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Die Leute von Seldwyla — Band 2 - 10
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aus seinen Gedanken. Also ging er in sich, ließ alle Narrheit fahren und
wandte sich mit Fleiß und Liebe seinen Schulkindern zu. Aber im besten
Zuge ging just seine Amtsdauer zu Ende, da er nur Verweser und nicht
fest angestellt war. Wie er nun aufs neue gewählt werden sollte, wußte
der Stadtpfarrer als Vorstand der Schulpflege seine Bestätigung bei den
Behörden zu hintertreiben, indem er Bericht erstattete von Wilhelms
Verwicklung in einem bedenklichen Ehehandel und den jungen Sünder einer
heilsamen Bestrafung empfahl. Er haßte den Schulmeister wegen seines
Unglaubens und seiner mythologischen Hantierungen; denn er wußte nicht,
daß Wilhelm sich zum alleinigen und wahren Gott bekehrt hatte, sobald er
sich geliebt glaubte. So wurde er für zwei Jahre außer Amts gesetzt und
stand brot- und erwerblos da.
Er schnürte darum sein Bündel, um anderwärts ein Unterkommen zu suchen,
und zwar entschloß er sich in seinem Reumut, sich in die Dunkelheit zu
begeben und als ein armer Feldarbeiter bei den Bauern sein Brot zu
verdienen; denn als der Sohn einer verschwundenen Bauernfamilie aus der
Umgegend kannte er die ländlichen Arbeiten, denen er sich von
Kindesbeinen auf hatte unterziehen müssen. In dieser Absicht wanderte er
an einem trüben Märzmorgen über den Berg; als er aber auf die Höhe
gekommen, verwandelte sich der feuchte Nebel in einen heftigen Regen;
Wilhelm sah sich nach einem Obdach um, da er hoffte, der Regen würde
bald vorübergehen. Er bemerkte in einiger Entfernung ein Rebhäuschen,
welches zu oberst in einem großen Weinberge stand, am Rande des
Gehölzes. Das Vordach dieses Winzerhäuschens gewährte guten Schutz, und
er ging hin, sich auf die steinerne Treppe darunter zu setzen. Es war
ein malerisches altes Häuslein mit einer Wetterfahne und runden
Fensterscheiben. Das Vordach ruhte auf zwei hölzernen Säulen, die Treppe
war mit einem eisernen Geländer versehen und bildete zugleich einen
Balkon, von welchem man, wenn es schön war, weit ins Land hinein sah,
nach Süden und Westen in die Schneeberge. Das Holzwerk und die
Fensterläden waren bunt bemalt, alles jedoch etwas verwittert und
verwaschen.
Wie er so da saß, regte sich's in der kleinen Stube, die Tür tat sich
auf und der Eigentümer des Weinberges trat heraus und lud Wilhelm ein,
ins Innere zu kommen und mit ihm gemeinschaftlich den Regen abzuwarten.
Es stand eine Flasche mit Kirschgeist auf dem Tisch; der Mann holte noch
ein Gläschen aus einem Wandschränkchen und füllte es für seinen Gast.
»Brot habe ich keines hier oben,« sagte er, »doch wollen wir eine Pfeife
zusammen rauchen!« Er holte also aus dem Schränklein zwei neue lange
Tonpfeifen nebst gutem Knaster; denn es war bei den Männern von
Seldwyla, da ihnen die Zigarren verleidet waren, soeben Mode geworden,
wieder würdevoll aus altertümlichen Tonpfeifen zu rauchen, wie
holländische Kaufherren.
Dieser Seldwyler, obgleich er ein Tuchscherer war, hatte den Einfall
bekommen, Landwirtschaft zu treiben, weil deren Erzeugnisse hoch im Preise
standen und die Betreibung zahlreiche Spaziergänge veranlaßte. Der Weinberg
bildete mit mehreren großen Wiesen und einigen Bergäckern eine ehemalige
Staatsdomäne, welche der Tuchscherer gekauft, und er war jetzt
hinaufgestiegen, um den Zustand der Reben zu untersuchen, weil die
Frühlingsarbeit in demselben beginnen sollte. Er fragte Wilhelm, wo er hin
wolle, was er im Sinne habe; denn er wußte noch nichts von seiner
Absetzung. Wilhelm sagte, daß er bei Landleuten sein Auskommen suchen
wolle, indem er ihnen in allem an die Hand gehe, was zu tun sei; da er
nicht viel bedürfe, so hoffe er, sich im stillen durchzubringen. Der
Tuchscherer wunderte sich hierüber und drang weiter in ihn, bis er die
Ursache von des Schulmeisterleins Auszug erfahren. »Das ist,« sagte er,
»ein recht hämischer Streich von dem Pfaffen, der eine Kinderei nicht von
einer Schlechtigkeit unterscheiden kann. Wir wollen ihm übrigens sein
ewiges Gehätschel und Getätschel mit seinen Unterweisungsschülerinnen auch
einmal abschaffen; die Hübschen und die Feinen hält er sich allfort dicht
in der Nähe, die Buckligen aber, die Einäugigen und die Armseligen setzt er
in den Hintergrund und spricht kaum mit ihnen, und das ist ärgerlicher als
Eure ganze Briefschreiberei. Wenn diese Stilübungen ihm übel angebracht
schienen, so ist uns sein Schönheitssinn noch weniger am rechten Ort! Aber
verstehen Sie denn etwas von der Feldarbeit und den ländlichen Dingen
überhaupt?«
»O ja, ziemlich!« antwortete Wilhelm, »ich habe während der Krankheit
meiner verstorbenen Eltern alles gemacht und bin erst im achtzehnten
Jahre, als sie gestorben und unser Gut verkauft wurde, mit dem kleinen
Vermögensreste ins Lehrerseminar gegangen; es sind erst fünf Jahre
seither, und im Seminar mußten wir auch Feldarbeit betreiben.« »Und
warum wollen Sie nicht lieber Ihre Kenntnisse benutzen und eine bessere
Tätigkeit suchen, als den Bauern zu dienen?« fragte jener; allein
Wilhelm hatte seinen Entschluß gefaßt und war nicht aufgelegt, sich mit
dem Manne weiter über seine Lage einzulassen.
Indessen hatte sich der Regen wirklich gelegt und die Sonne beschien
sogar die weite Gegend. Der Eigentümer schickte sich an, den Weinberg zu
besehen und forderte Wilhelm auf, ihm noch eine Stunde Gesellschaft zu
leisten, weil er für heute noch weit genug kommen würde.
In den Reben sah der Seldwyler, daß Wilhelm in diesen Dingen eben so
sichere Kenntnis als guten Verstand besaß, und als er hier und da eine
Rebe schnitt und aufband, um seine Meinung zu zeigen, erwies sich auch
eine geübte Hand. Er ging daher mit ihm auch in die Matten und Äcker und
befragte ihn dort um seine Meinung. Wilhelm riet ihm kurzweg, die Äcker
ebenfalls wieder in Matten umzuschaffen, was sie früher auch gewesen
seien; denn was an Ackerfrüchten hier oben gedeihe, sei nicht der Rede
wert, während vom Walde her genug Feuchtigkeit da sei, die Wiesen zu
tränken. Dadurch würde ein Viehstand erhalten, der an Milch und
verkäuflichen Tieren schönen Vorteil verspräche; schon die Herbstweide
allein sei reiner Gewinn. Das leuchtete dem Tuchscherer ein; er besann
sich kurze Zeit, worauf er dem Lehrer antrug, in seinen Dienst zu
treten. Er solle arbeiten, was er leicht möge, und im übrigen das Gut in
Ordnung halten und alles beaufsichtigen. Was er irgend zu verdienen
gedächte, das wolle er ihm auch geben und ihn darüber hinaus noch mit
Rücksicht behandeln. Wilhelm bedachte sich auch einige Minuten und
schlug dann ein, aber unter der Bedingung, daß er in dem Rebhäuschen
auf dem Berge wohnen dürfe und nicht in der Stadt zu verkehren brauche.
Das war jenem sogar lieb, und so hatte der Flüchtling schon am Beginne
seiner Wanderschaft ein Obdach gefunden.
Der Tuchscherer ließ noch denselben Tag ein Bett hinaufbringen und etwas
Lebensmittel, welche von Zeit zu Zeit erneuert werden sollten. Eine
kleine Küche war vorhanden, um zur Zeit der Weinlese sieden und braten
zu können; ebenso enthielt das Erdgeschoß einen Vorratsraum, und unter
der Treppe war mit wenig Mühe ein Ziegenstall hergestellt für eine
solche Milchträgerin. So ward Wilhelm plötzlich zu einem
einsiedlerischen Arbeitsmanne und fügte sich mit Geschick und Fleiß in
seine Lage. Er ließ die Äcker von den Tagelöhnern, welche der
Tuchscherer anstellte, sorgfältig zubereiten und besonders die Steine
hinaustragen und besäete sie mit Heusamen. Die Reben bearbeitete er fast
ganz allein und kam damit zu Ende, ehe man es gedacht; wie es denn öfter
vorkommt, daß solche, die ausnahmsweise oder nach langer Unterbrechung
ein Werk beginnen, im ersten Eifer mehr vor sich bringen, als die immer
dabei sind. In wenigen Wochen gewann er Zeit, sich zunächst dem Häuschen
ein Gemüsegärtchen anzulegen, um etwas Kohl und Rüben mit dem Fleische
kochen zu können, welches man ihm wöchentlich zweimal schickte. In einer
dunkeln Nacht holte er sich sogar in der Stadt Schößlinge von seinen
Nelken und Levkojen und setzte sie, wo sich ein Raum bot; um das
Gärtchen her zog er eine Hecke von wilden Rosen, an Geländer und Säulen
empor ließ er Geißblatt ranken, und als der Sommer da war, sah das Ganze
aus fast so bunt und zierlich wie ein Albumblatt.
Noch ehe die Sonne im Osten heraufstieg, war er täglich auf den Füßen
und suchte seinen Frieden in rastloser Bewegung, bis der letzte
Rosenschimmer im Hochgebirge verblichen war. Dadurch wurde seine Zeit
ausgiebig und reichlich, daß er frei wurde in der Verwendung der
Stunden, ohne seine Pflicht zu vernachlässigen. Um sich seinen
Holzbedarf zu sammeln, machte er weite Rundgänge durch den Wald, aus
welchen sich eine Bürde fast von selbst zusammenfand. Er benutzte dazu
die heiße Tageszeit, um im Schatten zu sein und zugleich für die
Erdschwere der Handarbeit ein erbauliches Gegengewicht zu suchen. Denn
der Wald war jetzt seine Schulstube und sein Studiersaal, wenn auch
nicht in großer Gelehrsamkeit, so doch in beschaulicher Anwendung des
Wenigen, was er wußte. Er belauschte das Treiben der Vögel und der
andern Tiere, und nie kehrte er zurück, ohne Gaben der Natur in seinem
Reisigbündel wohlverwahrt heimzutragen, sei es eine schöne Moosart, ein
kunstreiches, verlassenes Vogelnest, ein wunderlicher Stein, oder eine
auffallende Mißbildung an Bäumen und Sträuchern. Aus einem verfallenen
Steinbruche klopfte er manches Stück mit uralten Resten heraus von
Kräutern und Tieren. Auch legte er eine vollständige Sammlung an von den
Rinden aller Waldbäume in den verschiedenen Lebensaltern, indem er
schöne viereckige Stücke davon, mit Moosen und Flechten bewachsen,
herausschnitt oder sinnig zusammensetzte, die Nadelhölzer sogar mit den
glänzenden Harztropfen, so daß jedes Stück ein artiges Bild abgab. Mit
alledem schmückte er in Ermanglung anderen Raumes die Wände und die
Decke seines Stübchens. Nur nichts Lebendiges heimste er ein; je schöner
und seltener ein Schmetterling war, den er flattern sah, und es gab auf
diesen Höhen deren mehrere Arten, desto andächtiger ließ er ihn fliegen.
Denn, sagte er sich, weiß ich, ob der arme Kerl sich schon vermählt hat?
Und wenn das nicht wäre, wie abscheulich, die Stammtafel eines so
schönen, unschuldigen Tieres, welches eine Zierde des Landes ist und
eine Freude den Augen, mit einem Zuge auszulöschen! Abzutun, ab und tot,
das Geschlecht einer zarten fliegenden Blume, die sich durch so viele
Jahrtausende hindurch von Anbeginn erhalten hat und welche vielleicht
die letzte ihres Geschlechtes in der ganzen Gegend sein könnte! Denn wer
zählt die Feinde und Gefahren, die ihr auflauern?
Für diesen frommen Sinn wurde er von einem untergegangenen Geschlechte
belohnt, indem eine Erderhöhung mitten im Forste, welche ihm verdächtig
erschien und die er ausgrub, das Grab eines keltischen Kriegsmannes
enthüllte. Ein langes Gerippe mit Schmuck und Waffen zeigte sich vor
seinen Blicken. Aber er baute das Grab sorgfältig wieder auf, ohne
jemand davon zu sagen, weil er nicht aus seiner Verborgenheit treten
mochte. Indessen durchforschte er den Wald aufmerksam, entdeckte noch
mehrere solche Erhöhungen mit darauf zerstreuten Steinen und behielt
sich vor, in späterer Zeit davon Anzeige zu machen. Die gefundenen
Schmuck- und Waffensachen fügte er den Merkwürdigkeiten seiner
Einsiedelei bei.
Auf diese Weise erfuhr er, wie das grüne Erdreich Trost und Kurzweil hat
für den Verlassenen und die Einsamkeit eine gesegnete Schule ist für
jeden, der nicht ganz roh und leer.
Umso schneller machte er sich unsichtbar, wenn der Tuchscherer etwa mit
großer Gesellschaft heraufkam, um sie in dem lustigen Winzerhäuschen zu
bewirten und auf den Matten herumspringen zu lassen. Insbesondere die
lustigen Damen suchten neugierig des einsiedlerischen Jünglings
ansichtig zu werden, der sich so gut anschickte und in Freiheit, Sonne
und Bergluft ein hübscher brauner Gesell geworden. Es schien auf einmal
der Mühe wert, den Flüchtling nicht zu unabhängig von der Macht ihrer
Augen werden zu lassen. Auch einzeln dehnte dann und wann eine
Vorwitzige ihre Spaziergänge bis zu dieser Höhe aus und spukte wie von
ungefähr um das Häuschen herum. Allein Wilhelm war wie umgewandelt.
Anstatt die Augen niederzuschlagen und heimlich verliebt zu sein,
blickte er die Streifzüglerinnen ruhig und halb spöttisch an und ging
seiner Wege ohne alle Anfechtung. Das war ein neues Wunder und vermehrte
das Gerede über ihn in der Stadt.
Der Tuchscherer war zufrieden über seinen Besitz. In der Ebene, wo er
auch ein Stück Land besaß, hatte er eine geräumige Stallung und eine
Scheune gebaut. Dort stand das Vieh, dessen Zucht und Verkauf Wilhelm
mit gutem Verstande beriet. Die zweimalige Heuernte brachte er ebenfalls
glücklich unter Dach, und die Weinlese, welche darauf folgte, zeigte,
daß der Berg trefflich besorgt war.
Als der Tuchscherer nun seine Rechnung machte, fand er, daß er für die
Zukunft wohl bestehen würde, wenn es so fortginge, und statt nur seinen
vorübergehenden Spaß an der Sache zu haben, wie es am Orte Sitte war,
entschloß er sich, mit Ernst dabei auszuharren und zu trachten, daß er
ein gutes Ende gewänne. Obgleich er auch ein lustiger Tuchscherer war,
barg er doch eine gute Anlage in sich von irgend einem Äderchen her,
weshalb er durch die frische Arbeitslust, Verständigkeit und Ausdauer
Wilhelms aufmerksam wurde, besonders da er sah, daß der träumende und
verliebte Schulmeister ganz plötzlich diese Tugenden hervorgekehrt, als
wenn er sie auf der Straße gefunden hätte. Was ein anderer könne, dachte
er, das werde er auch im stande sein; und so wurde er in ehrgeiziger
Laune ein sorgfältiger und wachsamer Mann. Er stand früh auf und nahm
seine Geschäfte der Ordnung nach an die Hand. Statt in seiner
Tuchschererei alles den Arbeitern zu überlassen, sah er selbst dazu und
förderte die Arbeit, daß sie gut getan wurde und rasch vor sich ging,
und er gewann noch hinlängliche Zeit für seine Landwirtschaft. Den
Aufenthalt in den Versammlungen und Wirtshäusern, wo die Spottvögel
saßen, kürzte er immer mehr ab und gewöhnte sich, zu jeder beliebigen
Zeit auszubrechen und sich loszureißen, ohne gerade ein sogenannter
Leimsieder zu werden. Er bemerkte, daß die rechte Lustigkeit erst nach
getaner Arbeit entsteht, und daß Leute, welche immer in derselben
Wirtshausluft, bei denselben Manieren sitzen, zur schönsten Krähwinkelei
gedeihen; daß der liederliche Spießbürger um kein Haar geistreicher ist,
als der solide, und daß überhaupt Männer, die sich immerwährend und
täglich mehrmals sehen, einander zuletzt dumm schwatzen. Dennoch stieß
seine Bekehrung auf große Schwierigkeiten und er mußte die tapfersten
Anstrengungen machen, um nicht zurückzufallen. Aber wenn die Verlockung
und das Geräusch zu stark wurden, verließ er die Stadt und floh zu
Wilhelm hinauf, den er liebgewonnen und zu seinem Vertrauten machte.
Hierdurch wurde dieser wiederum angefeuert, daß er in seinem löblichen
Wesen nicht mürbe wurde. Allein der Teufel suchte abermals Unkraut zu
säen, indem des Tuchscherers Frau nicht von der alten Weise lassen
wollte und den Verkehr mit den Müßigen und Lustigmachern stets
erneuerte. Der Mann klagte dem Einsiedler seine Not; Wilhelm dachte nach
und riet ihm dann, der Frau das Haar dicht am Kopfe wegzuschneiden,
damit sie ein Jahr lang nicht ausgehen könne. Denn er hielt sich für
einen Weiberfeind und freute sich, einer eine Buße anzutun. Doch der
Tuchscherer sagte, das ginge nicht an, das Haar seiner Frau sei zu schön
und, da sie sonst nicht viel tauge, ein Hauptstück seines Inventars. Da
besann sich Wilhelm aufs neue und riet ihm dann, der Frau den
Milchverkauf zu übergeben und ihr einen Teil des Gewinns zu lassen.
Dadurch würde ihre Habsucht gereizt, sie werde nicht verfehlen, Wasser
unter die Milch zu mischen, sich deshalb mit der ganzen Stadt verfeinden
und in eine wohltätige Isolierung geraten. Dieser Plan ward nicht übel
befunden und bewährte sich auch so ziemlich. Die Frau fand Freude an dem
Gewinn und war, besonders des Abends, ans Haus gebunden, um das Melken
der Kühe zu überwachen und zu sehen, daß sie nicht zu kurz käme.
Inzwischen war der Herbst gekommen und für Wilhelm nichts weiter zu tun,
als das Vieh zu hüten, welches jetzt auf die Weide getrieben wurde. Er
ließ sich das demütige Amt nicht nehmen und wollte wenigstens einen
Herbst entlang mit den schönen Tieren allein auf der Weide sein. Allein
gerade diese Übertreibung, da er den Dienst eines kleinen Hirtenbuben
verrichtete, bekam ihm übel und beraubte ihn plötzlich wieder der
Freiheit und Gemütsruhe, welche er sich erarbeitet hatte. Denn als er so
da saß auf den sonnigen Hügeln, beim Getön der Herdenglocken und die
Stadt im goldenen Herbstrauch liegen sah, tauchte die Gestalt Gritlis
immer deutlicher wieder empor, fast nach dem Sprichworte: Müßiggang ist
aller Laster Anfang! Im Grunde war es eine von den unfertigen und
abgebrochenen Geschichten, welche wie ein abgeschossenes Bein mit der
Veränderung der Jahreszeiten und des Wetters sich immer bemerklich
machen. Jedes zurückgebliebene Restchen von Hoffnung auf ein verlorenes
Glück erneut tausend Schmerzen, sobald die Seele müßig wird und die
Sonne durchscheinen läßt.
Als er eines Tages, da es in den Tälern Mittag läutete, nach seinem
Häuschen ging, um sein einfaches Essen zu bereiten, entdeckte er
plötzlich eine zierliche Frau, welche unter dem Vordache stand und in
die Ferne hinaussah. Er war kaum noch zweihundert Schritte entfernt und
glaubte Gritli zu erkennen. Heftig erschreckend stand er still und
sagte: Was will sie hier? was sucht sie da?
Er verbarg sich hinter einem wilden Birnbaum und wagte wohl fünf Minuten
lang nicht mehr hinzusehen. Als er es aber endlich tat, hatte sich die
Erscheinung umgekehrt, guckte durch das Fenster in das Innere des
Winzerhäuschens und schien die kleine Stube aufmerksam zu betrachten,
darauf setzte sie sich auf die oberste Treppenstufe, zog, wie es schien,
ein Brötchen oder dergleichen aus der Tasche und fing an es zu essen,
und es war keine Aussicht, daß die Dame so bald wieder abziehen wolle.
Wilhelm machte Kehrtum und ging ohne Umsehen und ohne gegessen zu haben,
zu seiner Herde zurück, da er seine Behausung solchergestalt bewacht
fand. In großer Aufregung blieb er bis zum Abend fort, aber endlich
trieb ihn der Hunger wieder hin; vorsichtig näherte er sich seiner
Klause und fand den Platz geräumt. Der Engel mit dem feurigen Schwert
war abgezogen vor der Pforte. Wilhelm betrachtete alles wohl, das
Fenster und die Treppe, und fand alles, wie es gewesen, still und
unverfänglich. Doch seine Ruhe war dahin, wenngleich er nicht einmal
bestimmt wußte, ob es Gritli gewesen sei.
Ohne es sich gestehen zu wollen, kleidete er sich von dem Tage an
sorgfältiger, daß er für einen Rinderhirten fast zu gut aussah, und
näherte sich nicht selten behutsam dem Häuschen; aber die Erscheinung
kehrte nicht wieder. Dafür bevölkerte sich der ganze Berg mit ihrem
Bilde, auf Weg und Steg trat es ihm entgegen und guckte ihm durch die
runden Scheiben; es schien ihm unerträglich, so nahe bei ihr zu wohnen,
und doch hätte er nicht wegziehen mögen; denn der Umstand, daß sie jetzt
frei und einsam war, vermehrte die Unordnung seiner Gedanken. Doch
zuletzt wurde er nochmals Meister über dies Wesen und stellte sich
wieder steif auf die Beine.
Als der erste Schnee fiel, war es mit dem Hirtenleben vorbei; der
Tuchscherer wollte Wilhelm nun zu sich ins Haus nehmen. Der aber
sträubte sich dagegen und bat, ihn auf dem Berge zu lassen; jener mochte
ihn in seiner Laune nicht hindern, schaffte ihm einen kleinen Ofen
hinauf und versah ihn mit allerhand Arbeit von sich und andern. Auch
kaufte sich Wilhelm für den Lohn, den er erhielt, einige Bücher, die ihm
der Tuchscherer besorgte, damit er der Pflege seiner Geisteskräften
obliegen könne, und so wurde er bald eingeschneit und sah sich einsamer
als je.
Eigentlich nur so einsam, als ein rechter Einsiedel sein kann, denn ein
solcher hat noch allerlei Zuspruch. So bekam auch Wilhelm jetzt eine
wunderliche Kundschaft. Die Bauern der Umgegend, mehrere Stunden in die
Runde, sprachen von ihm als von einem halben Weisen und Propheten, was
hauptsächlich von seinem Treiben im Walde und der seltsamen
Ausstaffierung seiner Wohnung herrührte. Sobald die Bauern einen solchen
Heiligen aufspüren, der von Reue über irgend einen geheimnisvollen
Fehltritt ergriffen, sich auf außerordentlichem Wege zu helfen sucht, in
die Einsamkeit geht und ein ungewöhnliches Leben führt, so wird alsobald
ihre Phantasie aufgeregt und sie schreiben dem Sonderling besondere
Einsichten und Kräfte zu, welche zu nutznießen sie eine unüberwindliche
Lust verspüren, im Gegensatze zu den Städtern und Aufgeklärten, so ihren
Rat bei denen holen, die niemals von der goldenen Mittelstraße abweichen
und nie über die Schnur gehauen haben.
Zuerst kam eine bedrängte Witwe mit einem ungeratenen Kinde, welches in
der Schule nichts lernen wollte und sonst allerlei Streiche verübte, und
bat ihn um Rat, indem sie vor dem Kinde ihre bittere Klage vorbrachte.
Wilhelm sprach freundlich mit dem Sünder, fragte, warum es dies und
jenes tue und nicht tue, und ermahnte es zum Guten, indem es sich besser
dabei befinden werde. Der weite Gang, die feierliche Klage der Mutter,
die abenteuerliche Einrichtung des Propheten und dessen
freundlich-ernste Worte machten einen solchen Eindruck auf das Kind, daß
es sich in der Tat besserte, und die Witwe verbreitete den Ruhm
Wilhelms.
Bald darauf kam eine andere Frau, welche über eine böse Nachbarin
klagte; dann kam ein alter Bauer, der sich das Schnupfen abgewöhnen
wollte, weil er es für Sünde hielt; Wilhelm sagte, er solle nur
fortschnupfen, es sei keine Sünde, und dieser lobte und pries den
Ratgeber, wo er hinkam. Endlich verging kaum ein Tag, wo er nicht
solchen Besuch empfing, und alle möglichen moralischen und häuslichen
Gebrechen enthüllten sich vor ihm. Am meisten besuchten ihn Mädchen und
Weiber, um geheime Briefe von ihm schreiben zu lassen, welchen sie eine
besondere Wirkung zutrauten, und sogar abergläubische Leute kamen, denen
er gestohlene oder verlorene Sachen wieder verschaffen oder
geheimnisvolle Mittel gegen körperliche Übel oder am Ende gar weissagen
sollte. Das wurde ihm denn doch lästig und bedenklich, und er suchte die
Bittsteller mit Scherzen oder barschen Worten abzuweisen. Allein nun
hieß es erst recht, er habe seine Mucken und stehe nicht jedem Rede,
woran er ganz recht tue. Am liebsten verkehrte er mit Kindern, die in
der Schule nicht fortkamen und deren man ihm häufig brachte, so daß sie
nachher allein kommen konnten. Mit diesen gab er sich liebevoll ab und
war froh, öfter eines oder mehrere um sich zu haben. Er brachte fast
alle ins Geleise und erwarb sich dadurch Dank und Ansehen und unter den
Kleinen eine große Anhängerschaft, die ihn an schönen Sonntagen manchmal
in ganzen Scharen besuchte und ihm kindliche Geschenke brachte, zum
Beispiel jedes einen schönen Apfel, so daß alle zusammen ein Körbchen
voll gaben, oder jedes zehn Nüsse, so daß sich eine Lade damit füllte.
Sie mußten dann singen und er geleitete sie eine Strecke weit heimwärts.
Von diesen Taten hörte Frau Gritli häufig erzählen und sie nahm
lebendigen Anteil, ohne es merken zu lassen. Sie war sehr neugierig und
wünschte eifrig, seine Wirtschaft selbst einmal zu sehen und ihn
sprechen zu hören. Als eine auswärtige vertraute Freundin sie für einige
Zeit besuchte, um ihr die Tage verbringen zu helfen, beschlossen die
beiden zu dem Einsiedel zu gehen. Sie verkleideten sich in junge
Bäuerinnen, färbten ihre Gesichter mit vieler Kunst und verhüllten
überdies die Köpfe mit großen Tüchern. So machten sie sich an einem
hellen Wintermorgen auf den Weg und bestiegen den Berg, der in seiner
weißen Decke blendend vom blauen Himmel abstach. Als sie vor dem
Rebhäuschen anlangten, standen sie still und betrachteten es neugierig
und mit erstaunten Blicken. Denn es glitzerte und leuchtete wie lauter
Kristall und Silber. Vom Dache hingen ringsherum große Eiszacken nieder
mit feinen Spitzen, manche beinahe bis auf den Boden. Die Wetterfahne,
die eisernen Verzierungen des Geländers, noch aus der Zopfzeit, und die
Geißblattranken waren mit Reif besetzt, und das alles wurde von der
Sonne mit siebenfarbigen Strahlen umsäumt. Unter dem Vordache auf den
Steinplatten wimmelte es von größern und kleinern Waldvögeln, die da
ihr Futter pickten und lustig durcheinander hüpften; sie waren so zahm,
daß sie kaum Platz machten vor den Füßen der Pilgerinnen und sich der
Reihe nach auf das Geländer und vor das Fenster setzten. Jede der Frauen
stieß die andere an, daß sie anklopfen sollte; die eine hustete, die
andere kicherte, aber keine wollte klopfen. Doch wagte es endlich die
Freundin, pochte nun so stark wie ein Bauer, und öffnete zugleich die
Tür, mit patzigen Schritten eintretend.
Wilhelm saß über einem großen Buche mit Pflanzenbildern; er war nicht
sehr erfreut über die frühe Störung, zumal er zwei junge frische
Weibsbilder ankommen sah. Aber Ännchen, die Freundin, begann sogleich
ein geläufiges Kauderwelsch, in welchem sie eine Anzahl Fragen und
Anliegen bunt durcheinander vorbrachte. Sie wollte eine Rechnung über
verkauftes Stroh berichtigt haben, gegen welches sie eine Zeitkuh
eingetauscht, zog ein Papier voll gegossenen Bleies hervor und forderte
die Erklärung desselben; dann sollte er aus ihrer Hand wahrsagen,
Auskunft geben, wann es am besten Hafer zu säen sei, ob man im gleichen
Jahre zweimal die Ehe versprechen dürfe, ob er nicht eine verhexte
Kaffeemühle herstellen könne, in welcher ein Kobold sitze; ferner
brachte sie ein dickes Bündel Hühner-, Enten- und Gänsefedern zu Tage
und bat ihn, dieselben zu schneiden für Geld und gute Worte, sie wolle
sie dann schon gelegentlich abholen; denn sie schreibe für ihr Leben
gern, habe aber keine Federn; und endlich verlangte sie zu wissen, ob
das neue Jahr gedeihlich zum Heiraten sein würde für eine ehrbare junge
Bäuerin. Dies alles, Stroh, Zeitkuh, Hafer, Blei, Kaffeemühle, Kobold,
Federn und Heirat, warf sie so behend und verworren untereinander, daß
kein Mensch darauf antworten konnte, und wenn Wilhelm den Mund auftat,
unterbrach sie ihn sogleich, widersprach ihm, sie habe nicht das,
sondern jenes gemeint, und machte den ergötzlichsten Auftritt. In der
Zeit stand Gritli da, die Hände unter der Schürze, und rührte sich
nicht, aus Furcht, sich zu verraten. Sie beschaute sich eifrig Wilhelms
sonderliche Behausung, welche inwendig noch märchenhafter aussah als von
außen. Die Wände waren mit bemooster Baumrinde, mit Ammonshörnern,
Vogelnestern, glänzenden Quarzen ganz bekleidet, die Decke mit wunderbar
gewachsenen Baumästen und Wurzeln, und allerhand Waldfrüchte,
Tannzapfen, blaue und rote Beerenbüschel hingen dazwischen. Die Fenster
waren herrlich gefroren; jedes der runden Gläser zeigte ein anderes
Bild, eine Landschaft, eine Blume, eine schlanke Baumgruppe, einen Stern
oder ein silbernes Damastgewebe; es waren wohl hundert solcher Scheiben,
und keine glich der andern, gleich dem Werk eines gotischen Baumeisters,
der einen Kreuzgang baut und für die hundert Spitzbogen immer neues
Maßwerk erfindet.
Das alles gefiel der Frau, welche von Viggi und seiner Kätter als eine
platte und prosaische Natur verschrieen wurde, über die Maßen wohl; doch
ließ sie zuweilen auch einen Blick über den Bewohner dieses Raumes
gleiten, und derselbe gefiel ihr nicht minder. Er war in einen rötlichen
Fuchspelz gehüllt, den ihm der Tuchscherer für den Winter gegeben; sein
dunkles Haar war dicht und lang gewachsen, ein dunkles Bärtchen war auf
seiner Oberlippe erstanden, und der ganze Gesell hatte an selbstbewußter
und freier Haltung gewonnen. Ein langes rotes Tuch, welches er lose um
den Hals geschlungen trug, vermehrte noch die kecke Wirkung seines
Aussehens, welche freilich kaum so keck gewesen wäre, wenn er gewußt
hätte, wen er vor sich habe.
Ännchen machte aber ihre Sache so gut, daß er keinen Verdacht schöpfte
und ein tolles Weibsstück zu sehen glaubte, begleitet von einer blöden
und schüchternen Person. Als ihm der Handel endlich zu bunt wurde,
unterbrach er die Schwätzerin gewaltsam und sagte: »Eure Rechnung über
Stroh und Kuh beträgt so und so viel, alles übrige ist dummes Zeug, das
Ihr anderwärts anbringen mögt, liebe Frau!«
»So!« sagte Ännchen in köstlichem Tone, und Wilhelm: »Ja, so! Geht in
wandte sich mit Fleiß und Liebe seinen Schulkindern zu. Aber im besten
Zuge ging just seine Amtsdauer zu Ende, da er nur Verweser und nicht
fest angestellt war. Wie er nun aufs neue gewählt werden sollte, wußte
der Stadtpfarrer als Vorstand der Schulpflege seine Bestätigung bei den
Behörden zu hintertreiben, indem er Bericht erstattete von Wilhelms
Verwicklung in einem bedenklichen Ehehandel und den jungen Sünder einer
heilsamen Bestrafung empfahl. Er haßte den Schulmeister wegen seines
Unglaubens und seiner mythologischen Hantierungen; denn er wußte nicht,
daß Wilhelm sich zum alleinigen und wahren Gott bekehrt hatte, sobald er
sich geliebt glaubte. So wurde er für zwei Jahre außer Amts gesetzt und
stand brot- und erwerblos da.
Er schnürte darum sein Bündel, um anderwärts ein Unterkommen zu suchen,
und zwar entschloß er sich in seinem Reumut, sich in die Dunkelheit zu
begeben und als ein armer Feldarbeiter bei den Bauern sein Brot zu
verdienen; denn als der Sohn einer verschwundenen Bauernfamilie aus der
Umgegend kannte er die ländlichen Arbeiten, denen er sich von
Kindesbeinen auf hatte unterziehen müssen. In dieser Absicht wanderte er
an einem trüben Märzmorgen über den Berg; als er aber auf die Höhe
gekommen, verwandelte sich der feuchte Nebel in einen heftigen Regen;
Wilhelm sah sich nach einem Obdach um, da er hoffte, der Regen würde
bald vorübergehen. Er bemerkte in einiger Entfernung ein Rebhäuschen,
welches zu oberst in einem großen Weinberge stand, am Rande des
Gehölzes. Das Vordach dieses Winzerhäuschens gewährte guten Schutz, und
er ging hin, sich auf die steinerne Treppe darunter zu setzen. Es war
ein malerisches altes Häuslein mit einer Wetterfahne und runden
Fensterscheiben. Das Vordach ruhte auf zwei hölzernen Säulen, die Treppe
war mit einem eisernen Geländer versehen und bildete zugleich einen
Balkon, von welchem man, wenn es schön war, weit ins Land hinein sah,
nach Süden und Westen in die Schneeberge. Das Holzwerk und die
Fensterläden waren bunt bemalt, alles jedoch etwas verwittert und
verwaschen.
Wie er so da saß, regte sich's in der kleinen Stube, die Tür tat sich
auf und der Eigentümer des Weinberges trat heraus und lud Wilhelm ein,
ins Innere zu kommen und mit ihm gemeinschaftlich den Regen abzuwarten.
Es stand eine Flasche mit Kirschgeist auf dem Tisch; der Mann holte noch
ein Gläschen aus einem Wandschränkchen und füllte es für seinen Gast.
»Brot habe ich keines hier oben,« sagte er, »doch wollen wir eine Pfeife
zusammen rauchen!« Er holte also aus dem Schränklein zwei neue lange
Tonpfeifen nebst gutem Knaster; denn es war bei den Männern von
Seldwyla, da ihnen die Zigarren verleidet waren, soeben Mode geworden,
wieder würdevoll aus altertümlichen Tonpfeifen zu rauchen, wie
holländische Kaufherren.
Dieser Seldwyler, obgleich er ein Tuchscherer war, hatte den Einfall
bekommen, Landwirtschaft zu treiben, weil deren Erzeugnisse hoch im Preise
standen und die Betreibung zahlreiche Spaziergänge veranlaßte. Der Weinberg
bildete mit mehreren großen Wiesen und einigen Bergäckern eine ehemalige
Staatsdomäne, welche der Tuchscherer gekauft, und er war jetzt
hinaufgestiegen, um den Zustand der Reben zu untersuchen, weil die
Frühlingsarbeit in demselben beginnen sollte. Er fragte Wilhelm, wo er hin
wolle, was er im Sinne habe; denn er wußte noch nichts von seiner
Absetzung. Wilhelm sagte, daß er bei Landleuten sein Auskommen suchen
wolle, indem er ihnen in allem an die Hand gehe, was zu tun sei; da er
nicht viel bedürfe, so hoffe er, sich im stillen durchzubringen. Der
Tuchscherer wunderte sich hierüber und drang weiter in ihn, bis er die
Ursache von des Schulmeisterleins Auszug erfahren. »Das ist,« sagte er,
»ein recht hämischer Streich von dem Pfaffen, der eine Kinderei nicht von
einer Schlechtigkeit unterscheiden kann. Wir wollen ihm übrigens sein
ewiges Gehätschel und Getätschel mit seinen Unterweisungsschülerinnen auch
einmal abschaffen; die Hübschen und die Feinen hält er sich allfort dicht
in der Nähe, die Buckligen aber, die Einäugigen und die Armseligen setzt er
in den Hintergrund und spricht kaum mit ihnen, und das ist ärgerlicher als
Eure ganze Briefschreiberei. Wenn diese Stilübungen ihm übel angebracht
schienen, so ist uns sein Schönheitssinn noch weniger am rechten Ort! Aber
verstehen Sie denn etwas von der Feldarbeit und den ländlichen Dingen
überhaupt?«
»O ja, ziemlich!« antwortete Wilhelm, »ich habe während der Krankheit
meiner verstorbenen Eltern alles gemacht und bin erst im achtzehnten
Jahre, als sie gestorben und unser Gut verkauft wurde, mit dem kleinen
Vermögensreste ins Lehrerseminar gegangen; es sind erst fünf Jahre
seither, und im Seminar mußten wir auch Feldarbeit betreiben.« »Und
warum wollen Sie nicht lieber Ihre Kenntnisse benutzen und eine bessere
Tätigkeit suchen, als den Bauern zu dienen?« fragte jener; allein
Wilhelm hatte seinen Entschluß gefaßt und war nicht aufgelegt, sich mit
dem Manne weiter über seine Lage einzulassen.
Indessen hatte sich der Regen wirklich gelegt und die Sonne beschien
sogar die weite Gegend. Der Eigentümer schickte sich an, den Weinberg zu
besehen und forderte Wilhelm auf, ihm noch eine Stunde Gesellschaft zu
leisten, weil er für heute noch weit genug kommen würde.
In den Reben sah der Seldwyler, daß Wilhelm in diesen Dingen eben so
sichere Kenntnis als guten Verstand besaß, und als er hier und da eine
Rebe schnitt und aufband, um seine Meinung zu zeigen, erwies sich auch
eine geübte Hand. Er ging daher mit ihm auch in die Matten und Äcker und
befragte ihn dort um seine Meinung. Wilhelm riet ihm kurzweg, die Äcker
ebenfalls wieder in Matten umzuschaffen, was sie früher auch gewesen
seien; denn was an Ackerfrüchten hier oben gedeihe, sei nicht der Rede
wert, während vom Walde her genug Feuchtigkeit da sei, die Wiesen zu
tränken. Dadurch würde ein Viehstand erhalten, der an Milch und
verkäuflichen Tieren schönen Vorteil verspräche; schon die Herbstweide
allein sei reiner Gewinn. Das leuchtete dem Tuchscherer ein; er besann
sich kurze Zeit, worauf er dem Lehrer antrug, in seinen Dienst zu
treten. Er solle arbeiten, was er leicht möge, und im übrigen das Gut in
Ordnung halten und alles beaufsichtigen. Was er irgend zu verdienen
gedächte, das wolle er ihm auch geben und ihn darüber hinaus noch mit
Rücksicht behandeln. Wilhelm bedachte sich auch einige Minuten und
schlug dann ein, aber unter der Bedingung, daß er in dem Rebhäuschen
auf dem Berge wohnen dürfe und nicht in der Stadt zu verkehren brauche.
Das war jenem sogar lieb, und so hatte der Flüchtling schon am Beginne
seiner Wanderschaft ein Obdach gefunden.
Der Tuchscherer ließ noch denselben Tag ein Bett hinaufbringen und etwas
Lebensmittel, welche von Zeit zu Zeit erneuert werden sollten. Eine
kleine Küche war vorhanden, um zur Zeit der Weinlese sieden und braten
zu können; ebenso enthielt das Erdgeschoß einen Vorratsraum, und unter
der Treppe war mit wenig Mühe ein Ziegenstall hergestellt für eine
solche Milchträgerin. So ward Wilhelm plötzlich zu einem
einsiedlerischen Arbeitsmanne und fügte sich mit Geschick und Fleiß in
seine Lage. Er ließ die Äcker von den Tagelöhnern, welche der
Tuchscherer anstellte, sorgfältig zubereiten und besonders die Steine
hinaustragen und besäete sie mit Heusamen. Die Reben bearbeitete er fast
ganz allein und kam damit zu Ende, ehe man es gedacht; wie es denn öfter
vorkommt, daß solche, die ausnahmsweise oder nach langer Unterbrechung
ein Werk beginnen, im ersten Eifer mehr vor sich bringen, als die immer
dabei sind. In wenigen Wochen gewann er Zeit, sich zunächst dem Häuschen
ein Gemüsegärtchen anzulegen, um etwas Kohl und Rüben mit dem Fleische
kochen zu können, welches man ihm wöchentlich zweimal schickte. In einer
dunkeln Nacht holte er sich sogar in der Stadt Schößlinge von seinen
Nelken und Levkojen und setzte sie, wo sich ein Raum bot; um das
Gärtchen her zog er eine Hecke von wilden Rosen, an Geländer und Säulen
empor ließ er Geißblatt ranken, und als der Sommer da war, sah das Ganze
aus fast so bunt und zierlich wie ein Albumblatt.
Noch ehe die Sonne im Osten heraufstieg, war er täglich auf den Füßen
und suchte seinen Frieden in rastloser Bewegung, bis der letzte
Rosenschimmer im Hochgebirge verblichen war. Dadurch wurde seine Zeit
ausgiebig und reichlich, daß er frei wurde in der Verwendung der
Stunden, ohne seine Pflicht zu vernachlässigen. Um sich seinen
Holzbedarf zu sammeln, machte er weite Rundgänge durch den Wald, aus
welchen sich eine Bürde fast von selbst zusammenfand. Er benutzte dazu
die heiße Tageszeit, um im Schatten zu sein und zugleich für die
Erdschwere der Handarbeit ein erbauliches Gegengewicht zu suchen. Denn
der Wald war jetzt seine Schulstube und sein Studiersaal, wenn auch
nicht in großer Gelehrsamkeit, so doch in beschaulicher Anwendung des
Wenigen, was er wußte. Er belauschte das Treiben der Vögel und der
andern Tiere, und nie kehrte er zurück, ohne Gaben der Natur in seinem
Reisigbündel wohlverwahrt heimzutragen, sei es eine schöne Moosart, ein
kunstreiches, verlassenes Vogelnest, ein wunderlicher Stein, oder eine
auffallende Mißbildung an Bäumen und Sträuchern. Aus einem verfallenen
Steinbruche klopfte er manches Stück mit uralten Resten heraus von
Kräutern und Tieren. Auch legte er eine vollständige Sammlung an von den
Rinden aller Waldbäume in den verschiedenen Lebensaltern, indem er
schöne viereckige Stücke davon, mit Moosen und Flechten bewachsen,
herausschnitt oder sinnig zusammensetzte, die Nadelhölzer sogar mit den
glänzenden Harztropfen, so daß jedes Stück ein artiges Bild abgab. Mit
alledem schmückte er in Ermanglung anderen Raumes die Wände und die
Decke seines Stübchens. Nur nichts Lebendiges heimste er ein; je schöner
und seltener ein Schmetterling war, den er flattern sah, und es gab auf
diesen Höhen deren mehrere Arten, desto andächtiger ließ er ihn fliegen.
Denn, sagte er sich, weiß ich, ob der arme Kerl sich schon vermählt hat?
Und wenn das nicht wäre, wie abscheulich, die Stammtafel eines so
schönen, unschuldigen Tieres, welches eine Zierde des Landes ist und
eine Freude den Augen, mit einem Zuge auszulöschen! Abzutun, ab und tot,
das Geschlecht einer zarten fliegenden Blume, die sich durch so viele
Jahrtausende hindurch von Anbeginn erhalten hat und welche vielleicht
die letzte ihres Geschlechtes in der ganzen Gegend sein könnte! Denn wer
zählt die Feinde und Gefahren, die ihr auflauern?
Für diesen frommen Sinn wurde er von einem untergegangenen Geschlechte
belohnt, indem eine Erderhöhung mitten im Forste, welche ihm verdächtig
erschien und die er ausgrub, das Grab eines keltischen Kriegsmannes
enthüllte. Ein langes Gerippe mit Schmuck und Waffen zeigte sich vor
seinen Blicken. Aber er baute das Grab sorgfältig wieder auf, ohne
jemand davon zu sagen, weil er nicht aus seiner Verborgenheit treten
mochte. Indessen durchforschte er den Wald aufmerksam, entdeckte noch
mehrere solche Erhöhungen mit darauf zerstreuten Steinen und behielt
sich vor, in späterer Zeit davon Anzeige zu machen. Die gefundenen
Schmuck- und Waffensachen fügte er den Merkwürdigkeiten seiner
Einsiedelei bei.
Auf diese Weise erfuhr er, wie das grüne Erdreich Trost und Kurzweil hat
für den Verlassenen und die Einsamkeit eine gesegnete Schule ist für
jeden, der nicht ganz roh und leer.
Umso schneller machte er sich unsichtbar, wenn der Tuchscherer etwa mit
großer Gesellschaft heraufkam, um sie in dem lustigen Winzerhäuschen zu
bewirten und auf den Matten herumspringen zu lassen. Insbesondere die
lustigen Damen suchten neugierig des einsiedlerischen Jünglings
ansichtig zu werden, der sich so gut anschickte und in Freiheit, Sonne
und Bergluft ein hübscher brauner Gesell geworden. Es schien auf einmal
der Mühe wert, den Flüchtling nicht zu unabhängig von der Macht ihrer
Augen werden zu lassen. Auch einzeln dehnte dann und wann eine
Vorwitzige ihre Spaziergänge bis zu dieser Höhe aus und spukte wie von
ungefähr um das Häuschen herum. Allein Wilhelm war wie umgewandelt.
Anstatt die Augen niederzuschlagen und heimlich verliebt zu sein,
blickte er die Streifzüglerinnen ruhig und halb spöttisch an und ging
seiner Wege ohne alle Anfechtung. Das war ein neues Wunder und vermehrte
das Gerede über ihn in der Stadt.
Der Tuchscherer war zufrieden über seinen Besitz. In der Ebene, wo er
auch ein Stück Land besaß, hatte er eine geräumige Stallung und eine
Scheune gebaut. Dort stand das Vieh, dessen Zucht und Verkauf Wilhelm
mit gutem Verstande beriet. Die zweimalige Heuernte brachte er ebenfalls
glücklich unter Dach, und die Weinlese, welche darauf folgte, zeigte,
daß der Berg trefflich besorgt war.
Als der Tuchscherer nun seine Rechnung machte, fand er, daß er für die
Zukunft wohl bestehen würde, wenn es so fortginge, und statt nur seinen
vorübergehenden Spaß an der Sache zu haben, wie es am Orte Sitte war,
entschloß er sich, mit Ernst dabei auszuharren und zu trachten, daß er
ein gutes Ende gewänne. Obgleich er auch ein lustiger Tuchscherer war,
barg er doch eine gute Anlage in sich von irgend einem Äderchen her,
weshalb er durch die frische Arbeitslust, Verständigkeit und Ausdauer
Wilhelms aufmerksam wurde, besonders da er sah, daß der träumende und
verliebte Schulmeister ganz plötzlich diese Tugenden hervorgekehrt, als
wenn er sie auf der Straße gefunden hätte. Was ein anderer könne, dachte
er, das werde er auch im stande sein; und so wurde er in ehrgeiziger
Laune ein sorgfältiger und wachsamer Mann. Er stand früh auf und nahm
seine Geschäfte der Ordnung nach an die Hand. Statt in seiner
Tuchschererei alles den Arbeitern zu überlassen, sah er selbst dazu und
förderte die Arbeit, daß sie gut getan wurde und rasch vor sich ging,
und er gewann noch hinlängliche Zeit für seine Landwirtschaft. Den
Aufenthalt in den Versammlungen und Wirtshäusern, wo die Spottvögel
saßen, kürzte er immer mehr ab und gewöhnte sich, zu jeder beliebigen
Zeit auszubrechen und sich loszureißen, ohne gerade ein sogenannter
Leimsieder zu werden. Er bemerkte, daß die rechte Lustigkeit erst nach
getaner Arbeit entsteht, und daß Leute, welche immer in derselben
Wirtshausluft, bei denselben Manieren sitzen, zur schönsten Krähwinkelei
gedeihen; daß der liederliche Spießbürger um kein Haar geistreicher ist,
als der solide, und daß überhaupt Männer, die sich immerwährend und
täglich mehrmals sehen, einander zuletzt dumm schwatzen. Dennoch stieß
seine Bekehrung auf große Schwierigkeiten und er mußte die tapfersten
Anstrengungen machen, um nicht zurückzufallen. Aber wenn die Verlockung
und das Geräusch zu stark wurden, verließ er die Stadt und floh zu
Wilhelm hinauf, den er liebgewonnen und zu seinem Vertrauten machte.
Hierdurch wurde dieser wiederum angefeuert, daß er in seinem löblichen
Wesen nicht mürbe wurde. Allein der Teufel suchte abermals Unkraut zu
säen, indem des Tuchscherers Frau nicht von der alten Weise lassen
wollte und den Verkehr mit den Müßigen und Lustigmachern stets
erneuerte. Der Mann klagte dem Einsiedler seine Not; Wilhelm dachte nach
und riet ihm dann, der Frau das Haar dicht am Kopfe wegzuschneiden,
damit sie ein Jahr lang nicht ausgehen könne. Denn er hielt sich für
einen Weiberfeind und freute sich, einer eine Buße anzutun. Doch der
Tuchscherer sagte, das ginge nicht an, das Haar seiner Frau sei zu schön
und, da sie sonst nicht viel tauge, ein Hauptstück seines Inventars. Da
besann sich Wilhelm aufs neue und riet ihm dann, der Frau den
Milchverkauf zu übergeben und ihr einen Teil des Gewinns zu lassen.
Dadurch würde ihre Habsucht gereizt, sie werde nicht verfehlen, Wasser
unter die Milch zu mischen, sich deshalb mit der ganzen Stadt verfeinden
und in eine wohltätige Isolierung geraten. Dieser Plan ward nicht übel
befunden und bewährte sich auch so ziemlich. Die Frau fand Freude an dem
Gewinn und war, besonders des Abends, ans Haus gebunden, um das Melken
der Kühe zu überwachen und zu sehen, daß sie nicht zu kurz käme.
Inzwischen war der Herbst gekommen und für Wilhelm nichts weiter zu tun,
als das Vieh zu hüten, welches jetzt auf die Weide getrieben wurde. Er
ließ sich das demütige Amt nicht nehmen und wollte wenigstens einen
Herbst entlang mit den schönen Tieren allein auf der Weide sein. Allein
gerade diese Übertreibung, da er den Dienst eines kleinen Hirtenbuben
verrichtete, bekam ihm übel und beraubte ihn plötzlich wieder der
Freiheit und Gemütsruhe, welche er sich erarbeitet hatte. Denn als er so
da saß auf den sonnigen Hügeln, beim Getön der Herdenglocken und die
Stadt im goldenen Herbstrauch liegen sah, tauchte die Gestalt Gritlis
immer deutlicher wieder empor, fast nach dem Sprichworte: Müßiggang ist
aller Laster Anfang! Im Grunde war es eine von den unfertigen und
abgebrochenen Geschichten, welche wie ein abgeschossenes Bein mit der
Veränderung der Jahreszeiten und des Wetters sich immer bemerklich
machen. Jedes zurückgebliebene Restchen von Hoffnung auf ein verlorenes
Glück erneut tausend Schmerzen, sobald die Seele müßig wird und die
Sonne durchscheinen läßt.
Als er eines Tages, da es in den Tälern Mittag läutete, nach seinem
Häuschen ging, um sein einfaches Essen zu bereiten, entdeckte er
plötzlich eine zierliche Frau, welche unter dem Vordache stand und in
die Ferne hinaussah. Er war kaum noch zweihundert Schritte entfernt und
glaubte Gritli zu erkennen. Heftig erschreckend stand er still und
sagte: Was will sie hier? was sucht sie da?
Er verbarg sich hinter einem wilden Birnbaum und wagte wohl fünf Minuten
lang nicht mehr hinzusehen. Als er es aber endlich tat, hatte sich die
Erscheinung umgekehrt, guckte durch das Fenster in das Innere des
Winzerhäuschens und schien die kleine Stube aufmerksam zu betrachten,
darauf setzte sie sich auf die oberste Treppenstufe, zog, wie es schien,
ein Brötchen oder dergleichen aus der Tasche und fing an es zu essen,
und es war keine Aussicht, daß die Dame so bald wieder abziehen wolle.
Wilhelm machte Kehrtum und ging ohne Umsehen und ohne gegessen zu haben,
zu seiner Herde zurück, da er seine Behausung solchergestalt bewacht
fand. In großer Aufregung blieb er bis zum Abend fort, aber endlich
trieb ihn der Hunger wieder hin; vorsichtig näherte er sich seiner
Klause und fand den Platz geräumt. Der Engel mit dem feurigen Schwert
war abgezogen vor der Pforte. Wilhelm betrachtete alles wohl, das
Fenster und die Treppe, und fand alles, wie es gewesen, still und
unverfänglich. Doch seine Ruhe war dahin, wenngleich er nicht einmal
bestimmt wußte, ob es Gritli gewesen sei.
Ohne es sich gestehen zu wollen, kleidete er sich von dem Tage an
sorgfältiger, daß er für einen Rinderhirten fast zu gut aussah, und
näherte sich nicht selten behutsam dem Häuschen; aber die Erscheinung
kehrte nicht wieder. Dafür bevölkerte sich der ganze Berg mit ihrem
Bilde, auf Weg und Steg trat es ihm entgegen und guckte ihm durch die
runden Scheiben; es schien ihm unerträglich, so nahe bei ihr zu wohnen,
und doch hätte er nicht wegziehen mögen; denn der Umstand, daß sie jetzt
frei und einsam war, vermehrte die Unordnung seiner Gedanken. Doch
zuletzt wurde er nochmals Meister über dies Wesen und stellte sich
wieder steif auf die Beine.
Als der erste Schnee fiel, war es mit dem Hirtenleben vorbei; der
Tuchscherer wollte Wilhelm nun zu sich ins Haus nehmen. Der aber
sträubte sich dagegen und bat, ihn auf dem Berge zu lassen; jener mochte
ihn in seiner Laune nicht hindern, schaffte ihm einen kleinen Ofen
hinauf und versah ihn mit allerhand Arbeit von sich und andern. Auch
kaufte sich Wilhelm für den Lohn, den er erhielt, einige Bücher, die ihm
der Tuchscherer besorgte, damit er der Pflege seiner Geisteskräften
obliegen könne, und so wurde er bald eingeschneit und sah sich einsamer
als je.
Eigentlich nur so einsam, als ein rechter Einsiedel sein kann, denn ein
solcher hat noch allerlei Zuspruch. So bekam auch Wilhelm jetzt eine
wunderliche Kundschaft. Die Bauern der Umgegend, mehrere Stunden in die
Runde, sprachen von ihm als von einem halben Weisen und Propheten, was
hauptsächlich von seinem Treiben im Walde und der seltsamen
Ausstaffierung seiner Wohnung herrührte. Sobald die Bauern einen solchen
Heiligen aufspüren, der von Reue über irgend einen geheimnisvollen
Fehltritt ergriffen, sich auf außerordentlichem Wege zu helfen sucht, in
die Einsamkeit geht und ein ungewöhnliches Leben führt, so wird alsobald
ihre Phantasie aufgeregt und sie schreiben dem Sonderling besondere
Einsichten und Kräfte zu, welche zu nutznießen sie eine unüberwindliche
Lust verspüren, im Gegensatze zu den Städtern und Aufgeklärten, so ihren
Rat bei denen holen, die niemals von der goldenen Mittelstraße abweichen
und nie über die Schnur gehauen haben.
Zuerst kam eine bedrängte Witwe mit einem ungeratenen Kinde, welches in
der Schule nichts lernen wollte und sonst allerlei Streiche verübte, und
bat ihn um Rat, indem sie vor dem Kinde ihre bittere Klage vorbrachte.
Wilhelm sprach freundlich mit dem Sünder, fragte, warum es dies und
jenes tue und nicht tue, und ermahnte es zum Guten, indem es sich besser
dabei befinden werde. Der weite Gang, die feierliche Klage der Mutter,
die abenteuerliche Einrichtung des Propheten und dessen
freundlich-ernste Worte machten einen solchen Eindruck auf das Kind, daß
es sich in der Tat besserte, und die Witwe verbreitete den Ruhm
Wilhelms.
Bald darauf kam eine andere Frau, welche über eine böse Nachbarin
klagte; dann kam ein alter Bauer, der sich das Schnupfen abgewöhnen
wollte, weil er es für Sünde hielt; Wilhelm sagte, er solle nur
fortschnupfen, es sei keine Sünde, und dieser lobte und pries den
Ratgeber, wo er hinkam. Endlich verging kaum ein Tag, wo er nicht
solchen Besuch empfing, und alle möglichen moralischen und häuslichen
Gebrechen enthüllten sich vor ihm. Am meisten besuchten ihn Mädchen und
Weiber, um geheime Briefe von ihm schreiben zu lassen, welchen sie eine
besondere Wirkung zutrauten, und sogar abergläubische Leute kamen, denen
er gestohlene oder verlorene Sachen wieder verschaffen oder
geheimnisvolle Mittel gegen körperliche Übel oder am Ende gar weissagen
sollte. Das wurde ihm denn doch lästig und bedenklich, und er suchte die
Bittsteller mit Scherzen oder barschen Worten abzuweisen. Allein nun
hieß es erst recht, er habe seine Mucken und stehe nicht jedem Rede,
woran er ganz recht tue. Am liebsten verkehrte er mit Kindern, die in
der Schule nicht fortkamen und deren man ihm häufig brachte, so daß sie
nachher allein kommen konnten. Mit diesen gab er sich liebevoll ab und
war froh, öfter eines oder mehrere um sich zu haben. Er brachte fast
alle ins Geleise und erwarb sich dadurch Dank und Ansehen und unter den
Kleinen eine große Anhängerschaft, die ihn an schönen Sonntagen manchmal
in ganzen Scharen besuchte und ihm kindliche Geschenke brachte, zum
Beispiel jedes einen schönen Apfel, so daß alle zusammen ein Körbchen
voll gaben, oder jedes zehn Nüsse, so daß sich eine Lade damit füllte.
Sie mußten dann singen und er geleitete sie eine Strecke weit heimwärts.
Von diesen Taten hörte Frau Gritli häufig erzählen und sie nahm
lebendigen Anteil, ohne es merken zu lassen. Sie war sehr neugierig und
wünschte eifrig, seine Wirtschaft selbst einmal zu sehen und ihn
sprechen zu hören. Als eine auswärtige vertraute Freundin sie für einige
Zeit besuchte, um ihr die Tage verbringen zu helfen, beschlossen die
beiden zu dem Einsiedel zu gehen. Sie verkleideten sich in junge
Bäuerinnen, färbten ihre Gesichter mit vieler Kunst und verhüllten
überdies die Köpfe mit großen Tüchern. So machten sie sich an einem
hellen Wintermorgen auf den Weg und bestiegen den Berg, der in seiner
weißen Decke blendend vom blauen Himmel abstach. Als sie vor dem
Rebhäuschen anlangten, standen sie still und betrachteten es neugierig
und mit erstaunten Blicken. Denn es glitzerte und leuchtete wie lauter
Kristall und Silber. Vom Dache hingen ringsherum große Eiszacken nieder
mit feinen Spitzen, manche beinahe bis auf den Boden. Die Wetterfahne,
die eisernen Verzierungen des Geländers, noch aus der Zopfzeit, und die
Geißblattranken waren mit Reif besetzt, und das alles wurde von der
Sonne mit siebenfarbigen Strahlen umsäumt. Unter dem Vordache auf den
Steinplatten wimmelte es von größern und kleinern Waldvögeln, die da
ihr Futter pickten und lustig durcheinander hüpften; sie waren so zahm,
daß sie kaum Platz machten vor den Füßen der Pilgerinnen und sich der
Reihe nach auf das Geländer und vor das Fenster setzten. Jede der Frauen
stieß die andere an, daß sie anklopfen sollte; die eine hustete, die
andere kicherte, aber keine wollte klopfen. Doch wagte es endlich die
Freundin, pochte nun so stark wie ein Bauer, und öffnete zugleich die
Tür, mit patzigen Schritten eintretend.
Wilhelm saß über einem großen Buche mit Pflanzenbildern; er war nicht
sehr erfreut über die frühe Störung, zumal er zwei junge frische
Weibsbilder ankommen sah. Aber Ännchen, die Freundin, begann sogleich
ein geläufiges Kauderwelsch, in welchem sie eine Anzahl Fragen und
Anliegen bunt durcheinander vorbrachte. Sie wollte eine Rechnung über
verkauftes Stroh berichtigt haben, gegen welches sie eine Zeitkuh
eingetauscht, zog ein Papier voll gegossenen Bleies hervor und forderte
die Erklärung desselben; dann sollte er aus ihrer Hand wahrsagen,
Auskunft geben, wann es am besten Hafer zu säen sei, ob man im gleichen
Jahre zweimal die Ehe versprechen dürfe, ob er nicht eine verhexte
Kaffeemühle herstellen könne, in welcher ein Kobold sitze; ferner
brachte sie ein dickes Bündel Hühner-, Enten- und Gänsefedern zu Tage
und bat ihn, dieselben zu schneiden für Geld und gute Worte, sie wolle
sie dann schon gelegentlich abholen; denn sie schreibe für ihr Leben
gern, habe aber keine Federn; und endlich verlangte sie zu wissen, ob
das neue Jahr gedeihlich zum Heiraten sein würde für eine ehrbare junge
Bäuerin. Dies alles, Stroh, Zeitkuh, Hafer, Blei, Kaffeemühle, Kobold,
Federn und Heirat, warf sie so behend und verworren untereinander, daß
kein Mensch darauf antworten konnte, und wenn Wilhelm den Mund auftat,
unterbrach sie ihn sogleich, widersprach ihm, sie habe nicht das,
sondern jenes gemeint, und machte den ergötzlichsten Auftritt. In der
Zeit stand Gritli da, die Hände unter der Schürze, und rührte sich
nicht, aus Furcht, sich zu verraten. Sie beschaute sich eifrig Wilhelms
sonderliche Behausung, welche inwendig noch märchenhafter aussah als von
außen. Die Wände waren mit bemooster Baumrinde, mit Ammonshörnern,
Vogelnestern, glänzenden Quarzen ganz bekleidet, die Decke mit wunderbar
gewachsenen Baumästen und Wurzeln, und allerhand Waldfrüchte,
Tannzapfen, blaue und rote Beerenbüschel hingen dazwischen. Die Fenster
waren herrlich gefroren; jedes der runden Gläser zeigte ein anderes
Bild, eine Landschaft, eine Blume, eine schlanke Baumgruppe, einen Stern
oder ein silbernes Damastgewebe; es waren wohl hundert solcher Scheiben,
und keine glich der andern, gleich dem Werk eines gotischen Baumeisters,
der einen Kreuzgang baut und für die hundert Spitzbogen immer neues
Maßwerk erfindet.
Das alles gefiel der Frau, welche von Viggi und seiner Kätter als eine
platte und prosaische Natur verschrieen wurde, über die Maßen wohl; doch
ließ sie zuweilen auch einen Blick über den Bewohner dieses Raumes
gleiten, und derselbe gefiel ihr nicht minder. Er war in einen rötlichen
Fuchspelz gehüllt, den ihm der Tuchscherer für den Winter gegeben; sein
dunkles Haar war dicht und lang gewachsen, ein dunkles Bärtchen war auf
seiner Oberlippe erstanden, und der ganze Gesell hatte an selbstbewußter
und freier Haltung gewonnen. Ein langes rotes Tuch, welches er lose um
den Hals geschlungen trug, vermehrte noch die kecke Wirkung seines
Aussehens, welche freilich kaum so keck gewesen wäre, wenn er gewußt
hätte, wen er vor sich habe.
Ännchen machte aber ihre Sache so gut, daß er keinen Verdacht schöpfte
und ein tolles Weibsstück zu sehen glaubte, begleitet von einer blöden
und schüchternen Person. Als ihm der Handel endlich zu bunt wurde,
unterbrach er die Schwätzerin gewaltsam und sagte: »Eure Rechnung über
Stroh und Kuh beträgt so und so viel, alles übrige ist dummes Zeug, das
Ihr anderwärts anbringen mögt, liebe Frau!«
»So!« sagte Ännchen in köstlichem Tone, und Wilhelm: »Ja, so! Geht in
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