detektivs aus jewisse Kreise det kleene Balch
nachjestellt worden is. Un det is nu ja och richtig janz festjestellt:
et war det Kind von de Knobben jewesen! -- Kannst du mich irgendeenen
Wink jeben, wo de letzten Dache dein Schwager is?
John
Meenste dem Schlachtermeester in Hangelsberg?
Quaquaro
I nee, durchaus nich wat der Mann von deine Schwester, sondern von deine
Frau der Bruder is.
John
Da meenst du Brunon?
Quaquaro
Jewiß doch.
John
Na, noch wat, da kimmere ick mir noch wat eher drum, ob de Hunde noch
immer bei Prellsteine jehn. Von Brunon will ick weiter nischt wissen.
Quaquaro
Her mich ma zu, Paul. Ärjer dir nich. Nämlich uf Polizeistelle is
bekannt, det Bruno mit det polnische Mächen, wo uf det Kindeken Anspruch
machen wollte, jleich neulich hier vor de Haustür und dann och an eene
jewisse Stelle von de Uferstraße, wo de Jerber de Felle wegschwimmen,
jemeinsam jesichtet is. Nu is det Mächen janz jänzlich verschwunden.
Weiter wat Näheres weeß ick nu freilich nich! Bloß det se von Polizei
wechen det Mächen suchen.
John
stellt entschlossen die lange Pfeife weg, die er sich angesteckt
hatte.
Ick weeß nich, ick ha keen Justo heut morchen! -- Ick weeß nich, wat in
mir jefahren hat, ick war so verjnügt wie'n Eckensteher. Uf eemal is
mich so kodderig zumut, det ick an liebsten jleich wieder nach Hamburg
mechte un jar nischt weiter heren und sehn! -- Wat kommst de denn mir,
Emil, mit so 'ne Jeschichten?
Quaquaro
Ick wollte dir man bloß bißken ufklären, wat inzwischen, wo ja du un
wohl ja och deine Frau auswärts jewesen is, in deine Behausung jeschehn
is.
John
In meine Behausung?
Quaquaro
Det is ja! Jawoll! Selma hatte ja, heeßt et, det Knobbesche Jungchen in
Kinderwachen hier rieberjeschoben, wo et det fremde Frauenzimmer mit
ihre Begleitung aus deine Wohnung jenommen und wechjetragen hat. Oben
bei de Kammedienspieler is se ja dann noch jlicklich jestellt worden.
John
Wat is se?
Quaquaro
Und da haben sich och de Knobbe un det fremde Mächen ieber det dote Kind
bei de Haare jekricht.
John
Wenn ick man wißte, wat mir det soll, Emil, wo doch alle Ochenblicke
hier mit Frauenzimmer een Jewürge is. Laß se man kampeln! Mir is det
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  • Die Ratten: Berliner Tragikomödie - 10
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