Die Ratten: Berliner Tragikomödie - 2

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nicht! Nur vergessen Sie nicht, wer vor Ihnen steht. Deshalb, wenn der
Hofschauspieler Jettel -- na wenn schon! -- gnädigst zu pfeifen geruhen,
springt der Direktor Harro Hassenreuter noch lange nicht. _Sapristi!_
wenn irgendein Komödiant einen schäbigen Turban oder zwei alte
Transtiefel braucht, muß sich ein _pater familias_, ein Familienvater
den einzigen Sonntagnachmittag unter den Seinen abknapsen? Soll
womöglich wie 'n Tackel auf allen Vieren in alle Bodenwinkel hinein?
Nein, Freundchen, da müßt Ihr Euch andere aussuchen.
Nathanael Jettel
sehr ruhig.
Könnten Sie mir nicht sagen, Direktor, wer Ihnen in Gottes Namen auf die
Krawatte getreten hat?
Direktor Hassenreuter
Mein Junge, ich habe noch vor kaum einer Stunde die Beine unterm Tisch
eines Prinzen gehabt: _post hoc, ergo propter hoc!_ -- Ich setze mich
Ihretwegen in einen verfluchten Omnibus und kutsche in diese verfluchte
Gegend ... wenn Sie meine Gefälligkeit nicht zu würdigen wissen: scheren
Sie sich!
Nathanael Jettel
Sie haben mich auf vier Uhr hierher bestellt. Sie haben mich eine volle
geschlagene Stunde in dieser entsetzlichen Mietskaserne, auf diesem
lieblichen Korridore unter dem Kinderpöbel warten lassen ... Ich habe
gewartet, Ihnen nicht den geringsten Vorwurf gemacht! und jetzt sind Sie
geschmackvoll genug, mich als eine Art Spucknapf zu betrachten ...
Direktor Hassenreuter
Mein Junge ...
Nathanael Jettel
In's Teufels Namen, der bin ich nicht! Eher mache ich Sie zu meinem
Hanswurst und lasse Sie für sechs Groschen Purzelbaum schießen!
Er nimmt entrüstet Hut und Stock und geht.
Direktor Hassenreuter
stutzt, bricht dann in ein tolles Gelächter aus und schreit
hinter Jettel her:
Machen Sie sich nicht lächerlich! -- Und übrigens bin ich kein
Maskenverleiher.
Man hört die Flurtür ins Schloß knallen.
Direktor Hassenreuter
zieht die Uhr.
-- Rindvieh verdammtes! -- Schafskopf verfluchter! -- Ein Segen, daß das
Rindvieh, verdammte, gegangen ist!
Er steckt die Uhr ein, zieht sie gleich darauf wiederum und lauscht.
Hierauf geht er unruhig hin und her, bleibt stehen, blickt in den
Zylinderhut, dessen Inneres einen Spiegel enthält, und kämmt sich
sorgfältig. Er tritt an den Mitteltisch und öffnet einige von den
Briefschaften, die dort gehäuft liegen. Dazu singt er trällernd:
»O Straßburg, o Straßburg,
du wunderschöne Stadt.«
Abermals sieht er nach der Uhr. Plötzlich geht die Türschelle über
seinem Kopf.
Direktor Hassenreuter
Auf die Minute! Was doch die Dinger, wenn es drauf ankommt, pünktlich
sind!
Er eilt und öffnet die Flurtür, jemand laut und fröhlich begrüßend.
Die Trompetentöne seiner Stimme werden bald von glöckchenartigem
Lachen einer weiblichen akkompagniert. Sehr bald erscheint der
Direktor wieder, von einer eleganten jungen Dame begleitet, Alice
Rütterbusch.
Direktor Hassenreuter
Alice! Kleine Alice! Komm erst mal näher, kleine Alice! Komm mal ans
Licht! Ich muß doch sehen, ob du noch dieselbe kleine, schockscharmante,
tolle Alice aus den besten Tagen meiner reichsländischen
Direktionsperiode bist!? Mädel, ich hab' dich ja gehen gelehrt! ich hab
deine ersten Schritte gegängelt ... das Sprechen! Du sagtest ja immer
Cheef statt Chef! Ha ha ha! Hoffentlich hast du das nicht vergessen.
Alice Rütterbusch
Schaun's Direktor, Sie glauben doch net, daß i undankbar bin?
Direktor Hassenreuter
nimmt ihr den Schleier ab.
Mädel, du bist ja noch jünger geworden!
Alice Rütterbusch
hochrot, beglückt.
Da müßt einer auch gehörig daher lügen, wenn einer behaupten wollt, daß
du dich zum Nachteil verändert hast. Aber weißt, arg finster hast's bei
dir oben und a bissel -- Harro, wenns d' mechst a Fenster aufmachen! --
so a bissel a schwere Luft.
Direktor Hassenreuter
Pillycock saß auf Pillycocks Berg!
»Doch Mäus' und Ratten und solch Getier
Aß Thoms sieben Jahr lang für und für.«
Im Ernst, ich hab' finstere und schwere Zeiten durchgemacht! Du wirst ja
schließlich, trotzdem ich dir lieber nichts geschrieben habe, liebe
Alice, davon unterrichtet sein.
Alice Rütterbusch
Das war aber net grad, weißt, sehr freindschaftlich, daß d' mir auf alle
die sauberen und langen Brief kein Wörtel geantwort' hast.
Direktor Hassenreuter
Wozu, ha ha ha, einem kleinen Mädchen antworten, wenn man genug mit sich
selber zu tun hat und in keiner Beziehung was nützen kann? Sessa! _E
nihilo nihil fit!_ Das heißt auf Deutsch: aus nichts kann nichts werden!
Motten und Staub! Staub und Motten! ha ha ha! Das ist alles, was ich von
meiner deutschen Kulturarbeit an der westlichen Grenze geerntet habe.
Alice Rütterbusch
Du hast also den Fundus net an den Direktor Kurz abgetreten.
Direktor Hassenreuter
»O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt.« Nein, meine Kleine,
ich habe den Fundus nicht in Straßburg gelassen! Dieser ehemalige
Kellner, Kneipwirt und Pächter von anrüchigen Tanzlokalen, der mein
Nachfolger wurde ... dieser Kretin, dieser _bête imbécil_, wollte den
Fundus nicht! -- Sessa, den Fundus hab' ich nicht dort gelassen: dafür
aber vierzigtausend Mark sauerverdientes Geld, von Gastspielreisen aus
meiner Mimenzeit! außerdem fünfzigtausend Mark zugebrachtes Vermögen
meiner braven Frau. Sessa! -- Übrigens, daß ich den Fundus behielt, war
ein Glück für mich. -- Da! -- Ha ha ha! Diese Kerle hier ... -- (er
berührt einige der Geharnischten) -- du kennst sie doch? ...
Alice Rütterbusch
I kenn' doch meine Pappenheimer.
Direktor Hassenreuter
Nun also: diese Pappenheimschen Kerle hier, und was drum und dran
baumelt, haben den alten Lumpensammler und Maskenverleiher Harro
Eberhard Hassenreuter nach seiner Hedschra tatsächlich über Wasser
gehalten! -- Aber reden wir lieber von heiteren Dingen: ich habe mit
Vergnügen aus der Zeitung ersehen, daß du von Exzellenz für Berlin
engagiert werden wirst.
Alice Rütterbusch
I mach mir nix draus! I möcht lieber bei dir spielen, und das mußt mir
versprechen, wanns du wieder eine Direktion ibernehmen tust ... das
versprichst mir, daß i augenblickli kontraktbrüchig werden kann! -- (Der
Direktor bricht in Lachen aus.) -- I hab mi drei Jahre lang gnua auf die
Provinzschmieren rumgeärgert. Berlin mag i net! und a Hoftheater schon
lang net. Jessas die Leit! das Komödiespielen! -- Weißt, i g'hör zum
Fundus, i hab immer bloß daher g'hört! --
Sie nimmt unter den Pappenheimern Aufstellung.
Direktor Hassenreuter
Ha ha ha ha! Also komm, du getreuer Pappenheimer.
Er öffnet die Arme weit, sie fliegt hinein, und beide begrüßen
einander mit einigen lange anhaltenden Küssen.
Alice Rütterbusch
Geh Harro, jetzt sagst mir: was macht deine Frau?
Direktor Hassenreuter
Therese geht's gut, außer daß sie trotz Kummer und Sorgen von Tag zu Tag
dicker wird. -- Mädel, Mädel, wie du duftest! -- (Er drückt sie an
sich.) -- Weißt du auch, daß du teufelsmäßig gefährlich bist?
Alice Rütterbusch
Meinst, daß i blöd bin? Freili bin i gefährlich.
Direktor Hassenreuter
Sakra!
Alice Rütterbusch
Meinst, i sollt mir in der schönen Gegend, drei Stiegen hoch, unter an
muffigen Dach, mit dir a Rendezvous geben, wann ich net wißt, daß das
für uns zwei, ans wie's andere, gefährlich is. Ibrigens hab' i ja, Gott
sei Dank, weil i halt immer a Glück haben muß, wann i schon amal auf
Schleichwegen geh, auf der Treppen den Nathanael Jettel troffen, bin dem
Herrn Hofschauspieler bei ei'm Haar direkt in die Arme g'rannt. Wird
schon sorgen, daß das nicht unter uns bleibt, daß i di b'sucht hab.
Direktor Hassenreuter
Ich muß das Datum verschrieben haben: der Mensch behauptet, ha ha ha,
ich hätte ihn ganz ausdrücklich für heut nachmittag herbestellt.
Alice Rütterbusch
Das war aber net etwa die einzige Bassermannsche Gestalt, der i auf die
sechs Treppenabsätz begegnet bin, und was mir die lieben kleinen
Kinderln, die auf die Stufen rumkugeln, nachgeschrien haben, das is
dermaßen unparlamentarisch, das is von solche Kröten, noch net drei Käs'
hoch sind, schon die allergrößte Gemeinheit, die mir noch vorkommen is.
Direktor Hassenreuter
lacht, wird dann ernst.
Ja, siehst du: daran gewöhnt man sich: was so hier in diesem alten
Kasten mit schmutzigen Unterröcken die Treppe fegt und überhaupt
schleicht, kriecht, ächzt, seufzt, schwitzt, schreit, flucht, lallt,
hämmert, hobelt, stichelt, stiehlt, treppauf treppab allerhand dunkle
Gewerbe treibt, was hier an lichtscheuem Volke nistet, Zither klimpert,
Harmonika spielt -- was hier an Not, Hunger, Elend existiert und an
lasterhaftem Lebenswandel geleistet wird, das ist auf keine Kuhhaut zu
schreiben. Und dein alter Direktor, _last not least_, rennt, ächzt,
seufzt, schwitzt, schreit und flucht, ha ha ha, wie der Berliner sagt,
immer mitten mang mit. Ha ha ha, Mädel, mir ist es recht dreckig
gegangen.
Alice Rütterbusch
Weißt ibrigens, wen i, wie i grad auf den Bahnhof Zoologischer Garten
zusteuer, troffen hab? Den alten guten Fürst Statthalter hab i troffen.
Und sixt, unverfroren wie i amal bin, bin i zwanzig Minuten lang neben
ihm hergschwenkt und hab ihn in an langen Diskurs verwickelt und, auf
Ehre, Harro, wie ich dir sag, so is es buchstäblich tatsächlich
g'schegn. Auf'n Reitweg is plötzlich Majestät mit großer Suite
vorübergritten. I denk, i versink! Und hat übers ganze Gesicht gelacht
und Durchlaucht so mit dem Finger gedroht. Aber g'freit hab i mi, das
kannst mir glauben. Aber jetzt kommt d'Hauptsach. Jetzt paß auf. -- Ob i
mi freun tät, hat mi Durchlaucht plötzli g'fragt, und ob i wieder nach
Straßburg mecht, wann der Direkter Hassenreuter das Theater tät wieder
übernehmen. Na weißt: beinah hab i an Sprung getan!
Direktor Hassenreuter
Er wirft seinen Überzieher ab und steht in seinen Orden da.
Du hast wahrscheinlich bemerken müssen, daß die kleine Durchlaucht
vorzüglich gefrühstückt hat. Sessa! Wir haben zusammen gefrühstückt. Wir
haben ein exquisites kleines Herrenfrühstück beim Prinzen Ruprecht
draußen in Potsdam gehabt. Ich leugne nicht, daß sich vielleicht eine
Wendung zum Guten im miserablen Geschicke deines Freundes vorbereitet.
Alice Rütterbusch
Liebster, wie a Staatsmann, wie a Gesandter, siehst du ja aus.
Direktor Hassenreuter
Ah, du kennst diese Brust voll hoher und höchster Orden noch nicht!?
Klärchen und Egmont! Hier magst du dich satt trinken! --
Neue Umarmung.
_Carpe diem!_ genieße den Tag! Sekt, kleine Naive, steht allerdings auf
dem jetzigen Repertoire deines alten Direktors, Erweckers und Freundes
nicht! -- (Er öffnet eine Truhe und entnimmt ihr eine Flasche Wein.) --
Aber dieser Stiftswein ist auch nicht von Pappe! -- (Er zieht den
Korken. Die Türschelle geht.) -- Was? -- Pst! -- Wer hat denn die
ungeheure Dreistigkeit, am Sonntag nachmittag hier anzuklingeln? -- (Es
klingelt stärker.) -- Kleine, zieh dich doch mal in die Bibliothek
zurück. -- (Alice eilt in die Bibliothek ab. Es klingelt wieder.) --
Donnerwetter noch mal, der Kerl ist ja irrsinnig. -- (Er eilt nach der
Tür.) -- Gedulden Sie sich oder scheren Sie sich! -- (Man hört ihn die
Tür öffnen.) -- Wer? Wie? »Ich bin's, Fräulein Walburga?« Was? Fräulein
Walburga bin ich nicht. Ich bin nicht die Tochter! Ich bin der Vater!
Ach, Sie sind's, Herr Spitta! Gehorsamer Diener, ich bin der Vater! Ich
bin der Vater! Was wünschen Sie denn?
Im Gange erscheint wiederum der Direktor, geleitet von Erich Spitta,
einem einundzwanzigjährigen jungen Menschen, der Brille und Zwicker
trägt und übrigens scharfe und nicht unbedeutende Züge hat. Spitta
gilt als Kandidat der Theologie und ist entsprechend gekleidet. Er
hält sich nicht gerade, und seiner Körperentwicklung ist die
Studierstube und mangelhafte Ernährung anzumerken.
Direktor Hassenreuter
Wollten Sie meiner Tochter Walburga hier auf dem Speicher Privatstunde
geben?
Spitta
Ich fuhr im Pferdebahnwagen vorüber und glaubte wirklich, ich hätte
Fräulein Walburga unten durch das Portal in's Haus eilen sehen.
Direktor Hassenreuter
Gar keine Ahnung, mein lieber Spitta. Meine Tochter Walburga ist
augenblicklich mit ihrer Mutter in der englischen Kirche, ich glaube, zu
einem liturgischen Gottesdienst.
Spitta
Dann verzeihen Sie vielmals, wenn ich gestört habe. Ich nahm mir die
Freiheit, heraufzukommen, weil ich mir sagte: eine Begleitung in dieser
Gegend, vielleicht auf dem Rückwege nach dem Westen, wäre Fräulein
Walburga am Ende nicht unangenehm.
Direktor Hassenreuter
Wohl, wohl, aber sie ist nicht hier, bester Spitta. Ich bedauere sehr.
Ich selber bin nur zufällig hier: der Post wegen! und ich habe auch
leider andere dringende Sachen vor. -- Wünschen Sie sonst was, mein
guter Spitta?
Spitta putzt seinen Kneifer und gibt Zeichen von Verlegenheit.
Spitta
Man gewöhnt sich nicht gleich an die Dunkelheit.
Direktor Hassenreuter
Sie benötigen vielleicht Ihr Stundengeld. Schade: ich habe leider die
Gewohnheit, nur mit einem Notpfennig in der Westentasche auf die Straße
zu gehn. Ich muß Sie schon bitten, sich zu gedulden, bis ich wieder in
meiner Wohnung bin.
Spitta
Hat durchaus keine Eile, Herr Direktor.
Direktor Hassenreuter
Ja, das sagen Sie so: aber ich bin ein gehetztes Wild, guter Spitta ...
Spitta
Und doch möchte ich, da ich dieses Zusammentreffen wirklich als eine Art
höherer Fügung ansehen muß, um eine Minute Ihrer kostbaren Zeit bitten.
Dürfte ich, kurz, eine Frage tun?
Direktor Hassenreuter
mit den Augen auf der Uhr, die er gezogen hat.
Genau eine Minute. Die Uhr in der Hand, bester Spitta.
Spitta
Frage und Antwort wird, denk' ich, kaum von so langer Dauer sein.
Direktor Hassenreuter
Also los!
Spitta
Habe ich wohl Talent zum Schauspieler?
Direktor Hassenreuter
Um Gottes willen, Mensch, sind Sie denn irrsinnig? -- Verzeihen Sie,
bester Herr Kandidat, wenn ich in einem solchen Fall bis zur
Unhöflichkeit außer dem Häuschen bin. Es heißt zwar _natura non facit
saltus_, aber Sie haben da einen unnatürlichen Sprung gemacht. Da muß
ich mal erst zu Atem kommen. Und nun Schluß davon! Denn glauben Sie mir,
wenn wir beide jetzt über diese Frage zu diskutieren anfangen, so würden
wir in drei bis vier Wochen, sagen wir Jahren, darüber noch nicht zum
Schluß gekommen sein.
Sie sind doch Theologe, mein Bester, und stammen aus einem Pastorhaus:
wie kommen Sie denn auf solche Gedanken? wo Sie doch Konnexionen haben
und Ihnen die Wege zu einer behaglichen Existenz geebnet sind.
Spitta
Ja, das ist eine lange innere Geschichte, eine lange Geschichte schwerer
innerer Kämpfe, Herr Direktor, die allerdings bis zu dieser Stunde nur
mir bekannt und also absolutes Geheimnis gewesen sind. Da hat mich das
Glück in Ihr Haus geführt und von diesem Augenblick an fühlte ich, wie
ich dem wahren Ziel meines Lebens näher und näher kam.
Direktor Hassenreuter
mit peinlicher Ungeduld.
Das ehrt mich. Das ehrt mich und meine Familie! -- (Er legt ihm die
Hände auf die Schulter.) -- Dennoch muß ich Ihnen jetzt die ganz
inständige Bitte vortragen, von der Erörterung dieser Angelegenheit im
Augenblicke abzusehen. Meine Geschäfte sind unaufschieblich.
Spitta
Dann möchte ich nur noch so viel hinzusetzen, damit Sie wissen, daß ich
absolut fest entschlossen bin.
Direktor Hassenreuter
Aber mein lieber Herr Kandidat: wer hat Ihnen denn diese Raupen in den
Kopf gesetzt? Ich habe mich über Sie gefreut. Habe Sie schon im Geist
Ihres friedlichen Pfarrhauses wegen beneidet. Gewissen literarischen
Ambitionen, die einem hier in der Großstadt anfliegen, habe ich keinen
Wert beigelegt. Das ist nur so nebenbei und verliert sich zweifellos
wieder bei ihm, dachte ich mir! -- Mensch, und nun wollen Sie Komödiant
werden? Kurz: Gnade Gott, wenn ich Ihr Vater wär! Ich würde Sie bei
Wasser und Brot einsperren und Sie nicht eher herauslassen, als bis
Ihnen jede Erinnerung an diese Torheit entschwunden wäre. _Dixi!_ und
nun adieu, guter Spitta.
Spitta
Einsperren oder irgendeine andere Gewaltmaßregel würde bei mir durchaus
nichts helfen, fürcht ich.
Direktor Hassenreuter
Aber Mensch: Sie wollen Schauspieler werden? Mit Ihrer schiefen Haltung,
mit Ihrer Brille und vor allem mit Ihrem heiseren und scharfen Organ
geht das doch nicht.
Spitta
Wenn es im Leben solche Käuze gibt, wie ich, warum soll es
nicht auch auf der Bühne solche Käuze geben? Und ich bin der
Ansicht, ein wohlklingendes Organ, womöglich verbunden mit der
Schiller-Goethisch-Weimarischen Schule der Unnatur, ist eher schädlich,
als förderlich. Die Frage ist nur: würden Sie mich, wie ich nun einmal
bin, als Schüler annehmen?
Direktor Hassenreuter
zieht hastig seinen Sommerpaletot über.
Nein! denn erstens ist meine Schule auch nur eine Schule
Schillerisch-Goethisch-Weimarischer Unnatur! Zweitens könnte ich es vor
Ihrem Herrn Vater nicht verantworten! Und drittens zanken wir uns so
schon genug, jedesmal nach den Privatstunden, die Sie in meinem Hause
geben, beim Abendbrot. Das würde dann bis zur Prügelei ausarten. Und nun
Spitta: ich muß auf die Pferdebahn.
Spitta
Mein Vater ist bereits informiert. Ich habe ihm in einem zwölf Seiten
langen Brief Punkt für Punkt die Geschichte meiner inneren Wandlung
eröffnet ...
Direktor Hassenreuter
Sicherlich wird der alte Herr äußerst davon geschmeichelt sein! Mensch
und nun kommen Sie mit mir, ich werde sonst wahnsinnig.
Der Direktor zieht Spitta gewaltsam mit sich fort und hinaus. Man
hört die Tür ins Schloß fallen.
Es wird still bis auf das ununterbrochene Rauschen Berlins, das nun
lauter hervortritt. Nun wird die Bodenklappe geöffnet und Walburga
Hassenreuter steigt in wahnsinniger Hast, gefolgt von Frau John, die
Treppe herunter.
Frau John
flüsternd, heftig.
Wat is denn? Et is doch jar nischt jeschehn.
Walburga
Frau John, ich schreie! Ich muß gleich losschreien! -- Um Gottes willen,
ich kann gar nicht an mich halten, Frau John.
Frau John
Taschentuch mang die Zähne, Mächen! -- Et is ja jar nischt! Wat haste
dir denn?
Walburga
zähneklappernd, ihr Röcheln gewaltsam bezwingend.
Ich bin ja des Todes ... ich bin ja des Todes erschrocken, Frau John!
Frau John
Wenn ick man wißte, for wat du erschrocken bist?
Walburga
Haben Sie nicht diesen schrecklichen Menschen gesehn?
Frau John
Wat is denn da schrecklich? Det is doch mein Bruder! wo mich manchmal
bei Papans seine Sachen auskloppen helfen dut.
Walburga
Und das Mädchen, was mit dem Rücken am Schornstein sitzt und wimmert.
Frau John
Det is deine Mutter nich anders jejangen, eh det du zur Welt jekommen
bist.
Walburga
Ich bin hin. Ich bin tot, wenn Papa wiederkommt.
Frau John
Na denn sieh, det de fortkommst, und fackel nich lange.
Frau John begleitet die entsetzte Walburga den Gang hinunter und
läßt sie hinaus. Dann kommt sie wieder.
Frau John
Det Mächen weeß, Jott sei Dank, von hellichten Dache nischt.
Sie nimmt die entkorkte Weinflasche, gießt einen der Römer voll und
nimmt ihn mit auf den Boden, wo sie verschwindet. Kaum ist das
Zimmer leer, so erscheint der Direktor wieder.
Direktor Hassenreuter
noch an der Tür, singend.
»Komm herab, o Madonna Theresa!« -- (Er ruft.) -- Alice! -- (Noch immer
an der Tür.) -- Komm mal! Hilf mir mal die eiserne Stange mit dem
doppelten Schloß vor die Tür legen. -- Alice! -- (Er kommt nach vorn.)
-- Wer jetzt noch unsere Sonntagsruhe zu stören wagt: _anathema sit!_ --
Heda! Kobold! Wo steckst du, Alice? -- (Er wird auf die Weinflasche
aufmerksam und hebt sie in die Höhe.) -- Was? -- Halb leer? --
Schlingel! -- (Man hört eine hübsche weibliche Singstimme hinter der
Bibliothekstür sich in Koloraturen ergehen.) -- Ha ha ha ha! Himmel! sie
hat sich schon einen Schwips angetrunken.


Zweiter Akt

Die Wohnung der Frau John im zweiten Stock des gleichen Hauses, in
dessen Dachgeschoß der Fundus des Direktors Hassenreuter
untergebracht ist: ein weitläufiges, ziemlich hohes, graugetünchtes
Zimmer, das seine frühere Bestimmung als Kasernenraum verrät. Die
Hinterwand enthält eine zweiflügelige Tür nach dem Flur. Über ihr
ist eine Schelle angebracht, die von außen an einem Draht gezogen
werden kann. Rechts von der Tür beginnt eine etwas mehr als
mannshohe Tapetenwand, die geradlinig nach vorn geht, hier einen
rechten Winkel macht und wiederum geradlinig mit der rechten
Seitenwand verbunden ist. So ist eine Art von Verschlag abgeteilt,
über den einige Schrankgesimse hervorragen, und der das Schlafzimmer
der Familie ist.
Tritt man durch die Flurtüre ein, so hat man zur Linken ein Sofa,
überzogen mit Wachsleinwand. Es ist mit der Rücklehne an die
Tapetenwand geschoben. Diese ist über dem Sofa mit kleinen
Familienbildchen geschmückt. Maurerpolier John als Soldat, John und
Frau als Brautpaar usw. Vor dem Sofa steht ein ovaler Tisch, mit
einer verblichenen Baumwolldecke. Man muß von der Tür aus an Tisch
und Sofa vorübergehen, um den Zugang zum Schlafraum zu erreichen.
Dieser ist mit dem Sofa an einer Wand und mit einem Vorhang aus
buntem Kattun verschlossen.
An der nach vorn gekehrten Schmalwand des Verschlages steht ein
freundlich ausgestatteter Küchenschrank. Rechts davon, an der
wirklichen Wand, der Herd. Wie denn der hier verfügbare kleine Raum
vornehmlich zu Küchen- und Wirtschaftszwecken dienen muß.
Ein etwa auf dem Sofa Sitzender blickt gerade gegen die linke
Zimmerwand und zu den beiden großen Fenstern hinaus. Am vorderen
Fenster ist ein saubergehobeltes Brett als eine Art Arbeitstisch
angebracht. Hier liegen zusammengerollte Kartons (Baupläne), Pausen,
Zollstock, Zirkel, Winkelmaß usw. Am hinteren Fenster ein
Fenstertritt, darauf ein Stuhl und ein Tischchen mit Gläsern. Die
Fenster haben keine Gardinen, sind aber einige Fuß hoch mit buntem
Kattun bespannt.
Das ganze Gelaß, dessen dürftige Einrichtung ein alter Lehnstuhl aus
Rohr und eine Anzahl von Holzstühlen vervollständigt, macht übrigens
einen sauberen und gepflegten Eindruck, wie man es bei kinderlosen
Ehepaaren des öfteren trifft.
Es ist gegen fünf Uhr am Nachmittag, Ende Mai. Die warme Sonne
scheint durch die Fenster.
Maurerpolier John, ein vierzigjähriger, bärtiger, gutmütig
aussehender Mann, steht behaglich am vorderen Fenstertisch und macht
sich Notizen aus den Bauplänen.
Frau John sitzt mit einer Näharbeit auf dem Fenstertritt des anderen
Fensters. Sie ist sehr bleich, hat etwas Weiches und Leidendes an
sich, zugleich aber einen Ausdruck tiefer Zufriedenheit, der nur
zuweilen von einem flüchtigen Blick der Unruhe und der lauernden
Angst unterbrochen wird. An ihrer Seite steht ein Kinderwagen
(sauber, neu und nett), darin ein Säugling gebettet ist.
John
bescheiden.
Mutter, wie wär det, wenn ick det Fenster 'n Ritzen ufmachen däte und
ick machte mir dann 'n bißken de Pipe an?
Frau John
Mußte denn rauchen? sonst laß et man lieber.
John
I, ick muß ja nich, Mutter! Ick mechte bloß jern! Aber laß man! 'N
Priem, Mutter, tut et am Ende in selbijenjleichen och.
Er präpariert sich mit behaglicher Umständlichkeit einen neuen
Priem.
Frau John
nach einigem Stillschweigen.
Wat? Du mußt noch ma hin uft Standesamt?
John
Det hat er jesacht, det ick noch ma hin müßte und janz jenau anjeben ...
det ick det müßte janz jenau anjeben Ort und Stunde, wo det Kindchen
jeboren is.
Frau John
Nadel am Mund.
Warum haste denn det nich anjejeben?
John
Weeß ick et denn? Ick weeß et doch nich.
Frau John
Det weeßte nich?
John
Bin ick dabei jewesen?
Frau John
Na, wenn de mir hier in meine Berliner Wohnung sitzen läßt und lichst
det janze jeschlagene Jahr in Altona, kommst hechstens ma monatlich mir
besuchen: wat wiste denn wissen, wat in deine Behausung vorjehn dut.
John
Wo soll ick nich jehn, wo der Meester de mehrschte Arbeet hat? Ick jeh
dorthin, wo ick schen verdiene.
Frau John
Ick ha et dir doch in Briefe jeschrieben, det unser Jungeken hier in de
Wohnung jeboren is.
John
Det weeß ick. Det hab ick ihm och jesacht! Det is doch janz natierlich,
hab ick jesacht, det et in meine Wohnung jeboren is. Da hat er jesacht:
det is jar nich natierlich! Na denn, sach ick, mag et meinswegen uf'n
Oberboden bei de Ratten und Mäuse jewesen sind! So kreppte ick mir, weil
er doch sachte, det et womeglich jar nich sollte in meine eijene Wohnung
sind jewesen. Denn schrie er: wat sind det for Redensarten! Wat? sag
ick: ick bin for Lohn un Brot! for Redensarten Herr Standesbeamter bin
ick nich! un nu sollte ick Tag und Stunde anjeben ...
Frau John
Ick hab et dir doch sojar jenau uf'n Zettel jeschrieben, Paul.
John
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