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Die Leute von Seldwyla — Band 2 - 21

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  Verhandlungen, öffentlichen Vorträgen und Festlichkeiten saß sie auf den
  vordersten Bänken, aber ohne daß sie Ruhe gefunden hätte oder das
  leiseste Lächeln auf ihr blasses Gesicht zurückgekehrt wäre. Die Unruhe
  trieb sie selbst wieder in einen musikalischen Verein, den sie seit
  lange verlassen, und sie sang ernsten Gesichtes und mit wohltönender
  Stimme, ohne jedoch die mindeste Fröhlichkeit zu erreichen. Der Arzt
  wurde sogar bedenklich und sagte aus, der melodisch vibrierende Klang
  ihrer Stimme lasse auf beginnende Brustkrankheit schließen und man müsse
  zusehen, daß sie sich schone.
  Alle fühlten wohl, was ihr fehle, wußten ihr aber nicht zu helfen und
  wurden unversehens selber hilfsbedürftig; denn es brach eine jener
  grimmigen Krisen von jenseits des Ozeans über die ganze Handelswelt
  herein und erschütterte auch das Glorsche Haus, welches so fest zu
  stehen schien, mit so plötzlicher Wut, daß es beinahe vernichtet wurde
  und nur mit großer Not stehen blieb. Schlag auf Schlag fielen die
  Unglücksberichte innerhalb weniger Wochen und machten den stolzen
  Menschen die Nächte schlaflos, den Morgen zum Schrecken und die langen
  Tage zur unausgesetzten Prüfung. Große Warenmassen lagen jenseits der
  Meere entwertet, alle Forderungen waren so gut wie verloren und das
  angesammelte Vermögen schwand von Stunde zu Stunde mit den
  hochprozentigen Papieren, in welchen es angelegt war, so daß zuletzt nur
  noch der Grundbesitz und einiges in alten Landestiteln bestehende
  Stammvermögen vorhanden war. Aber auch dieses sollte dahingeopfert
  werden, um die eigenen Verbindlichkeiten zu erfüllen, welche im
  Augenblicke des Sturmes bei dem großen Verkehre gerade bestanden.
  Die Männer rechneten und sprachen miteinander bleich und still Tage und
  Nächte lang, und die Hausordnung schien erstarrt zu sein. Die
  Dienstboten arbeiteten ohne Befehl und bereiteten das Essen, aber
  niemand aß oder wußte, was er aß. Die Uhren liefen ab und wurden
  kummervoll aufgezogen, nachdem sie tagelang still gestanden. Die Zeit
  mußte dann zusammengesucht werden, wie man in der Finsternis ein
  Lichtlein am andern anzündet, um sehen zu können. Einige junge Kätzchen,
  welche bis zum Tage des Unglücks der Zeitvertreib und das Spiel von alt
  und jung gewesen waren, wurden plötzlich gar nicht mehr gesehen und
  zogen sich mit ihren kleinen Sprüngen schüchtern in einen Winkel zurück,
  und als nach geraumer Zeit einige Seelenruhe wieder in das Haus gekommen
  war, wunderten sich alle, daß die Katzen unter ihren Augen auf einmal
  groß geworden seien.
  Als es hieß, daß, wenn die Ehre des Hauses gerettet und alle Schulden
  bezahlt sein werden, nicht eines Talers Wert mehr im Besitze der Familie
  bleibe und sie, gänzlich verarmt, von neuem anfangen müßten, stand die
  Frau Gertrud, die Stauffacherin, und schlotterte an ihrem ganzen Leibe;
  sie mußte niedersitzen.
  Justine dagegen, Schreck und Furcht vor der Armut im Herzen, faßte
  sogleich Gedanken der Selbsthilfe. Sie wollte mit ihren Kenntnissen
  augenblicklich in die Welt hinaus und nicht nur sich selbst, sondern
  auch Vater und Mutter erhalten, und sie entwarf abenteuerliche Pläne mit
  fiebriger Hast.
  Allein nun trat die Mutter wiederum auf und erklärte, daß sie einen
  guten Teil des Vermögens als Weibergut beanspruche, um das Haus zu
  retten und ein ferneres Bestehen möglich zu machen. Die Männer sollen
  mit den Gläubigern ein Abkommen treffen, wie das fast an allen Orten
  jetzt geschehe.
  Die Männer schüttelten finster die Köpfe und sagten, das könnten und
  wollten sie nicht tun; lieber wollen sie arm werden und auswandern und
  in anderm Lande Tag und Nacht arbeiten, um wieder zu etwas zu kommen.
  Doch die Stauffacherin hatte jetzt ihre Kraft und Beredsamkeit wieder
  gewonnen; sie bestand auf ihrer Meinung und zeigte an mehreren
  Beispielen, wie durch solch ein besonnenes Verfahren der Sturm
  überstanden, die Zukunft gerettet und später auch jede billige
  Verpflichtung noch gelöst und zu Ehren gezogen worden sei.
  Alles dieses war gewissermaßen noch das Geheimnis des Hauses. Die vielen
  Arbeiter kamen nach wie vor mit ihren Geweben und Gespinsten und
  erhielten ihren Lohn und neue Arbeit, weil jede Entschließung angstvoll
  hinausgeschoben wurde. Mit jedem Tage längerer Zögerung wankten die
  Männer mehr in ihrem Vorsatze strenger Pflichterfüllung, bei welcher sie
  als wahrhaft Freie vor niemandem die Augen niederzuschlagen brauchten.
  Schon war die Stauffacherin im Begriffe, obzusiegen und in der festen
  Überzeugung, daß sie nur im besten Rechte handle, denn sie besaß ein
  Weibergut; da stiegen aber die Alten vom Berge herunter, der Ehgaumer
  und seine Frau, um gegen die Machenschaft aufzutreten und sie zu
  verhindern. Der Alte konnte nicht sprechen, weil er von dem den Kindern
  widerfahrenen Unheil, selber stark am Besitze hängend, angegriffen war.
  Er setzte sich hustend auf einen Stuhl und hieß die Alte reden.
  Diese legte ein Bündel vergilbter Pfandbriefe auf den Tisch und sagte,
  da brächten sie, die Alten, was sie erhauset, um den guten Namen retten
  zu helfen; aber es müßten alle Schulden bezahlt werden und keine
  Machenschaft mit dem Frauenvermögen dürfe stattfinden. Sie sprach mit so
  beredten und starken Worten, daß sie in ihrer weißen Zipfelhaube die
  wahre Stauffacherin zu sein schien und die letztere sich weinend ans
  Fenster stellte.
  Solcher Kleinmut wurde ihr von der Alten verwiesen, die aber
  gleichzeitig bemerkte, daß in dem wohleingerichteten Zimmer, wo die
  ganze Familie sich eben befand, das Klavier und die Spiegeltische mit
  Staub bedeckt waren; und unverweilt begann sie, denselben mit ihrem
  Schnupftuche abzuwischen.
  Die Familie entschloß sich zu der strengen, gegen sich selbst harten
  Handlungsweise und blieb in Frieden und Ansehen. Der freie Grundbesitz
  wurde verpfändet und der Geschäftsverkehr nicht unterbrochen; allein zur
  Zeit waren alle Glieder des Hauses arm, wie die Kirchenmäuse, und keines
  hatte einen Franken für etwas Unnötiges oder für eine Liebhaberei
  auszugeben.
  So fiel auch die Vorsteherschaft und der Glanz Justinens in Kirche und
  Gesellschaft dahin und sie hielt sich still und beschämt im verborgenen.
  Sie ertrug aber diese gänzliche Mittellosigkeit nicht und verschaffte
  sich im geheimen, nach Art verarmter Frauen aus der oberen Schicht,
  allerlei feine weibliche Handarbeit, um einiges Taschengeld zu
  verdienen. Sie wußte dabei nicht, daß sie der ganz hilflosen Witwe, der
  verlassenen Waise, die sich auf gleiche Weise kümmerlich nährte, das
  Brot vor dem Munde wegnahm, um ihrem Triebe nach Besitz genug zu tun. Je
  merklicher sich die bescheidenen Geldsümmchen vermehrten, welche sie so
  erwarb, desto eifriger und fleißiger war sie bei der Arbeit, die sie mit
  ihrer Energie und Geschicklichkeit in beträchtlicher Menge an sich zog
  und bewältigte, also daß die Leute, welche die Ware bestellten und
  verkauften, ihr von derselben kaum genug zuwenden konnten und sie
  anderen entziehen mußten.
  Die unausgesetzte Beschäftigung war ihr umso lieber, als sie während der
  Arbeit ihren schweren Gedanken entweder nachhängen oder dieselben
  zerstreuen, die schwachen Hoffnungen auf ein wiederkehrendes Glück
  erwägen konnte. Die Mutter war mit im Geheimnis; sie hatte in ihrem
  Stolze zuerst dagegen angekämpft; doch als sie in Justinens Erwerb für
  sich selbst auch die Mittel fand, manche Nebenausgabe zu bestreiten, für
  die sie die Kasse der ängstlich und verdrossen arbeitenden Männer nicht
  mehr anzusprechen wagte, fügte sie sich leicht dem Sinne der Tochter.
  Allein Vater und Brüder wurden endlich aufmerksam; sie wunderten sich,
  wo die vielen Stickereien und Strickarbeiten eigentlich blieben, die
  unaufhörlich zu stande kamen und gerieten schließlich hinter das
  Geheimnis. Nun wollten sie aber, während sie sich alle Entbehrungen
  auferlegten und ihre Wagen, Luxuspferde und dergleichen alles verkauft
  hatten, doch nicht für Leute gelten, die nicht mehr vermöchten, ein paar
  Weiber zu erhalten, und fanden es ungehörig, daß diese selber um
  Handarbeit ausgingen, indessen arme Arbeiterinnen solche im Hause
  suchten und fanden.
  Die Sache wurde daher mit Entschiedenheit unterdrückt, Justine
  angewiesen, für ihre Bedürfnisse, wie früher, das Nötige zu verlangen
  und sich keinen Zwang anzutun; denn sie wisse ja, daß sie um diesen
  Preis nicht feil sei. Justine jedoch konnte in ihrem gefangenen Sinn
  nicht über die Frage hinwegkommen. Sie verfiel immer mehr in die kranke
  Sucht nach Selbständigkeit, welche die Frauen dieser Zeit durchfiebert
  wegen der etwelchen Unsicherheit, in welcher die Männer die Welt halten.
  Sie grübelte und brütete und entwarf zuletzt den Plan, anderwärts als
  Lehrerin ein Unterkommen zu suchen. Wenn sie dabei an die Hauptstadt mit
  ihren zahlreichen Schulanstalten dachte, so wirkte die stille Hoffnung
  mit, dort eher ihrem Manne wieder begegnen zu können als im Elternhause,
  wo jetzt härter über ihn geurteilt wurde als früher, obwohl bekannt war,
  daß es ihm nun gut gehe.
  Kaum war dieser Entschluß gefaßt, so zögerte sie nicht, ihn auszuführen,
  und begab sich zu dem Pfarrer, um dessen Rat und Vermittlung zu finden.
  Erst auf dem Wege nach dem Pfarrhof fiel ihr ein und auf, daß der
  geistliche Herr, der sonst ein Freund des Hauses gewesen, seit dem
  Unfall, der es betroffen, nie mehr in demselben erschienen war, daß er
  auch niemandem gemangelt und niemand daran gedacht hatte, sich ihm
  mitzuteilen und seinen Trost zu hören.
  Eine fröstelnde Empfindung durchschauerte sie, als sie ferner plötzlich
  bedachte, daß sie selber seit mehreren Monaten nicht mehr in der von ihr
  geschmückten Kirche gewesen sei. Sie stand still und suchte sich den
  seltsamen Zustand zurechtzulegen, aber es gelang ihr nicht in der
  Schnelligkeit. Umso rascher eilte sie wieder vorwärts, wie um Licht zu
  gewinnen.
  Im Pfarrgarten traf sie die Gattin des Geistlichen, eine unbeachtete
  Frau, welche gelassen Petersilie pflückte, und vernahm von ihr, daß er
  soeben vom Besuche eines Sterbenden zurückgekehrt sei und etwas unwohl
  scheine. Doch möge Justine nur hinaufgehen, ihr Besuch werde ihn gewiß
  freuen. Unverweilt eilte sie nach seinem Studierzimmer und trat, wie sie
  gewohnt war, nach kräftigem Klopfen rasch ein.
  Er saß erschöpft und bleich in seinem Lehnstuhl und stützte den Kopf auf
  die Hand. Als er sich wandte und aufstand, schien er ihr auch abgemagert
  und leidend zu sein.
  »Sie sehen,« sagte der Pfarrherr, nachdem er Justinen begrüßt, »daß ich
  auch nicht in guten Schuhen stecke, und das mag Ihnen erklären, warum
  ich mich so lange nicht habe blicken lassen. Ich bin in der Tat, mehr
  als Sie denken, im gleichen Spitale krank, wie Sie und die Ihrigen!«
  Als Justine sich verwundert eine deutlichere Auskunft erbat, fuhr er
  fort: »Ich habe reich werden wollen und habe daher im Umgange mit den
  Ihrigen, in Ihrem Hause, gelauscht und mir gemerkt, auf welcherlei Weise
  die Vermögenssummen dort verwendet werden; ich habe mir die
  Handelspapiere aufgeschrieben, von welchen der größte Gewinn erwartet
  wurde, und ich habe die Operationen, die ich machen sah, im geheimen
  nachgeäfft mit dem mäßigen Vermögen meiner Frau, und als ich ahnte, daß
  das Haus Glor erschüttert war, wußte ich zugleich, daß ich selbst alles
  verloren und das Erbe meiner Gattin und ihrer Kinder vergeudet und
  verspielt hatte. Sie weiß es noch nicht und ich darf es niemandem sagen,
  wenn ich nicht meinen Stand verunehren will. Aber Ihnen gegenüber, da
  Sie mir so unversehens erscheinen, drängt es mich zur Offenheit!«
  Justine war erschrocken; dieser neue Verlust machte ihr aufrichtigen
  Ärger und Verdruß, und sie sagte daher etwas unwillig: »Aber was in
  aller Welt hat Sie denn gezwungen, in Handelsgeschäften zu wagen, da Sie
  ein Pfarramt und Einkommen besitzen?«
  »Ich habe Ihnen gesagt,« erwiderte der Pfarrer mit Traurigkeit, »daß ich
  meinen Stand nicht bloßstellen dürfe durch das Eingestehen meiner
  lasterhaften Torheit, und ich gehöre diesem Stande innerlich nicht
  einmal mehr an, ich habe ihn verlassen und darum reich werden wollen, um
  unabhängig leben zu können! Nach jenem Unglücksabend, an welchem ich
  hier mit Ihrem Manne gestritten hatte, war mir ein Stachel im Herzen
  geblieben, den ich vergeblich hinausreden und wegtrotzen wollte. Ich
  sah, wie Jukundus bei allem Un- und Mißgeschick religiös so unbeirrt und
  unbescholten dahin wandelte, und ich konnte nicht umhin, alles zu
  überdenken und zu prüfen, was ich leider mit Beziehung auf die sittliche
  Seite der Sache in Ansehung des eigenen Herzens seit Jahren nicht mehr
  getan hatte. Ich fand, daß ich nicht religiös oder christlich mehr lebe
  und kein Priester mehr sei!
  »Ich mußte mir gestehen, daß ich jahraus, jahrein, sobald ich allein
  war, nicht den leisesten Trieb fühlte, des gekreuzigten Mannes zu
  gedenken, dessen Namen mein Lebensberuf trug und der mich ernährte, daß
  mein Herz und alle meine Sinne nur an der Welt und ihren
  Annehmlichkeiten, wenn Sie wollen, auch an ihren Mühen und Pflichten
  hing, aber ohne daß der leiseste Schauer eigener persönlicher Andacht,
  die geringste Furcht vor dem, den wir handwerksmäßig als unsern Herren
  und Erlöser verkündeten, an mich herantrat, sei es Tag oder Nacht
  gewesen.
  »Ja, wenn ich zuweilen noch, ohne vom Berufe dazu veranlaßt zu sein,
  der von mir für so geheiligt ausgegebenen Person Christi in der
  Einsamkeit gedachte, so geschah es mehr mit dem hochmütigen Sinn eines
  Schutzherrn, der sich etwa eines armen Teufels annimmt und ihm im
  Vertrauen sagt: »Lieber, du machst mir viele Mühe!«
  »Ich empfand endlich, daß ich ein beifallsdurstiger Wohlredner und
  Schwätzer geworden sei, ohne es zu merken; daß ich, wenn ich nicht den
  goldenen Schlüssel eines wirklichen jenseitigen Gotteswortes besaß, vom
  Geheimnis meines Nebenmenschen nicht mehr verstand und nicht mehr Gewalt
  über sein Gemüt hatte, als ein Kind, ja, daß ich wegen der Halbwahrheit
  und des Doppelsinns meiner Worte auch einem Kinde gegenüber in schlimmer
  Lage war.
  »Ich fing an, mich des gedankenlosen Beifalls zu schämen, der mir
  entgegengetragen wurde; dazu war es mir des Handwerks wegen unmöglich,
  meine Gedanken für mein stilles Inneres, für den eigenen Frieden zu
  ordnen, weil sich das mit der lauten Gewaltsamkeit und den Anforderungen
  des Standes nicht vertrug, und darum wollte ich ihn verlassen und meinen
  fadenscheinigen Reformatorenrock an den Nagel hängen.
  »Das ist mir nun unmöglich geworden, wenigstens für jetzt, weil ich
  mich, indem ich auf dem Wege des Reichtums fliehen wollte, sogar der
  Mittel beraubt habe, eine nährende Existenz mit einiger Sicherheit zu
  gründen.«
  Justine saß wie versteinert; sie war gekommen, Rat und Beistand zu
  holen, und sah wieder eine Stütze, einen Lebensinhalt dahinsinken; denn
  wie ein Blitz leuchtete es in sie hinein, wie es mit diesen Dingen stand
  und warum sie selbst im Unglück ihre bunte Kirche nicht gesucht hatte.
  Eine bittere Qual stieg in ihrer arbeitenden Brust auf; aber sie konnte
  derselben nicht nachgeben, weil ein noch stärkeres Mitgefühl jetzt
  gefordert wurde, als der Geistliche in Tränen ausbrach und sagte:
  »Heute ist mir nun das Äußerste widerfahren, ich bin von einem
  Sterbebette hinweggewiesen worden! Eine zähe Greisin ringt seit vielen
  Stunden mit dem Tode, welche eigensinnig alle ihre Kinder wiederzusehen
  hofft, besonders ihren im Elend gestorbenen ältesten Sohn. Ich komme
  hin, voll Sorgen und zerstreut, und halte, indem ich mich anschicke,
  meine selbstverfaßten, wie Sie wissen, etwas pantheistisch klingenden
  Sterbegebete zu verrichten, auf ihre an mich gerichteten Fragen nach der
  Gewißheit des ewigen Lebens haltlose, unsichere Reden, so daß die
  Sterbende mir den Rücken kehrt und die Umstehenden, vom Arzte
  unterstützt, mich zur Seite führen und leise ersuchen, meine
  seelsorgerische Funktion hier einzustellen.«
  Diesen Vorgang erzählte der Pfarrer mit abgebrochenen Worten und
  bedeckte am Schlusse das Gesicht mit seinem Taschentuche. Er war so
  erschüttert, weil keiner auch von einer unbeliebten Berufsart sich gerne
  nachsagen läßt, daß er sie nicht nach den Regeln der Kunst auszuüben
  verstehe.
  Auf die entsetzte Justine machte die Szene einen Eindruck, als ob sie
  einen Berg einstürzen sähe. Was ihr einen felsenfesten Bestand zu haben
  schien, sah sie wanken und vergehen mit dem Selbstvertrauen dieses
  Priesters und beim Anblick seiner Tempelflucht. Sie empfand wohl die
  drückende Wucht, welche in dem unscheinbaren, noch verborgenen Vorgang
  lag, der da, dort, an hundert Punkten vielleicht bald sich wiederholte,
  aber sie verstand dessen allgemeine Bedeutung nicht und fühlte nur den
  schmerzlichen Druck.
  Verwirrt, ratlos ging sie fort, ohne ihr Anliegen, das sie hergeführt,
  vorzubringen oder den Pfarrer mit Trostreden beruhigen zu wollen. Erst
  auf der Straße, je mehr sie die Äußerungen des Geistlichen überdachte
  und mit frühern vereinzelten Worten und Vorfallenheiten zusammenhielt,
  fing es sie recht an zu frieren. Sie ward inne, daß sie zunächst keine
  Kirche mehr hatte, und in ihrem Frauensinne, durch die Macht der
  Gewohnheit wurde es ihr zu Mut wie einer verirrten Biene, welche in der
  kalten Herbstnacht über endlosen Meereswellen schwebt. Vom Manne
  verlassen, das Gut verloren, und nun auch noch ohne kirchliche
  Gemeinschaft: das alles zusammen schien ihr einer fast ehrlos machenden
  Ächtung gleich zu kommen.
  Die Kirchenlosigkeit, so äußerlich ihre Kirchlichkeit gewesen, schien
  ihr alle übrige Mißwende einzuschließen und zu besiegeln, und
  merkwürdigerweise glaubte sie jetzt dem Pfarrer aufs erste Wort, daß
  nichts in seinem Tabernakel sei, während sie ihres Mannes Anschauungen
  nie hatte annehmen wollen, eben weil er keine geistliche Autorität für
  sie besaß.
  Sie wandelte lautlos nach Hause, nahm dort, um die nächste Stunde
  zuzubringen und auszufüllen, ein Strickzeug und setzte sich damit an ein
  Gartentor dicht an die Straße, wie um zu zeigen, daß sie noch da sei und
  sich nicht zu scheuen brauche. Aber sie sprach mit niemandem und sah
  bleich auf ihre Arbeit, während ihre Lippen mechanisch die Strickmaschen
  zählten.
  Der Abend nahte heran, auf dem still glänzenden See fuhren Schiffe
  heimwärts und auf der Straße wanderten Arbeitsleute vorüber, ohne daß
  Justine aufblickte, bis ein steinaltes Weiblein, welches mühselig daher
  gepilgert kam, vor ihr stillstand, um auszuruhen und Atem zu holen. Das
  Wesen trug einen hohen gelben Strohhut auf dem Kopfe, einen kurzen roten
  Rock und solche Strümpfe, auf dem gekrümmten Rücken ein weißes Säcklein
  und in der Hand einen Stab und stellte sich so als eine Pilgerin dar,
  die aus ferner Gegend kommend nach dem berühmten Wallfahrtsorte
  wanderte, der wenige Stunden weiter im Gebirge gelegen war.
  Als Justine sah, daß das Mütterchen kaum mehr stehen konnte, hieß sie
  dasselbe zu ihr auf die Bank sitzen. »Das will ich gern tun, wenn Ihr's
  erlaubt, schöne Frau!« sagte die Pilgerin und säumte nicht, sich neben
  ihr niederzulassen. Auch kramte sie sogleich in ihrem Reisesack und zog
  ein Stück Brot hervor, indem sie sich nach einem Brunnen umsah, der ihr
  einen Trunk Wasser dazu böte. Justine holte aber ein Glas guten alten
  Weines im Hause und gab es ihr, und sie labte sich vergnüglich daran.
  »Warum geht Ihr in Eurem Alter so allein auf der heißen, harten Straße,
  während alle andern Wallfahrer auf der Eisenbahn und den Dampfschiffen
  reisen und bequemlich beieinander sitzen?« fragte Justine.
  »Ei, das wäre ja kein Verdienst und kein Opfer für mich arme Sünderin!«
  antwortete die Pilgerin; »die andern, die reisen heutzutage mehr zur
  Lust und aus Vorwitz und verrichten allenfalls am Gnadenort ein
  nützliches Gebet. Ich aber wandere auf meinen alten Füßen zur
  allerseligsten Maria Mutter Gottes, und da bin ich nicht nur vor ihrem
  heiligen Altare bei ihr, sondern auf dem ganzen langen Wege begleitet
  sie mich auf jedem Schritt und Tritt und hält mich aufrecht, wenn ich
  sinken will, wie eine gute Tochter ihre alte schwache Mutter! Eben jetzt
  hat sie mir durch Eure weiße Hand diesen stärkenden Trunk gereicht! Wenn
  Ihr wüßtet, wie süß und lieb sie ist, wie schön, wie glänzend! Und
  welche Macht besitzt sie, welche Klugheit! Für alles weiß sie Rat und
  alles kann sie!«
  Während solcher Lobpreisung ließ das Mütterchen seinen Rosenkranz nicht
  einen Augenblick aus der Hand. Neugierig sah ihr Justine zu, wie sie
  fortwährend mit den Kugeln spielte, und verlangte zu wissen, in welcher
  Weise man ihn gebrauche und um die Hand wickle. Die Alte zeigte es ihr
  sogleich und wand ihr die ärmliche Kugelschnur um die Hände. Justine
  hielt diese einige Augenblicke nachdenklich gefaltet und schaute so in
  Gedanken verloren vor sich hin; dann schüttelte sie aber langsam den
  Kopf und gab der Pilgersfrau ihren Rosenkranz zurück, ohne ein Wort zu
  sagen.
  Das Pilgerweiblein wollte nun nicht länger ruhen, sondern noch ein gutes
  Stündlein weiter gehen, ehe es die Herberge aufsuchte, und so bedankte
  es sich, versprach für die gute schöne Frau ein Gebet zu verrichten, ob
  sie es wolle oder nicht, und wanderte auf den schwachen Füßen in den
  dämmernden Abend hinaus, so wohlgemut und sicher, wie wenn es zu Hause
  in seiner Stube herumginge.
  Justine lehnte sich zurück und sah der roten, schwankenden Gestalt nach,
  bis sie in dem blauen Schatten des Abends verschwand.
  »Katholisch!« rief sie, sich selbst vergessend, und versank wieder in
  tiefe suchende Gedanken; und sie schüttelte abermals das Haupt.
  Aber ihre obdachlose Frauenseele suchte fort und fort; sie ging
  ungegessen zu ihrem Lager und brachte schlaflos die Nacht zu. Sie konnte
  jetzt nicht einmal mehr sagen, sie sei arm wie eine Kirchenmaus, da sie
  nur mehr eine wilde Feldmaus war. In dieser Not erinnerte sie sich einer
  kleinen armen Arbeiterfamilie, einer Witwe mit ihrer Tochter, welche im
  Rufe einer ganz eigentümlichen Frömmigkeit standen und unter den
  armseligsten Umständen einer vollkommenen Zufriedenheit und Seelenruhe
  genossen, so daß der Pfarrer selbst, obgleich sie einer wie er sagte
  törichten und unwissenden Sekte angehörten, von ihnen geurteilt hatte,
  sie könnten ganz gut einen Begriff von den Urchristen der ersten Zeit
  geben. Die beiden Personen hatten früher in Schwanau gelebt und die
  Tochter hatte in den Glorschen Fabriksälen gearbeitet. Justine, welche
  eine gewisse Zuneigung zu den Leutchen empfunden, war zu verschiedenen
  Malen von dem Vorsatze, dieselben zu bekehren und für ihre artig
  eingerichtete und verständige Kirche zu gewinnen, unwillkürlich
  abgestanden, sobald sie an die Ausführung hatte gehen wollen; dann waren
  Mutter und Tochter aus der Gegend weg und in die Nähe der Hauptstadt
  gezogen, und jetzt beschloß die schlaflose Justine, sie aufzusuchen und
  das Geheimnis ihres Friedens und ihres Glaubens zu erforschen und ihrer
  Glückseligkeit teilhaftig zu werden, wenn es möglich wäre. Sie beschloß
  auch, das schon am nächsten Tage ins Werk zu setzen.
  
  Viertes Kapitel
  Am Morgen, der einen schönen Tag ansagte, stand Justine denn auch in
  aller Frühe auf und rüstete sich zum Wandern; denn sie wollte, obschon
  sie beinahe drei Stunden weit zu gehen hatte, demütig zu Fuß pilgern,
  angeregt ohne Zweifel von dem wallfahrenden Mütterchen und weil sie so
  am ehesten ihren Gedanken überlassen war. Sie zog ein Paar ihrer
  ehemaligen starken Vorsteherinnenschuhe an, welche ihr jetzt trefflich
  zu statten kamen, und belud sich auch mit einem Korbe, in welchem sie
  für die guten Urchristen eine Gabe barg, eine Flasche guter reiner
  Sahne, ein frisches Weizenbrot, ein Dütchen Schnupftabak für die
  Mutter, welche, wie sie wußte, trotz ihrer Weltentsagung gerne ein
  Prischen nahm, wenn sie es haben konnte und für die Tochter ein Paar
  gute neue Strümpfe. So schürzte sie ihr Kleid und begab sich auf den
  Weg, statt des Pilgerstabs freilich einen Sonnenschirm in der Hand, der
  ihr nebst dem breitrandigen Strohhut genugsam Schatten gab.
  Sie überlegte sich während des Gehens noch alles, was sie von den Frauen
  wußte, und befreundete sich immer mehr mit dem gefaßten Vorsatze.
  Die Mutter Ursula war als arme Dienstmagd in die Gegend gekommen und
  hatte still und brav ihrer Pflicht gelebt. Allein sie liebte damals, wie
  sie sagte, die Welt und gab einem Sohn wohlhabender Landleute, gerührt
  von seiner Gutmütigkeit und Herzenseinfalt, Gehör, also daß sie sich
  zusammentaten, arm wie die Tierlein des Feldes, und ein Paar wurden.
  Denn der Mann wurde sofort von den Seinigen verstoßen und verlassen, und
  sie gaben ihm nicht einmal einen leeren Holzkorb mit. Sie lebten nun
  kümmerlich als Tagelöhner in einer elenden entlegenen Hütte und waren
  verlassener, als alle Robinsone auf ihren Inseln. Sie lenkten mit ihrer
  Einfalt und Geduld alle Hartherzigkeit der Menschen auf sich, mitten in
  einer reichen und christlich milden Landschaft, wie der Magnet das
  Eisen; alles, was von hochmütigem Mißverstand ringsum vorhanden war,
  schien sich vereinigt gegen die Armen zu richten, so daß einer den
  andern am Helfen hinderte und sie noch dazu lachten; und niemand wußte
  warum, wie es in der Welt so gehen kann.
  Das Frauchen war aber immer noch von Weltlust erfüllt. Sie lockte eine
  dicke Bauernkatze, die in der Nähe der Hütte im Felde schlich, zog ihr
  das Pelzröcklein aus und sott sie im Wasser, um den schwarzen Hunger zu
  stillen; auch nahm sie sorglich das Fett ab zum Kochen einiger
  Wassersuppen für den Fall, daß ein wenig Mehl oder Brot ins Haus käme.
  Allein diese Gewalttat wurde entdeckt und die Geldbuße, welche der Frau
  dafür auferlegt wurde, nahm den Lohn eines ganzen Monats hinweg, welchen
  der Mann endlich nach langem Suchen bei einem Straßenbau hatte erwerben
  können. Deshalb trank derselbe in seiner gutmütigen Einfalt, auf den Rat
  anderer, vom nächsten Lohn sogleich einen Rausch, ehe man ihm das Geld
  nehmen konnte, und wurde dabei von einer unterhöhlten Erdlast
  erschlagen, da er nicht rechtzeitig vor dem Sturze floh. Damit war aber
  auch die Zeit der Sünde und der Weltlust für die Frau Ursula vorüber.
  Um jene Zeit waren ärmliche namenlose Prediger erschienen, welche unter
  dem geringen Volke für irgend eine Sekte Anhänger suchten und die
  bekehrten Leute tauften. Sie lehrten das reine ursprüngliche
  Christentum, wie es nach ihrer Meinung ohne jede Gelehrsamkeit in der
  Bibel zu finden war, wenn man nur jedes Wort ganz buchstäblich und zwar
  in der deutschen Übersetzung, die ihnen zu Gebote stand, auffaßte. Die
  Hauptsache war, daß in Tat und Wahrheit ein neues geheiligtes Leben
  geführt werden müsse zu jeder Stunde des Tages und an jedem Orte, und
  daß ferner die Gläubigen unter sich einen festen Verband der Liebe und
  der gegenseitigen Anhänglichkeit bilden, um sich für die große Stunde
  des verheißenen Weltgerichtes, das bald kommen werde, zu stärken und
  bereit zu halten.
  Diese Prediger sammelten bald eine Gemeinde um sich, bestehend aus
  hilfsbedürftigen dunklen Seelen, aus natürlichen Kopfhängern, aus
  schwachen Hochmütigen, welche selbst an ihrem geringen Orte einen
  Standpunkt suchten, von welchem aus sie besser sein konnten, als der
  Nachbar, aus guten Herzen, die ihre Liebe trieb, aus Unglücklichen, die
  einen Trost zu finden hofften, der ihnen anderwärts nirgends blühte.
  Einige von ihnen, wenn sie katholisch gewesen wären, hätten sich einfach
  in ein Kloster gemacht, andere, wenn es ihre Lebensverhältnisse mit sich
  gebracht hätten, wären Freimaurer geworden, wiederum andere, wenn sie
  bemittelt und gebildet gewesen wären, hätten sich irgend einem
  gemeinnützigen oder wohltätigen Verein oder einer gelehrten, oder einer
  musikalischen Gesellschaft angeschlossen, um sich aus dem Staube des
  gemeinen Lebens zu erheben. Alles dies ersetzte ihnen nun die stille
  gläubige Genossenschaft; da fanden sie nicht nur die Heiligkeit und das
  ewige Leben, sondern auch Kurzweil und Unterhaltung zur Genüge in
  fortwährendem Reden, Lehren, Disputieren, Beten und Singen.
  Allein sie waren keineswegs geschätzt und beliebt, sondern von allen
  Seiten verfolgt und verlacht, von der Kirche, von den Freien, von den
  Orthodoxen, von den vornehmeren Frommen, vom Volke, von den Behörden.
  Besonders auf dem Lande wurden ihre Zusammenkünfte gestört und
  auseinandersprengt, und die Unduldsamkeit, welche sich bei ihnen selbst
  frühzeitig einnistete, wurde auch reichlich gegen sie geübt.
  Am Orte, in welchem die arme Witwe wohnte, waren die Sektierer besonders
  
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