Die Leiden des jungen Werther — Band 2 - 4

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Schicksal, die zu betrüben, denen ich Freude schuldig war. Leb' wohl,
mein Teuerster! Allen Segen des Himmels über dich! Leb' wohl!"
Was in dieser Zeit in Lottens Seele vorging, wie ihre Gesinnungen
gegen ihren Mann, gegen ihren unglücklichen Freund gewesen, getrauen
wir uns kaum mit Worten auszudrücken, ob wir uns gleich davon, nach
der Kenntnis ihres Charakters, wohl einen stillen Begriff machen
können, und eine schöne weibliche Seele sich in die ihrige denken und
mit ihr empfinden kann.
So viel ist gewiß, sie war fest bei sich entschlossen, alles zu tun,
um Werthern zu entfernen, und wenn sie zauderte, so war es eine
herzliche, freundschaftliche Schonung, weil sie wußte, wie viel es
ihm kosten, ja daß es ihm beinahe unmöglich sein würde. Doch ward sie
in dieser Zeit mehr gedrängt, Ernst zu machen; es schwieg ihr Mann
ganz über dies Verhältnis, wie sie auch immer darüber geschwiegen
hatte, und um so mehr war ihr angelegen, ihm durch die Tat zu
beweisen, wie ihre Gesinnungen der seinigen wert seien.
An demselben Tage, als Werther den zuletzt eingeschalteten Brief an
seinen Freund geschrieben, es war der Sonntag vor Weihnachten, kam er
abends zu Lotten und fand sie allein. Sie beschäftigte sich, einige
Spielwerke in Ordnung zu bringen, die sie ihren kleinen Geschwistern
zum Christgeschenke zurecht gemacht hatte. Er redete von dem
Vergnügen, das die Kleinen haben würden, und von den Zeiten, da einen
die unerwartete Öffnung der Tür und die Erscheinung eines
aufgeputzten Baumes mit Wachslichtern, Zuckerwerk und äpfeln in
paradiesische Entzückung setzte.--"Sie sollen," sagte Lotte, indem
sie ihre Verlegenheit unter ein liebes Lächeln verbarg, "Sie sollen
auch beschert kriegen, wenn Sie recht geschickt sind; ein
Wachsstöckchen und noch was."--"Und was heißen Sie geschickt
sein?"rief er aus;"wie soll ich sein? Wie kann ich sein? Beste
Lotte!"--"Donnerstag abend," sagte sie, "ist Weihnachtsabend, da kommen
die Kinder, mein Vater auch, da kriegt jedes das Seinige, da kommen
Sie auch--aber nicht eher."--Werther stutzte.--"Ich bitte Sie,"
fuhr sie fort, "es ist nun einmal so, ich bitte um meiner Ruhe willen,
es kann nicht, es kann nicht so bleiben."--Er wendete seine Augen
von ihr und ging in der Stube auf und ab und murmelte das "es kann
nicht so bleiben!" zwischen den Zähnen.--Lotte, die den schrecklichen
Zustand fühlte, worein ihn diese Worte versetzt hatten, suchte durch
allerlei Fragen seine Gedanken abzulenken, aber vergebens.--"Nein,
Lotte," rief er aus, "ich werde Sie nicht wiedersehen!"--"Warum
das?" versetzte sie, "Werther, Sie können, Sie müssen uns wiedersehen,
nur mäßigen Sie sich. O warum mußten Sie mit dieser Heftigkeit,
dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft für alles, was Sie einmal
anfassen, geboren werden! Ich bitte Sie," fuhr sie fort, indem sie
ihn bei der Hand nahm, "mäßigen Sie sich! Ihr Geist, Ihre
Wissenschaften, Ihre Talente, was bieten die Ihnen für mannigfaltige
Ergetzungen dar! Sein Sie ein Mann, wenden Sie diese traurige
Anhänglichkeit von einem Geschöpf, das nichts tun kann als Sie
bedauern."--Er knirrte mit den Zähnen und sah sie düster an.--Sie
hielt seine Hand. "Nur einen Augenblick ruhigen Sinn, Werther!" sagte
sie. Fühlen Sie nicht, daß Sie sich betriegen, sich mit Willen
zugrunde richten! Warum denn mich, Werther? Just mich, das Eigentum
eines andern? Just das? Ich fürchte, ich fürchte, es ist nur die
Unmöglichkeit, mich zu besitzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend
macht."--Er zog seine Hand aus der ihrigen, indem er sie mit einem
starren, unwilligen Blick ansah. "Weise!" rief er, "sehr weise! Hat
vielleicht Albert diese Anmerkung gemacht? Politisch! Sehr politisch!"
--"Es kann sie jeder machen," versetzte sie drauf, "und sollte denn
in der weiten Welt kein Mädchen sein, das die Wünsche Ihres Herzens
erfüllte? Gewinnen Sie's über sich, suchen Sie darnach, und ich
schwöre Ihnen, Sie werden sie finden; denn schon lange ängstigt mich,
für Sie und uns, die Einschränkung, in die Sie sich diese Zeit her
selbst gebannt haben. Gewinnen Sie über sich, eine Reise wird Sie,
muß Sie zerstreuen! Suchen Sie, finden Sie einen werten Gegenstand
Ihrer Liebe, und kehren Sie zurück, und lassen Sie uns zusammen die
Seligkeit einer wahren Freundschaft genießen." "Das könnte man,"
sagte er mit einem kalten Lachen, "drucken lassen und allen
Hofmeistern empfehlen. Liebe Lotte! Lassen Sie mir noch ein klein
wenig Ruh, es wird alles werden!"--"Nur das, Werther, daß Sie nicht
eher kommen als Weihnachtsabend!"--Er wollte antworten, und Albert
trat in die Stube. Man bot sich einen frostigen Guten Abend und ging
verlegen im Zimmer neben einander auf und nieder. Werther fing einen
unbedeutenden Diskurs an, der bald aus war, Albert desgleichen, der
sodann seine Frau nach gewissen Aufträgen fragte und, als er hörte,
sie seien noch nicht ausgerichtet, ihr einige Worte sagte, die
Werthern kalt, ja gar hart vorkamen. Er wollte gehen, er konnte nicht
und zauderte bis acht, da sich denn sein Unmut und Unwillen immer
vermehrte, bis der Tisch gedeckt wurde, und er Hut und Stock nahm.
Albert lud ihn zu bleiben, er aber, der nur ein unbedeutendes
Kompliment zu hören glaubte, dankte kalt dagegen und ging weg.
Er kam nach Hause, nahm seinem Burschen, der ihm leuchten wollte,
das Licht aus der Hand und ging allein in sein Zimmer, weinte laut,
redete aufgebracht mit sich selbst, ging heftig die Stube auf und ab
und warf sich endlich in seinen Kleidern aufs Bette, wo ihn der
Bediente fand, der es gegen eilfe wagte hineinzugehn, um zu fragen, ob
er dem Herrn die Stiefeln ausziehen sollte, das er denn zuließ und
dem Bedienten verbot, den andern Morgen ins Zimmer zu kommen, bis er
ihm rufen würde.
Montags früh, den einundzwanzigsten Dezember, schrieb er folgenden
Brief an Lotten, den man nach seinem Tode versiegelt auf seinem
Schreibtische gefunden und ihr überbracht hat, und den ich absatzweise
hier einrücken will, so wie aus den Umständen erhellet, daß er ihn
geschrieben habe.
"Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben, und das schreibe ich
dir ohne romantische überspannung, gelassen, an dem Morgen des Tages,
an dem ich dich zum letzten Male sehen werde. Wenn du dieses liesest,
meine Beste, deckt schon das kühle Grab die erstarrten Reste des
Unruhigen, Unglücklichen, der für die letzten Augenblicke seines
Lebens keine größere Süßigkeit weiß, als sich mit dir zu unterhalten.
Ich habe eine schreckliche Nacht gehabt und, ach, eine wohltätige
Nacht. Sie ist es, die meinen Entschluß befestiget, bestimmt hat:
ich will sterben! Wie ich mich gestern von dir riß, in der
fürchterlichen Empörung meiner Sinne, wie sich alles das nach meinem
Herzen drängte und mein hoffnungsloses, freudeloses Dasein neben dir
in gräßlicher Kälte mich anpackte--ich erreichte kaum mein Zimmer,
ich warf mich außer mir auf meine Knie, und o Gott! Du gewährtest
mir das letzte Labsal der bittersten Tränen! Tausend Anschläge,
tausend Aussichten wüteten durch meine Seele, und zuletzt stand er da,
fest, ganz, der letzte, einzige Gedanke: ich will sterben!--ich
legte mich nieder, und morgens, in der Ruhe des Erwachens, steht er
noch fest, noch ganz stark in meinem Herzen: ich will sterben!--es
ist nicht Verzweiflung, es ist Gewißheit, daß ich ausgetragen habe,
und daß ich mich opfere für dich. Ja, Lotte! Warum sollte ich es
verschweigen? Eins von uns dreien muß hinweg, und das will ich sein!
O meine Beste! In diesem zerrissenen Herzen ist es wütend
herumgeschlichen, oft--deinen Mann zu ermorden!--dich!--mich!
--so sei es denn!--wenn du hinaufsteigst auf den Berg, an einem
schönen Sommerabende, dann erinnere dich meiner, wie ich so oft das
Tal heraufkam, und dann blicke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem
Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Scheine der sinkenden Sonne hin
und her wiegt.--Ich war ruhig, da ich anfing, nun, nun weine ich
wie ein Kind, da alles das so lebhaft um mich wird.--"
Gegen zehn Uhr rief Werther seinem Bedienten, und unter dem
Anziehen sagte er ihm, wie er in einigen Tagen verreisen würde, er
solle daher die Kleider auskehren und alles zum Einpacken zurecht
machen; auch gab er ihm Befehl, überall Kontos zu fordern, einige
ausgeliehene Bücher abzuholen und einigen Armen, denen er wöchentlich
etwas zu geben gewohnt war, ihr Zugeteiltes auf zwei Monate voraus zu
bezahlen.
Er ließ sich das Essen auf die Stube bringen, und nach Tische ritt
er hinaus zum Amtmanne, den er nicht zu Hause antraf. Er ging
tiefsinnig im Garten auf und ab und schien noch zuletzt alle
Schwermut der Erinnerung auf sich häufen zu wollen.
Die Kleinen ließen ihn nicht lange in Ruhe, sie verfolgten ihn,
sprangen an ihm hinauf, erzählen ihm, daß, wenn morgen, und wieder
morgen, und noch ein Tag wäre, sie die Christgeschenke bei Lotten
holten, und erzählten ihm Wunder, die sich ihre kleine
Einbildungskraft versprach.--"morgen!" rief er aus, "und wieder
morgen! Und noch ein Tag!"--und küßte sie alle herzlich und wollte
sie verlassen, als ihm der Kleine noch etwas in das Ohr sagen wollte.
Der verriet ihm, die großen Brüder hätten schöne Neujahrswünsche
geschrieben, so groß! Und einen für den Papa, für Albert und Lotten
einen und auch einen für Herrn Werther; die wollten sie am
Neujahrstage früh überreichen. Das übermannte ihn, er schenkte jedem
etwas, setzte sich zu Pferde, ließ den Alten grüßen und ritt mit
Tränen in den Augen davon.
Gegen fünf kam er nach Hause, befahl der Magd, nach dem Feuer zu
sehen und es bis in die Nacht zu unterhalten. Den Bedienten hieß er
Bücher und Wäsche unten in den Koffer packen und die Kleider einnähen.
Darauf schrieb er wahrscheinlich folgenden Absatz seines letzten
Briefes an Lotten.
"Du erwartest mich nicht! Du glaubst, ich würde gehorchen und erst
Weihnachtsabend dich wieder sehn. O Lotte! Heut oder nie mehr.
Weihnachtsabend hältst du dieses Papier in deiner Hand, zitterst und
benetzest es mit deinen lieben Tränen. Ich will, ich muß! O wie wohl
ist es mir, daß ich entschlossen bin."
Lotte war indes in einen sonderbaren Zustand geraten. Nach der
letzten Unterredung mit Werthern hatte sie empfunden, wie schwer es
ihr fallen werde, sich von ihm zu trennen, was er leiden würde, wenn
er sich von ihr entfernen sollte.
Es war wie im Vorübergehn in Alberts Gegenwart gesagt worden, daß
Werther vor Weihnachtsabend nicht wieder kommen werde, und Albert war
zu einem Beamten in der Nachbarschaft geritten, mit dem er Geschäfte
abzutun hatte, und wo er über Nacht ausbleiben mußte.
Sie saß nun allein, keins von ihren Geschwistern war um sie, sie
überließ sich ihren Gedanken, die stille über ihren Verhältnissen
herumschweiften. Sie sah sich nun mit dem Mann auf ewig verbunden,
dessen Liebe und Treue sie kannte, dem sie von Herzen zugetan war,
dessen Ruhe, dessen Zuverlässigkeit recht vom Himmel dazu bestimmt zu
sein schien, daß eine wackere Frau das Glück ihres Lebens darauf
gründen sollte; sie fühlte, was er ihr und ihren Kindern auf immer
sein würde. Auf der andern Seite war ihr Werther so teuer geworden,
gleich von dem ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an hatte sich die
übereinstimmung ihrer Gemüter so schön gezeigt, der lange dauernde
Umgang mit ihm, so manche durchlebte Situationen hatten einen
unauslöschlichen Eindruck auf ihr Herz gemacht. Alles, was sie
Interessantes fühlte und dachte, war sie gewohnt mit ihm zu teilen,
und seine Entfernung drohte in ihr ganzes Wesen eine Lücke zu reißen,
die nicht wieder ausgefüllt werden konnte. O, hätte sie ihn in dem
Augenblick zum Bruder umwandeln können, wie glücklich wäre sie
gewesen! Hätte sie ihn einer ihrer Freundinnen verheiraten dürfen,
hätte sie hoffen können, auch sein Verhältnis gegen Albert ganz wieder
herzustellen!
Sie hatte ihre Freundinnen der Reihe nach durchgedacht und fand bei
einer jeglichen etwas auszusetzen, fand keine, der sie ihn gegönnt
hätte.
Über allen diesen Betrachtungen fühlte sie erst tief, ohne sich es
deutlich zu machen, daß ihr herzliches, heimliches Verlangen sei, ihn
für sich zu behalten, und sagte sich daneben, daß sie ihn nicht
behalten könne, behalten dürfe; ihr reines, schönes, sonst so leichtes
und leicht sich helfendes Gemüt empfand den Druck einer Schwermut,
dem die Aussicht zum Glück verschlossen ist. Ihr Herz war gepreßt,
und eine trübe Wolke lag über ihrem Auge.
So war es halb sieben geworden, als sie Werthern die Treppe
heraufkommen hörte und seinen Tritt, seine Stimme, die nach ihr fragte,
bald erkannte. Wie schlug ihr Herz, und wir dürfen fast sagen zum
erstenmal, bei seiner Ankunft. Sie hätte sich gern vor ihm
verleugnen lassen, und als er hereintrat, rief sie ihm mit einer Art
von leidenschaftlicher Verwirrung entgegen: "Sie haben nicht Wort
gehalten."--"Ich habe nichts versprochen" war seine Antwort.--"So
hätten Sie wenigstens meiner Bitte stattgeben sollen," versetzte sie,
"ich bat Sie um unser beider Ruhe."
Sie wußte nicht recht, was sie sagte, ebensowenig was sie tat, als
sie nach einigen Freundinnen schickte, um nicht mit Werthern allein
zu sein. Er legte einige Bücher hin, die er gebracht hatte, fragte
nach andern, und sie wünschte, bald daß ihre Freundinnen kommen, bald
daß sie wegbleiben möchten. Das Mädchen kam zurück und brachte die
Nachricht, daß sich beide entschuldigen ließen.
Sie wollte das Mädchen mit ihrer Arbeit in das Nebenzimmer sitzen
lassen; dann besann sie sich wieder anders. Werther ging in der Stube
auf und ab, sie trat ans Klavier und fing eine Menuett an, sie wollte
nicht fließen. Sie nahm sich zusammen und setzte sich gelassen zu
Werthern, der seinen gewöhnlchen Platz auf dem Kanapee eingenommen
hatte.
"Haben Sie nichts zu lesen?" sagte sie.--Er hatte nichts.--"Da
drin in meiner Schublade," fing sie an, "liegt Ihre Übersetzung
einiger Gesänge Ossians; ich habe sie noch nicht gelesen, denn ich
hoffte immer, sie von Ihnen zu hören; aber zeither hat sich's nicht
finden, nicht machen wollen."--Er lächelte, holte die Lieder, ein
Schauer überfiel ihn, als er sie in die Hände nahm, und die Augen
standen ihm voll Tränen, als er hineinsah. Er setzte sich nieder und
las.
"Stern der dämmernden Nacht, schön funkelst du in Westen, habst
dein strahlend Haupt aus deiner Wolke, wandelst stattlich deinen
Hügel hin. Wornach blickst du auf die Heide? Die stürmenden Winde
haben sich gelegt; von ferne kommt des Gießbachs Murmeln; rauschende
Wellen spielen am Felsen ferne; das Gesumme der Abendfliegen
schwärmet übers Feld. Wornach siehst du, schönes Licht? Aber du
lächelst und gehst, freudig umgeben dich die Wellen und baden dein
liebliches Haar. Lebe wohl, ruhiger Strahl. Erscheine, du herrliches
Licht von Ossians Seele!
Und es erscheint in seiner Kraft. Ich sehe meine geschiedenen
Freunde, sie sammeln sich auf Lora, wie in den Tagen, die vorüber
sind.--Fingal kommt wie eine feuchte Nebelsäule; um ihn sind seine
Helden, und, siehe! Die Barden des Gesanges: grauer Ullin!
Stattlicher Ryno! Alpin, lieblicher Sänger! Und du, sanft klagende
Minona!--Wie verändert seid ihr, meine Freunde, seit den festlichen
Tagen auf Selma, da wir buhlten um die Ehre des Gesanges, wie
Frühlingslüfte den Hügel hin wechselnd beugen das schwach lispelnde
Gras.
Da trat Minona hervor in ihrer Schönheit, mit niedergeschlagenem
Blick und tränenvollem Auge, schwer floß ihr Haar im unsteten Winde,
der von dem Hügel herstieß.--Düster ward's in der Seele der Helden,
als sie die liebliche Stimme erhob; denn oft hatten sie das Grab
Salgars gesehen, oft die finstere Wohnung der weißen Colma. Colma,
verlassen auf dem Hügel, mit der harmonischen Stimme; Salgar
versprach zu kommen; aber ringsum zog sich die Nacht. Höret Colmas
Stimme, da sie auf dem Hügel allein saß.
Colma. Es ist Nacht!--Ich bin allein, verloren auf dem stürmischen
Hügel. Der Wind saust im Gebirge. Der Strom heult den Felsen hinab.
Keine Hütte schützt mich vor Regen, mich Verlaßne auf dem stürmischen
Hügel. Tritt, o Mond, aus deinen Wolken, erscheinet, Sterne der
Nacht! Leite mich irgend ein Strahl zu dem Orte, wo meine Liebe ruht
von den Beschwerden der Jagd, sein Bogen neben ihm abgespannt, seine
Hunde schnobend um ihn! Aber hier muß ich sitzen allein auf dem
Felsen des verwachsenen Stroms. Der Strom und der Sturm saust, ich
höre nicht die Stimme meines Geliebten.
Warum zaudert mein Salgar? Hat er sein Wort vergessen?--Da ist
der Fels und der Baum und hier der rauschende Strom! Mit
einbrechender Nacht versprachst du hier zu sein; ach! Wohin hat sich
mein Salgar verirrt? Mit dir wollt' ich fliehen, verlassen Vater und
Bruder, die stolzen! Lange sind unsere Geschlechter Feinde, aber wir
sind keine Feinde, o Salgar!
Schweig eine Weile, o Wind! Still eine kleine Weile, o Strom, daß
meine Stimme klinge durchs Tal, daß mein Wanderer mich höre. Salgar!
Ich bin's, die ruft! Hier ist der Baum und der Fels! Salgar! Mein
Lieber! Hier bin ich; warum zauderst du zu kommen?
Sieh, der Mond erscheint, die Flut glänzt im Tale, die Felsen
stehen grau den Hügel hinauf; aber ich seh' ihn nicht auf der Höhe,
seine Hunde vor ihm her verkündigen nicht seine Ankunft. Hier muß ich
sitzen allein.
Aber wer sind, die dort unten liegen auf der Heide?--Mein
Geliebter? Mein Bruder?--Redet, o meine Freunde! Sie antworten
nicht. Wie geängstigt ist meine Seele!--Ach sie sind tot! Ihre
Schwester rot vom Gefechte! O mein Bruder, mein Bruder, warum hast du
meinen Salgar erschlagen? O mein Salgar, warum hast du meinen Bruder
erschlagen? Ihr wart mir beide so lieb! O du warst schön an dem
Hügel unter Tausenden! Es war schrecklich in der Schlacht. Antwortet
mir! Hört meine Stimme, meine Geliebten! Aber ach, sie sind stumm,
stumm auf ewig! Kalt wie die Erde ist ihr Busen!
O von dem Felsen des Hügels, von dem Gipfel des stürmenden Berges,
redet, Geister der Toten! Redet! Mir soll es nicht grausen!--Wohin
seid ihr zur Ruhe gegangen? In welcher Gruft des Gebirges soll ich
euch finden?--Keine schwache Stimme vernehme ich im Winde, keine
wehende Antwort im Sturme des Hügels. Ich sitze in meinem Jammer,
ich harre auf den Morgen in meinen Tränen. Wühlet das Grab, ihr
Freunde der Toten, aber schließt es nicht, bis ich komme. Mein Leben
schwindet wie ein Traum; wie sollt' ich zurückbleiben! Hier will ich
{...} Felsens--wenn's Nacht wird auf dem Hügel, und Wind kommt über die
Heide, soll mein Geist im Winde stehn und trauern den Tod meiner
Freunde. Der Jäger hört mich aus seiner Laube, fürchtet meine Stimme
und liebt sie; denn süß soll meine Stimme sein um meine Freunde, sie
waren mir beide so lieb!
Das war dein Gesang, o Minona, Tormans sanft errötende Tochter.
Unsere Tränen flossen um Colma, und unsere Seele ward düster.
Ullin trat auf mit der Harfe und gab uns Alpins Gesang--Alpins
Stimme war freundlich, Rynos Seele ein Feuerstrahl. Aber schon ruhten
sie im engen Hause, und ihre Stimme war verhallet in Selma. Einst
kehrte Ullin zurück von der Jagd, ehe die Helden noch fielen. Er
hörte ihren Wettegesang auf dem Hügel. Ihr Lied war sanft, aber
traurig. Sie klagten Morars Fall, des ersten der Helden. Seine Seele
war wie Fingals Seele, sein Schwert wie das Schwert Oskars--aber er
fiel, und sein Vater jammerte, und seiner Schwester Augen waren voll
Tränen, Minonas Augen waren voll Tränen, der Schwester des herrlichen
Morars. Sie trat zurück vor Ullins Gesang, wie der Mond in Westen,
der den Sturmregen voraussieht und sein schönes Haupt in eine Wolke
verbirgt.--Ich schlug die Harfe mit Ullin zum Gesange des Jammers.

Ryno
Vorbei sind Wind und Regen, der Mittag ist so heiter, die Wolken
teilen sich. Fliehend bescheint den Hügel die unbeständige Sonne.
Rötlich fließt der Strom des Bergs im Tale hin. Süß ist dein Murmeln,
Strom; doch süßer die Stimme, die ich höre. Es ist Alpins Stimme, er
bejammert den Toten. Sein Haupt ist vor Alter gebeugt und rot sein
tränendes Auge. Alpin, trefflicher Sänger, warum allein auf dem
schweigenden Hügel? Warum jammerst du wie ein Windstoß im Walde, wie
eine Welle am fernen Gestade?

Alpin
Meine Tränen, Ryno, sind für den Toten, meine Stimme für die
Bewohner des Grabs. Schlank bist du auf dem Hügel, schön unter den
Söhnen der Heide. Aber du wirst fallen wie Morar, und auf deinem
Grabe wird der Trauernde sitzen. Die Hügel werden dich vergessen,
dein Bogen in der Halle liegen ungespannt.
Du warst schnell, o Morar, wie ein Reh auf dem Hügel, schrecklich
wie die Nachtfeuer am Himmel. Dein Grimm war ein Sturm, dein Schwert
in der Schlacht wie Wetterleuchten über der Heide. Deine Stimme
glich dem Waldstrome nach dem Regen, dem Donner auf fernen Hügeln.
Manche fielen von deinem Arm, die Flamme deines Grimmes verzehrte sie.
Aber wenn du wiederkehrtest vom Kriege, wie friedlich war deine
Stirne! Dein Angesicht war gleich der Sonne nach dem Gewitter,
gleich dem Monde in der schweigenden Nacht, ruhig deine Brust wie der
See, wenn sich des Windes Brausen gelegt hat.
Eng ist nun deine Wohnung, finster deine Stätte! Mit drei Schritten
mess' ich dein Grab, o du, der du ehe so groß warst! Vier Steine mit
moosigen Häupten sind dein einziges Gedächtnis; ein entblätterter
Baum, langes Gras, das im Winde wispelt, deutet dem Auge des Jägers
das Grab des mächtigen Morars. Keine Mutter hast du, dich zu beweinen,
kein Mädchen mit Tränen der Liebe. Tot ist, die dich gebar,
gefallen die Tochter von Morglan.
Wer auf seinem Stabe ist das? Wer ist es, dessen Haupt weiß ist vor
Alter, dessen Augen rot sind von Tränen? Es ist dein Vater, o Morar,
der Vater keines Sohnes außer dir. Er hörte von deinem Ruf in der
Schlacht, er hörte von zerstobenen Feinden; er hörte Morars Ruhm!
Ach! Nichts von seiner Wunde? Weine, Vater Morars, weine! Aber dein
Sohn hört dich nicht. Tief ist der Schlaf der Toten, niedrig ihr
Kissen von Staube. Nimmer achtet er auf die Stimme, nie erwacht er
auf deinen Ruf. O wann wird es Morgen im Grabe, zu bieten dem
Schlummerer: Erwache!
Lebe wohl, edelster der Menschen, du Eroberer im Felde! Aber nimmer
wird dich das Feld sehen, nimmer der düstere Wald leuchten vom Glanze
deines Stahls. Du hinterließest keinen Sohn, aber der Gesang soll
deinen Namen erhalten, künftige Zeiten sollen von dir hören, hören
von dem gefallenen Morar.
Laut war die Trauer der Helden, am lautesten Armins berstender
Seufzer. Ihn erinnerte es an den Tod seines Sohnes, er fiel in den
Tagen der Jugend. Carmor saß nah bei dem Helden, der Fürst des
hallenden Galmal. "Warum schluchzet der Seufzer Armins?" sprach er,
"was ist hier zu weinen? Klingt nicht ein Lied und ein Gesang, die
Seele zu schmelzen und zu ergetzen? Sie sind wie sanfter Nebel, der
steigend vom See aufs Tal sprüht, und die blühenden Blumen füllet das
Naß; aber die Sonne kommt wieder in ihrer Kraft, und der Nebel ist
gegangen. Warum bist du so jammervoll, Armin, Herrscher des
seeumflossenen Gorma?"
"Jammervoll! Wohl das bin ich, und nicht gering die Ursache meines
Wehs.--Carmor, du verlorst keinen Sohn, verlorst keine blühende
Tochter; Colgar, der Tapfere, lebt, und Annira, die schönste der
Mädchen. Die Zweige deines Hauses blühen, o Carmor; aber Armin ist
der Letzte seines Stammes. Finster ist dein Bett, o Daura! Dumpf ist
dein Schlaf in dem Grabe--wann erwachst du mit deinen Gesängen, mit
deiner melodischen Stimme? Auf, ihr Winde des Herbstes! Auf, stürmt
über die finstere Heide! Waldströme, braust! Heult, Ströme, im
Gipfel der Eichen! Wandle durch gebrochene Wolken, o Mond, zeige
wechselnd dein bleiches Gesicht! Erinnre mich der schrecklichen
Nacht, da meine Kinder umkamen, da Arindal, der Mächtige, fiel, Daura,
die Liebe, verging.
"Daura, meine Tochter, du warst schön, schön wie der Mond auf den
Hügeln von Fura, weiß wie der gefallene Schnee, süß wie die atmende
Luft! Arindal, dein Bogen war stark, dein Speer schnell auf dem
Felde, dein Blick wie Nebel auf der Welle, dein Schild eine Feuerwolke
im Sturme!
"Armar, berühmt im Kriege, kam und warb um Dauras Liebe; sie
widerstand nicht lange. Schön waren die Hoffnungen ihrer Freunde."
Erath, der Sohn Odgals, grollte, denn sein Bruder lag erschlagen
von Armar. Er kam, in einen Schiffer verkleidet. Schön war sein
Nachen auf der Welle, weiß seine Locken vor Alter, ruhig sein ernstes
Gesicht. "Schönste Mädchen," sagte er, "liebliche Tochter von
Armin, dort am Felsen, nicht fern in der See, wo die rote Frucht vom
Baume herblinkt, dort wartet Armar auf Daura: ich komme, seine Liebe
zu führen über die rollende See.
Sie folgt' ihm und rief nach Armar; nichts antwortete als die
Stimme des Felsens. "Armar! Mein Lieber! Mein Lieber! Warum
ängstest du mich so? Höre, Sohn Arnarths! Höre! Daura ist's, die
dich ruft!
Erath, der Verräter, floh lachend zum Lande. Sie erhob ihre Stimme,
rief nach ihrem Vater und Bruder: "Arindal! Armin! Ist keiner,
seine Daura zu retten?"
Ihre Stimme kam über die See. Arindal, mein Sohn, stieg vom Hügel
herab, rauh in der Beute der Jagd, seine Pfeile rasselten an seiner
Seite, seinen Bogen trug er in der Hand, fünf schwarzgraue Doggen
waren um ihn. Er sah den kühnen Erath am Ufer, faßt' und band ihn an
die Eiche, fest umflocht er seine Hüften, der Gefesselte füllte mit
Ächzen die Winde.
Arindal betritt die Wellen in seinem Boote, Daura herüber zu
bringen. Armar kam in seinem Grimme, drückt' ab den grau befiederten
Pfeil, er klang, er sank in dein Herz, "o Arindal, mein Sohn! Statt
Eraths, des Verräters, kamst du um, das Boot erreichte den Felsen, er
sank dran nieder und starb. Zu deinen Füßen floß deines Bruders Blut,
welch war dein Jammer, o Daura! Die Wellen zerschmettern das Boot.
Armar stürzt sch in die See, seine Daura zu retten oder zu sterben.
Schnell stürmte ein Stoß vom Hügel in die Wellen, er sank und hob
sich nicht wieder.
Allein auf den seebespülten Felsen hört' ich die Klagen meiner
Tochter. Viel und laut war ihr Schreien, doch konnt' sie ihr Vater
nicht retten. Die ganze Nacht stand ich am Ufer, ich sah sie im
schwachen Strahle des Mondes, die ganze Nacht hört' ich ihr Schreien,
laut war der Wind, und der Regen schlug scharf nach der Seite des
Berges. Ihre Stimme ward schwach, ehe der Morgen erschien, sie starb
weg wie die Abendluft zwischen dem Grase der Felsen. Beladen mit
Jammer starb sie und ließ Armin allein! Dahin ist meine Stärke im
Kriege, gefallen mein Stolz unter den Mädchen.
Wenn die Stürme des Berges kommen, wenn der Nord die Wellen
hochhebt, sitz' ich am schallenden Ufer, schaue nach dem schrecklichen
Felsen. Oft im sinkenden Monde seh' ich die Geister meiner Kinder,
halb dämmernd wandeln sie zusammen in traurigen Eintracht."
Ein Strom von Tränen, der aus Lottens Augen brach und ihrem
gepreßten Herzen Luft machte, hemmte Werthers Gesang. Er warf das
Papier hin, faßte ihre Hand und weinte die bittersten Tränen. Lotte
ruhte auf der andern und verbarg ihre Augen ins Schnupftuch. Die
Bewegung beider war fürchterlich. Sie fühlten ihr eigenes Elend in
dem Schicksale der Edlen, fühlten es zusammen, und ihre Tränen
vereinigten sich. Die Lippen und Augen Werthers glühten an Lottens
Arme; ein Schauer überfiel sie; sie wollte sich entfernen, und
Schmerz und Anteil lagen betäubend wie Blei auf ihr. Sie atmete,
sich zu erholen, und bat ihn schluchzend fortzufahren, bat mit der
ganzen Stimme des Himmels! Werther zitterte, sein Herz wollte bersten,
er hob das Blatt auf und las halb gebrochen:
"Warum weckst du mich, Frühlingsluft? Du buhlst und sprichst: ich
betaue mit Tropfen des Himmels! Aber die Zeit meines Welkens ist nahe,
nahe der Sturm, der meine Blätter herabstört! Morgen wird der
Wanderer kommen, kommen der mich sah in meiner Schönheit, ringsum
wird sein Auge im Felde mich suchen und wird mich nicht finden.--"
Die ganze Gewalt dieser Worte fiel über den Unglücklichen.
Er warf sich vor Lotten nieder in der vollen Verzweifelung, faßte
ihre Hände, drückte sie in seine Augen, wider seine Stirn, und ihr
schien eine Ahnung seines schrecklichen Vorhabens durch die Seele zu
fliegen. Ihre Sinne verwirrten sich, sie drückte seine Hände,
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