Die Ratten: Berliner Tragikomödie - 4

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Walburga
Ach, wenn es bloß das wäre! Ich war stolz auf Papa! Und jetzt muß ich
zittern, wenn du es wüßtest, ob du uns überhaupt noch achten kannst.
Spitta
Ich und verachten! Ich wüßte nicht, was mir weniger zukäme, gutes Kind.
Sieh mal: ich will mit Offenheit gleich mal vorangehn. Eine sechs Jahr
ältere Schwester von mir war Erzieherin, und zwar in einem adligen
Hause. Da ist etwas passiert ... und als sie im Elternhaus Zuflucht
suchte, stieß mein christlicher Vater sie vor die Tür. Er dachte wohl:
Jesus hätte nicht anders gehandelt! Da ist meine Schwester allmählich
gesunken, und nächstens werden wir beide mal nach dem kleinen
sogenannten Selbstmörderfriedhof bei Schildhorn gehn, wo sie schließlich
gelandet ist.
Walburga
umarmt Spitta.
Armer Erich, davon hast du ja nie ein Wort gesagt.
Spitta
Das ist eben nun anders: ich spreche davon. Ich werde auch hier mit Papa
davon sprechen und wenn es darüber zum Bruche kommt. -- Du wunderst dich
immer, wenn ich erregt werde, und wenn ich mich manchmal nicht halten
kann, wo ich sehe, wie irgendein armer Schlucker mit Füßen gestoßen
wird, oder wenn der Mob etwa eine arme Dirne mißhandelt. Ich habe dann
manchmal Halluzinationen und glaube am hellichten Tage Gespenster, ja
meine leibhaftige Schwester wiederzusehn.
Pauline Piperkarcka, ebenso wie früher gekleidet, tritt ein. Ihr
Gesichtchen erscheint bleicher und hübscher geworden.
Die Piperkarcka
Jun Morchen.
Frau John
hinter dem Verschlage.
Wer ist denn da?
Die Piperkarcka
Pauline, Frau John.
Frau John
Pauline? -- Ick kenne keene Pauline.
Die Piperkarcka
Pauline Piperkarcka, Frau John.
Frau John
Wer? -- Denn wachten Se man 'ne Minute, Pauline.
Walburga
Adieu, Frau John.
Frau John
erscheint vor dem Verschlage, schließt sorgfältig den Vorhang
hinter sich.
Jawoll! Ick ha mit det Freilein wat zu verabreden. Seht ma, det ihr
'naus uf de Straße kommt.
Spitta und Walburga schnell ab. Frau John schließt die Tür hinter
beiden.
Frau John
Sie sind et, Pauline? Wat wollen Se denn?
Die Piperkarcka
Wat werde wollen? Et hat mir herjetrieben. Habe nich länger warten
können. Muß sehn, wie steht.
Frau John
Wat denn? Wat soll denn stehn, Pauline?
Die Piperkarcka
mit etwas schlechtem Gewissen.
Na, ob jesund is, ob jut in Stand.
Frau John
Wat soll denn jesund? wat soll denn in Stande sind?
Die Piperkarcka
Dat sollen woll wissen von janz alleine.
Frau John
Wat soll ick denn von alleene wissen?
Die Piperkarcka
Ob Kind auch nich zujestoßen is.
Frau John
Wat for'n Kind? un wat zujestoßen? Reden Se deitsch! Se blubbern ja man
keen eenziget richtiget deitsches Wort aus de Fresse raus.
Die Piperkarcka
Wenn ick nur sagen, was wahr is, Frau John.
Frau John
Na wat denn?
Die Piperkarcka
Mein Kind ...
Frau John
haut ihr eine gewaltige Backpfeife.
... Det sache nochmal, un denn kriste so lange den Schuh um de Ohren,
bis et dir vorkommt, det du 'ne Mutter von Drillinge bist. Nu raus! Un
nu laß dir nich wieder blicken!
Die Piperkarcka
will fort. Rüttelt an der Tür, die aber verschlossen ist.
Hat mir jeschlagen, zu Hilfe, zu Hilfe! Brauche mir nich jefallen zu
lassen! -- (weinend) -- Aufmachen! Hat mir mißhandelt, Frau John!
Frau John
vollkommen umgewandelt, umarmt Pauline, sie so zurückhaltend.
Pauline, um Jottet willen, Pauline! Ick weeß nich, wat in mir jefahren
hat! Sein Se man jut, ick leiste ja Abbitte! Wat soll ick tun? Pauline,
soll ick fußfällig uf de Knie, Pauline, Pauline! Abbitte tun?
Die Piperkarcka
Was haben mir ins Jesicht jeschlagen? Ick jehe zu Wache und zeigen an,
det mir hier ins Jesicht jeschlagen hat. Ick zeigen an, ick gehen zu
Wache.
Frau John
hält ihr Gesicht hin.
Da! hauste mir wieder in't Jesicht! denn is et jut! denn is er
verjlichen.
Die Piperkarcka
Ick jehe zu Wache ...
Frau John
Denn is et verjlichen. Ick sache, Mächen, denn is et, Mächen, sag ick,
akkurat mit de Wage verjlichen! Wat wiste nu, Mächen? Nu jeradezu.
Die Piperkarcka
Wat soll mich nützen, wenn Backe jeschwollen is.
Frau John
haut sich selbst ein Backenstreich.
Da! Meine Backe is och jeschwollen. Mächen, hau zu, und jeniere dir
nich. -- Un denn komm, denn raus, watte uf 'n Herzen hast. Ick will
mittlerweile ... ick koche inzwischen for Sie und for mir, Freilein
Pauline, 'n rechten juten Bohnenkaffee, Jott weeß et, und keene
Zichorientunke.
Die Piperkarcka
weicher.
Warum sin denn auf einmal so niederträchtig und jrob zu mich armes
Mächen, Frau John?
Frau John
Det is et! det mecht ick alleene wissen! Komm Se, Pauline, setzen sich.
So! Scheenecken sag ick! Setzen sich! Scheen, det Se mich ma besuchen
komm! Wat ha ick von meine Mutter deswechen schon for Schmisse jekricht,
ick bin doch aus Brickenberch jebürtig! weil ick mir manchmal ja nich
jekannt habe. Die hat mehr wie eemal zu mich jesacht: Mädel paß uf: du
machst dir ma unglücklich. Det kann och sin, det se recht haben dut. Wie
jeht's, Pauline, wat machen Se denn?
Die Piperkarcka
legt Scheine und Silbergeld, die Handvoll, ohne zu zählen, auf
den Tisch.
Hier is det Jeld: ick brauchen ihm nicht.
Frau John
Ick weeß doch von keenen Jelde, Pauline.
Die Piperkarcka
Oh, werden woll janz jut wissen von Jeld! Et hat mir jebrannt. Et war
mich wie Schlange unter Kopfkissen ...
Frau John
I wo denn ...?
Die Piperkarcka
Is vorjekrochen, wo ick müde bin einjeschlafen. Hat mir jepeinigt, hat
mir umringt! hat mir jequetscht, wo ick habe laut aufjeschrien und meine
Wirtin hat mir jefunden, wo ick fast abjestorben, längelang auf Diele
jelegen bin.
Frau John
Lassen Se det man jut sind, Pauline! -- Trinken Se erst ma 'n kleenen
Schnaps! -- (Sie gießt ihr Kognak ein.) -- Un dann essen Se erst ma 'n
Happen-Pappen: mein Mann hat jestern Jeburtstag jehat.
Sie holt einen Streußelkuchen, von dem sie Streifen schneidet.
Die Piperkarcka
I wo denn, ick mag nich essen, Frau John.
Frau John
Det stärkt, det dut jut, det mussen Se essen! Aber ick muß mir doch
freuen, Pauline, det Se doch wieder mit Ihre jute Natur bei Ihre Kräfte
jekommen sin.
Die Piperkarcka
Nu will ick et aber mal sehn, Frau John.
Frau John
Wat denn, Pauline? Wat woll'n Se denn sehn?
Die Piperkarcka
Hätt' ick laufen jekonnt, wär' ick früher jekomm. Das will jetzt sehn,
warum jekommen bin.
Frau John, deren fast kriechende Freundlichkeiten von angstvoll
bebenden Lippen gekommen sind, erbleicht auf eine unheilverkündende
Weise und schweigt. Sie geht nach dem Küchenschrank, reißt die
Kaffeemühle heraus und schüttet heftig Kaffeebohnen hinein. Sie
setzt sich, quetscht die Kaffeemühle energisch zwischen die Knie,
faßt die Kurbel und starrt mit einem verzehrenden Ausdruck
namenlosen Hasses zur Piperkarcka hinüber.
Frau John
So? -- Ach! -- Wat wißte sehen? -- Wat wißte nu jetzt uf eemal sehn? --
Det, det wat te hast mit deine zwee Hände erwürchen jewollt.
Die Piperkarcka
Ick? --
Frau John
Wißte noch liechen? Ick werde dir anzeigen.
Die Piperkarcka
Nu haben mir aber jenug jequält und bis auf't Blut jemartert, Frau John.
Mir nachjestellt! mir Schritt und Tritt nich Ruhe jelassen. Bis haben
Kind auf Oberboden auf Haufen alter Lumpen zu Welt jebracht. Mich
Hoffnung jemacht, mich schlechten Spitzbubenjungen Angst jemacht. Mich
Karten jelegt von wegen mein Bräutigam un weiterjehetzt, bis bin wie
verrückt jeworden.
Frau John
Det bist du och noch! Jawoll: du bist janz und jar verrückt! Wat, ick
hab dir jequält? Wat hab ick? Ick habe dir aus 'n Rinnstein jelesen! Ick
hab dir jeholt bei Schneejestöber, bei de Normaluhr, wo de hast mit
verzweifelte Ochen -- un wie de hast ausjesehen! -- hintern
Lanternanzünder herjestarrt. Jawoll: denn ha ick dir nachjestellt, det
dir der Schutzmann, det dir der jrüne Wagen, det dir der Deibel nich hat
holen jekonnt! Ick habe dir keene Ruhe jelassen, ick ha dir jemartert,
bis det de nich sollst mit dein Kind unterm Herzen in't Wasser jehn. --
(Äfft ihr nach.) -- Ick jeh im Landwehrkanal, Mutter John! Ick erwürche
det Kind! Ick ersteche det Wurm mit meine Hutnadel! Ick jeh, ick lauf,
wo der Lump von Vater sitzen un Zither spielen dut, mitten in't Lokal,
und schmeiß ihn det tote Kind vor die Fiße. Det haße jesacht, so haste
jesprochen, so jing et den lieben langen Dach, un manchmal de halbe
Nacht noch dazu, bis ick dir hab hier ins Bette jebracht un so lange
jestreichelt, det de bist endlich einjeschlafen un bist mittags um
zwölf, wie die Glocken von alle Kirchen jeläut't haben, an andern Dache
erst wieder ufjewacht. Jawoll, so ha ick dir angst jemacht, wieder
Hoffnung jemacht, so ha ick dir keene Ruhe jelassen! Haste det allens
verjessen! wat?
Die Piperkarcka
Aber et is doch mein Kind, Mutter John ...
Frau John
schreit.
Denn hol et dir aus'n Landwehrkanale!
Sie springt auf, läuft umher und nimmt bald diesen, bald jenen
Gegenstand in die Hand, um ihn sogleich wieder wegzuwerfen.
Die Piperkarcka
Soll ick mein Kind nich ma sehen dürfen?
Frau John
Spring in't Wasser un such et! denn haste et! Weeß Jott, ick halte dir
nu weiter nich.
Die Piperkarcka
Jut! Mejen mich schlajen, mejen mir prügeln, mejen mir schmeißen
Wasserflasche an Kopp: eh' nich weiß wo Kind is, eh' nich haben mit
Augen jesehn, bringen mich keiner und niemand von Stelle fort.
Frau John
einlenkend.
Pauline, ick ha et in Flege jejeben!
Die Piperkarcka
Lieche! Ick hör et doch schmatzen, wo et janz jenau hintern Vorhang is!
-- (Das Kind hinter dem Tapetenverschlag beginnt zu schreien. Die
Piperkarcka eilt auf den Vorhang zu, dabei nicht ohne falsche Note, ein
wenig pathetisch weinerlich rufend): -- Weine nicht, armes, armes
Jungchen, jutes Mutterchen kommen schon!
Frau John
fast von Sinnen, ist vor den Eingang gesprungen, den sie der
Piperkarcka verstellt.
Die Piperkarcka
ohnmächtig wimmernd, mit geballten Fäusten.
Soll mir jetzt zu mein Kinde reinlassen.
Frau John
furchtbar verändert.
Sieh mir ma an, Mächen! Mächen, sieh mir ma in't Jesicht! -- Jlobst du,
det mit eene, die aussieht wie ich ... det mit mir noch zu spaßen is? --
(Die Piperkarcka hat wimmernd Platz genommen.) -- Setz dir! flenne!
wimmere! bis dir, ick weß nich wat ... jammere, bis det dir die Jurjel
verschwollen is! det, wenn de hier rin willst -- denn bist du tot oder
ick bin tot -- un denn is och det Jungchen nich mehr am Leben!
Die Piperkarcka
erhebt sich entschlossen.
Denn jeben acht, was jeschehen, Frau John.
Frau John
wiederum einlenkend.
Pauline, die Sache is zwischen uns richtig un abjemacht. Wat wollen Se
sich mit det Kindchen behängen, wo jetzt mein Kindeken und in beste
Hände jeborjen is? Wat wollen Se denn mit det Kindeken ufstellen? Jehn
Se zu Ihren Breitijan! da sollen Se woll mit den Besseres zu tun haben
als Kinderjeschrei, Kindersorchen und Kimmernis.
Die Piperkarcka
Erst recht! Nu jerade! Nu muß er mir heiraten! -- Haben alle ... hat
Frau Kielbacke, als ick mir mussen haben behandeln lassen, zu mich
jesacht. Soll nich nachjeben! Muß mir heiraten. Auch Standesbeamte gab
mich Rat. Hat jesacht, janz wütend, als ick haben erzählt, wohin
jekrochen un habe Kind auf Dachboden Welt jebracht ... schreit janz
wütend: ick muß nich nachlassen. Hat jesacht: arme jeschundene Kreatur
zu mich, Tasche jejriffen, Taler zwei Jroschen Jeld jeschenkt. Jut!
lasse mir weiter nich ein, Frau John. Adje! Bin bloß jekommen, sowieso,
daß morjen nachmittag fünf zu Hause sind. Warum? weil morjen
einjesetzter Pfleger von Jemeinde nachsehn kommt. Ick werde mir weiter
hier noch rumärgern.
Frau John
starr, entgeistert.
Wat? du hast et jemeld uf't Standesamt?
Die Piperkarcka
Etwa nich? Ick soll woll Jefängnis komm?
Frau John
Wat hast du jemeldet beim Standesbeamten?
Die Piperkarcka
Sonst janischt, als det mit Knaben niederjekommen bin. Ick hab mir
jeschämt, o Jott! bin über un über rot jeworden! Mir is, ick sink jleich
in de Erde rin.
Frau John
So! -- Wenn de dir so jeschämt hast, Mächen, warum haste's denn aber
anjezeigt?
Die Piperkarcka
Weil mich meine Wirtin und och Frau Kielbacke, wo mich hinjeführt hat,
mich partout nich Ruhe jejeben.
Frau John
So! -- Denn wissen se't also uf't Standesamt?
Die Piperkarcka
Na ja, det mussen se wissen, Frau John.
Frau John
... Aber ha ick dir dat nich einjeschärft ...? ...
Die Piperkarcka
Det muß man melden! Soll ick denn abjeführt Untersuchung und Plötzensee
gesteckt?
Frau John
Ick ha doch jesacht: ick jeh et anmelden.
Die Piperkarcka
Habe jleich bei Standesbeamte jefracht. Is keene jekommen hat anjemeldt.
Frau John
Un wat haste nu also anjejeben?
Die Piperkarcka
Daß Aloisius Theophil heißen soll un daß bei Sie, Frau John, in Pflege
is.
Frau John
Un morjen will eener nachsehn komm?
Die Piperkarcka
Det is een Herr von de Vormundschaft. Was is denn weiter? Nun sin doch
ruhig un sin vernünftig. Haben mich wirklich vorher Schrecken in alle
Jlieder jejagt.
Frau John
abwesend.
Nu freilich: det is nu nich mehr zu ändern. Det is ja nu och in
Jottesnamen nu jroß weiter nischt.
Die Piperkarcka
Gelt, un kann nu mein Kindchen auch sehn, Frau John.
Frau John
Heute nich! Morjen, morjen, Pauline.
Die Piperkarcka
Warum nich heut?
Frau John
Weil det det Beschreien nich jut dut, Pauline! Also morjen, um Uhre
fünfen nachmittag?
Die Piperkarcka
Steht jeschrieben, sagt mir Wirtin, daß Herr von die Stadt, Uhren fünfen
morjen nachsehn kommt.
Frau John
indem sie die Piperkarcka hinausschiebt und selbst mit hinausgeht,
im Tone der Abwesenheit.
Jut so. Laß er man kommen, Mächen.
Frau John ist einen Augenblick auf den Flur hinausgetreten und kommt
ohne die Piperkarcka wieder herein. Sie ist seltsam verändert und
geistesabwesend. Sie tut einige hastige Schritte gegen die
Verschlagstür, steht jedoch plötzlich wieder still mit einem
Gesichtsausdruck vergeblichen Nachsinnens. Dieses Grübeln
unterbricht sie, heftig gegen das Fenster zu eilend. Hier wendet sie
sich und wieder erscheint der hilflose Ausdruck schwerer
Bewußtlosigkeit. Langsam, wie eine Nachtwandlerin, tritt sie an den
Tisch und läßt sich daran nieder, das Kinn in die Hand stützend. Nun
erscheint Selma Knobbe in der Tür.
Selma
Mutter schläft, Frau John. Ick ha solchen Hunger. Kann ick 'n Happen
Brot kriejen?
Frau John erhebt sich mechanisch und schneidet ein Stück von einem
Laib Brot, wie unter dem Einfluß einer Suggestion.
Selma
der die Verfassung der Frau auffällt.
Ick bin's! -- Wat is denn? -- Schneiden sich man bloß nich etwa mit
Brotmesser.
Frau John
mit trockenem Röcheln, das sie mehr und mehr überwältigt, indem
sie Brot und Brotmesser willenlos auf den Tisch gleiten läßt.
Angst! -- Sorje! -- Da wißt Ihr nischt von!
Sie zittert und sucht einen Halt, um nicht umzusinken.


Dritter Akt

Alles wie im ersten Akt. Die Lampe brennt. Auf dem Gange schwaches
Ampellicht.
Direktor Hassenreuter gibt seinen drei Schülern, Spitta, Dr. Kegel
und Käferstein, dramatischen Unterricht. Er selbst sitzt am Tisch,
öffnet fortgesetzt Briefe und schlägt skandierend mit dem Falzbein
auf den Tisch. Vorn stehen auf der einen Seite Kegel und Käferstein,
auf der anderen Spitta einander als beide Chöre der Braut von
Messina gegenüber. Ihre Füße befinden sich innerhalb eines Schemas
aufgestellt, das mit Kreide auf den Fußboden gezeichnet ist und
diesen in die vierundsechzig Felder des Schachbretts einteilt. Auf
dem Kontorbock am Stehpult sitzt Walburga, in ein großes Kontobuch
eintragend. Im Hintergrund, wartend, steht der Vizewirt oder
Hausmeister Quaquaro, ein vierzigjähriger, vierschrötiger Mensch,
der Inhaber eines wandernden Zirkus und, als Athlet, Hauptmitglied
desselben sein könnte. Seine Sprache ist tenorhaft guttural. Er
trägt Schlafschuhe. Die Beinkleider durch einen gestickten Gürtel
gehalten. Ein offenes Hemd, nicht unsauber, ein leichtes Jackett und
die Mütze in der Hand.
Dr. Kegel und Käferstein
mit gewaltiger Pathetik.
»Dich begrüß ich in Ehrfurcht,
Prangende Halle,
Dich, meiner Herrscher
Fürstliche Wiege,
Säulengetragenes herrliches Dach.
Tief in der Scheide« ...
Direktor Hassenreuter
schreit wütend.
Pause! Punkt! Punkt! Pause! Punkt! Sie drehen doch keinen Leierkasten!
Der Chor aus der Braut von Messina ist doch kein Leierkastenstück! »Dich
begrüß ich in Ehrfurcht« nochmal von Anfang an, meine Herren! »Dich
begrüß ich in Ehrfurcht, prangende Halle!« Etwa so, meine Herren! »Tief
in der Scheide ruhe das Schwert.« Punktum! »Herrliches Dach« wollt' ich
sagen: punktum! Meinethalben fahren Sie fort.
Dr. Kegel und Käferstein
»Tief in der Scheide
Ruhe das Schwert,
Vor den Toren gefesselt
Liege des Streits schlangenhaarigtes Scheusal.
Denn ...
Direktor Hassenreuter
wie vorher.
Halt! Wissen Sie nicht, was ein Punkt bedeutet, meine Herren? Haben Sie
denn keine Elementarkenntnisse? »Schlangenhaarigtes Scheusal.« Punkt!
Denken Sie sich einen Pfahl eingerammt: halt! Punkt! Alles ist
totenstille! als wenn Sie gar nicht mehr in der Welt wären, Käferstein!
Und dann raus mit der Posaunenstimme aus der Brust! Halt! Um Gottes
willen nicht lispeln! -- »Denn ...« weiter! los!
Dr. Kegel und Käferstein
»Denn des gastlichen Hauses
Unverletzliche Schwelle
Hütet der Eid, der Erinnyen Sohn ...«
Direktor Hassenreuter
springt auf, brüllt, läuft umher.
Eid, Eid, Eid, Eid!! Halt! Wissen Sie nicht, was ein Eid ist,
Käferstein? »Hütet der Eid!! -- der Erinnyen Sohn.« Der Eid ist der
Erinnyen Sohn, Dr. Kegel! Stimme heben! Tot! Das Publikum, bis zum
letzten Logenschließer, ist eine einzige Gänsehaut! Schauer durchrieselt
alle Gebeine! Passen Sie auf: »Denn des Hauses Schwelle hütet der Eid!!!
-- der Erinnyen Sohn, der furchtbarste unter den Göttern der Hölle!« --
-- Nicht wiederholen, weiter im Text! Sie können sich aber jedenfalls
merken, daß ein Eid und ein Münchner Bierrettich zwei verschiedene Dinge
sind.
Spitta
deklamiert.
»Zürnend ergrimmt mir das Herz im Busen ...«
Direktor Hassenreuter
Halt! -- (Er läuft zu Spitta und biegt an seinen Armen und Beinen herum,
um eine gewünschte tragische Pose zu erzielen.) -- Erstlich fehlt die
statuarische Haltung, mein lieber Spitta. Die Würde einer tragischen
Person ist bei Ihnen auf keine Weise ausgedrückt. Dann sind Sie nicht,
wie ich ausdrücklich verlangt habe, von Feld I D mit dem rechten Fuß auf
II C getreten! Endlich wartet Herr Quaquaro: unterbrechen wir einen
Augenblick! -- (Er wendet sich an Quaquaro.) -- So, jetzt steh' ich zu
Diensten, Herr Vizewirt! das heißt, ich habe Sie bitten lassen, weil mir
leider, wie sich bei der Inventur herausstellt, mehrere Kisten mit
Kostümen abhanden gekommen, mit andern Worten gestohlen sind. Bevor ich
nun meine Anzeige mache, wozu ich natürlich entschlossen bin, wollte ich
erst mal Ihren Rat hören. Um so mehr, da sich auch sonst noch etwas, wie
soll ich sagen, eine sonderbare Bescherung, statt der verlornen
Kleiderkisten, in einem Winkel des Bodens angefunden hat: ein Fund, um
Virchow zu benachrichtigen. Erstlich ein blaukariertes Plumeau, wahrhaft
prähistorisch, und eine unaussprechliche Scherbe, deren Bestimmung im
ganzen harmlos, aber ebenfalls unaussprechlich ist.
Quaquaro
Herr Direkter, ick kann ja ma oben steigen.
Direktor Hassenreuter
Tun Sie das. Sie finden oben Frau John, die durch den Fund eigentlich
noch mehr wie ich selbst beunruhigt ist. Diese drei Herren, die meine
Schüler sind, lassen es sich partout nicht ausreden, daß da oben etwas
wie eine Mordgeschichte vorgefallen ist. Aber bitte: wir wollen keinen
Skandal schlagen.
Käferstein
Wenn bei meiner Mutter in Schneidemühl im Laden irgend etwas abhanden
kam, hieß es immer, das hätten die Ratten gefressen. Und wirklich, was
man in diesem Hause von Ratten und Mäusen sieht -- auf der Treppe hätt'
ich beinahe eine totgetreten! -- warum sollten Kisten und
Theatergarderobe, Seide schmeckt süß! nicht ebenfalls von ihnen vertilgt
worden sein?
Direktor Hassenreuter
Geschenkt, geschenkt! Alle weiteren Schnittwarenladen-Phantasien, ha ha
ha ha! sind Ihnen geschenkt, bester Käferstein. Es fehlt nur noch, daß
Sie uns Ihre Gespenstergeschichten nochmals auftischen, vom
Kavalleristen Sorgenfrei, der sich nach Ihrer Behauptung seinerzeit, als
das Haus noch Reiterkaserne war, mit Sporen und Schleppsäbel auf meinem
Boden erhangen hat. Und daß Sie den noch in Verdacht nehmen.
Käferstein
Sie können den Nagel noch sehn, Herr Direktor.
Quaquaro
Det wird in janzen Hause rum erzählt von den Soldat, namens Sorjenfrei,
der sich irgendwo hier oben in Dachstuhl mit 'ne Schlinge jeendigt hat.
Käferstein
Die Tischlersfrau auf dem Hof und eine Mäntelnäherin aus dem zweiten
Stock haben ihn wiederholt bei hellichtem Tage aus dem Dachfenster
nicken und militärisch stramm heruntergrüßen gesehn.
Quaquaro
Een Unteroffizier hat dem Soldaten Sorjenfrei ja woll eene Dunstkiepe
jenannt und 'n aus Feez eene 'rinjelangt. Det hat sich der Dämlack zu
Herzen jenomm.
Direktor Hassenreuter
Ha ha ha! Militärmißhandlungen und Geistergeschichten! Diese Verquickung
ist originell, aber zur Sache gehört sie nicht. Ich nehme an, der
Diebstahl oder was sonst in Frage kommt, ist während jener elf oder
zwölf Tage vor sich gegangen, als ich in Geschäften im Elsaß gewesen
bin. Also sehen Sie sich die Geschichte mal an und, bitte, Sie werden
mir nachher Bescheid sagen!
Der Direktor wendet sich seinen Schülern zu. Quaquaro steigt über
die Bodentreppe und verschwindet in der Bodenluke.
Direktor Hassenreuter
Allright, bester Spitta: schießen Sie los.
Spitta
rezitiert nur sinngemäß und ohne Pathos.
»Zürnend ergrimmt mir das Herz im Busen,
Zu dem Kampf ist die Faust geballt,
Denn ich sehe das Haupt der Medusen,
Meines Feindes verhaßte Gestalt.
Kaum gebiet' ich dem kochenden Blute
Gönn' ich ihm die Ehre des Worts?
Oder gehorch' ich dem zürnenden Mute?
Aber mich schreckt die Eumenide,
Die Beschirmerin dieses Orts,
Und der waltende Gottesfriede.«
Direktor Hassenreuter
hat sich niedergelassen und lauscht, den Kopf in die Hand
gestützt, voll Ergebenheit. Erst einige Sekunden, nachdem Spitta
geendet hat, blickt er wie zu sich kommend auf.
Sind Sie fertig, Spitta?! -- Ich danke sehr! --
Sehen Sie, lieber Spitta, ich bin nun Ihnen gegenüber wieder mal in die
allerverzwickteste Lage geraten: entweder, ich sage Ihnen frech ins
Gesicht, daß ich Ihre Vortragsart schön finde -- und dann habe ich mich
der allerniederträchtigsten Lüge schuldig gemacht! oder ich sage, ich
finde sie scheußlich, und dann haben wir wieder den schönsten Krach.
Spitta
erbleichend.
Ja, alles Gestelzte, alles Rhetorische liegt mir nicht. Deshalb bin ich
ja von der Theologie abgesprungen, weil mir der Predigerton zuwider ist.
Direktor Hassenreuter
Da wollen Sie wohl die tragischen Chöre wie der Gerichtsschreiber ein
Gerichtsprotokoll oder wie der Kellner die Speisekarte herunterhaspeln?
Spitta
Ich liebe überhaupt den ganzen sonoren Bombast der Braut von Messina
nicht.
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  • Die Ratten: Berliner Tragikomödie - 10
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