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Die Leute von Seldwyla — Band 1 - 10

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  Gemäuer des Hauses waren mit verwaschenen Freskomalereien bedeckt,
  welche lustige Engelscharen, sowie singende und tanzende Heilige
  darstellten. Aber alles war verwischt und undeutlich wie ein Traum und
  überdies reichlich mit Weinreben übersponnen, und blaue reifende
  Trauben hingen überall in dem Laube. Um das Haus herum standen
  verwilderte Kastanienbäume, und knorrige starke Rosenbüsche, auf
  eigene Hand fortlebend, wuchsen da und dort so wild herum, wie
  anderswo die Holunderbäume. Der Estrich diente zum Tanzsaal; als Sali
  mit Vrenchen daherkam, sahen sie schon von weitem die Paare unter dem
  offenen Dache sich drehen und rund um das Haus zechten und lärmten
  eine Menge lustiger Gäste. Vrenchen, welches andächtig und wehmütig
  sein Liebeshaus trug, glich einer heiligen Kirchenpatronin auf alten
  Bildern, welche das Modell eines Domes oder Klosters auf der Hand
  hält, so sie gestiftet; aber aus der frommen Stiftung, die ihr im
  Sinne lag, konnte nichts werden. Als es aber die wilde Musik hörte,
  welche vom Estrich ertönte, vergaß es sein Leid und verlangte endlich
  nichts, als mit Sali zu tanzen. Sie drängten sich durch die Gäste, die
  vor dem Hause saßen und in der Stube, verlumpte Leute aus Seldwyla,
  die eine billige Landpartie machten, armes Volk von allen Enden, und
  stiegen die Treppe hinauf, und sogleich drehten sie sich im Walzer
  herum, keinen Blick voneinander abwendend. Erst als der Walzer zu
  Ende, sahen sie sich um, Vrenchen hatte sein Haus zerdrückt und
  zerbrochen und wollte eben betrübt darüber werden, als es noch mehr
  erschrak über den schwarzen Geiger, in dessen Nähe sie standen. Er saß
  auf einer Bank, die auf einem Tische stand, und sah so schwarz aus wie
  gewöhnlich; nur hatte er heute einen grünen Tannenbusch auf sein
  Hütchen gesteckt, zu seinen Füßen hatte er eine Flasche Rotwein und
  ein Glas stehen, welche er nie umstieß, obgleich er fortwährend mit
  den Beinen strampelte, wenn er geigte, und so eine Art von Eiertanz
  damit vollbrachte. Neben ihm saß noch ein schöner aber trauriger
  junger Mensch mit einem Waldhorn, und ein Buckliger stand an einer
  Baßgeige. Sali erschrak auch, als er den Geiger erblickte; dieser
  grüßte sie aber auf das freundlichste und rief: „Ich habe doch gewußt,
  daß ich euch noch einmal aufspielen werde! So macht euch nur recht
  lustig, ihr Schätzchen, und tut mir Bescheid!" Er bot Sali das volle
  Glas und Sali trank und tat ihm Bescheid. Als der Geiger sah, wie
  erschrocken Vrenchen war, suchte er ihm freundlich zuzureden und
  machte einige fast anmutige Scherze, die es zum Lachen brachten. Es
  ermunterte sich wieder, und nun waren sie froh, hier einen Bekannten
  zu haben und gewissermaßen unter dem besonderen Schutze des Geigers zu
  stehen. Sie tanzten nun ohne Unterlaß, sich und die Welt vergessend in
  dem Drehen, Singen und Lärmen, welches in und außer dem Hause rumorte
  und vom Berge weit in die Gegend hinausschallte, welche sich
  allmählich in den silbernen Duft des Herbstabends hüllte. Sie tanzten,
  bis es dunkelte und der größere Teil der lustigen Gäste sich
  schwankend und johlend nach allen Seiten entfernte. Was noch
  zurückblieb, war das eigentliche Hudelvölkchen, welches nirgends zu
  Hause war und sich zum guten Tag auch noch eine gute Nacht machen
  wollte. Unter diesen waren einige, welche mit dem Geiger gut bekannt
  schienen und fremdartig aussahen in ihrer zusammengewürfelten Tracht.
  Besonders ein junger Bursche fiel auf, der eine grüne Manchesterjacke
  trug und einen zerknitterten Strohhut, um den er einen Kranz von
  Ebereschen oder Vogelbeerbüscheln gebunden hatte. Dieser führte eine
  wilde Person mit sich, die einen Rock von kirschrotem, weißgetüpfeltem
  Kattun trug und sich einen Reifen von Rebenschossen um den Kopf
  gebunden, so daß an jeder Schläfe eine blaue Traube hing. Dies Paar
  war das ausgelassenste von allen, tanzte und sang unermüdlich und war
  in allen Ecken zugleich. Dann war noch ein schlankes hübsches Mädchen
  da, welches ein schwarzseidenes abgeschossenes Kleid trug und ein
  weißes Tuch um den Kopf, daß der Zipfel über den Rücken fiel. Das Tuch
  zeigte rote, eingewobene Streifen und war eine gute leinene Handzwehle
  oder Serviette. Darunter leuchteten aber ein Paar veilchenblaue Augen
  hervor. Um den Hals und auf der Brust hing eine sechsfache Kette von
  Vogelbeeren auf einen Faden gezogen und ersetzte die schönste
  Korallenschnur. Diese Gestalt tanzte fortwährend allein mit sich
  selbst und verweigerte hartnäckig, mit einem der Gesellen zu tanzen.
  Nichtsdestominder bewegte sie sich anmutig und leicht herum und
  lächelte jedesmal, wenn sie sich an dem traurigen Waldhornbläser
  vorüberdrehte, wozu dieser immer den Kopf abwandte. Noch einige andere
  vergnügte Frauensleute waren da mit ihren Beschützern, alle von
  dürftigem Aussehen, aber sie waren um so lustiger und in bester
  Eintracht untereinander. Als es gänzlich dunkel war, wollte der Wirt
  keine Lichter anzünden, da er behauptete, der Wind lösche sie aus,
  auch ginge der Vollmond sogleich auf und für das, was ihm diese
  Herrschaften einbrächten, sei das Mondlicht gut genug. Diese Eröffnung
  wurde mit großem Wohlgefallen aufgenommen; die ganze Gesellschaft
  stellte sich an die Brüstung des luftigen Saales und sah dem Aufgange
  des Gestirnes entgegen, dessen Röte schon am Horizonte stand; und
  sobald der Mond aufging und sein Licht quer durch den Estrich des
  Paradiesgärtels warf, tanzten sie im Mondschein weiter, und zwar so
  still, artig und seelenvergnügt, als ob sie im Glanze von hundert
  Wachskerzen tanzten. Das seltsame Licht machte alle vertrauter und so
  konnten Sali und Vrenchen nicht umhin, sich unter die gemeinsame
  Lustbarkeit zu mischen und auch mit andern zu tanzen. Aber jedesmal,
  wenn sie ein Weilchen getrennt gewesen, flogen sie zusammen und
  feierten ein Wiedersehen, als ob sie sich jahrelang gesucht und
  endlich gefunden. Sali machte ein trauriges und unmutiges Gesicht,
  wenn er mit einer andern tanzte, und drehte fortwährend das Gesicht
  nach Vrenchen hin, welches ihn nicht ansah, wenn es vorüberschwebte,
  glühte wie eine Purpurrose und überglücklich schien, mit wem es auch
  tanzte. „Bist du eifersüchtig, Sali?" fragte es ihn, als die
  Musikanten müde waren und aufhörten. „Gott bewahre!" sagte er, „ich
  wüßte nicht, wie ich es anfangen sollte!" „Warum bist du denn so bös,
  wenn ich mit andern tanze?" „Ich bin nicht darüber bös, sondern weil
  ich mit andern tanzen muß! Ich kann kein anderes Mädchen ausstehen, es
  ist mir, als wenn ich ein Stück Holz im Arm habe, wenn du es nicht
  bist! Und du? Wie geht es dir?" „Oh, ich bin immer wie im Himmel, wenn
  ich nur tanze und weiß, daß du zugegen bist! Aber ich glaube, ich
  würde sogleich tot umfallen, wenn du weggingest und mich daließest!"
  Sie waren hinabgegangen und standen vor dem Hause! Vrenchen umschloß
  ihn mit beiden Armen, schmiegte seinen schlanken zitternden Leib an
  ihn, drückte seine glühende Wange, die von heißen Tränen feucht war,
  an sein Gesicht und sagte schluchzend: „Wir können nicht zusammensein
  und doch kann ich nicht von dir lassen, nicht einen Augenblick mehr,
  nicht eine Minute!" Sali umarmte und drückte das Mädchen heftig an
  sich und bedeckte es mit Küssen. Seine verwirrten Gedanken rangen nach
  einem Ausweg, aber er sah keinen. Wenn auch das Elend und die
  Hoffnungslosigkeit seiner Herkunft zu überwinden gewesen wären, so war
  seine Jugend und unerfahrene Leidenschaft nicht beschaffen, sich eine
  lange Zeit der Prüfung und Entsagung vorzunehmen und zu überstehen,
  und dann wäre erst noch Vrenchens Vater dagewesen, welchen er
  zeitlebens elend gemacht. Das Gefühl, in der bürgerlichen Welt nur in
  einer ganz ehrlichen und gewissenfreien Ehe glücklich sein zu können,
  war in ihm ebenso lebendig wie in Vrenchen, und in beiden verlassenen
  Wesen war es die letzte Flamme der Ehre, die in früheren Zeiten in
  ihren Häusern geglüht hatte und welche die sich sicher fühlenden Väter
  durch einen unscheinbaren Mißgriff ausgeblasen und zerstört hatten,
  als sie, eben diese Ehre zu äufnen wähnend durch Vermehrung ihres
  Eigentums, so gedankenlos sich das Gut eines Verschollenen aneigneten,
  ganz gefahrlos, wie sie meinten. Das geschieht nun freilich alle Tage;
  aber zuweilen stellt das Schicksal ein Exempel auf und läßt zwei
  solche Äufner ihrer Hausehre und ihres Gutes zusammentreffen, die sich
  dann unfehlbar aufreiben und auffressen wie zwei wilde Tiere. Denn die
  Mehrer des Reiches verrechnen sich nicht nur auf den Thronen, sondern
  zuweilen auch in den niedersten Hütten und langen ganz am
  entgegengesetzten Ende an, als wohin sie zu kommen trachteten, und der
  Schild der Ehre ist im Umsehen eine Tafel der Schande. Sali und
  Vrenchen hatten aber noch die Ehre ihres Hauses gesehen in zarten
  Kinderjahren und erinnerten sich, wie wohlgepflegte Kinderchen sie
  gewesen und daß ihre Väter ausgesehen wie andere Männer, geachtet und
  sicher. Dann waren sie auf lange getrennt worden, und als sie sich
  wiederfanden, sahen sie in sich zugleich das verschwundene Glück des
  Hauses, und beider Neigung klammerte sich nur um so heftiger
  ineinander. Sie mochten so gern fröhlich und glücklich sein, aber nur
  auf einem guten Grund und Boden, und dieser schien ihnen unerreichbar,
  während ihr wallendes Blut am liebsten gleich zusammengeströmt wäre.
  „Nun ist es Nacht," rief Vrenchen, „und wir sollen uns trennen!" „Ich
  soll nach Hause gehen und dich allein lassen?" rief Sali, „nein, das
  kann ich nicht!" „Dann wird es Tag werden und nicht besser um uns
  stehen!"
  „Ich will euch einen Rat geben, ihr närrischen Dinger!" tönte eine
  schrille Stimme hinter ihnen, und der Geiger trat vor sie hin. „Da
  steht ihr," sagte er, „wißt nicht wo hinaus und hättet euch gern. Ich
  rate euch, nehmt euch, wie ihr seid, und säumet nicht. Kommt mit mir
  und meinen guten Freunden in die Berge, da brauchet ihr keinen
  Pfarrer, kein Geld, keine Schriften, keine Ehre, kein Bett, nichts als
  eueren guten Willen! Es ist gar nicht so übel bei uns, gesunde Luft
  und genug zu essen, wenn man tätig ist; die grünen Wälder sind unser
  Haus, wo wir uns liebhaben, wie es uns gefällt, und im Winter machen
  wir uns die wärmsten Schlupfwinkel oder kriechen den Bauern ins warme
  Heu. Also kurz entschlossen, haltet gleich hier Hochzeit und kommt mit
  uns, dann seid ihr aller Sorgen los und habt euch für immer und
  ewiglich, solang es euch gefällt wenigstens; denn alt werdet ihr bei
  unserem freien Leben, das könnt ihr glauben! Denkt nicht etwa, daß ich
  euch nachtragen will, was eure Alten an mir getan! Nein! Es macht mir
  zwar Vergnügen, euch da angekommen zu sehen, wo ihr seid; allein damit
  bin ich zufrieden und werde euch behilflich und dienstfertig sein,
  wenn ihr mir folgt." Er sagte das wirklich in einem aufrichtigen und
  gemütlichen Tone. „Nun, besinnt euch ein bißchen, aber folget mir,
  wenn ich euch gut zum Rat bin! Laßt fahren die Welt und nehmet euch
  und fraget niemandem was nach! Denkt an das luftige Hochzeitbett im
  tiefen Wald oder auf einem Heustock, wenn es euch zu kalt ist!" Damit
  ging er ins Haus. Vrenchen zitterte in Salis Armen und dieser sagte:
  „Was meinst du dazu? Mich dünkt, es wäre nicht übel, die ganze Welt in
  den Wind zu schlagen und uns dafür zu lieben ohne Hindernis und
  Schranken!" Er sagte es aber mehr als einen verzweifelten Scherz, denn
  im Ernst. Vrenchen aber erwiderte ganz treuherzig und küßte ihn:
  „Nein, dahin möchte ich nicht gehen, denn da geht es auch nicht nach
  meinem Sinne zu. Der junge Mensch mit dem Waldhorn und das Mädchen mit
  dem seidenen Rocke gehören auch so zueinander und sollen sehr verliebt
  gewesen sein. Nun sei letzte Woche die Person ihm zum erstenmal untreu
  geworden, was ihm nicht in den Kopf wolle, und deshalb sei er so
  traurig und schmolle mit ihr und mit den andern, die ihn auslachen.
  Sie aber tut eine mutwillige Buße, indem sie allein tanzt und mit
  niemandem spricht, und lacht ihn auch nur aus damit. Dem armen
  Musikanten sieht man es jedoch an, daß er sich noch heute mit ihr
  versöhnen wird. Wo es aber so hergeht, möchte ich nicht sein, denn nie
  möcht' ich dir untreu werden, wenn ich auch sonst noch alles ertragen
  würde, um dich zu besitzen !" Indessen aber fieberte das arme Vrenchen
  immer heftiger an Salis Brust; denn schon seit dem Mittag, wo jene
  Wirtin es für eine Braut gehalten und es eine solche ohne Widerrede
  vorgestellt, lohte ihm das Brautwesen im Blute, und je hoffnungsloser
  es war, um so wilder und unbezwinglicher. Dem Sali erging es ebenso
  schlimm, da die Reden des Geigers, so wenig er ihnen folgen mochte,
  dennoch seinen Kopf verwirrten, und er sagte mit ratlos stockender
  Stimme: „Komm herein, wir müssen wenigstens noch was essen und
  trinken." Sie gingen in die Gaststube, wo niemand mehr war, als die
  kleine Gesellschaft der Heimatlosen, welche bereits um einen Tisch saß
  und eine spärliche Mahlzeit hielt. „Da kommt unser Hochzeitpaar!" rief
  der Geiger, „jetzt seid lustig und fröhlich und laßt euch
  zusammengeben!" Sie wurden an den Tisch genötigt und flüchteten sich
  vor sich selbst an denselben hin; sie waren froh, nur für den
  Augenblick unter Leuten zu sein. Sali bestellte Wein und reichlichere
  Speisen, und es begann eine große Fröhlichkeit. Der Schmollende hatte
  sich mit der Untreuen versöhnt, und das Paar liebkoste sich in
  begieriger Seligkeit; das andere wilde Paar sang und trank und ließ es
  ebenfalls nicht an Liebesbezeigungen fehlen, und der Geiger nebst dem
  buckligen Baßgeiger lärmten ins Blaue hinein. Sali und Vrenchen waren
  still und hielten sich umschlungen; auf einmal gebot der Geiger Stille
  und führte eine spaßhafte Zeremonie auf, welche eine Trauung
  vorstellen sollte. Sie mußten sich die Hände geben und die
  Gesellschaft stand auf und trat der Reihe nach zu ihnen, um sie zu
  beglückwünschen und in ihrer Verbrüderung willkommen zu heißen. Sie
  ließen es geschehen, ohne ein Wort zu sagen, und betrachteten es als
  einen Spaß, während es sie doch kalt und heiß durchschauerte.
  Die kleine Versammlung wurde jetzt immer lauter und aufgeregter,
  angefeuert durch den stärkeren Wein, bis plötzlich der Geiger zum
  Aufbruch mahnte. „Wir haben weit," rief er, „und Mitternacht ist
  vorüber! Auf! Wir wollen dem Brautpaar das Geleit geben und ich will
  vorausgeigen, daß es eine Art hat!" Da die ratlosen Verlassenen nichts
  Besseres wußten und überhaupt ganz verwirrt waren, ließen sie abermals
  geschehen, daß man sie voranstellte und die übrigen zwei Paare einen
  Zug hinter ihnen formierten, welchen der Bucklige abschloß mit seiner
  Baßgeige über der Schulter. Der Schwarze zog voraus und spielte auf
  seiner Geige wie besessen den Berg hinunter, und die andern lachten,
  sangen und sprangen hintendrein. So strich der tolle nächtliche Zug
  durch die stillen Felder und durch das Heimatdorf Salis und Vrenchens,
  dessen Bewohner längst schliefen.
  Als sie durch die stillen Gassen kamen und an ihren verlorenen
  Vaterhäusern vorüber, ergriff sie eine schmerzhaft wilde Laune und sie
  tanzten mit den andern um die Wette hinter dem Geiger her, küßten
  sich, lachten und weinten. Sie tanzten auch den Hügel hinauf, über
  welchen der Geiger sie führte, wo die drei Äcker lagen, und oben
  strich der schwärzliche Kerl die Geige noch einmal so wild, sprang und
  hüpfte wie ein Gespenst, und seine Gefährten blieben nicht zurück in
  der Ausgelassenheit, so daß es ein wahrer Blocksberg war auf der
  stillen Höhe; selbst der Bucklige sprang keuchend mit seiner Last
  herum und keines schien mehr das andere zu sehen. Sali faßte Vrenchen
  fester in den Arm und zwang es, stillzustehen; denn er war zuerst zu
  sich gekommen. Er küßte es, damit es schweige, heftig auf den Mund, da
  es sich ganz vergessen hatte und laut sang. Es verstand ihn endlich,
  und sie standen still und lauschend, bis ihr tobendes Hochzeitsgeleite
  das Feld entlang gerast war und, ohne sie zu vermissen, am Ufer des
  Stromes hinauf sich verzog. Die Geige, das Gelächter der Mädchen und
  die Jauchzer der Burschen tönten aber noch eine gute Zeit durch die
  Nacht, bis zuletzt alles verklang und still wurde.
  „Diesen sind wir entflohen," sagte Sali, „aber wie entfliehen wir uns
  selbst? Wie meiden wir uns?"
  Vrenchen war nicht imstande zu antworten und lag hochaufatmend an
  seinem Halse. „Soll ich dich nicht lieber ins Dorf zurückbringen und
  Leute wecken, daß sie dich aufnehmen? Morgen kannst du ja dann deinen
  Weges ziehen und gewiß wird es dir wohlgehen, du kommst überall fort!"
  „Fortkommen, ohne dich!"
  „Du mußt mich vergessen!"
  „Das werde ich nie! Könntest denn du es tun?"
  „Darauf kommt's nicht an, mein Herz!" sagte Sali und streichelte ihm
  die heißen Wangen, je nachdem es sie leidenschaftlich an seiner Brust
  herumwarf, „es handelt sich jetzt nur um dich; du bist noch so ganz
  jung und es kann dir noch auf allen Wegen gut gehen!"
  „Und dir nicht auch, du alter Mann?"
  „Komm!" sagte Sali und zog es fort. Aber sie gingen nur einige
  Schritte und standen wieder still, um sich bequemer zu umschlingen und
  zu herzen. Die Stille der Welt sang und musizierte ihnen durch die
  Seelen, man hörte nur den Fluß unten sacht und lieblich rauschen im
  langsamen Ziehen.
  „Wie schön ist es da ringsherum! Hörst du nicht etwas tönen, wie ein
  schöner Gesang oder ein Geläute!"
  „Es ist das Wasser, das rauscht! Sonst ist alles still."
  „Nein, es ist noch etwas anderes, hier, dort, hinaus überall tönt's!"
  „Ich glaube, wir hören unser eigenes Blut in unsern Ohren rauschen!"
  Sie horchten ein Weilchen auf diese eingebildeten oder wirklichen
  Töne, welche von der großen Stille herrührten, oder welche sie mit den
  magischen Wirkungen des Mondlichtes verwechselten, welches nah und
  fern über die weißen Herbstnebel wallte, welche tief auf den Gründen
  lagen. Plötzlich fiel Vrenchen etwas ein: es suchte in seinem
  Brustgewand und sagte: „Ich habe dir noch ein Andenken gekauft, das
  ich dir geben wollte!" Und es gab ihm den einfachen Ring und steckte
  ihm denselben selbst an den Finger. Sali nahm sein Ringlein auch
  hervor und steckte ihn an Vrenchens Hand, indem er sagte: „So haben
  wir die gleichen Gedanken gehabt!" Vrenchen hielt seine Hand in das
  bleiche Silberlicht und betrachtete den Ring. „Ei, wie ein feiner
  Ring!" sagte es lachend; „nun sind wir aber doch verlobt und
  versprochen, du bist mein Mann und ich deine Frau, wir wollen es
  einmal einen Augenblick lang denken, nur bis jener Nebelstreif am Mond
  vorüber ist, oder bis wir zwölf gezählt haben! Küsse mich zwölfmal!"
  Sali liebte gewiß ebenso stark als Vrenchen, aber die Heiratsfrage war
  in ihm doch nicht so leidenschaftlich lebendig, als ein bestimmtes
  Entweder--Oder, als ein unmittelbares Sein oder Nichtsein, wie in
  Vrenchen, welches nur das eine zu fühlen fähig war und mit
  leidenschaftlicher Entschiedenheit unmittelbar Tod oder Leben darin
  sah. Aber jetzt ging ihm endlich ein Licht auf und das weibliche
  Gefühl des jungen Mädchens ward in ihm auf der Stelle zu einem wilden
  und heißen Verlangen und eine glühende Klarheit erhellte ihm die
  Sinne. So heftig er Vrenchen schon umarmt und liebkost hatte, tat er
  es jetzt doch ganz anders und stürmischer und übersäte es mit Küssen.
  Vrenchen fühlte trotz aller eigenen Leidenschaft auf der Stelle diesen
  Wechsel und ein heftiges Zittern durchfuhr sein ganzes Wesen, aber ehe
  jener Nebelstreif am Monde vorüber war, war es auch davon ergriffen.
  Im heftigen Schmeicheln und Ringen begegneten sich ihre
  ringgeschmückten Hände und faßten sich fest, wie von selbst eine
  Trauung vollziehend, ohne den Befehl eines Willens. Salis Herz klopfte
  halb wie mit Hämmern, bald stand es still, er atmete schwer und sagte
  leise: „Es gibt eines für uns, Vrenchen, wir halten Hochzeit zu dieser
  Stunde und gehen dann aus der Welt--dort ist das tiefe Wasser--dort
  scheidet uns niemand mehr und wir sind zusammengewesen--ob kurz oder
  lang, das kann uns dann gleich sein."--
  Vrenchen sagte sogleich: „Sali--was du da sagst, habe ich schon lang
  bei mir gedacht und ausgemacht, nämlich, daß wir sterben könnten und
  dann alles vorbei wäre--so schwöre mir es, daß du es mit mir tun
  willst!"
  „Es ist schon so gut wie getan, es nimmt dich niemand mehr aus meiner
  Hand, als der Tod!" rief Sali außer sich. Vrenchen aber atmete hoch
  auf, Tränen der Freude entströmten seinen Augen; es raffte sich auf
  und sprang leicht wie ein Vogel über das Feld gegen den Fluß hinunter.
  Sali eilte ihm nach; denn er glaubte, es wolle ihm entfliehen, und
  Vrenchen glaubte, er wolle es zurückhalten, so sprangen sie einander
  nach und Vrenchen lachte wie ein Kind, welches sich nicht will fangen
  lassen. „Bereust du es schon?" rief eines zum andern, als sie am
  Flusse angekommen waren und sich ergriffen; „nein, es freut mich immer
  mehr!" erwiderte ein jedes. Aller Sorgen ledig, gingen sie am Ufer
  hinunter und überholten die eilenden Wasser, so astig suchten sie eine
  Stätte, um sich niederzulassen; denn ihre Leidenschaft sah jetzt nur
  den Rausch der Seligkeit, der in ihrer Vereinigung lag, und der ganze
  Wert und Inhalt des übrigen Lebens drängte sich in diesem zusammen;
  was danach kam, Tod und Untergang, war ihnen ein Hauch, ein Nichts,
  und sie dachten weniger daran, als ein Leichtsinniger denkt, wie er
  den anderen Tag leben will, wenn er seine letzte Habe verzehrt.
  „Meine Blumen gehen mir voraus," rief Vrenchen, „sieh, sie sind ganz
  dahin und verwelkt!" Es nahm sie von der Brust, warf sie ins Wasser
  und sang laut dazu: „Doch süßer als ein Mandelkern ist meine Lieb' zu
  dir!"
  „Halt!" rief Sali, „hier ist dein Brautbett!"
  Sie waren an einen Fahrweg gekommen, der vom Dorfe her an den Fluß
  führte, und hier war eine Landungsstelle, wo ein großes Schiff, hoch
  mit Heu beladen, angebunden lag. In wilder Laune begann er unverweilt
  die starken Seile loszubinden, Vrenchen fiel ihm lachend in den Arm
  und rief: „Was willst du tun? Wollen mir den Bauern ihr Heuschiff
  stehlen zu guter Letzt?" „Das soll die Aussteuer sein, die sie uns
  geben, eine schwimmende Bettstelle und ein Bett, wie noch keine Braut
  gehabt! Sie werden überdies ihr Eigentum unten wieder finden, wo es ja
  dochhin soll, und werden nicht wissen, was damit geschehen ist. Sieh,
  schon schwankt es und will hinaus!"
  Das Schiff lag einige Schritte vom Ufer entfernt im tieferen Wasser.
  Sali hob Vrenchen mit seinen Armen hoch empor und schritt durch das
  Wasser gegen das Schiff; aber es liebkoste ihn so heftig ungebärdig
  und zappelte wie ein Fisch, daß er im ziehenden Wasser keinen Stand
  halten konnte. Es strebte Gesicht und Hände ins Wasser zu tauchen und
  rief: „Ich will auch das kühle Wasser versuchen! Weißt du noch, wie
  kalt und naß unsere Hände waren, als wir sie uns zum erstenmal gaben?
  Fische fingen wir damals, jetzt werden wir selber Fische sein und zwei
  schöne große!" „Sei ruhig, du lieber Teufel!" sagte Sali, der Mühe
  hatte, zwischen dem tobenden Liebchen und den Wellen sich
  aufrechtzuhalten, „es zieht mich sonst fort!" Er hob seine Last in das
  Schiff und schwang sich nach; er hob sie auf die hochgebettete weiche
  und duftende Ladung und schwang sich auch hinauf, und als sie oben
  saßen, trieb das Schiff allmählich in die Mitte des Stromes hinaus und
  schwamm dann, sich langsam drehend, zu Tal.
  Der Fluß zog bald durch hohe dunkle Wälder, die ihn überschatteten,
  bald durch offenes Land; bald an stillen Dörfern vorbei, bald an
  einzelnen Hütten; hier geriet er in eine Stille, daß er einem ruhigen
  See glich und das Schiff beinah stillhielt, dort strömte er um Felsen
  und ließ die schlafenden Ufer schnell hinter sich; und als die
  Morgenröte auf stieg, tauchte zugleich eine Stadt mit ihren Türmen aus
  dem silbergrauen Strome. Der untergehende Mond, rot wie Gold, legte
  eine glänzende Bahn den Strom hinauf und auf dieser kam das Schiff
  langsam überquer gefahren. Als es sich der Stadt näherte, glitten im
  Froste des Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest
  umwanden, von der dunklen Masse herunter in die kalten Fluten.
  Das Schiff legte sich eine Weile nachher unbeschädigt an eine Brücke
  und blieb da stehen. Als man später unterhalb der Stadt die Leichen
  fand und ihre Herkunft ausgemittelt hatte, war in den Zeitungen zu
  lesen, zwei junge Leute, die Kinder zweier blutarmen zugrunde
  gegangenen Familien, welche in unversöhnlicher Feindschaft lebten,
  hätten im Wasser den Tod gesucht, nachdem sie einen ganzen Nachmittag
  herzlich miteinander getanzt und sich belustigt auf einer Kirchweih.
  Es sei dies Ereignis vermutlich in Verbindung zu bringen mit einem
  Heuschiff aus jener Gegend, welches ohne Schiffsleute in der Stadt
  gelandet sei, und man nehme an, die jungen Leute haben das Schiff
  entwendet, um darauf ihre verzweifelte und gottverlassene Hochzeit zu
  halten, abermals ein Zeichen von der umsichgreifenden Entsittlichung
  und Verwilderung der Leidenschaften.
  * * * * *
  
  FRAU REGEL AMRAIN UND IHR JÜNGSTER
  Regula Amrain war die Frau eines abwesenden Seldwylers; dieser hatte
  einen großen Steinbruch hinter dem Städtchen besessen und eine
  Zeitlang ausgebeutet, und zwar auf Seldwyler Art. Das ganze Nest war
  beinahe aus dem guten Sandstein gebaut, aus welchem der Berg bestand;
  aber das Schuldenwesen, das auf den Häusern ruhte, hatte von jeher
  recht eigentlich schon mit den Steinen begonnen, aus denen sie gebaut
  waren; denn nichts schien den Seldwylern so wohlgeeignet, als Stoff
  und Gegenstand eines muntern Verkehrs, als ein solcher Steinbruch, und
  derselbe glich einer in Felsen gehauenen römischen Schaubühne, über
  welche die Besitzer emsig hinwegliefen, einer den andern jagend.
  Herr Amrain, ein ansehnlicher Mann, der eine ansehnliche Menge
  Fleisch, Fische und Wein verzehren mußte und mächtige Stücke
  Seidenzeug zu seinen breiten schönen Westen brauchte, himmelblaue,
  kirschrote und großartig gewürfelte, war ursprünglich ein Knopfmacher
  gewesen und hatte auch die eine und andere Stunde des Tages Knöpfe
  besponnen. Als er aber mit den Jahren gar so fest und breit wurde,
  sagte ihm die sitzende Lebensart nicht mehr zu, und als er überhaupt
  den rechten Phäakenaufschwung genommen: die rote Sammetweste, die
  goldene Uhrkette und den Siegelring, liquidierte er die Knopfmacherei
  und übernahm in einer wichtigen Hauptsitzung der Seldwyler Spekulanten
  jenen Steinbruch. Nun hatte er die angemessene bewegliche Lebensweise
  gefunden, indem er mit einer roten Brieftasche voll Papiere und einem
  eleganten Spazierstock, auf welchem mit silbernen Stiften ein Zollmaß
  angebracht war, etwa in den Steinbruch hinaus lustwandelte, wenn das
  Wetter lieblich war, und dort mit dem besagten Stocke an den
  verpfändeten Steinlagern herumstocherte, den Schweiß von der Stirn
  wischte, in die schöne Gegend hinausschaute und dann schleunigst in
  die Stadt zurückkehrte, um den eigentlichen Geschäften nachzugehen,
  dem Umsatz der verschiedenen Papiere in der Brieftasche, was in den
  kühlen Gaststuben auf das beste vor sich ging. Kurz, er war ein
  vollkommener Seldwyler, bis auf die politische Veränderlichkeit,
  welche aber die Ursache seines zu frühen Falles wurde. Denn ein
  konservativer Kapitalist aus einer Finanzstadt, welcher keinen Spaß
  verstand, hatte auf den Steinbruch einiges Geld hergegeben und damit
  geglaubt, einem wackern Parteigenossen unter die Arme zu greifen. Als
  daher Herr Amrain in einem Anfall gänzlicher Gedankenlosigkeit eines
  Tages höchst verfängliche liberale Redensarten vernehmen ließ, welche
  ruchbar wurden, erzürnte sich jener Herr mit Recht; denn nirgends ist
  politische Gesinnungslosigkeit widerwärtiger, als an einem großen
  dicken Manne, der eine bunte Sammetweste trägt! Der erboste Gönner zog
  daher jählings sein Geld zurück, als kein Mensch daran dachte, und
  trieb dadurch vor der Zeit den bestürzten Amrain vom Steinbruch in die
  Welt hinaus.
  Man wird selten sehen, daß es großen schweren Männern schlecht ergeht,
  weil sie eine durchgreifende und überzeugende Gabe besitzen, für ihren
  anspruchsvollen Körperbau zu sorgen, und die Nahrungsmittel können
  sich demselben nicht lange entziehen, sondern werden von dem
  Magnetgebirge des Bauches mächtig angezogen. So fraß sich der
  landflüchtige Amrain auch glücklich durch die Fernen; und obgleich er
  nichts Großes mehr wurde, aß und trank er doch irgendwo in der Fremde
  so weidlich wie zu Hause.
  Doch den Seldwylern, welche jetzt ratschlagten, welcher von ihnen nun
  am tauglichsten wäre, eine Zeitlang die Honneurs am Steinbruch zu
  
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