Die Leiden des jungen Werther — Band 2 - 3

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durft' ich mich nicht ihr zu Füßen werfen? Warum durft' ich nicht an
ihrem Halse mit tausend Küssen antworten? Sie nahm ihre Zuflucht zum
Klavier und hauchte mit süßer, leiser Stimme harmonische Laute zu
ihrem Spiele. Nie habe ich ihre Lippen so reizend gesehn; es war, als
wenn sie sich lechzend öffneten, jene süßen Töne in sich zu schlürfen,
die aus dem Instrument hervorquollen, und nur der heimliche
Widerschall aus dem reinen Munde zurückklänge--ja wenn ich dir das so
sagen könnte!--Ich widerstand nicht länger, neigte mich und schwur:
nie will ich es wagen, einen Kuß euch aufzudrücken, Lippen, auf denen
die Geister des Himmels schweben.--Und doch--ich will--ha! Siehst
du, das steht wie eine Scheidewand vor meiner Seele--diese
Seligkeit--und dann untergegangen, diese Sünde abzubüßen--Sünde?

Am 26. November
Manchmal sag' ich mir: dein Schicksal ist einzig; preise die
übrigen glücklich--so ist noch keiner gequält worden.--Dann lese ich
einen Dichter der Vorzeit, und es ist mir, als säh' ich in mein
eignes Herz. Ich habe so viel auszustehen! Ach, sind denn Menschen
vor mir schon so elend gewesen?

Am 30. November
Ich soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen! Wo ich hintrete,
begegnet mir eine Erscheinung, die mich aus aller Fassung bringt.
Heute! O Schicksal! O Menschheit!
Ich gehe an dem Wasser hin in der Mittagsstunde, ich hatte keine
keine Lust zu essen. Alles war Öde, ein naßkalter Abendwind blies vom
Berge, und die grauen Regenwolken zogen das Tal hinein. Von fern
seh' ich einen Menschen in einem grünen, schlechten Rocke, der
zwischen den Felsen herumkrabbelte und Kräuter zu suchen schien. Als
ich näher zu ihm kam und er sich auf das Geräusch, das ich machte,
herumdrehte, sah ich eine gar interessante Physiognomie, darin eine
stille Trauer den Hauptzug machte, die aber sonst nichts als einen
geraden guten Sinn ausdrückte; seine schwarzen Haare waren mit Nadeln
in zwei Rollen gesteckt, und die übrigen in einen starken Zopf
geflochten, der ihm den Rücken herunter hing. Da mir seine Kleidung
einen Menschen von geringem Stande zu bezeichnen schien, glaubte ich,
er würde es nicht übelnehmen, wenn ich auf seine Beschäftigung
aufmerksam wäre, und daher fragte ich ihn, was er suchte?--"Ich
suche," antwortete er mit einem tiefen Seufzer, "Blumen--und finde
keine."--"Das ist auch die Jahreszeit nicht." sagte ich lächelnd.
--"Es gibt so viele Blumen," sagte er, indem er zu mir herunterkam.
"In meinem Garten sind Rosen und Jelängerjelieber zweierlei Sorten,
eine hat mir mein Vater gegeben, sie wachsen wie Unkraut; ich suche
schon zwei Tage darnach und kann sie nicht finden. Da haußen sind
auch immer Blumen, gelbe und blaue und rote, und das
Tausendgüldenkraut hat ein schönes Blümchen. Keines kann ich finden."
--Ich merkte was Unheimliches, und drum fragte ich durch einen Umweg:
"Was will er denn mit den Blumen?"--Ein wunderbares, zuckendes
Lächeln verzog sein Gesichte. "Wenn er mich nicht verraten will,"
sagte er, indem er den Finger auf den Mund drückte, "ich habe meinem
Schatz einen Strauß versprochen."--"Das ist brav," sagte ich.--"O!
" sagte er, "sie hat viel andere Sachen, sie ist reich."--"Und doch
hat sie seinen Strauß lieb," versetzte ich.--"O!" fuhr er fort, "sie
hat Juwelen und eine Krone."--"Wie heißt sie denn?"--"Wenn mich die
Generalstaaten bezahlen wollten," versetzte er, "ich wär' ein anderer
Mensch! Ja, es war einmal eine Zeit, da mir es so wohl war! Jetzt
ist es aus mit mir. Ich bin nun." Ein nasser Blick zum Himmel
drückte alles aus.--"Er war also glücklich?"fragte ich.--"Ach ich
wollte, ich wäre wieder so!" sagte er "Da war mir es so wohl, so
lustig, so leicht wie einem Fisch im Wasser!"--"Heinrich!" rief eine
alte Frau, die den Weg herkam, "Heinrich, wo steckst du? Wir haben
dich überall gesucht, komm zum Essen."--"Ist das euer Sohn?" fragt'
ich, zu ihr tretend.--"Wohl, mein armer Sohn!" versetzte sie. "Gott
hat mir ein schweres Kreuz aufgelegt."--"Wie lange ist er so?" fragte
ich.--"So stille," sagte sie, "ist er nun ein halbes Jahr. Gott sei
Dank, daß er nur so weit ist, vorher war er ein ganzes Jahr rasend,
da hat er an Ketten im Tollhause gelegen. Jetzt tut er niemand nichts,
nur hat er immer mit Königen und Kaisern zu schaffen. Er war ein so
guter, stiller Mensch, der mich ernähren half, seine schöne Hand
schrieb, und auf einmal wird er tiefsinnig, fällt in ein hinziges
Fieber, daraus in Raserei, und nun ist er, wie Sie ihn sehen. Wenn
ich Ihnen erzählen sollte, Herr."--Ich unterbrach den Strom ihrer
Worte mit der Frage: "was war denn das für eine Zeit, von der er rühmt,
daß er so glücklich, so wohl darin gewesen sei?"--"Der törichte
Mensch!" rief sie mit mitleidigem Lächeln, "da meint er die Zeit, da er
von sich war, das rühmt er immer; das ist die Zeit, da er im
Tollhause war, wo er nichts von sich wußte."--Das fiel mir auf wie
ein Donnerschlag, ich drückte ihr ein Stück Geld in die Hand und
verließ sie eilend. Da du glücklich warst! Rief ich aus, schnell vor
mich hin nach der Stadt zu gehend, da dir es wohl war wie einem Fisch
im Wasser!--Gott im Himmel! Hast du das zum Schicksale der Menschen
gemacht, daß sie nicht glücklich sind, als ehe sie zu ihrem Verstande
kommen und wenn sie ihn wieder verlieren!--Elender! Und auch wie
beneide ich deinen Trübsinn, die Verwirrung deiner Sinne, in der du
verschmachtest! Du gehst hoffnungsvoll aus, deiner Königin Blumen zu
pflücken--im Winter--und trauerst, da du keine findest, und begreifst
nicht, warum du keine finden kannst. Und ich--und ich gehe ohne
Hoffnung, ohne Zweck heraus und kehre wieder heim, wie ich gekommen
bin.--Du wähnst, welcher Mensch du sein würdest, wenn die
Generalstaaten dich bezahlten. Seliges Geschöpf, das den Mangel
seiner Glückseligkeit einer irdischen Hindernis zuschreiben kann! Du
fühlst nicht, du fühlst nicht, daß in deinem zerstörten Herzen, in
deinem zerrütteten Gehirne dein Elend liegt, wovon alle Könige der
Erde dir nicht helfen können. Müsse der trostlos umkommen, der eines
Kranken spottet, der nach der entferntesten Quelle reist, die seine
Krankheit vermehren, sein Ausleben schmerzhafter machen wird! Der
sich über das bedrängte Herz erhebt, das, um seine Gewissensbisse
loszuwerden und die Leiden seiner Seele abzutun, eine Pilgrimschaft
nach dem heiligen Grabe tut. Jeder Fußtritt, der seine Sohlen auf
ungebahntem Wege durchschneidet, ist ein Linderungstropfen der
geängsteten Seele, und mit jeder ausgedauerten Tagereise legt sich
das Herz um viele Bedrängnisse leichter nieder.--Und dürft ihr das
Wahn nennen, ihr Wortkrämer auf euren Polstern?--Wahn!--o Gott!
Du siehst meine Tränen! Mußtest du, der du den Menschen arm genug
erschufst, ihm auch Brüder zugeben, die ihm das bißchen Armut, das
bißchen Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf dich, du
Allliebender! Denn das Vertrauen zu einer heilenden Wurzel, zu den
Tränen des Weinstockes, was ist es als Vertrauen zu dir, daß du in
alles, was uns umgibt, Heil--und Linderungskraft gelegt hast, der wir
so stündlich bedürfen? Vater, den ich nicht kenne! Vater, der sonst
meine ganze Seele füllte und nun sein Angesicht von mir gewendet hat,
rufe mich zu dir! Schweige nicht länger! Dein Schweigen wird diese
dürstende Seele nicht aufhalten--und würde ein Mensch, ein Vater,
zürnen können, dem sein unvermutet rückkehrender Sohn um den Hals
fiele und riefe: "ich bin wieder da, mein Vater! Zürne nicht, daß ich
die Wanderschaft abbreche, die ich nach deinem Willen länger
aushalten sollte. Die Welt ist überall einerlei, auf Mühe und Arbeit
Lohn und Freude; aber was soll mir das? Mir ist nur wohl, wo du bist,
und vor deinem Angesichte will ich leiden und genießen."--Und du,
lieber himmlischer Vater, solltest ihn von dir weisen?

Am 1. Dezember
Wilhelm! Der Mensch, von dem ich dir schrieb, der glückliche
Unglückliche, war Schreiber bei Lottens Vater, und eine Leidenschaft
zu ihr, die er nährte, verbarg, entdeckte und worüber er aus dem
Dienst geschickt wurde, hat ihn rasend gemacht. Fühle bei diesen
trocknen Worten, mit welchem Unsinn mich die Geschichte ergriffen hat,
da mir sie Albert ebenso gelassen erzählte, als du sie vielleicht
liesest.

Am 4. Dezember
Ich bitte dich--siehst du, mit mir ist's aus, ich trag' es nicht
länger! Heute saß ich bei ihr--saß, sie spielte auf ihrem Klavier,
mannigfaltige Melodien, und all den Ausdruck! All!--All!--Was
willst du?--Ihr Schwesterchen putzte ihre Puppe auf meinem Knie.
Mir kamen die Tränen in die Augen. Ich neigte mich, und ihr Trauring
fiel mir ins Gesicht--meine Tränen flossen--und auf einmal fiel sie
in die alte, himmelsüße Melodie ein, so auf einmal, und mir durch die
Seele gehn ein Trostgefühl und eine Erinnerung des Vergangenen, der
Zeiten, da ich das Lied gehört, der düstern Zwischenräume des
Verdrusses, der fehlgeschlagenen Hoffnungen, und dann--ich ging in
der Stube auf und nieder, mein Herz erstickte unter dem Zudringen.
--"Um Gottes willen," sagte ich, mit einem heftigen Ausbruch hin gegen
sie fahrend, "um Gottes willen, hören Sie auf!"--Sie hielt und sah
mich starr an." Werther, "sagte sie mit einem Lächeln, das mir durch
die Seele ging, "Werther, Sie sind sehr krank, Ihre Lieblingsgerichte
widerstehen Ihnen. Gehen Sie! Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich."
--Ich riß mich von ihr weg und--Gott! Du siehst mein Elend und wirst
es enden.

Am 6. Dezember
Wie mich die Gestalt verfolgt! Wachend und träumend füllt sie meine
ganze Seele! Hier, wenn ich die Augen schließe, hier in meiner Stirne,
wo die innere Sehkraft sich vereinigt, stehen ihre schwarzen Augen.
Hier! Ich kann dir es nicht ausdrücken. Mache ich meine Augen zu, so
sind sie da; wie ein Meer, wie ein Abgrund ruhen sie vor mir, in mir,
füllen die Sinne meiner Stirn.
Was ist der Mensch, der gepriesene Halbgott! Ermangeln ihm nicht
eben da die Kräfte, wo er sie am nötigsten braucht? Und wenn er in
Freude sich aufschwingt oder im Leiden versinkt, wird er nicht in
beiden eben da aufgehalten, eben da zu dem stumpfen, kalten
Bewußtsein wieder zurückgebracht, da er sich in der Fülle des
Unendlichen zu verlieren sehnte?
Der Herausgeber an den Leser
Wie sehr wünscht' ich, daß uns von den letzten merkwürdigen Tagen
unsers Freundes so viel eigenhändige Zeugnisse übrig geblieben wären,
daß ich nicht nötig hätte, die Folge seiner hinterlaßnen Briefe
durch Erzählung zu unterbrechen.
Ich habe mir angelegen sein lassen, genaue Nachrichten aus dem
Munde derer zu sammeln, die von seiner Geschichte wohl unterrichtet
sein konnten; sie ist einfach, und es kommen alle Erzählungen davon
bis auf wenige Kleinigkeiten miteinander überein; nur über die
Sinnesarten der handelnden Personen sind die Meinungen verschieden
und die Urteile geteilt.
Was bleibt uns übrig, als dasjenige, was wir mit wiederholter Mühe
erfahren können, gewissenhaft zu erzählen, die von dem Abscheidenden
hinterlaßnen Briefe einzuschalten und das kleinste aufgefundene
Blättchen nicht gering zu achten; zumal da es so schwer ist, die
eigensten, wahren Triebfedern auch nur einer einzelnen Handlung zu
entdecken, wenn sie unter Menschen vorgeht, die nicht gemeiner Art
sind.
Unmut und Unlust hatten in Werthers Seele immer tiefer Wurzel
geschlagen, sich fester untereinander verschlungen und sein ganzes
Wesen nach und nach eingenommen. Die Harmonie seines Geistes war
völlig zerstört, eine innerliche Hitze und Heftigkeit, die alle
Kräfte seiner Natur durcheinanderarbeitete, brachte die widrigsten
Wirkungen hervor und ließ ihm zuletzt nur eine Ermattung übrig, aus
der er noch ängstlicher empor strebte, als er mit allen Übeln bisher
gekämpft hatte. Die Beängstigung seines Herzens zehrte die übrigen
Kräfte seines Geistes, seine Lebhaftigkeit, seinen Scharfsinn auf, er
ward ein trauriger Gesellschafter, immer unglücklicher, und immer
ungerechter, je unglücklicher er ward. Wenigstens sagen dies Alberts
Freunde; sie behaupten, daß Werther einen reinen, ruhigen Mann, der
nun eines lang gewünschten Glückes teilhaftig geworden, und sein
Betragen, sich dieses Glück auch auf die Zukunft zu erhalten, nicht
habe beurteilen können, er, der gleichsam mit jedem Tage sein ganzes
Vermögen verzehrte, um an dem Abend zu leiden und zu darben. Albert,
sagen sie, hatte sich in so kurzer Zeit nicht verändert, er war noch
immer derselbige, den Werther so vom Anfang her kannte, so sehr
schätzte und ehrte. Er liebte Lotten über alles, er war stolz auf sie
und wünschte sie auch von jedermann als das herrlichste Geschöpf
anerkannt zu wissen. War es ihm daher zu verdenken, wenn er auch
jeden Schein des Verdachtes abzuwenden wünschte, wenn er in dem
Augenblicke mit niemand diesen köstlichen Besitz auch auf die
unschuldigste Weise zu teilen Lust hatte? Sie gestehen ein, daß
Albert oft das Zimmer seiner Frau verlassen, wenn Werther bei ihr war,
aber nicht aus Haß noch Abneigung gegen seinen Freund, sondern nur
weil er gefühlt habe, daß dieser von seiner Gegenwart gedrückt sei.
Lottens Vater war von einem Übel befallen worden, das ihn in der
Stube hielt, er schickte ihr seinen Wagen, und sie fuhr hinaus. Es
war ein schöner Wintertag, der erste Schnee war stark gefallen und
deckte die ganze Gegend.
Werther ging ihr den andern Morgen nach, um, wenn Albert sie nicht
abzuholen käme, sie hereinzubegleiten.
Das klare Wetter konnte wenig auf sein trübes Gemüt wirken, ein
dumpfer Druck auf seiner Seele, die traurigen Bilder hatten sich bei
ihm festgesetzt, und sein Gemüt kannte keine Bewegung als von einem
schmerzlichen Gedanken zum andern.
Wie er mit sich in ewigem Unfrieden lebte, schien ihm auch der
Zustand andrer nur bedenklicher und verworrner, er glaubte, das
schöne Verhältnis zwischen Albert und seiner Gattin gestört zu haben,
er machte sich Vorwürfe darüber, in die sich ein heimlicher Unwille
gegen den Gatten mischte.
Seine Gedanken fielen auch unterwegs auf diesen Gegenstand. "Ja, ja,"
sagte er zu sich selbst, mit heimlichem Zähneknirschen, "das ist der
vertraute, freundliche, zärtliche, an allem teilnehmende Umgang, die
ruhige, dauernde Treue! Sättigkeit ist's und Gleichgültigkeit! Zieht
ihn nicht jedes elende Geschäft mehr an als die teure, köstliche
Frau? Weiß er sein Glück zu schätzen? Weiß er sie zu achten, wie sie
es verdient? Er hat sie, nun gut, er hat sie--ich weiß das, wie ich
was anders auch weiß, ich glaube an den Gedanken gewöhnt zu sein, er
wird mich noch rasend machen, er wird mich noch umbringen--und hat
denn die Freundschaft zu mir Stich gehalten? Sieht er nicht in
meiner Anhänglichkeit an Lotten schon einen Eingriff in seine Rechte,
in meiner Aufmerksamkeit für sie einen Stillen Vorwurf? Ich weiß es
wohl, ich fühl' es, er sieht mich ungern, er wünscht meine Entfernung,
meine Gegenwart ist ihm beschwerlich."
Oft hielt er seinen raschen Schritt an, oft stand er stille und
schien umkehren zu wollen; allein er richtete seinen Gang immer
wieder vorwärts und war mit diesen Gedanken und Selbstgesprächen
endlich gleichsam wider Willen bei dem Jagdhause angekommen.
Er trat in die Tür, fragte nach dem Alten und nach Lotten, er fand
das Haus in einiger Bewegung. Der älteste Knabe sagte ihm, es sei
drüben in Wahlheim ein Unglück geschehn, es sei ein Bauer erschlagen
worden!--Es machte das weiter keinen Eindruck auf ihn.--Er trat in
die Stube und fand Lotten beschäftigt, dem Alten zuzureden, der
ungeachtet seiner Krankheit hinüber wollte, um an Ort und Stelle die
Tat zu untersuchen. Der Täter war noch unbekannt, man hatte den
Erschlagenen des Morgens vor der Haustür gefunden, man hatte
Mutmaßungen: der Entleibte war Knecht einer Witwe, die vorher einen
andern im Dienste gehabt, der mit Unfrieden aus dem Hause gekommen
war.
Da Werther dieses hörte, fuhr er mit Heftigkeit auf.--"Ist's
möglich!" rief er aus, "ich muß hinüber, ich kann nicht einen
Augenblick ruhn."--Er eilte nach Wahlheim zu, jede Erinnerung ward
ihm lebendig, und er zweifelte nicht einen Augenblick, daß jener
Mensch die Tat begangen, den er so manchmal gesprochen, der ihm so
wert geworden war.
Da er durch die Linden mußte, um nach der Schenke zu kommen, wo sie
den Körper hingelegt hatten, entsetzt' er sich vor dem sonst so
geliebten Platze. Jene Schwelle, worauf die Nachbarskinder so oft
gespielt hatten, war mit Blut besudelt. Liebe und Treue, die
schönsten menschlichen Empfindungen, hatten sich in Gewalt und Mord
verwandelt. Die starken Bäume standen ohne Laub und bereift, die
schönen Hecken, die sich über die niedrige Kirchhofmauer wölbten,
waren entblättert, und die Grabsteine sahen mit Schnee bedeckt durch
die Lücken hervor.
Als er sich der Schenke näherte, vor welcher das ganze Dorf
versammelt war, entstand auf einmal ein Geschrei. Man erblickte von
fern einen Trupp bewaffneter Männer, und ein jeder rief, daß man den
Täter herbeiführe. Werther sah hin und blieb nicht lange zweifelhaft.
Ja, es war der Knecht, der jene Witwe so sehr liebte, den er vor
einiger Zeit mit dem stillen Grimme, mit der heimlichen Verzweiflung
umhergehend angetroffen hatte.
"Was hast du begangen, Unglücklicher!" rief Werther aus, indem er
auf den Gefangenen losging.--Dieser sah ihn still an, schwieg und
versetzte endlich ganz gelassen: "keiner wird sie haben, sie wird
keinen haben."--Man brachte den Gefangnen in die Schenke, und
Werther eilte fort.
Durch die entsetzliche, gewaltige Berührung war alles, was in
seinem Wesen lag, durcheinandergeschüttelt worden. Aus seiner Trauer,
seinem Mißmut, seiner gleichgültigen Hingegebenheit wurde er auf
einen Augenblick herausgerissen; unüberwindlich bemächtigte sich die
Teilnehmung seiner, und es ergriff ihn eine unsägliche Begierde, den
Menschen zu retten. Er fühlte ihn so unglücklich, er fand ihn als
Verbrecher selbst so schuldlos, er setzte sich so tief in seine Lage,
daß er gewiß glaubte, auch andere davon zu überzeugen. Schon
wünschte er für ihn sprechen zu können, schon drängte sich der
lebhafteste Vortrag nach seinen Lippen, er eilte nach dem Jagdhause
und konnte sich unterwegs nicht enthalten, alles das, was er dem
Amtmann vorstellen wollte, schon halblaut auszusprechen.
Als er in die Stube trat, fand er Alberten gegenwärtig, dies
verstimmte ihn einen Augenblick; doch faßte er sich bald wieder und
trug dem Amtmann feurig seine Gesinnungen vor. Dieser schüttelte
einigemal den Kopf, und obgleich Werther mit der größten
Lebhaftigkeit, Leidenschaft und Wahrheit alles vorbrachte, was ein
Mensch zur Entschuldigung eines Menschen sagen kann, so war doch, wie
sich's leicht denken läßt, der Amtmann dadurch nicht gerührt. Er ließ
vielmehr unsern Freund nicht ausreden, widersprach ihm eifrig und
tadelte ihn, daß er einen Meuchelmörder in Schutz nehme; er zeigte
ihm, daß auf diese Weise jedes Gesetz aufgehoben, alle Sicherheit des
Staats zugrunde gerichtet werde; auch setzte er hinzu, daß er in einer
solchen Sache nichts tun könne, ohne sich die größte Verantwortung
aufzuladen, es müsse alles in der Ordnung, in dem vorgeschriebenen
Gang gehen.
Werther ergab sich noch nicht, sondern bat nur, der Amtmann möchte
durch die Finger sehn, wenn man dem Menschen zur Flucht behülflich
wäre! Auch damit wies ihn der Amtmann ab. Albert, der sich endlich
ins Gespräch mischte, trat auch auf des Alten Seite. Werther wurde
überstimmt, und mit einem entsetzlichen Leiden machte er sich auf den
Weg, nachdem ihm der Amtmann einigemal gesagt hatte: "nein, er ist
nicht zu retten!"
Wie sehr ihm diese Worte aufgefallen sein müssen, sehn wir aus
einem Zettelchen, das sich unter seinen Papieren fand und das gewiß
an dem nämlichen Tage geschrieben worden:
"Du bist nicht zu retten, Unglücklicher! Ich sehe wohl, daß wir
nicht zu retten sind."
Was Albert zuletzt über die Sache des Gefangenen in Gegenwart des
Amtmanns gesprochen, war Werthern höchst zuwider gewesen: er glaubte
einige Empfindlichkeit gegen sich darin bemerkt zu haben, und wenn
gleich bei mehrerem Nachdenken seinem Scharfsinne nicht entging, daß
beide Männer recht haben möchten, so war es ihm doch, als ob er
seinem innersten Dasein entsagen müßte, wenn er es gestehen, wenn er
es zugeben sollte.
Ein Blättchen, das sich darauf bezieht, das vielleicht sein ganzes
Verhältnis zu Albert ausdrückt, finden wir unter seinen Papieren:
"Was hilft es, daß ich mir's sage und wieder sage, er ist brav und gut,
aber es zerreißt mir mein inneres Eingeweide; ich kann nicht gerecht
sein."
Weil es ein gelinder Abend war und das Wetter anfing, sich zum
Tauen zu neigen, ging Lotte mit Alberten zu Fuße zurück. Unterwegs
sah sie sich hier und da um, eben als wenn sie Werthers Begleitung
vermißte. Albert fing von ihm an zu reden, er tadelte ihn, indem er
ihm Gerechtigkeit widerfahren ließ. Er berührte seine unglückliche
Leidenschaft und wünschte, daß es möglich sein möchte, ihn zu
entfernen.--"Ich wünsch' es auch um unsertwillen," sagt' er, "und ich
bitte dich," fuhr er fort, "siehe zu, seinem Betragen gegen dich eine
andere Richtung zu geben, seine öftern Besuche zu vermindern. Die
Leute werden aufmerksam, und ich weiß, daß man hier und da drüber
gesprochen hat."--Lotte schwieg, und Albert schien ihr Schweigen
empfunden zu haben, wenigstens seit der Zeit erwähnte er Werthers
nicht mehr gegen sie, und wenn sie seiner erwähnte, ließ er das
Gespräch fallen oder lenkte es woanders hin.
Der vergebliche Versuch, den Werther zur Rettung des Unglücklichen
gemacht hatte, war das letzte Auflodern der Flamme eines
verlöschenden Lichtes; er versank nur desto tiefer in Schmerz und
Untätigkeit; besonders kam er fast außer sich, als er hörte, daß man
ihn vielleicht gar zum Zeugen gegen den Menschen, der sich nun aufs
Leugnen legte, auffordern könnte.
Alles was ihm Unangenehmes jeweils in seinem wirksamen Leben
begegnet war, der Verdruß bei der Gesandtschaft, alles was ihm sonst
mißlungen war, was ihn je gekränkt hatte, ging in seiner Seele auf und
nieder. Er fand sich durch alles dieses wie zur Untätigkeit
berechtigt, er fand sich abgeschnitten von aller Aussicht, unfähig,
irgendeine Handhabe zu ergreifen, mit denen man die Geschäfte des
gemeinen Lebens anfaßt; und so rückte er endlich, ganz seiner
wunderbaren Empfindung, Denkart und einer endlosen Leidenschaft
hingegeben, in dem ewigen Einerlei eines traurigen Umgangs mit dem
liebenswürdigen und geliebten Geschöpfe, dessen Ruhe er störte, in
seine Kräfte stürmend, sie ohne Zweck und Aussicht abarbeitend, immer
einem traurigen Ende näher.
Von seiner Verworrenheit, Leidenschaft, von seinem rastlosen
Treiben und Streben, von seiner Lebensmüde sind einige hinterlaßne
Briefe die stärksten Zeugnisse, die wir hier einrücken wollen.

Am 12. Dezember
Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zustande, in dem jene
Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen man glaubte, sie würden
von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift mich's; es
ist nicht Angst, nicht Begier--es ist ein inneres, unbekanntes Toben,
das meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt!
Wehe! Wehe! Und dann schweife ich umher in den furchtbaren
nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen Jahrszeit.
Gestern abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter
eingefallen, ich hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche
geschwollen und von Wahlheim herunter mein liebes Tal überschwemmt!
Nachts nach eilfe rannte ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel,
vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu
sehen, über Äcker und Wiesen und Hecken und alles, und das weite Tal
hinauf und hinab eine stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn
dann der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte,
und vor mir hinaus die Flut in fürchterlich herrlichem Widerschein
rollte und klang: da überfiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen!
Ach, mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund und atmete hinab!
Hinab! Und verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da
hinabzustürmen! Dahinzubrausen wie die Wellen! O!--Und den Fuß vom
Boden zu heben vermochtest du nicht, und alle Qualen zu enden!
--Meine Uhr ist noch nicht ausgelaufen, ich fühle es! O Wilhelm! Wie
gern hätte ich mein Menschsein drum gegeben, mit jenem Sturmwinde sie
Wolken zu zerreißen, die Fluten zu fassen! Ha! Und wird nicht
vielleicht dem Eingekerkerten einmal diese Wonne zuteil?
--Und wie ich wehmütig hinabsah auf ein Plätzchen, wo ich mit Lotten
unter einer Weide geruht, auf einem heißen Spaziergange,--das war
auch überschwemmt, und kaum daß ich die Weide erkannte! Wilhelm! Und
ihre Wiesen, dachte ich, die Gegend um ihr Jagdhaus! Wie verstört
jetzt vom reißenden Strome unsere Laube! Dacht' ich. Und der
Vergangenheit Sonnenstrahl blickte herein, wie einem Gefangenen ein
Traum von Herden, Wiesen und Ehrenämtern. Ich stand!--Ich schelte
mich nicht, denn ich habe Mut zu sterben.--Ich hätte--nun sitze ich
hier wie ein altes Weib, das ihr Holz von Zäunen stoppelt und ihr
Brot an den Türen, um ihr hinsterbendes, freudeloses Dasein noch
einen Augenblick zu verlängern und zu erleichtern.

Am 14. Dezember
Was ist das, mein Lieber? Ich erschrecke vor mir selbst! Ist nicht
meine Liebe zu ihr die heiligste, reinste, brüderlichste Liebe? Habe
ich jemals einen strafbaren Wunsch in meiner Seele gefühlt?--Ich
will nicht beteuern--und nun, Träume! O wie wahr fühlten die Menschen,
die so widersprechende Wirkungen fremden Mächten zuschrieben! Diese
Nacht! Ich zittere, es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest
an meinen Busen gedrückt, und deckte ihren liebelispelnden Mund mit
unendlichen Küssen; mein Auge schwamm in der Trunkenheit des ihrigen!
Gott! Bin ich strafbar, daß ich auch jetzt noch eine Seligkeit fühle,
mir diese glühenden Freuden mit voller Innigkeit zurückzurufen?
Lotte! Lotte!--Und mit mir ist es aus! Meine Sinne verwirren sich,
schon acht Tage habe ich keine Besinnungskraft mehr, meine Augen sind
voll Tränen. Ich bin nirgend wohl, und überall wohl. Ich wünsche
nichts, verlange nichts. Mir wäre besser, ich ginge.
Der Entschluß, die Welt zu verlassen, hatte in dieser Zeit, unter
solchen Umständen in Werthers Seele immer mehr Kraft gewonnen. Seit
der Rückkehr zu Lotten war es immer seine letzte Aussicht und
Hoffnung gewesen; doch hatte er sich gesagt, es solle keine übereilte,
keine rasche Tat sein, er wolle mit der besten Überzeugung, mit der
möglichst ruhigen Entschlossenheit diesen Schritt tun.
Seine Zweifel, sein Streit mit sich selbst blicken aus einem
Zettelchen hervor, das wahrscheinlich ein angefangener Brief an
Wilhelm ist und ohne Datum unter seinen Papieren gefunden worden:
Ihre Gegenwart, ihr Schicksal, ihre Teilnehmung an dem meinigen
preßt noch die letzten Tränen aus meinem versengten Gehirne. Den
Vorhang aufzuheben und dahinter zu treten! Das ist alles! Und warum
das Zaudern und Zagen? Weil man nicht weiß, wie es dahinten aussieht?
Und man nicht wiederkehrt? Und daß das nun die Eigenschaft unseres
Geistes ist, da Verwirrung und Finsternis zu ahnen, wovon wir nichts
Bestimmtes wissen.
Endlich ward er mit dem traurigen Gedanken immer mehr verwandt und
befremdet und sein Vorsatz fest und unwiderruflich, wovon folgender
zweideutige Brief, den er an seinen Freund schrieb, ein Zeugnis
abgibt.

Am 20. Dezember
Ich danke deiner Liebe, Wilhelm, daß du das Wort so aufgefangen
hast. Ja, du hast recht: mir wäre besser, ich ginge. Der Vorschlag,
den du zu einer Rückkehr zu euch tust, gefällt mir nicht ganz;
wenigstens möchte ich noch gern einen Umweg machen, besonders da wir
anhaltenden Frost und gute Wege zu hoffen haben. Auch ist mir es sehr
lieb, daß du kommen willst, mich abzuholen; verziehe nur noch
vierzehn Tage, und erwarte noch einen Brief von mir mit dem Weiteren.
Es ist nötig, daß nichts gepflückt werde, ehe es reif ist. Und
vierzehn Tage auf oder ab tun viel. Meiner Mutter sollst du sagen:
daß sie für ihren Sohn beten soll, und daß ich sie um Vergebung bitte
wegen alles Verdrusses, den ich ihr gemacht habe. Das war nun mein
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  • Die Leiden des jungen Werther — Band 2 - 4
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  • Die Leiden des jungen Werther — Band 2 - 5
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