Die Ratten: Berliner Tragikomödie - 5

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Direktor Hassenreuter
Sagen Sie das nochmal, lieber Spitta.
Spitta
Es ist nicht zu ändern, Herr Direktor: unsre Begriffe von dramatischer
Kunst divergieren in mancher Beziehung total.
Direktor Hassenreuter
Mensch, Ihr Gesicht in diesem Augenblick ist ja geradezu ein Monogramm
des Größenwahns und der Dreistigkeit. Pardon! aber jetzt sind Sie mein
Schüler und nicht mehr mein Hauslehrer! Ich! und Sie!? Sie blutiger
Anfänger! Sie und Schiller! Friedrich Schiller! Ich habe Ihnen schon
zehnmal gesagt, daß Ihr pueriles bißchen Kunstanschauung nichts weiter
als eine Paraphrase des Willens zum Blödsinn ist.
Spitta
Das müßte mir erst bewiesen werden.
Direktor Hassenreuter
Sie beweisen es selbst, wenn Sie den Mund auftun! -- Sie leugnen die
Kunst des Sprechens, das Organ, und wollen die Kunst des organlosen
Quäkens dafür einsetzen! Sie leugnen die Handlung im Drama und
behaupten, daß sie ein wertloses Akzidenz, eine Sache für Gründlinge
ist. Sie negieren die poetische Gerechtigkeit, Schuld und Sühne, die Sie
als pöbelhafte Erfindung bezeichnen: eine Tatsache, wodurch die
sittliche Weltordnung durch Euer Hochwohlgeboren gelehrten und
verkehrten Verstand aufgehoben ist. Von den Höhen der Menschheit wissen
Sie nichts. Sie haben neulich behauptet, daß unter Umständen ein Barbier
oder eine Reinmachefrau aus der Mulackstraße ebensogut ein Objekt der
Tragödie sein könnte als Lady Macbeth und König Lear.
Spitta
bleich, putzt seine Brille.
Vor der Kunst wie vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, Herr
Direktor.
Direktor Hassenreuter
So? Ach!? Wo haben Sie diesen hübschen Gemeinplatz her?
Spitta
unbeirrt.
Dieser Satz ist mir zur zweiten Natur geworden. Ich befinde mich dabei
vielleicht mit Schiller und Gustav Freytag, aber keinesfalls mit Lessing
und Diderot im Gegensatz. Ich habe die letzten zwei Semester mit dem
Studium dieser wahrhaft großen Dramaturgen zugebracht, und der gestelzte
französische Pseudoklassizismus bleibt mir durch sie endgültig
totgeschlagen, sowohl in der Dichtkunst als in den grenzenlos läppischen
späteren Goetheschen Schauspielervorschriften, die durch und durch
mumifizierter Unsinn sind.
Direktor Hassenreuter
So!
Spitta
Und wenn sich das deutsche Theater erholen will, so muß es auf den
jungen Schiller, den jungen Goethe des Götz und immer wieder auf
Gotthold Ephraim Lessing zurückgreifen: dort stehen Sätze, die der Fülle
der Kunst und dem Reichtum des Lebens angepaßt, die der Natur gewachsen
sind.
Direktor Hassenreuter
Walburga! Ich glaube, Herr Spitta verwechselt mich. Herr Spitta, Sie
wollen Privatstunden halten. Bitte, zieh dich doch mit Herrn Spitta zur
Privatstunde in die Bibliothek zurück! -- Wenn die menschliche Arroganz
und besonders die der jungen Leute kristallisiert werden könnte, die
Menschheit würde darunter wie eine Ameise unter den Granitmassen eines
Urgebirges begraben sein.
Spitta
Ich würde dadurch aber nicht widerlegt werden.
Direktor Hassenreuter
Mensch! Ich habe nicht nur zwei Semester königliche Bibliothek hinter
mir, sondern ich bin ein ergrauter Praktiker und ich sage Ihnen, daß der
Goethesche Schauspielerkatechismus A und O meiner künstlerischen
Überzeugung ist. Paßt Ihnen das nicht, so suchen Sie sich einen anderen
Lehrmeister.
Spitta
unbeirrt.
Goethe setzte sich mit seinen senilen Schauspielerregeln, meiner Ansicht
nach, zu sich selbst und zu seiner eigenen Natur in kleinlichsten
Gegensatz. Und was soll man sagen, wenn er dekretiert: jede spielende
Person, gleichviel welchen Charakter sie darstellen soll -- wörtlich! --
müsse etwas Menschenfresserartiges in der Physiognomie zeigen --
wörtlich! -- wodurch man sogleich an ein hohes Trauerspiel erinnert
werde. --
Käferstein und Kegel versuchen Menschenfresserphysiognomien.
Direktor Hassenreuter
Ziehen Sie doch das Notizbuch, mein guter Spitta, und schreiben Sie,
bitte, hinein, daß Direktor Hassenreuter ein Esel ist! Schiller ein
Esel! Goethe ein Esel! natürlich auch Aristoteles -- (er fängt plötzlich
wie toll zu lachen an) -- und, ha ha ha! ein gewisser Spitta ein
Nachtwächter!
Spitta
Es freut mich, Herr Direktor, daß Sie doch wenigstens wieder bei guter
Laune sind.
Direktor Hassenreuter
Nein, Teufel, ich bin bei sehr schlechter Laune! Sie sind ein Symptom.
Also nehmen Sie sich nicht etwa wichtig! -- Sie sind eine Ratte! aber
diese Ratten fangen auf dem Gebiete der Politik -- Rattenplage! -- unser
herrliches neues geeinigtes Deutsches Reich zu unterminieren an. Sie
betrügen uns um den Lohn unserer Mühe! und im Garten der deutschen Kunst
-- Rattenplage! -- fressen sie die Wurzeln des Baumes des Idealismus ab:
sie wollen die Krone durchaus in den Dreck reißen. -- In den Staub, in
den Staub, in den Staub mit euch!
Käferstein und Dr. Kegel wollen ernst bleiben, brechen indessen bald
in lautes Gelächter aus, in das der Direktor hineingerissen wird.
Walburga macht große Augen. Spitta behält seinen Ernst.
Nun steigt Frau John über die Leiter vom Boden herunter, nach
einiger Zeit folgt ihr Quaquaro, der Vizewirt.
Direktor Hassenreuter
bemerkt Frau John, weist heftig mit beiden Armen auf sie, wie
wenn er eine Entdeckung gemacht hätte.
Da kommt Ihre tragische Muse, Spitta.
Frau John
die sich unter dem Gelächter des Direktors, Kegels und
Käfersteins genähert hat, verdutzt.
Wat ha ick denn an mir, Herr Direkter?
Direktor Hassenreuter
Alles Gute und Schöne, beste Frau John! Danken Sie Gott, wenn Ihr
stilles, eingezogenes, friedliches Leben Sie zur tragischen Heldin
ungeeignet macht. -- Aber sagen Sie, haben Sie etwa Gespenster gesehen?
Frau John
mit unnatürlicher Blässe.
I, weshalb denn nu det?
Direktor Hassenreuter
Etwa gar wieder den famosen Soldaten Sorgenfrei, der dort oben als
Deserteur ins bessere Jenseits seine Militärkarriere beschlossen hat?
Frau John
I, wenn't 'n lebendicher Mensch wär, det kennte sind: vor tote Jeister
furcht ick mir nich.
Direktor Hassenreuter
Na, wie war's, Herr Quaquaro, unter den Bleidächern?
Quaquaro
der einen schwedischen Reiterstiefel mitbringt.
Ick habe mir allens jut umjesehen un bin zur Iberzeijung jekomm, det
mindestens obdachloses Jesindel oben, durch wat for'n Zujang weeß ick
noch nich, jenächtigt hat. Un denn hab ick det hier in Stiefel jefunden.
--
Er zieht aus dem Reiterstiefel ein Kinderfläschchen mit
Gummipfropfen, halb mit Milch gefüllt.
Frau John
Det erklärt sich: ick ha oben zu'n rechten jesehn und ha Adelbertchen
bei mich jehat. -- Ick bin an die janze Jeschichte unschuldig!
Direktor Hassenreuter
Das Gegenteil hat wohl auch niemand behauptet, Frau John.
Frau John
Wo Adelbertchen zur Welt kam ... wo Adelbertchen jestorben war ... der
soll ma komm und soll mir sachen, wat eene richtiche Mutter is ... aber
nu muß ick fort, Herr Direkter ... Nu kann ick zweer Tage och drei nich
oben komm. Atje! ick muß ma bißken mit Adelbertchen bei meine Schwächern
zeichen uf Sommerfrische. --
Sie trottet durch die Flurtür ab.
Direktor Hassenreuter
Was hat sie da durcheinander gefaselt?
Quaquaro
Schon wo se det erste Kindeken hatte, nu jar nachdem, wie et jestorben
is, wa eene Schraube los bei die John. Seit se nu jar det Zweete hat,
wackeln zweee. Hinjejen, deswechen, rechnen kann se. Die hat manchen
juten Jroschen bei schene Prozente uf Fänder ausjeborcht.
Direktor Hassenreuter
Was soll ich nun als Bestohlener tun?
Quaquaro
Det kommt druf an, wo Verdacht hin is.
Direktor Hassenreuter
In diesem Hause? -- Sagen Sie selbst, Herr Quaquaro ...
Quaquaro
Det is ja nu wahr, aber et is nu doch och so weit, det nächstens bißken
jesäubert wird. De Witwe Knobbe mit ihren Anhang wird rausjeschmissen!
Und denn is eene Blase uf Flijel B, wo Schutzmann Schierke mir hat
jesacht, det sich schwere Jungen mang mang befinden: wo de Polizei
nächstens ausheben wird.
Direktor Hassenreuter
Irgendwo hier im Hause ist doch ein Gesangverein. Ich höre wenigstens
manchmal wirklich hübsche Männerstimmen »Deutschland, Deutschland über
alles«, »Wer hat dich, du schöner Wald«, »In einem kühlen Grunde« und
dergleichen absingen.
Quaquaro
Det sind se! det sind se! die singen so jut wie de blaue Zwiebel! det
sind se, jewiß! Wo man singt, da laß dir jeruhig nieder, heeßt et zwar,
aber det wollt ick keenen raten ... Ick wage mir och man mit mein Prinz,
wat meine Bulldogge is, mang die feine Jesellschaft rin. Immer
anzeichen, anzeichen, Herr Direkter.
Quaquaro geht ab.
Direktor Hassenreuter
Sein Auge blitzt Kaution. Sein Wort heischt Preußisch-Kurant. Seine
Faust bedeutet Kündigung. Wer um Ultimo nicht von ihm träumt, kann von
Glück sagen. Wer von ihm träumt, der brüllt nach Hilfe. Ein
scheußlicher, schmalziger Kerl! aber ohne ihn bekämen die Pächter dieser
Staatsbaracke die Miete nicht, und der Militärfiskus könnte die Pacht in
den Rauchfang schreiben. -- (Die Türschelle geht.) -- Das ist Fräulein
Alice Rütterbusch! die junge Naive, die ich leider bei dem Hangen und
Bangen auf die Entscheidung der Straßburger Stadtväter mir noch immer
kontraktlich nicht sichern kann. Nach meiner Ernennung, zu der Gott mir
helfe, wird ihr Engagement meine erste direktoriale Handlung sein. --
Walburga und Spitta, marsch auf den Oberboden. Zählt die sechs Kisten
durch, wo der Vermerk Journalisten steht, daß wir im geeigneten
Augenblick mit der Inventur fertig sind. -- (Zu Käferstein und Dr.
Kegel) -- Sie mögen derweil in die Bibliothek treten.
Er geht, um die Flurtür zu öffnen.
Walburga und Spitta verschwinden eilig und sehr bereitwillig auf den
Oberboden. Käferstein und Kegel gehen in die Bibliothek.
Direktor Hassenreuter
im Hintergrund.
Bitte, kommen Sie nur herein, meine Gnädige! Pardon! Bitte sehr um
Pardon, mein Herr! Ich erwartete eine Dame ... ich erwartete eine junge
Dame ... Aber bitte, treten Sie doch herein.
Der Direktor kommt mit Pastor Spitta wieder nach vorn. Pastor
Spitta, sechzig Jahre alt, ist ein etwas verbauerter kleiner
Landpfarrer. Man könnte ihn ebensogut für einen Feldmesser oder
kleinen Gutsbesitzer nehmen. Er ist von kräftiger Erscheinung,
kurznackig, wohlgenährt und hat ein etwas zusammengequetschtes,
breites Luthergesicht. Er trägt Schlapphut, Brille, Stock, einen
Lodenmantel überm Arm; ungeschlachte Stiefel und die Verfassung
seiner übrigen Kleidung zeigt, daß sie an Wetter und Wind schon seit
lange gewöhnt sind.
Pastor Spitta
Wissen Sie, wer ich bin, Herr Direktor?
Direktor Hassenreuter
Nicht durchaus bestimmt, aber ...
Pastor Spitta
Wagen Sie's nur daraufhin, Herr Direktor: nennen Sie mich bis auf
weiteres Pastor Spitta aus Schwoiz in der Uckermark, dessen Sohn Erich
Spitta, jawohl, in Ihrer Familie als Hauslehrer oder so ähnlich, tätig
gewesen ist. Erich Spitta: das ist mein Sohn. Das sag' ich mit schwerer
Bekümmernis.
Direktor Hassenreuter
Zunächst freue ich mich, Sie begrüßen zu können. Ich möchte Sie aber im
gleichen Atem bitten, Herr Pastor, des bewußten Seitensprunges wegen,
den Ihr Sohn Erich sich leistet, nicht allzu bekümmert, nicht allzu
besorgt zu sein.
Pastor Spitta
O ich bin sehr besorgt. Ich bin sehr bekümmert! -- (Er sieht sich mit
großem Interesse, auf einem Stuhl sitzend, in dem seltsamen Raume um.)
-- Es ist schwer zu sagen, äußerst schwer begreiflich zu machen, bis zu
welchem hohen Grade ich bekümmert bin. Aber verzeihen Sie eine Frage,
Verehrtester: ich war im Zeughaus. -- (Er berührt mit dem Stock einen
der Pappenheimschen Kürassiere.) -- Was sind das für Rüstungen?
Direktor Hassenreuter
Das sind Pappenheimsche Kürassiere.
Pastor Spitta
Ah ah, ich stellte mir Schiller ganz anders vor! -- (Sich sammelnd.) --
O dieses Berlin! Es verwirrt mich ganz! Sie sehen in mir einen Mann,
Herr Direktor, der nicht nur bekümmert, nicht nur durch dieses Sodom
Berlin im Innersten aufgewühlt, sondern geradezu durch die Tat seines
Sohnes gebrochen ist.
Direktor Hassenreuter
Eine Tat? Welche Tat?
Pastor Spitta
Das fragen Sie noch? Der Sohn eines redlichen Mannes und ... und ...
Schauspieler.
Direktor Hassenreuter
gereckt, mit Haltung.
Mein Herr, ich billige den Entschluß Ihres Sohnes nicht. Aber ich
selbst, der ich, _hony soit qui mal y pense_, der Sohn eines redlichen
Mannes und selber, will ich hoffen, ein Mann von Ehre bin, ich, wie ich
hier stehe, ich war selbst Schauspieler und habe noch vor kaum sechs
Wochen bei einem Lutherfestspiel in Merseburg .... ich bin
Kulturkämpfer! nicht nur als Regisseur, sondern auch als Schauspieler
meinen Fuß auf die weltbedeutenden Bretter gestellt. In bezug auf
bürgerliche Ehre und vom Standpunkt der allgemeinen Ehrenhaftigkeit
dürfte also, nach meinen Begriffen wenigstens, der Entschluß Ihres Herrn
Sohnes nicht zu beanstanden sein. Aber es ist ein schwerer Beruf, und
man muß auch außerdem dazu sehr viel Talent haben. Auch geb' ich zu: für
schwache Charaktere ist es ein Beruf, der besonders gefährlich ist. Und
schließlich habe ich selbst die ungeheure Mühsal meines Standes so bis
auf die Nagelprobe kennen gelernt, daß ich jeden davor behüten möchte.
Deshalb gebe ich meinen Töchtern Ohrfeigen, sobald auch nur der leiseste
Gedanke zur Bühne zu gehen sich geltend macht, und eh' ich sie an einen
Mimen verheiratete, würde ich jeder von ihnen einen Stein um den Hals
hängen und sie ertränken im Meer, wo es am tiefsten ist.
Pastor Spitta
Ich wollte niemand zu nahe treten. Ich gebe auch zu, ich habe als
schlichter Landpfarrer von alledem keine Vorstellung. Aber denken Sie
sich einen Vater an, eben einen solchen armen Landpfarrer, der seine
Pfennige mühsam zusammenkratzt, um seinem Sohne das Studium zu
ermöglichen. Denken Sie, daß dieser Sohn kurz vor seinem Examen steht
und daß Vater und Mutter -- ich hab eine kranke Frau zu Haus! -- mit
Schmerzen oder mit Sehnsucht, wie Sie wollen, auf den Augenblick warten,
jawohl, wo er in irgendeiner Pfarre seiner Bestimmung von der Kanzel die
Probepredigt halten wird. Und nun kommt dieser Brief! der Junge ist
wahnsinnig. --
Die Erregung des Pastors ist nicht gerade gespielt, aber beherrscht.
Das Zittern, womit er nach seinem Briefe in die Brusttasche greift
und ihn dem Direktor hinhält, ist nicht ganz überzeugend.
Direktor Hassenreuter
Junge Leute suchen. Allzusehr dürfen wir uns nicht wundern, wenn eine
Krise im Leben eines jungen Mannes zuweilen nicht zu vermeiden ist.
Pastor Spitta
Nun, diese Krise war zu vermeiden. Sie werden aus diesem Briefe unschwer
erkennen, wer verantwortlich für den verderblichen Umschwung in der
Seele eines so jungen, braven und immer durchaus gehorsamen Menschen zu
machen ist. Ich hätte ihn nie sollen nach Berlin schicken. Jawohl: die
sogenannte wissenschaftliche Theologie, die mit allen heidnischen
Philosophen liebäugelt, und die uns den lieben Herrgott in Rauch, den
Herrn und Heiland in Luft verwandeln will, die mache ich für den
schweren Fehltritt meines Kindes verantwortlich. Und nun kommen dazu die
anderen Verführungen: Herr Direktor, ich habe Dinge gesehen, wovon zu
sprechen mir ganz unmöglich ist! Hier habe ich Zettel in allen Taschen:
Elite-Ball! Fesche Damenbedienung! und so fort. Ich gehe halb ein Uhr
nachts ganz ruhig durch die Passage zwischen Linden und Friedrichstraße,
schmeißt sich ein scheußlicher Kerl an mich an, halbwüchsig und fragt
mit einer schmierigen, scheuen Dreistigkeit: ob der Herr vielleicht
etwas Pikantes will? Und nun diese Schaufenster, wo neben den Bildern
der hohen und Allerhöchsten Herrschaften nackte Schauspielerinnen,
Tänzerinnen, kurz die anstößigsten Nuditäten zu sehen sind! Und dann
dieser Korso, dieser Korso! wo die geschminkte, aufgedonnerte Sünde die
Bürgersfrau vom Bürgersteig auf die Straße drängt! Das ist einfach
Weltuntergang, Herr Direktor!
Direktor Hassenreuter
Ach Herr Pastor, die Welt! die geht nicht unter! nicht wegen der
Nuditäten und ebensowenig der heimlichen Sünde wegen, die Nachts durch
die Straßen schleicht. Sie wird mich und wahrscheinlich das ganz skurile
Menschheitsintermezzo noch überleben.
Pastor Spitta
Was diese jungen Leute vom rechten Wege ablenkt, ist das böse Beispiel,
ist die Gelegenheit.
Direktor Hassenreuter
Mit Erlaubnis, Herr Pastor: ich habe eigentlich eine Neigung zum
Leichtsinn in Ihrem Sohne niemals bemerkt. Er hat einen Zug zur
Literatur, und er ist nicht der erste Pastorensohn -- Lessing, Herder
_etcetera_, der in den Weg der Literatur und Poeterei eingebogen ist.
Möglicherweise hat er schon Stücke im Schubfach liegen. Allerdings muß
ich sagen: die Ansichten, die Ihr Herr Sohn auch auf dem Felde der
Literatur vertritt, sind selbst für mich mitunter beängstigend.
Pastor Spitta
Das ist ja furchtbar! das ist ja entsetzlich! und geht über meine
schlimmsten Befürchtungen weit hinaus. Und so sind mir die Augen denn
aufgegangen. -- Mein Herr, ich habe acht Kinder gehabt, von denen Erich
unsre schönste Hoffnung, seine nächstälteste Schwester unsre schwerste
Prüfung von Gott bedeutete und die nun, dem Anschein nach, beide von der
gleichen verruchten Stadt als Opfer gefordert worden sind. Das Mädchen
war früh entwickelt, war schön! -- doch -- Jetzt muß ich zu etwas
anderem kommen. -- Ich bin seit drei Tagen in Berlin und habe Erich noch
nicht gesehen. Als ich ihn heute aufsuchen wollte, war er in seiner
Wohnung nicht anwesend. Ich habe eine Weile gewartet und mich natürlich
dabei in seiner Behausung umgesehen. Nun: betrachten Sie dieses Bild,
Herr Direktor!
Er hat eine kleine Photographie, indem er Erichs Brief zurücklegt,
aus der Brieftasche genommen und hält sie dem Direktor unter die
Augen.
Direktor Hassenreuter
nimmt und betrachtet das Bild, bald wie ein Kurzsichtiger, bald
wie ein Weitsichtiger, stutzt.
Wieso?
Pastor Spitta
An dem albernen Lärvchen liegt weiter nichts. Aber lesen Sie bitte die
Unterschrift.
Direktor Hassenreuter
Wo?
Pastor Spitta
liest.
»Ihrem einzigen Liebsten, seine Walburga.«
Direktor Hassenreuter
Erlauben Sie mal! -- Was heißt das, Herr Pastor?
Pastor Spitta
Irgendein Nähmädchen heißt das! Wenn nicht gar irgendeine obskure
Kellnerin!
Direktor Hassenreuter
sehr bleich.
Hm. -- (Steckt das Bild ein.) -- Ich werde das Bild behalten, Herr
Pastor.
Pastor Spitta
In solchem Schmutz wälzt sich dieser Sohn. Und nun denken Sie sich in
meine Lage: mit welchen Gefühlen, mit welcher Stirn soll ich künftig vor
meiner Gemeinde auf der Kanzel stehn ......?
Direktor Hassenreuter
Donnerwetter, was geht mich das an, Herr Pastor! Was habe ich mit Ihrem
Sprengel, mit Ihren verlorenen Söhnen und Töchtern und dergleichen zu
tun? (Er zieht wieder die Photographie.) -- Und übrigens, was dieses
kernige, tüchtige Mädchen betrifft, »Kellnerin und dergleichen«, so
irren Sie sich! Weiter sage ich nichts! Alles weitere wird sich finden,
Herr Pastor. Adieu.
Pastor Spitta
Ich gestehe frei, ich begreife Sie nicht. Wahrscheinlich ist das der
Ton, der in Ihren Kreisen der übliche ist. Ich gehe und werde Sie nicht
mehr belästigen. Aber ich habe als Vater das Recht vor Gott, Sie, Herr
Direktor, zu verpflichten: verweigern Sie künftig, oder ich werde Mittel
und Wege zu finden wissen, meinem verblendeten Sohne diesen sogenannten
dramatischen Unterricht!
Direktor Hassenreuter
Nicht nur das, Herr Pastor: sondern ich werde ihm ganz direkt den Stuhl
vor die Tür setzen.
Er geleitet den Pastor hinaus, schlägt die Tür zu und kommt ohne ihn
wieder.
Direktor Hassenreuter
schleudert die Arme in die Luft.
Hier kann man nur sagen: Neandertaler! -- (Er stürmt die Bodentreppe
hinauf.) -- Spitta, Walburga, kommt mal herab.
Walburga und Spitta kommen.
Direktor Hassenreuter
zu Walburga, die ihn fragend ansieht.
Geh auf deinen Kontorbock. Setz dich auf deinen humoristischen
Körperteil! -- Na, und Sie, lieber Spitta, was wollen Sie noch?
Spitta
Sie hatten gerufen, Herr Direktor.
Direktor Hassenreuter
Gut. Sehen Sie mir ins Angesicht!
Spitta
Bitte.
Er tut es.
Direktor Hassenreuter
Ihr macht einen dumm! Aber mich sollt ihr nicht dumm machen! Still! --
Kein Wort! Ich hätte mich von Ihnen eines anderen versehen, als eines so
exemplarischen Beweises von Undankbarkeit! -- Still! -- Im übrigen war
ein Herr hier! er fürchtet sich! Vorwärts! Gehen Sie ihm nach! --
Begleiten Sie ihn auf die Straße hinunter. Suchen Sie ihm begreiflich zu
machen, daß ich nicht Euer Schuhputzer bin.
Spitta
zuckt die Achseln, nimmt seinen Hut, geht ab.
Direktor Hassenreuter
schreitet energisch auf Walburga zu und zieht sie am Ohr.
Und du meine Liebe, du bekommst Ohrfeigen, wenn du mit diesem Schlingel
von verkrachtem Theologen noch jemals ohne meine Erlaubnis zwei Worte
sprichst.
Walburga
Au au, Papa.
Direktor Hassenreuter
Dieser Wicht, der mit Vorliebe schafsdumme Gesichter macht, als ob er
kein Wässerchen trüben könnte, und dem ich den Zutritt in mein Haus zu
eröffnen so unvorsichtig war, ist leider ein Mensch, hinter dessen Maske
die unverschämteste Frechheit lauert. Ich und mein Haus, wir dienen dem
Geiste der Wohlanständigkeit. Willst du den Schild unserer Ehre
beflecken, etwa wie die Schwester von diesem Burschen, die zur Schande
ihrer Eltern, wie es scheint, in Gasse und Gosse geendigt ist?
Walburga
Über Erich bin ich nicht deiner Ansicht, Papa.
Direktor Hassenreuter
Was?! Nun jedenfalls kennst du meine Ansicht! und weißt, einen Appell
gegen meine Ansichten gibt es nicht! Du gibst ihm den Laufpaß oder
siehst selber zu, wo du außerhalb deines Elternhauses mit deinem ehr-
und pflichtvergessenen lockeren Lebenswandel durchkommen wirst! Dann
fort mit dir! von solchen Töchtern mag ich nichts wissen!
Walburga
bleich, finster.
Du sagst ja immer Papa, du hast dir deinen Weg auch ohne deine Eltern
selbständig suchen müssen.
Direktor Hassenreuter
Du bist kein Mann.
Walburga
Gewiß nicht. Aber denke doch mal an Alice Rütterbusch.
Vater und Tochter sehen einander fest in die Augen.
Direktor Hassenreuter
Wieso? -- Bist du heiß? was? oder bist du irrsinnig? -- (Er lenkt ab,
merklich aus dem Konzept und pocht an die Bibliothek.) -- Wo blieben wir
stehen? Setzen Sie ein.
Kegel und Käferstein erscheinen.
Kegel, Käferstein
deklamieren.
»Weisere Fassung
ziemet dem Alter.
Ich, der Vernünftige
grüße zuerst.«
Geführt von Spitta erscheint die Piperkarcka, straßenmäßig
gekleidet, und Frau Kielbacke, die einen Säugling im Steckkissen
trägt.
Direktor Hassenreuter
Was wollen Sie? Mit was für Weibsleuten überlaufen Sie mich?
Spitta
Es ist nicht meine Schuld, Herr Direktor, die Frauen wollten zu Ihnen
hinein.
Frau Kielbacke
Nee. Wir wollen man bloß Frau Mauerpolier John sprechen.
Die Piperkarcka
Ist doch immer bei Sie hier oben, Frau John?!
Direktor Hassenreuter
Ja! Aber ich fange an zu bedauern, daß das so ist, und wünschte
jedenfalls, daß sie ihre privaten Empfänge nicht hier bei mir, sondern
unten bei sich erledigt. Sonst richte ich nächstens vor der Tür
Selbstschüsse oder Fußangeln ein. -- Wo fehlt's Ihnen eigentlich, bester
Spitta? Sie müssen jetzt schon die Gnade haben und diese Damen nach
unten zurechtweisen.
Die Piperkarcka
Unten in ihre Wohnung war nich zu finden, Frau John.
Direktor Hassenreuter
Hier oben bei uns ist sie auch nicht zu finden.
Frau Kielbacke
Det junge Freilein hat nämlich ihr Söhneken bei die Frau Mauerpolier
John in Flege jehat.
Direktor Hassenreuter
Freut mich! Ohne Umstände los! Retten Sie mich, Käferstein.
Frau Kielbacke
Nun is 'n Herr von de Stadt als wie vormundschaftswechen, nachsehn
jekomm: wie't steht mit det Kind und det jut versorcht und in Stande is.
Und denn is er, denn sind wir bei Frau John mitsamt den Herrn sind wir
rinjejang. Denn stand det Kind und 'n Zettel bei, det Frau John hier
oben uf Arbeet is.
Direktor Hassenreuter
Wo ist das Kind in Pflege gewesen?
Frau Kielbacke
Bei de Frau Mauerpolier John.
Direktor Hassenreuter
ungeduldig.
Das ist vollkommen blödsinnig! Das ist unrichtig! -- Hätten Sie doch
lieber den alten humorvollen Herrn begleitet, dem ich Sie nachgesendet
habe, Spitta, statt mir diese Damen hier auf den Hals zu ziehn.
Spitta
Ich suchte den Herrn, aber er war schon verschwunden.
Direktor Hassenreuter
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