Die Leiden des jungen Werther — Band 2 - 5

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drückte sie wider ihre Brust, neigte sich mit einer wehmütigen
Bewegung zu ihm, und ihre glühenden Wangen berührten sich. Die Welt
verging ihnen. Er schlang seine Arme um sie her, preßte sie an seine
Brust und deckte ihre zitternden, stammelnden Lippen mit wütenden
Küssen.--"Werther!" rief sie mit erstickter Stimme, sich abwendend,
"Werther!" und drückte mit schwacher Hand seine Brust von der
ihrigen; "Werther!" rief sie mit dem gefaßten Tone des edelsten
Gefühles.--Er widerstand nicht, ließ sie sich aus seinen Armen und
warf sich unsinnig vor sie hin.--Sie riß sich auf, und in
ängstlicher Verwirrung, bebend zwischen Liebe und Zorn, sagte sie:
"Das ist das letzte Mal! Werther! Sie sehn mich nicht wieder." Und
mit dem vollsten Blick der Liebe auf den Elenden eilte sie ins
Nebenzimmer und schloß hinter sich zu.--Werther streckte ihr die
Arme nach, getraute sich nicht, sie zu halten. Er lag an der Erde,
den Kopf auf dem Kanapee, und in dieser Stellung blieb er über eine
halbe Stunde, bis ihn ein Geräusch zu sich selbst rief. Es war das
Mädchen, das den Tisch decken wollte. Er ging im Zimmer auf und ab,
und da er sich wieder allein sah, ging er zur Türe des Kabinetts und
rief mit leiser Stimme: "Lotte! Lotte! Nur noch ein Wort! Ein
Lebewohl!"--Sie schwieg.--Er harrte und bat und harrte; dann riß er
sich weg und rief: "lebe wohl, Lotte! Auf ewig lebe wohl!"
Er kam ans Stadttor. Die Wächter, die ihn schon gewohnt waren,
ließen ihn stillschweigend hinaus. Es stiebte zwischen Regen und
Schnee, und erst gegen eilfe klopfte er wieder. Sein Diener bemerkte,
als Werther nach Hause kam, daß seinem Herrn der Hut fehlte. Er
getraute sich nicht, etwas zu sagen, entkleidete ihn, alles war naß.
Man hat nachher den Hut auf einem Felsen, der an dem Abhange des
Hügels ins Tal sieht, gefunden, und es ist unbegreiflich, wie er ihn
in einer finstern, feuchten Nacht, ohne zu stürzen, erstiegen hat.
Er legte sich zu Bette und schlief lange. Der Bediente fand ihn
schreibend, als er ihm den andern Morgen auf sein Rufen den Kaffee
brachte. Er schrieb folgendes am Briefe an Lotten:
"Zum letztenmale denn, zum letztenmale schlage ich diese Augen auf.
Sie sollen, ach, die Sonne nicht mehr sehn, ein trüber, neblichter
Tag hält sie bedeckt. So traure denn, Natur! Dein Sohn, dein Freund,
dein Geliebter naht sich seinem Ende. Lotte, das ist ein Gefühl
ohnegleichen, und doch kommt es dem dämmernden Traum am nächsten, zu
sich zu sagen: das ist der letzte Morgen. Der letzte! Lotte, ich
habe keinen Sinn für das Wort: der letzte! Stehe ich nicht da in
meiner ganzen Kraft, und morgen liege ich ausgestreckt und schlaff am
Boden. Sterben! Was heißt das? Siehe, wir träumen, wenn wir vom
Tode reden. Ich habe manchen sterben sehen; aber so eingeschränkt ist
die Menschheit, daß sie für ihres Daseins Anfang und Ende keinen Sinn
hat. Jetzt noch mein, dein! Dein, o Geliebte! Und einen
Augenblick--getrennt, geschieden--vielleicht auf ewig?--Nein, Lotte,
nein--wie kann ich vergehen? Wie kannst du vergehen? Wir sind ja!
--vergehen!--Was heißt das? Das ist wieder ein Wort, ein leerer
Schall, ohne Gefühl für mein Herz.--Tot, Lotte! Eingescharrt der
kalten Erde, so eng! So finster!--Ich hatte eine Freundin, die mein
alles war meiner hülflosen Jugend; sie starb, und ich folgte ihrer
Leiche und stand an dem Grabe, wie sie den Sarg hinunterließen und
die Seile schnurrend unter ihm weg und wieder herauf schnellten, dann
die erste Schaufel hinunterschollerte, und die ängstliche Lade einen
dumpfen Ton wiedergab, und dumpfer und immer dumpfer, und endlich
bedeckt war!--Ich stürzte neben das Grab hin--ergriffen, erschüttert,
geängstigt, zerrissen mein Innerstes, aber ich wußte nicht, wie mir
geschah--wie mir geschehen wird--Sterben! Grab! Ich verstehe die
Worte nicht!
O vergib mir! Vergib mir! Gestern! Es hätte der letzte Augenblick
meines Lebens sein sollen. O du Engel! Zum ersten Male, zum ersten
Male ganz ohne Zweifel durch mein innig Innerstes durchglühte mich
das Wonnegefühl: sie liebt mich! Sie liebt mich! Es brennt noch auf
meinen Lippen das heilige Feuer, das von den deinigen strömte, neue,
warme Wonne ist in meinem Herzen. Vergib mir! Vergib mir!
Ach, ich wußte, daß du mich liebtest, wußte es an den ersten
seelenvollen Blicken, an dem ersten Händedruck, und doch, wenn ich
wieder weg war, wenn ich Alberten an deiner Seite sah, verzagte ich
wieder in fieberhaften Zweifeln.
Erinnerst du dich der Blumen, die du mir schicktest, als du in
jener fatalen Gesellschaft mir kein Wort sagen, keine Hand reichen
konntest? O, ich habe die halbe Nacht davor gekniet, und sie
versiegelten mir deine Liebe. Aber ach! Diese Eindrücke gingen
vorüber, wie das Gefühl der Gnade seines Gottes allmählich wieder aus
der Seele des Gläubigen weicht, die ihm mit ganzer Himmelsfülle in
heiligen, sichtbaren Zeichen gereicht ward.
Alles das ist vergänglich, aber keine Ewigkeit soll das glühende
Leben auslöschen, das ich gestern auf deinen Lippen genoß, das ich in
mir fühle! Sie liebt mich! Dieser Arm hat sie umfaßt, diese Lippen
haben auf ihren Lippen gezittert, dieser Mund hat an dem ihrigen
gestammelt. Sie ist mein! Du bist mein! Ja, Lotte, auf ewig.
Und was ist das, daß Albert dein Mann ist? Mann! Das wäre denn für
diese Welt--und für diese Welt Sünde, daß ich dich liebe, daß ich
dich aus seinen Armen in die meinigen reißen möchte? Sünde? Gut,
und ich strafe mich dafür; ich habe sie in ihrer ganzen Himmelswonne
geschmeckt, diese Sünde, habe Lebensbalsam und Kraft in mein Herz
gesaugt. Du bist von diesem Augenblicke mein! Mein, o Lotte! Ich
gehe voran! Gehe zu meinem Vater, zu deinem Vater. Dem will ich's
klagen, und er wird mich trösten, bis du kommst, und ich fliege dir
entgegen und fasse dich und bleibe bei dir vor dem Angesichte des
Unendlichen in ewigen Umarmungen.
Ich träume nicht, ich wähne nicht! Nahe am Grabe wird mir es heller.
Wir werden sein! Wir werden uns wieder sehen! Deine Mutter sehen!
Ich werde sie sehen, werde sie finden, ach, und vor ihr mein ganzes
Herz ausschütten! Deine Mutter, dein Ebenbild."
Gegen eilfe fragte Werther seinen Bedienten, ob wohl Albert
zurückgekommen sei? Der Bediente sagte: ja, er habe dessen Pferd
dahinführen sehen. Darauf gibt ihm der Herr ein offenes Zettelchen
des Inhalts: "Wollten Sie mir wohl zu einer vorhabenden Reise Ihre
Pistolen leihen? Leben Sie recht wohl!"
Die liebe Frau hatte die letzte Nacht wenig geschlafen; was sie
gefürchtet hatte, war entschieden, auf eine Weise entschieden, die
sie weder ahnen noch fürchten konnte. Ihr sonst so rein und leicht
fließendes Blut war in einer fieberhaften Empörung, tausenderlei
Mepfindungen zerrütteten das schöne Herz. War es das Feuer von
Werthers Umarmungen, das sie in ihrem Busen fühlte? War es Unwille
über seine Verwegenheit? War es eine unmutige Vergleichung ihres
gegenwärtigen Zustandes mit jenen Tagen ganz unbefangener, freier
Unschuld und sorglosen Zutrauens an sich selbst? Wie sollte sie
ihrem Manne entgegengehen, wie ihm eine Szene bekennen, die sie so
gut gestehen durfte, und die sie sich doch zu gestehen nicht
getraute? Sie hatten so lange gegen einander geschwiegen, und sollte
sie die erste sein, die das Stillschweigen bräche und eben zur
unrechten Zeit ihrem Gatten eine so unerwartete Entdeckung machte?
Schon fürchtete sie, die bloße Nachricht von Werthers Besuch werde
ihm einen unangenehmen Eindruck machen, und nun gar diese unerwartete
Katastrophe! Konnte sie wohl hoffen, daß ihr Mann sie ganz im rechten
Lichte sehen, ganz ohne Vorurteil aufnehmen würde? Und konnte sie
wünschen, daß er in ihrer Seele lesen möchte? Und doch wieder, konnte
sie sich verstellen gegen den Mann, vor dem sie immer wie ein
kristallhelles Glas offen und frei gestanden und dem sie keine ihrer
Empfindungen jemals verheimlicht noch verheimlichen können? Eins und
das andre machte ihr Sorgen und setzte sie in Verlegenheit; und immer
kehrten ihre Gedanken wieder zu Werthern, der für sie verloren war,
den sie nicht lassen konnte, den sie--leider!--sich selbst
überlassen mußte, und dem, wenn er sie verloren hatte, nichts mehr
übrig blieb.
Wie schwer lag jetzt, was sie sich in dem Augenblick nicht deutlich
machen konnte, die Stockung auf ihr, die sich unter ihnen festgesetzt
hatte! So verständige, so gute Menschen fingen wegen gewisser
heimlicher Verschiedenheiten unter einander zu schweigen an, jedes
dachte seinem Recht und dem Unrechte des andern nach, und die
Verhältnisse verwickelten und verhetzten sich dergestalt, daß es
unmöglich ward, den Knoten eben in dem kritischen Momente, von dem
alles abhing, zu lösen. Hätte eine glückliche Vertraulichkeit sie
früher wieder einander näher gebracht, wäre Liebe und Nachsicht
wechselsweise unter ihnen lebendig worden und hätte ihre Herzen
aufgeschlossen, vielleicht wäre unser Freund noch zu retten gewesen.
Noch ein sonderbarer Umstand kam dazu. Werther hatte, wie wir aus
seinen Briefen wissen, nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er sich
diese Welt zu verlassen sehnte. Albert hatte ihn oft bestritten, auch
war zwischen Lotten und ihrem Mann manchmal die Rede davon gewesen.
Dieser, wie er einen entschiedenen Widerwillen gegen die Tat empfand,
hatte auch gar oft mit einer Art von Empfindlichkeit, die sonst ganz
außer seinem Charakter lag, zu erkennen gegeben, daß er an dem Ernst
eines solchen Vorsatzes sehr zu zweifeln Ursach' finde, er hatte sich
sogar darüber einigen Scherz erlaubt und seinen Unglauben Lotten
mitgeteilt. Dies beruhigte sie zwar von einer Seite, wenn ihre
Gedanken ihr das traurige Bild vorführten, von der andern aber fühlte
sie sich auch dadurch gehindert, ihrem Manne die Besorgnisse
mitzuteilen, die sie in dem Augenblicke quälten.
Albert kam zurück, und Lotte ging ihm mit einer verlegenen
Hastigkeit entgegen, er war nicht heiter, sein Geschäft war nicht
vollbracht, er hatte an dem benachbarten Amtmanne einen unbiegsamen,
kleinsinnigen Menschen gefunden. Der Üble Weg auch hatte ihn
verdrießlich gemacht.
Er fragte, ob nichts vorgefallen sei, und sie antwortete mit
Übereilung: Werther sei gestern abends dagewesen. Er fragte, ob
Briefe gekommen, und er erhielt zur Antwort, daß ein Brief und Pakete
auf seiner Stube lägen. Er ging hinüber, und Lotte blieb allein. Die
Gegenwart des Mannes, den sie liebte und ehrte, hatte einen neuen
Eindruck in ihr Herz gemacht. Das Andenken seines Edelmuts, seiner
Liebe und Güte hatte ihr Gemüt mehr beruhigt, sie fühlte einen
heimlichen Zug, ihm zu folgen, sie nahm ihre Arbeit und ging auf sein
Zimmer, wie sie mehr zu tun pflegte. Sie fand ihn beschäftigt, die
Pakete zu erbrechen und zu lesen. Einige schienen nicht das
Angenehmste zu enthalten. Sie tat einige Fragen an ihn, die er kurz
beantwortete, und sich an den Pult stellte, zu schreiben.
Sie waren auf diese Weise eine Stunde nebeneinander gewesen, und es
ward immer dunkler in Lottens Gemüt. Sie fühlte, wie schwer es ihr
werden würde, ihrem Mann, auch wenn er bei dem besten Humor wäre, das
zu entdecken, was ihr auf dem Herzen lag; sie verfiel in eine Wehmut,
die ihr um desto ängstlicher ward, als sie solche zu verbergen und
ihre Tränen zu verschlucken suchte.
Die Erscheinung von Werthers Knaben setzte sie in die größte
Verlegenheit; er überreichte Alberten das Zettelchen, der sich
gelassen nach seiner Frau wendete und sagte: "gib ihm die Pistolen."
--"Ich lasse ihm glückliche Reise wünschen." sagte er zum Jungen.
--Das fiel auf sie wie ein Donnerschlag, sie schwankte aufzustehen,
sie wußte nicht, wie ihr geschah. Langsam ging sie nach der Wand,
zitternd nahm sie das Gewehr herunter, putzte den Staub ab und
zauderte, und hätte noch lange gezögert, wenn nicht Albert durch
einen fragenden Blick sie gedrängt hätte. Sie gab das unglückliche
Werkzeug dem Knaben, ohne ein Wort vorbringen zu können, und als der
zum Hause hinaus war, machte sie ihre Arbeit zusammen, ging in ihr
Zimmer, in dem Zustande der unaussprechlichsten Ungewißheit. Ihr
Herz weissagte ihr alle Schrecknisse. Bald war sie im Begriffe, sich
zu den Füßen ihres Mannes zu werfen, ihm alles zu entdecken, die
Geschichte des gestrigen Abends, ihre Schuld und ihre Ahnungen. Dann
sah sie wieder keinen Ausgang des Unternehmens, am wenigsten konnte
sie hoffen, ihren Mann zu einem Gange nach Werthern zu bereden. Der
Tisch ward gedeckt, und eine gute Freundin, die nur etwas zu fragen
kam, gleich gehen wollte--und blieb, machte die Unterhaltung bei
Tische erträglich; man zwang sich, man redete, man erzählte, man
vergaß sich.
Der Knabe kam mit den Pistolen zu Werthern, der sie ihm mit
Entzücken abnahm, als er hörte, Lotte habe sie ihm gegeben. Er ließ
sich Brot und Wein bringen, hieß den Knaben zu Tische gehen und
setzte sich nieder, zu schreiben.
"Sie sind durch deine Hände gegangen, du hast den Staub davon
geputzt, ich küsse sie tausendmal, du hast sie berührt! Und du, Geist
des Himmels, begünstigst meinen Entschluß, und du, Lotte, reichst mir
das Werkzeug, du, von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünschte,
und ach! Nun empfange. O ich habe meinen Jungen ausgefragt. Du
zittertest, als du sie ihm reichtest, du sagtest kein Lebewohl!
--Wehe! Wehe! Kein Lebewohl!--solltest du dein Herz für mich
verschlossen haben, um des Augenblicks willen, der mich ewig an dich
befestigte? Lotte, kein Jahrtausend vermag den Eindruck auszulöschen!
Und ich fühle es, du kannst den nicht hassen, der so für dich glüht."

Nach Tische hieß er den Knaben alles vollends einpacken, zerriß
viele Papiere, ging aus und brachte noch kleine Schulden in Ordnung.
Er kam wieder nach Hause, ging wieder aus vors Tor, ungeachtet des
Regens, in den gräflichen Garten, schweifte weiter in der Gegend
umher und kam mit anbrechender Nacht zurück und schrieb.
"Wilhelm, ich habe zum letzten Male Feld und Wald und den Himmel
gesehen. Leb wohl auch du! Liebe Mutter, verzeiht mir! Tröste sie,
Wilhelm! Gott segne euch! Meine Sachen sind alle in Ordnung. Lebt
wohl! Wir sehen uns wieder und freudiger."
"Ich habe dir Übel gelohnt, Albert, und du vergibst mir. Ich habe
den Frieden deines Hauses gestört, ich habe Mißtrauen zwischen euch
gebracht. Lebe wohl! Ich will es enden. O daß ihr glücklich wäret
durch meinen Tod! Albert! Albert! Mache den Engel glücklich! Und
so wohne Gottes Segen über dir!"
Er kannte den Abend noch viel in seinen Papieren, zerriß vieles und
warf es in den Ofen, versiegelte einige Päcke mit den Adressen an
Wilhelm. Sie enthielten kleine Aufsätze, abgerissene Gedanken, deren
ich verschiedene gesehen habe; und nachdem er um zehn Uhr Feuer hatte
nachlegen und sich eine Flasche Wein geben lassen, schickte er den
Bedienten, dessen Kammer wie auch die Schlafzimmer der Hausleute weit
hinten hinaus waren, zu Bette, der sich dann in seinen Kleidern
niederlegte, um frühe bei der Hand zu sein; denn sein Herr hatte
gesagt, die Postpferde würden vor sechse vors Haus kommen.

Nach Eilfe
Alles ist so still um mich her, und so ruhig meine Seele. Ich danke
dir, Gott, der du diesen letzten Augenblicken diese Wärme, diese
Kraft schenkest.
Ich trete an das Fenster, meine Beste, und sehe, und sehe noch
durch die stürmenden, vorüberfliehenden Wolken einzelne Sterne des
ewigen Himmels! Nein, ihr werdet nicht fallen! Der Ewige trägt euch
an seinem Herzen, und mich. Ich sehe die Deichselsterne des Wagens,
des liebsten unter allen Gestirnen. Wenn ich nachts von dir ging,
wie ich aus deinem Tore trat, stand er gegen mir über. Mit welcher
Trunkenheit habe ich ihn oft angesehen, oft mit aufgehabenen Händen
ihn zum Zeichen, zum heiligen Merksteine meiner gegenwärtigen
Seligkeit gemacht! Und noch--o Lotte, was erinnert mich nicht an dich!
Umgibst du mich nicht! Und habe ich nicht, gleich einem Kinde,
ungenügsam allerlei Kleinigkeiten zu mir gerissen, die du Heilige
berührt hattest!
Liebes Schattenbild! Ich vermache dir es zurück, Lotte, und bitte
dich, es zu ehren. Tausend, tausend Küsse habe ich darauf gedrückt,
tausend Grüße ihm zugewinkt, wenn ich ausging oder nach Hause kam.
Ich habe deinen Vater in einem Zettelchen gebeten, meine Leiche zu
schützen. Auf dem Kirchhofe sind zwei Lindenbäume, hinten in der Ecke
nach dem Felde zu; dort wünsche ich zu ruhen. Er kann, er wird das
für seinen Freund tun. Bitte ihn auch. Ich will frommen Christen
nicht zumuten, ihren Körper neben einen armen Unglücklichen zu legen.
Ach, ich wollte, ihr begrübt mich am Wege, oder im einsamen Tale,
daß Priester und Levit vor dem bezeichneten Steine sich segnend
vorübergingen und der Samariter eine Träne weinte.
Hier, Lotte! Ich schaudre nicht, den kalten, schrecklichen Kelch zu
fassen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken soll! Du reichtest
mir ihn, und zage nicht. All! All! So sind alle die Wünsche und
Hoffnungen meines Lebens erfüllt! So kalt, so starr an der ehernen
Pforte des Todes anzuklopfen.
Daß ich des Glückes hätte teilhaftig werden können, für dich zu
sterben! Lotte, für dich mich hinzugeben! Ich wollte mutig, ich
wollte freudig sterben, wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines
Lebens wiederschaffen könnte. Aber ach! Das ward nur wenigen Edeln
gegeben, ihr Blut für die Ihrigen zu vergießen und durch ihren Tod
ein neues, hundertfältiges Leben ihren Freunden anzufachen.
In diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben sein, du hast sie
berührt, geheiligt; ich habe auch deinen Vater darum gebeten. Meine
Seele schwebt über dem Sarge. Man soll meine Taschen nicht aussuchen.
Diese blaßrote Schleife, die du am Busen hattest, als ich dich zum
ersten Male unter deinen Kindern fand--o küsse sie tausendmal und
erzähle ihnen das Schicksal ihres unglücklichen Freundes. Die Lieben!
Sie wimmeln um mich. Ach wie ich mich an dich schloß! Seit dem
ersten Augenblicke dich nicht lassen konnte!--Diese Schleife soll
mit mir begraben werden. An meinem Geburtstage schenktest du sie mir!
Wie ich das alles verschlang!--Ach, ich dachte nicht, daß mich der
Weg hierher führen sollte!--Sei ruhig! Ich bitte dich, sei ruhig!
--Sie sind geladen--es schlägt zwölfe! So sei es denn!--Lotte!
Lotte, lebe wohl! Lebe wohl!"
Ein Nachbar sah den Blick vom Pulver und hörte den Schuß fallen; da
aber alles stille blieb, achtete er nicht weiter drauf.
Morgens um sechse tritt der Bediente herein mit dem Lichte. Er
findet seinen Herrn an der Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er
faßt ihn an; keine Antwort, er röchelt nur noch. Er läuft nach den
Ärzten, nach Alberten. Lotte hört die Schelle ziehen, ein Zittern
ergreift alle ihre Glieder. Sie weckt ihren Mann, sie stehen auf,
der Bediente bringt heulend und stotternd die Nachricht, Lotte sinkt
ohnmöchtig vor Alberten nieder.
Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde
ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle gelähmt. über
dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn
war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Überfluß eine Ader am Arme, das
Blut lief, er holte noch immer Atem.
Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte man schließen, er
habe sitzend vor dem Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er
heruntergesunken, hat sich konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt.
Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger
Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste.
Das Haus, die Nachbarschaft, die Stadt kam in Aufruhr. Albert trat
herein. Werthern hatte man auf das Bett gelegt, die Stirn verbunden,
sein Gesicht schon wie eines Toten, er rührte kein Glied. Die Lunge
röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald stärker; man erwartete
sein Ende.
Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. Emilia Galotti lag
auf dem Pulte aufgeschlagen.
Von Alberts Bestürzung, von Lottens Jammer laßt mich nichts sagen.
Der alte Amtmann kam auf die Nachricht hereingesprengt, er küßte
den Sterbenden unter den heißesten Tränen. Seine ältesten Söhne kamen
bald nach ihm zu Fuße, sie fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke
des unbändigsten Schmerzens, küßten ihm die Hände und den Mund, und
der älteste, den er immer am meisten geliebt, hing an seinen Lippen,
bis er verschieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriß. Um
zwölfe mittags starb er. Die Gegenwart des Amtmannes und seine
Anstalten tauschten einen Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an
die Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Der Alte folgte der
Leiche und die Söhne, Albert vermocht's nicht. Man fürchtete für
Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn
begleitet.
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  • Die Leiden des jungen Werther — Band 2 - 1
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  • Die Leiden des jungen Werther — Band 2 - 5
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