🕥 35-minute read

Die Leute von Seldwyla — Band 2 - 11

Total number of words is 4567
Total number of unique words is 1542
43.2 of words are in the 2000 most common words
56.9 of words are in the 5000 most common words
63.6 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  Gottes Namen und laßt mich in Ruhe!«
  »Auf die Weise!« erwiderte Ännchen, »aha! So so! Nun, so habt denn Dank,
  Herr Hexenmeister! und nichts für ungut! Behüt' Euch Gott wohl und
  zürnet nicht! Komm, Frau Barbel!«
  Doch als sie bereits unter der Tür war, kehrte sie nochmals um und rief:
  »Ei, so hätte ich bald vergessen, Euch den Gruß auszurichten! Oder hab'
  ich's schon getan?« »Nein! von wem?« »Ei, von einer gar feinen und
  hübschen Frau, Ihr werdet sie besser kennen als ich, denn ich weiß ihren
  Namen nicht zu sagen!« »Ich weiß nicht, ich kenne keine solche Frau!«
  »He, so besinnt Euch nur, sie wohnt an der Stadtmauer, ist nicht gar
  groß, aber ebenmäßig gewachsen und trägt den Kopf voll brauner
  Haarlocken wie ein Pudel! Da, die Barbel und ich haben ihr Eier
  gebracht, wir sagten, daß wir da hinaufgehen wollten, um uns wahrsagen
  zu lassen, und da war's, daß sie uns den Gruß bestellte!«
  Wilhelm wurde hochrot, rief hastig: »Ich weiß nicht, wen Ihr meint!« und
  wandte sich stracks zu seinem Buche, ohne die Frauen weiter eines
  Blickes zu würdigen. So trollten sich diese davon und polterten in ihren
  schweren Schuhen mutwillig die Stufen hinunter.
  Kaum waren sie außer dem Bereiche des Häusleins, so sagte Ännchen:
  »Höre, wenn ich nicht schon einen Mann hätte, so würde ich dir den
  wegfangen! Dies ist ja ein netter Kerl, obgleich er ein grober Lümmel
  ist!«
  »Ach, er gefällt mir nur gar zu wohl,« seufzte Gritli, »aber ich trau'
  ihm nicht! Er könnte trotz der soliden Manier, die er angenommen hat,
  leicht wieder ein verliebter Zeisig werden oder noch sein, der sich in
  alle Welt vergafft, und dann käme ich vom Regen in die Traufe. Man müßte
  ihn auf irgend eine Art auf die Probe stellen!«
  »Nun, das kann man ja tun!« sagte die Freundin; sie berieten sich über
  den Weg, den sie einschlagen wollten, und Ännchen versprach, die Sache
  auszuführen, sobald der Winter vorüber sei. Da seufzte Gritli abermals
  und meinte: »Ach, das ist noch lange hin und im Frühling sollte es schon
  getan sein!«
  Lachend erwiderte Ännchen: »Da kann ich nicht helfen, meine Liebe! Ich
  muß jetzt wieder zu meinem Mann; auch habe ich doch nicht Lust, durch
  diesen Schnee öfter in die Wildemannshütte zu klettern, so hübsch
  eingefroren sie auch ist! Also Geduld! sobald die Veilchen blühen, werde
  ich wieder kommen und deine Bergamsel probieren, aber auf deine Gefahr
  hin!«
  Gritli fügte sich darein; sie verbrachte den Rest des Winters in größter
  Stille; aber der Schnee schien ihr nicht weichen zu wollen und sie
  schwankte manchmal, ob sie die Probe überhaupt anstellen und nicht
  lieber die Sache gleich zu Ende führen wolle. Da kam endlich der
  gewaltige Südwind und goß seine warmen Regenfluten schief über Berg und
  Tal hin. In eilender Flucht schmolzen die Schneemassen und Wasser
  sprangen von allen Abhängen, lachend, redend und singend mit tausend
  Zungen. Gritli lauschte dem Klingen, als ob es ein Hochzeitsgeläute
  wäre. Sobald die nächste Wiese trocken war, lief sie hinaus, um nach den
  Veilchen zu sehen; sie fand keines, dafür aber einige Schneeglöckchen,
  und als sie zurückkam, war dennoch die Freundin angekommen mit einem
  großen Koffer, worin sie das nötige Handwerkszeug für ihr Vorhaben
  mitbrachte.
  Es war die vollständige stattliche Sonntagstracht einer Landfrau mit
  mehreren Stücken zum Wechseln, alles neu und zierlich, beinahe köstlich
  gemacht. Am ersten Sonntag in aller Frühe kleidete sich Ännchen mit
  Gritlis Hilfe sorgfältig darein und ließ ihrer Schönheit, die nicht
  gering war, mit übermütiger Berechnung den Zügel schießen. Über eine
  kurze Scharlachjuppe wurde eine genau so lange schwarze angezogen, so
  daß der Scharlach nur bei einer raschen Bewegung sichtbar wurde und das
  blendende Weiß der Strümpfe umso reizender erscheinen ließ. Rücken,
  Schultern und die runden Arme zeichnete eine knappe, braune, seidene
  Jacke vortrefflich und ließ die Brust frei, welche dafür mit einem
  Brustlatz von schwarzem Sammet bedeckt und mit dergleichen Bändern
  eingeschnürt war, die durch silberne Haken gingen. Über der Stirn wurden
  einige kokette bäuerliche Löcklein gebrannt; das übrige Haar hing in
  dicken Zöpfen fast bis auf die Erde und endigte in breiten, mit Spitzen
  besetzten Sammetbändern. Mit jedem Stück, das sie der lachenden Freundin
  nesteln half, wurde Frau Gritli ernsthafter und besorgter, und als
  endlich die Übermütige ganz geschmückt war und sich in bewußter
  Schönheit spiegelte, bereute jene die ganze Erfindung und erhob allerlei
  Bedenklichkeiten. Doch sie wurde nur ausgelacht und Ännchen rief: »Was
  man tun will, das soll man recht tun! Willst du deinen Waldbruder mit
  einer Vogelscheuche versuchen? Dergleichen Heilige hatten von je einen
  besseren Geschmack!«
  Da meinte Gritli, sie sollte wenigstens die weißen Strümpfe mit
  schwarzen wollenen vertauschen, es sei noch kühl und feucht! »Dafür hab'
  ich starke Schuhe,« sagte Ännchen, »die Waden erkältet keine Frau, das
  weißt du wohl, mein Schatz!« »Jedenfalls mußt du den Hals besser
  verwahren!« bat die Besorgte noch kläglich, und die Unverbesserliche
  antwortete: »Da hast du recht! gib mir jenes seidene Tüchlein, ich kann
  es nachher in die Tasche stecken, sobald ich an die warme Sonne komme!«
  Dann öffnete sie das Fenster und guckte in die Sonntagsfrühe hinaus; es
  war noch alles still und die Zeit schien günstig, rasch hinweg zu
  huschen. Allein Gritli hielt sie mit dem Frühstück so lange als möglich
  auf und brockte ihr alle möglichen Lieblingsbissen vor, um den
  Augenblick hinauszuschieben; dennoch erschien er, und als Ännchen nun
  ging, brach die Bekümmerte in Tränen aus. Da kehrte jene mit großen
  Augen um und sagte ernsthaft: »Nun, du närrisches Ding! wenn du wirklich
  meinst, es sei nicht zu trauen, so lassen wir's einfach bleiben!
  Entscheide dich! Ich bin bald wieder umgekleidet!«
  Gritli weinte heftiger, aber sie kämpfte mit sich und rief dann
  entschlossen: »Nein: geh nur und tu, was du für gut findest! Es muß ja
  sein!«
  Frau Ännchen ging also wohlgemut durch das Frühlingsland und badete
  unternehmungslustig ihre Gestalt in der glänzenden Luft. Ihre Röcke
  schwangen sich hin und wieder, daß der rote Scharlachsaum bei jedem
  Schritt aufleuchtete; im Arme trug sie einen frisch gebackenen Eierzopf
  und eine Schiefertafel in ein weiß und blau gewürfeltes Tuch gewickelt.
  Dergestalt erreichte sie das Rebhäuschen; diesmal klopfte sie nur
  mittelmäßig stark an die Tür und trat mit gutem Anstande in die Stube.
  Wilhelm erkannte sie nicht sogleich, war aber betroffen über die
  anmutvolle Erscheinung. Er kochte eben seinen Sonntagskaffee, welcher
  angenehm durch den Raum duftete. Ännchen machte einen zierlichen Knicks
  und sagte: »Da komme ich gerade recht! Habt Ihr meine Federn
  geschnitten, Herr Hexenmeister? Ich will sie abholen; und hier habt Ihr
  auch eine kleine Gabe für Eure Mühe, nur um den guten Willen zu zeigen!«
  Damit entwickelte sie das Gebäck, das sie trug, und legte es auf den
  Tisch. »So könnt Ihr das Geschenk wieder mitnehmen,« erwiderte Wilhelm,
  »denn Eure Federn sind nicht zum Schreiben und ich habe sie
  weggeworfen!« »So? nun, da muß ich mir Federn in der Stadt kaufen; aber
  das tut nichts, ich lasse den Zopf dennoch hier und esse selbst einen
  Zipfel davon, wenn Ihr mir eine Tasse Kaffee dazu gebt! Das tut Ihr
  doch, nicht wahr?« Sie setzte sich ohne Umstände zum Tische und fing an,
  das feine Brot zu schneiden. Wilhelm wußte nicht, was er daraus machen
  sollte, es war ihm zu Mute, wie wenn da ein gefährlicher Geist durch
  sein stilles Häuschen wehte, und die Frühlingssonne funkelte gar seltsam
  durch die klaren Fenster und über die schöne Bäuerin her. Doch fügte er
  sich, holte eine von des Tuchscherers Porzellantassen, welche dieser
  hier aufbewahrte, und teilte seinen Kaffee ehrlich mit dem Eindringling.
  »Ihr könnt wahrlich guten Kaffee machen, Herr Hexenmeister,« sagte sie,
  »wo habt Ihr's nur gelernt?« »Freut mich, wenn er Euch schmeckt!« sagte
  Wilhelm, »doch bitte ich Euch, mich nicht immer Hexenmeister zu nennen;
  denn ich kann leider nicht hexen!« »Nicht? ich hab's geglaubt!« sagte
  sie lächelnd, indem sie einen glänzenden Blick zu ihm hinüberschoß,
  »wenigstens habt Ihr mir es schon ein weniges angetan, obgleich Ihr
  nicht der höflichste seid! Aber ein hübscher Mensch seid Ihr! ist es
  Euch nicht langweilig so ganz allein?« »Es scheint nicht so!« erwiderte
  Wilhelm errötend, »sonst würde ich wohl unter die Leute gehen; Ihr
  scheint aber gut aufgelegt, schöne Frau!«
  »Schöne Frau? Ei seht, das tönt schon besser! Ihr solltet noch ein wenig
  in die Schule gehen, ich glaube, es könnte doch noch gut mit Euch
  kommen! Aber leider muß ich selbst in die Schule gehen. Da habe ich noch
  ein Anliegen, daß ich es nicht vergesse, das ist die Hauptsache, warum
  ich gekommen bin, wenn's erlaubt ist! Die Rechnung, die Ihr mir neulich
  so schnell gemacht, daß ich es nicht einmal merkte, hat mir guten Dienst
  geleistet. Ich habe aber einen großen Hof und kein Mann ist da, der das
  Wesen in Ordnung hält und rechnet; ich selbst habe als Schulkind niemals
  aufgemerkt und nichts gelernt, wie ich denn auch sonst nicht viel
  taugte. Nun muß ich es erst büßen und bereuen, denn ich weiß nie, wie
  ich stehe und ob ich betrogen werde oder nicht? Gut! dacht' ich, du bist
  noch nicht zu alt zum Lernen, ein Jahr fünf- oder sechsundzwanzig, du
  gehst also zum Hexenmeister und bittest ihn, daß er dir zeige, wie man
  dies und jenes ausrechnet. Für guten Lohn wird er's gewiß tun, ein Sack
  Erdäpfel oder eine halbe Speckseite sollen mich nicht reuen, wenn er's
  zurecht bringt, daß ich mit den verwünschten Zahlen umgehen kann. Seht,
  da habe ich schon eine Tafel mitgebracht und auch eine Kreide, nun, wo
  hab' ich die Kreide?«
  Sie legte die Tafel auf den Tisch, fuhr mit der Hand in die Rocktasche
  und klapperte ungeduldig darin. Dann zog sie eine Handvoll Zeug heraus
  und warf es auf den Tisch, ein geringes Taschenmesser, einen eisernen
  Fingerhut, einige Geldstücke, Brotkrumen, eine Hundepfeife, eine
  gedörrte Birne und ein kleines Stück Kreide. Die Birne steckte sie
  schnell in den Mund und rief kauend: »Da ist die Teufelskreide! Jetzt
  fangt nur an!« Zugleich rückte sie mit ihrem Stuhle ihm dicht zur Seite
  und schaute ihm erwartungsvoll ins Gesicht.
  »So große Schülerinnen bin ich eigentlich nicht gewohnt,« sagte Wilhelm
  verlegen und rückte ein bißchen zur Seite, »doch wenn Ihr gut aufmerken
  wollt, so will ich wohl sehen, was zu machen ist!« Hierauf begann er,
  der Frau die vier Spezies vorzumachen, und sie stellte sich, als ob sie
  nagelneue Dinge hörte. Sie rückte ihm wieder näher, nahm ihm alle
  Augenblicke die Kreide aus der Hand, verdarb die Rechnung und trieb
  tausend schnackische Dinge, über welchen sie zuweilen plötzlich die
  Augen voll zu ihm aufschlug. Er sah sie dann verwundert und nicht ohne
  Wohlgefallen an, ohne jedoch aus der Fassung zu geraten, und auch wenn
  sie auf die Tafel blickte, betrachtete er ruhig den hübschen Kopf, wie
  man etwa ein edles Gewächs betrachtet. Indessen wurde er dabei still und
  vergaß ein paarmal zu antworten. Unversehens stand sie auf und sagte:
  »Für heute muß es gut sein, sonst werde ich zu gelehrt! Übermorgen auf
  den Abend komm' ich wieder, wenn Ihr dann Zeit habt; behüt' Euch Gott,
  Herr!«
  Womit sie, ohne seine Antwort abzuwarten, sich entfernte, so unerwartet
  als sie gekommen war.
  Wilhelm sah ihr nach, ohne von seinem Stuhle aufzustehen. Dann grübelte
  er etwas in seinen Gedanken herum und sagte schließlich: »Am Ende werde
  ich hier auch fortgetrieben; es scheint mir mit dieser Person nicht ganz
  richtig zu sein!«
  Frau Ännchen gefiel sich so gut in der ländlichen Tracht, daß sie auf
  einsamen Feldwegen herumspazierte, bis es Mittag läutete. Sie
  betrachtete gedankenvoll bald die junge Saat, bald den emsigen Lauf
  eines Bächleins; doch sie bedachte weder die Saat noch das Wasser,
  sondern erwog, wie weit sie die Probe mit dem jungen Manne treiben
  wolle; sie glaubte den Erfolg in ihrer Gewalt zu haben und war nur
  unschlüssig, ob sie denselben erst ein wenig zu ihrer eigenen
  Lustbarkeit lenken oder ob sie als ehrliche Frau und Freundin handeln
  solle. Denn der Einsiedler schien ihr wie geschaffen zu einer
  ersprießlichen Zerstreuung und zu einem Lustspiel für eigene Rechnung.
  Wenn Wilhelm sich verlocken ließ, so war ja ihrer Freundin von einem
  unbeständigen Mann geholfen und trefflich gedient und er selbst wurde
  durch einen lustigen Betrug gehörig bestraft. Sie stand eben vor einer
  stillen Ansammlung eines Wässerleins und beschaute darin ihr
  Spiegelbild. Sie kam sich fast zu schön vor für ihren eigenen
  teilnahmslosen Mann; auf der andern Seite aber schien das Abenteuer doch
  bedenklich und konnte ihr zuletzt übel bekommen und ihre behagliche Ruhe
  in die Luft sprengen; auch war der Freundin ein freundliches Los zu
  gönnen und sie wußte wohl, daß Gritli den Vogel festhalten würde, wenn
  sie ihn nur erst unversehrt in der Hand hielte. So schwebten ihre
  ernsten Erwägungen im Gleichgewicht; sie stellte die Entscheidung
  endlich auf ein welkes Blatt, das in der Wasserstille langsam kreiste
  und einen Ausweg suchte. Legte es sich ans rechte Bord, so wollte sie
  der Freundin dienen, wenn ans linke, für sich selbst sorgen. Allein das
  Blatt schwamm plötzlich abwärts und ins Weite, und sie beschloß, der
  Sache den Lauf zu lassen, wie es gehen möge. Da erklang die
  Mittagsglocke und Ännchen schritt, von keinem menschlichen Auge gesehen,
  nach der Hintertür in der Stadtmauer; denn es war die Zeit, da in der
  alten Welt der große Pan schlief und in der neuen die Seldwyler mit
  Kind und Kegel so vollzählig um den Sonntagsbraten saßen, daß die
  Straßen stiller waren als in dunkler Mitternacht.
  Mit ängstlicher Erwartung verschlangen Gritlis Augen die mutwillige
  Freundin, als sie lachend in die Stube trat. Diese umarmte und küßte sie
  sogleich, indem sie rief: »Komm, es ist mir ganz küsserlich zu Mute
  geworden bei deinem Schatz!« »O! sei nicht so häßlich!« rief jene
  vorwurfsvoll, »du hast doch nicht so tolles Zeug getrieben! Wie ist es
  gegangen? Wie hat er sich gehalten?« »Sei ruhig, wie ein Stück Holz hat
  er sich gehalten!« sagte Ännchen, und Gritli rief: »Gott sei Dank! so
  wollen wir es denn dabei bewenden lassen!« »Bewenden lassen? das wäre
  eine schöne Geschichte!« fuhr Ännchen dazwischen, »da wüßten wir erst
  recht nichts! Er war wie ein Stück Holz, aber nun kommt erst die
  Hauptsache, wo er sich immer noch zum Schlimmen wenden kann, freilich
  auch zum Guten! Nun, wie er sich bettet, so wird er liegen!«
  Da ermannte sich Gretchen abermals und sagte: »Ja! es muß durchgeführt
  sein! Wenn er deinen Teufeleien entrinnt, so hat er sich gründlich
  gebessert und wird umso preiswürdiger sein!«
  Also machte sich die Versucherin am zweiten Tage wieder auf den Weg und
  zwar in der Abenddämmerung. Sie trug dieselbe Tracht, nur mit einiger
  Abwechslung und größerer Einfachheit, wie eine Bäuerin etwa während der
  Woche zu tragen pflegt, wenn sie über Land geht. Sie trug aber Sorge,
  daß nichtsdestoweniger alles gut und reizend saß. Die Haare waren
  merkwürdigerweise städtisch geflochten und mit einem Tuche bedeckt.
  Wilhelm war absichtlich weggegangen und dachte, die sonderbare Schöne,
  wenn sie wirklich wiederkommen sollte, einen vergeblichen Gang tun zu
  lassen. Als es aber dunkelte, beschleunigte er mehr als notwendig seine
  Schritte, die Wohnung zu erreichen, sei es aus Neugier oder aus dem
  Bedürfnisse, sich an der scherzhaften Dame zu erheitern. Er traf richtig
  mit ihr an der Tür zusammen, als sie eben vergeblich gepocht hatte.
  »Ach, da kommt Ihr!« sagte sie sanft, »ich habe schon geglaubt, Ihr
  hättet mich im Stich gelassen! Nun, da bin ich wieder, wenn's erlaubt
  ist, ich konnte den Tag über nicht abkommen.« Er zündete das Licht an
  und sagte: »Wie steht's? Habt Ihr noch was behalten vom neulichen
  Unterricht oder habt Ihr's schon wieder vergessen?« »Ich weiß es selber
  kaum,« erwiderte sie bescheidentlich und schien überhaupt in einer
  weichen Stimmung zu sein, so daß der Lehrer wieder nicht aus ihr klug
  wurde.
  Als sie zu rechnen begannen, war die Frau still und zerstreut und in der
  Zerstreuung machte sie nicht nur keinen Fehler, sondern rechnete die
  Aufgaben wie aus Versehen rasch und richtig zu Ende und machte von
  selbst die Proben dazu. Sie konnte plötzlich so gut rechnen wie der
  Schulmeister selbst, schien es aber durchaus nicht zu wissen. Er sah ihr
  eine geraume Weile zu, während es ihm pricklig im Gemüt wurde. Da fiel
  es ihm endlich auf, welch weiße Hand die Bauersfrau besaß, und ihr
  künstlich geflochtenes Haar duftete nicht weit von seiner Nase. Einesmal
  sagte er: »Sie sind keine Bäuerin! Woher kommen Sie? Was wollen Sie
  hier?«
  Sie legte erschrocken die Kreide hin, sah ihn furchtsam an und dann vor
  sich nieder, indem sie die Hände ineinander legte. Es herrschte eine
  große Stille. Endlich begann sie mit einem leichten Seufzer und leise:
  »Ich bin eine junge Witfrau, die aus langer Weile schon mehr als eine
  Torheit begonnen hat. Neulich wurde ich mit einer Freundin einig, den
  weisen Einsiedler zu beschauen, der so viel von sich reden macht. Sie
  haben gesehen, wie wir unsern Vorsatz ausführten; aber die Neugierde ist
  mir nicht gut bekommen!«
  »Und warum nicht?« fragte Wilhelm lachend, obgleich es ihm anfing,
  schwül zu werden. Da sagte sie noch leiser: »Ich habe mich leider in Sie
  verliebt!« und zugleich schlug sie lächelnd die Augen zu ihm empor. Es
  war freilich kein echter und ursprünglicher Blick, sondern einer aus der
  Fabrik, ein böhmischer Brillant, das fühlte Wilhelm wohl; dennoch war er
  feurig genug, in ihm eine Reihe von Gefühlen und Gedanken zu erwecken,
  welche sich schnell wie der Blitz aneinander entzündeten.
  »Man muß am Ende die Weiber nehmen wie die Skorpione, den Stich des
  einen heilt man mit dem Safte, den man dem andern ausquetscht! Was nützt
  es, die Süßigkeit der Frauen zu verschmähen, weil sie schwach und
  betrüglich sind? Pflücke die Rosen vorsichtig oben weg, und lasse den
  Stock unberührt, so wirst du nicht gestochen! Trinke den Wein und stelle
  den Becher dahin, so wirst du in Frieden leben! Wer durch die Wüste
  wandelt, der trinke vom Brunnen der Gelegenheit, und wer einsam ist, der
  locke die Amsel! Sieh! die eine geht, die andere kommt, die ist braun
  und jene golden; gut ist nur die, so dich küßt!«
  Nicht diese ausführlichen Worte, aber deren frevelhafter Sinn drängte
  sich in Wilhelms Empfindung zusammen, als er Ännchens Hand ergriff und
  sie unschlüssig, aber lächelnd ansah. Freilich waren seine Handlungen
  viel zaghafter als seine Gedanken, und so kam es, daß nach einer Minute
  nicht er die Schöne, sondern sie ihn im Arme hielt und ihm eben einen
  Kuß aufdrücken wollte, als abermals eine Reihe von Gedanken und
  Vorstellungen sich in dem Augenblick und in Wilhelms Gemüte
  zusammendrängte.
  »Das ist also,« dachte er ungefähr, »das vielgewünschte Glück in
  Frauenarmen! Nun, schön genug ist's und gar nicht unangenehm! Gott sei
  Dank, daß ich mal eine dicht bei mir habe! Was würde wohl Gritli dazu
  sagen, wenn sie mich so sähe?«
  Zugleich sah er Gritli im Geiste auf der Treppe vor dem Häuschen stehen
  und dann sitzen. »Wie,« dachte er, »wenn sie dich gesucht, wenn sie dich
  doch lieb hätte?« Ein großes Mitleiden mit ihr ergriff ihn, er erschrak
  ordentlich über seine Hartherzigkeit; kurz, zerstreut und in Gedanken
  verloren fuhr er zurück und entzog damit plötzlich und unerwartet seinen
  Mund dem Kusse, den Ännchen eben darauf absetzen wollte. Er starrte ins
  Blaue hinaus und sah immer deutlicher Frau Gritlis vermeinte Gestalt,
  wie sie still vor seiner Tür saß und auf ihn zu warten schien. Dann
  besann er sich und sagte unversehens zu Ännchen: »Was hatte es denn für
  eine Bewandtnis mit dem Gruße, den Sie mir das erste Mal, da Sie hier
  waren, von jener Frau gebracht haben? Und was macht sie, wie geht es
  ihr?«
  »Welche Frau, welcher Gruß?« fragte sie etwas betroffen und verlegen,
  und als er sich genauer erklärt, sagte sie kalt: »Ach, das war nur eine
  Neckerei von mir! Ich kenne die Frau gar nicht!« Diese schnöde und kühle
  Antwort gefiel ihm nicht und kränkte ihn; unwillkürlich machte er sich
  frei und trat ans Fenster, öffnete es und guckte verstimmt hinaus in die
  Nacht.
  Der gestirnte Himmel spannte sich über das Tal, in welchem die Lichter
  von Seldwyla in einem dichten Haufen glänzten; darüber vergaß er, was in
  der Stube war, seine Gedanken irrten um die dunkle Stadtmauer in der
  Tiefe, und eben tat er einen ordentlichen Seufzer, als dicht unter
  seinem Fenster eine weibliche Gestalt vorüberging mit den Worten: »Gute
  Nacht, Herr Hexenmeister!« Es war Frau Ännchen, welche unbemerkt aus dem
  Häuschen gehuscht war und lachend den Berg hinuntersprang. Er machte
  eine Bewegung und eine Stimme rief in ihm: Laß sie nicht entwischen!
  Aber dennoch wich er nicht von der Stelle und seine Sehnsucht flog über
  die spukhafte Bäuerin hinweg in das Tal, wo Gritli war. Alle Geister der
  Leidenschaft waren nun aufgeweckt und taumelten wie trunken in seinem
  Herzen umher, und er verbrachte die Nacht schlaflos und aufgeregt.
  »Dem wollen wir abhelfen!« rief er, als die Sonne schon hoch am Himmel
  stand und er aus dem unruhigen Morgenschlaf erwachte, »ich will für
  einige Zeit den Platz räumen, und andere Luft suchen!« Gesagt, getan! Er
  hing zum zweitenmal die Reisetasche um, ergriff einen Stecken, schloß
  Fensterladen und Tür und machte sich auf den Weg, dem Tuchscherer den
  Schlüssel zu bringen und sich bei ihm zu beurlauben.
  Ein leichter und rascher Schritt weckte ihn aus dem Brüten, in dem er
  alles getan hatte. Er kannte den Schritt und lauschte ihm einige
  Augenblicke, eh' er aufzuschauen wagte. Schon warf die Morgensonne den
  leichten Schatten eines Schleiers auf den glänzenden Weg, dicht unter
  seine Augen; der Florschatten umflatterte ein paar rund gezeichnete
  Schultern. Wilhelm war plötzlich wie in ein Fegefeuer gesteckt und
  bemerkte dennoch in aller Verwirrung, daß der wohlklingende Schritt fast
  unmerklich zögerte. Endlich blickte er in die Höhe und sah Frau Gritli
  nahe vor sich, welche ihrerseits errötete und verlegen lächelnd vor sich
  hinsah. Beide Personen beschleunigten in der Verwirrung ihren Gang und
  eilten sich vorüber, wahrscheinlich um sich nie wieder zu treffen. Da
  zog Wilhelm doch noch seinen Hut und Gritli erwiderte den Gruß mit einer
  raschen Verbeugung. Wie an einem Drahte gezogen sah jedes zurück, stand
  still und wendete sich mit mehr oder weniger langsamer Bewegung; endlich
  schossen sie zusammen wie zwei Hölzchen, die auf einem Wasserspiegel
  dahintreiben, und stehenden Fußes gingen sie eilig nebeneinander fort.
  »Sie wollen doch nicht verreisen, weil Sie Tasche und Stab tragen?«
  sagte Gritli. Wilhelm erwiderte, er wolle allerdings fortgehen, und als
  sie fragte, warum und wohin? erzählte er von Geschäften, von schönem
  Wetter, von diesem und jenem, und Gritli flocht ebenso inhaltlose Dinge
  dazwischen, aber alles in tiefster Bewegung. Sie gingen rasch, atmeten
  schnell und sahen sich abwechselnd an; so waren sie, ohne es zu sehen,
  auf einen Waldpfad geraten und gingen schon tief in den Bäumen, als
  Gritli endlich rief: »Wo sind wir denn hingekommen? Ist das Ihr Weg?«
  »Meiner?« sagte Wilhelm ernsthaft, »nein!« »Nun, das ist gut!« meinte
  sie lachend, »so müssen wir nur sehen, daß wir bald wieder
  hinauskommen!« Er sagte: »Da wollen wir hier quer durchgehen!« und
  wanderte auf einem schmalen Seitenpfade voran durch den Forst. Nach
  einer Weile kamen sie auf eine kleine Lichtung, die von hohen Föhren
  eingeschlossen war, deren Kronen sich ineinander bauten. Unter den
  Föhren lagen große rötliche Steine übereinander, denn es war das Grab
  des keltischen Mannes, und rings herum war der Platz von den weißen
  Sternen der Anemonen bedeckt.
  »Hier ist's schön!« rief Gritli, »hier muß ich ein wenig ausruhen, ich
  bin müde geworden!« Sie setzte sich auf die Steine und Wilhelm blieb vor
  ihr stehen. »Machen Sie nicht, daß der aufwacht, der da unten liegt!«
  sagte er; erschreckt fragte sie, was er meine, und er erzählte ihr die
  Geschichte von dem Grabe. Nach einer Weile bemerkte sie: »Wo mag wohl
  seine Frau liegen? Gewiß nicht weit!« »Das kann man freilich nicht
  wissen!« antwortete Wilhelm lachend, »vielleicht liegt sie auf einem
  Schlachtfelde in Gallien, vielleicht auf einem andern Berge in dieser
  Gegend, vielleicht hier ganz in der Nähe, und vielleicht hat er gar
  keine gehabt!«
  Hierauf trat eine Stille zwischen die zwei Leute und jedes schien in
  eigentümliche Gedanken vertieft. Gritli hatte ihren Hut abgelegt und
  zeigte plötzlich statt der Locken, die dem Schulmeister sonst in die
  Augen gestochen, ein glänzend glattgekämmtes Haar, einen schlichten
  runden Kopf. Das verblüffte und verblendete ihn gänzlich, denn durch die
  ungewohnte Veränderung erschien sie ihm schöner als je. Auch war sie
  außerordentlich fein und anmutig gekleidet, obschon einfach, aber alles
  frisch und wohlgemacht; nichts Einzelnes fiel auf und doch machte alles
  einen angenehmen Eindruck, der sich wieder der Herrschaft des schlichten
  blühenden Kopfes durchaus unterordnete. Diese Frau war in ihren Kleidern
  und bei sich selbst zu Hause, und wer da einkehrte, befand sich in
  keiner Marktbude. Das alles versetzte Wilhelm in tiefe Melancholie und
  er sah die schöne Frau vor sich, wie man in die frühlingsblaue Ferne
  sieht, in die man nicht hinein kann.
  Als die tiefe Stille einige Minuten gedauert, während Gritlis Busen
  unruhig wallte, rief der Kuckuck aus der Tiefe des Waldes, und zwar nur
  ein einziges Mal, aber hell und widerhallend. Beide sahen sich an, und
  ohne weitere Zeit zu verlieren, sagte Gritli mit einem freundlichen
  Lächeln: »Es ist mir lieb, Sie noch getroffen zu haben; denn halb und
  halb hatte ich die Absicht, Sie in Ihrem Häuschen aufzusuchen!«
  Wilhelm sah sie mit großen Augen an; diese Worte weckten ihn aus seiner
  Vergessenheit und machten ihm das Verhältnis gegenwärtig, in welchem er
  eigentlich zu der Frau stand. Er brachte deswegen nur ein mißtrauisches
  und kurzes »Warum?« hervor und glaubte sich mit heißen Wangen einer
  neuen Komödie ausgesetzt. Sie aber sagte: »Ich wollte Sie gern fragen,
  ob Sie mir noch zürnen wegen der Geschichte mit den Liebesbriefen?«
  »Ich habe Ihnen nie gezürnt,« erwiderte er, »sondern nur mir selbst;
  dennoch war das, was Sie vor Gericht von mir sagten, nicht gut und auch
  undankbar; denn ich habe Ihre Schönheit und Lieblichkeit so hoch
  gehalten, daß ich mir nicht anders zu helfen wußte, als an einen Gott zu
  glauben, der Sie geschaffen und mir geschenkt habe, was freilich ein
  eitler und eigennütziger Gedanke war!«
  Eine prächtige Röte überflog Gritlis Gesicht. »Ich war nicht undankbar!«
  sagte sie, indem sie die Handschuhe auszog und ihre Fingerspitzen
  betrachtete, »als ich jene Worte sprach, dachte ich --« sie stockte, und
  Wilhelm sagte mit fast tonloser Stimme: »Nun, was dachten Sie?« »Ich
  dachte,« flüsterte sie, die Augen niederschlagend, »nun, ich dachte in
  meinem Herzen, daß dafür meine Person, wie sie ist, Ihnen für immer
  angehören solle, wenn die Zeit gekommen sei! Und da bin ich nun!«
  Zugleich reichte sie beide Hände hin und schlug die Augen zu ihm auf. Es
  war kein so blitzender Blick, wie sie ihm einst über die Hecke
  zugeworfen, aber doch viel tiefer und klarer. Er ergriff ihre Hände, sie
  stand auf; doch wußte der gute Pascha, der in seinen Gedanken eine ganze
  Stadt voll Weiber beherrscht hatte, mit dieser einzigen sogleich nichts
  anzufangen, als daß er wie betäubt mit ihr auf der Lichtung hin und her
  ging und sie anlachte, ohne ihre Hand loszulassen. Endlich setzten sie
  den Weg wieder fort, Wilhelm ging voraus, sah sich aber von Zeit zu Zeit
  wieder um, ob sie ihm auch folge auf dem schmalen Pfade, und immer war
  sie lächelnd hinter ihm. Da trat sie einsmals hinter eine dicke Buche
  und verbarg sich dort, und als er wieder rückwärts blickte, fand er sie
  nicht mehr. Ungewiß und erschrocken stand er still, und als er nichts
  mehr von ihr hörte und sah, ging er langsam etwa zwanzig Schritte
  zurück, und mit jedem Schritte stieg schwärzer der betrübte Verdacht in
  ihm auf, daß er abermals der Gegenstand einer Posse geworden sei, so
  abenteuerlich das auch gewesen wäre; denn er konnte sich kaum in seine
  Stellung als beglückter Liebhaber finden. Da hustete es schalkhaft
  
You have read 1 text from German literature.