Die Leiden des jungen Werther — Band 2 - 1

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Die Leiden des jungen Werther
von Johann Wolfgang von Goethe.

Hamburger Ausgabe, Band 6


Zweites Buch

Am 20. Oktober 1771
Gestern sind wir hier angelangt. Der Gesandte ist unpaß und wird sich
also einige Tage einhalten. Wenn er nur nicht so unhold wäre, wär'
alles gut. Ich merke, ich merke, das Schicksal hat mir harte
Prüfungen zugedacht. Doch guten Muts! Ein leichter Sinn trägt alles!
Ein leichter Sinn? Das macht mich zu lachen, wie das Wort in meine
Feder kommt. O ein bißchen leichteres Blut würde mich zum
Glücklichsten unter der Sonne machen. Was! Da, wo andere mit ihrem
bißchen Kraft und Talent vor mir in behaglicher Selbstgefälligkeit
herumschwadronieren, verzweifle ich an meiner Kraft, an meinen Gaben?
Guter Gott, der du mir das alles schenktest, warum hieltest du nicht
die Hälfte zurück und gabst mir Selbstvertrauen und Genügsamkeit?
Geduld! Geduld! Es wird besser werden. Denn ich sage dir, Lieber,
du hast recht. Seit ich unter dem Volke alle Tage herumgetrieben
werde und sehe, was sie tun und wie sie's treiben, stehe ich viel
besser mit mir selbst. Gewiß, weil wir doch einmal so gemacht sind,
daß wir alles mit uns und uns mit allem vergleichen, so liegt Glück
oder Elend in den Gegenständen, womit wir uns zusammenhalten, und da
ist nichts gefährlicher als die Einsamkeit. Unsere Einbildungskraft,
durch ihre Natur gedrungen sich zu erheben, durch die phantastischen
Bilder der Dichtkunst genährt, bildet sich eine Reihe Wesen hinauf, wo
wir das unterste sind und alles außer uns herrlicher erscheint, jeder
andere vollkommner ist. Und das geht ganz natürlich zu. Wir fühlen
so oft, daß uns manches mangelt, und eben was uns fehlt, scheint uns
oft ein anderer zu besitzen, dem wir denn auch alles dazu geben, was
wir haben, und noch eine gewisse idealistische Behaglichkeit dazu. Und
so ist der Glückliche vollkommen fertig, das Geschöpf unserer selbst.
Dagegen, wenn wir mit all unserer Schwachheit und Mühseligkeit nur
gerade fortarbeiten, so finden wir gar oft, daß wir mit unserem
Schlendern und Lavieren es weiter bringen als andere mit ihrem Segeln
und Rudern--und--das ist doch ein wahres Gefühl seiner selbst, wenn
man andern gleich oder gar vorläuft.

Am 26. November
Ich fange an, mich insofern ganz leidlich hier zu befinden. Das beste
ist, daß es zu tun genug gibt; und dann die vielerlei Menschen, die
allerlei neuen Gestalten machen mir ein buntes Schauspiel vor meiner
Seele. Ich habe den Grafen C... kennen lernen, einen Mann, den ich
jeden Tag mehr verehren muß, einen weiten, großen Kopf, und der
deswegen nicht kalt ist, weil er viel übersieht; aus dessen Umgange so
viel Empfindung für Freundschaft und Liebe hervorleuchtet. Er nahm
teil an mir, als ich einen Geschäftsauftrag an ihn ausrichtete und er
bei den ersten Worten merkte, daß wir uns verstanden, daß er mit mir
reden konnte wie nicht mit jedem. Auch kann ich sein offnes Betragen
gegen mich nicht genug rühmen. So eine wahre, warme Freude ist nicht
in der Welt, als eine große Seele zu sehen, die sich gegen einen
öffnet.

Am 24. Dezember
Der Gesandte macht mir viel Verdruß, ich habe es vorausgesehn. Er ist
der pünktlichste Narr, den es nur geben kann; Schritt vor Schritt und
umständlich wie eine Base; ein Mensch, der nie mit sich selbst
zufrieden ist, und dem es daher niemand zu Danke machen kann. Ich
arbeite gern leicht weg, und wie es steht, so steht es; da ist er
imstande, mir einen Aufsatz zurückzugeben und zu sagen:"er ist gut,
aber sehen Sie ihn durch, man findet immer ein besseres Wort, eine
reinere Partikel."--Da möchte ich des Teufels werden. Kein Und, kein
Bindewörtchen darf außenbleiben, und von allen Inversionen, die mir
manchmal entfahren, ist er ein Todfeind; wenn man seinen Period nicht
nach der hergebrachten Melodie heraborgelt, so versteht er gar nichts
drin. Das ist ein Leiden, mit so einem Menschen zu tun zu haben.
Das Vertrauen des Grafen von C... ist noch das einzige, was mich
schadlos hält. Er sagte mir letzthin ganz aufrichtig, wie unzufrieden
er mit der Langsamkeit und Bedenklichkeit meines Gesandten sei. Die
Leute erschweren es sich und andern. "Doch," sagte er, "man muß sich
darein resignieren wie ein Reisender, der über einen Berg muß;
freilich, wäre der Berg nicht da, so wär der Weg viel bequemer und
kürzer; er ist nun aber da, und man soll hinüber!"
Mein Alter spürt auch wohl den Vorzug, den mir der Graf vor ihm gibt,
und das ärgert ihn, und er ergreift jede Gelegenheit, Übels gegen mich
vom Grafen zu reden, ich halte, wie natürlich, Widerpart, und dadurch
wird die Sache nur schlimmer. Gestern gar brachte er mich auf, denn
ich war mit gemeint: zu so Weltgeschäften sei der Graf ganz gut, er
habe viele Leichtigkeit zu arbeiten und führe eine gute Feder, doch an
gründlicher Gelehrsamkeit mangle es ihm wie allen Belletristen. Dazu
machte er eine Miene, als ob er sagen wollte: "fühlst du den
Stich?" Aber es tat bei mir nicht die Wirkung; ich verachtete den
Menschen, der so denken und sich so betragen konnte. Ich hielt ihm
stand und focht mit ziemlicher Heftigkeit. Ich sagte, der Graf sei
ein Mann, vor dem man Achtung haben müsse, wegen seines Charakters
sowohl als wegen seiner Kenntnisse." "Ich habe," sagt' ich, "niemand
gekannt, dem es so geglückt wäre, seinen Geist zu erweitern, ihn über
unzählige Gegenstände zu verbreiten und doch diese Tätigkeit fürs
gemeine Leben zu behalten."--das waren dem Gehirne spanische Dörfer,
und ich empfahl mich, um nicht über ein weiteres Deraisonnement noch
mehr Galle zu schlucken.
Und daran seid ihr alle schuld, die ihr mich in das Joch geschwatzt
und mir so viel von Aktivität vorgesungen habt. Aktivität! Wenn
nicht der mehr tut, der Kartoffeln legt und in die Stadt reitet, sein
Korn zu verkaufen, als ich, so will ich zehn Jahre noch mich auf der
Galeere abarbeiten, auf der ich nun angeschmiedet bin.
Und das glänzende Elend, die Langeweile unter dem garstigen Volke, das
sich hier neben einander sieht! Die Rangsucht unter ihnen, wie sie
nur wachen und aufpassen, einander ein Schrittchen abzugewinnen; die
elendesten, erbärmlichsten Leidenschaften, ganz ohne Röckchen. Da ist
ein Weib, zum Exempel, die jedermann von ihrem Adel und ihrem Lande
unterhält, so daß jeder Fremde denken muß: das ist eine Närrin, die
sich auf das bißchen Adel und auf den Ruf ihres Landes Wunderstreiche
einbildet.--Aber es ist noch viel Ärger: eben das Weib ist hier aus
der Nachbarschaft eine Amtschreiberstochter.--Sieh, ich kann das
Menschengeschlecht nicht begreifen, das so wenig Sinn hat, um sich so
platt zu prostituieren.
Zwar ich merke täglich mehr, mein Lieber, wie töricht man ist, andere
nach sich zu berechnen. Und weil ich so viel mit mir selbst zu tun
habe und dieses Herz so stürmisch ist--ach ich lasse gern die andern
ihres Pfades gehen, wenn sie mich auch nur könnten gehen lassen.
Was mich am meisten neckt, sind die fatalen bürgerlichen Verhältnisse.
Zwar weiß ich so gut als einer, wie nötig der Unterschied der Stände
ist, wie viel Vorteile er mir selbst verschafft: nur soll er mir nicht
eben gerade im Wege stehen, wo ich noch ein wenig Freude, einen
Schimmer von Glück auf dieser Erde genießen könnte. Ich lernte
neulich auf dem Spaziergange ein Fräulein von B. kennen, ein
liebenswürdiges Geschöpf, das sehr viele Natur mitten in dem steifen
Leben erhalten hat. Wir gefielen uns in unserem Gespräche, und da wir
schieden, bat ich sie um Erlaubnis, sie bei sich sehen zu dürfen. Sie
gestattete mir das mit so vieler Freimütigkeit, daß ich den
schicklichen Augenblick kaum erwarten konnte, zu ihr zu gehen. Sie
ist nicht von hier und wohnt bei einer Tante im Hause. Die
Physiognomie der Alten gefiel mir nicht. Ich bezeigte ihr viel
Aufmerksamkeit, mein Gespräch war meist an sie gewandt, und in minder
als einer halben Stunde hatte ich so ziemlich weg, was mir das
Fräulein nachher selbst gestand: daß die liebe Tante in ihrem Alter
Mangel von allem, kein anständiges Vermögen, keinen Geist und keine
Stütze hat als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm als den Stand,
in den sie sich verpalisadiert, und kein Ergetzen, als von ihrem
Stockwerk herab über die bürgerlichen Häupter wegzusehen. In ihrer
Jugend soll sie schön gewesen sein und ihr Leben weggegaukelt, erst
mit ihrem Eigensinne manchen armen Jungen gequält, und in den reifern
Jahren sich unter den Gehorsam eines alten Offiziers geduckt haben,
der gegen diesen Preis und einen leidlichen Unterhalt das eherne
Jahrhundert mit ihr zubrachte und starb. Nun sieht sie im eisernen
sich allein und würde nicht angesehn, wär' ihre Nichte nicht so
liebenswürdig.

Den 8. Januar 1772
Was das für Menschen sind, deren ganze Seele auf dem Zeremoniell ruht,
deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht, wie sie um einen
Stuhl weiter hinauf bei Tische Angelegenheit hätten: nein, vielmehr
häufen sich die Arbeiten, eben weil man über den kleinen
Verdrießlichkeiten von Beförderung der wichtigen Sachen abgehalten
wird. Vorige Woche gab es bei der Schlittenfahrt Händel, und der
ganze Spaß wurde verdorben.
Die Toren, die nicht sehen, daß es eigentlich auf den Platz gar nicht
ankommt, und daß der, der den ersten hat, so selten die erste Rolle
spielt! Wie mancher König wird durch seinen Minister, wie mancher
Minister durch seinen Sekretär regiert! Und wer ist dann der Erste?
Der, dünkt mich, der die andern übersieht und so viel Gewalt oder List
hat, ihre Kräfte und Leidenschaften zu Ausführung seiner Plane
anzuspannen.

Am 20. Januar
Ich muß Ihnen schreiben, liebe Lotte, hier in der Stube einer geringen
Bauernherberge, in die ich mich vor einem schweren Wetter geflüchtet
habe. Solange ich in dem traurigen Nest D..., unter dem fremden,
meinem Herzen ganz fremden Volke herumziehe, habe ich keinen
Augenblick gehabt, keinen, an dem mein Herz mich geheißen hätte, Ihnen
zu schreiben; und jetzt in dieser Hütte, in dieser Einsamkeit, in
dieser Einschränkung, da Schnee und Schloßen wider mein Fensterchen
wüten, hier waren Sie mein erster Gedanke. Wie ich hereintrat,
überfiel mich Ihre Gestalt, Ihr Andenken, o Lotte! So heilig, so warm!
Guter Gott! Der erste glückliche Augenblick wieder.
Wenn Sie mich sähen, meine Beste, in dem Schwall von Zerstreuung! Wie
ausgetrocknet meine Sinne werden! Nicht einen Augenblick der Fülle
des Herzens, nicht eine selige Stunde! Nichts! Nichts! Ich stehe
wie vor einem Raritätenkasten und sehe die Männchen und Gäulchen vor
mir herumrücken, und frage mich oft, ob es nicht optischer Betrug ist.
Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt wie eine Marionette und
fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und schaudere
zurück. Des Abends nehme ich mir vor, den Sonnenaufgang zu genießen,
und komme nicht aus dem Bette; am Tage hoffe ich, mich des Mondscheins
zu erfreuen, und bleibe in meiner Stube. Ich weiß nicht recht, warum
ich aufstehe, warum ich schlafen gehe.
Der Sauerteig, der mein Leben in Bewegung setzte, fehlt; der Reiz, der
mich in tiefen Nächten munter erhielt, ist hin, der mich des Morgens
aus dem Schlafe weckte, ist weg.
Ein einzig weibliches Geschöpf habe ich hier gefunden, eine Fräulein
von B..., sie gleicht Ihnen, liebe Lotte, wenn man Ihnen gleichen
kann." "Ei!" werden Sie sagen, "der Mensch legt sich auf niedliche
Komplimente!" ganz unwahr ist es nicht. Seit einiger Zeit bin ich
sehr artig, weil ich doch nicht anders sein kann, habe viel Witz, und
die Frauenzimmer sagen, es wüßte niemand so fein zu loben als ich (und
zu lügen, setzen Sie hinzu, denn ohne das geht es nicht ab, verstehen
Sie?). Ich wollte von Fräulein B... reden. Sie hat viel Seele, die
voll aus ihren blauen Augen hervorblickt. Ihr Stand ist ihr zur Last,
der keinen der Wünsche ihres Herzens befriedigt. Sie sehnt sich aus
dem Getümmel, und wir verphantasieren manche Stunde in ländlichen
Szenen von ungemischter Glückseligkeit; ach! und von Ihnen! Wie oft
muß sie Ihnen huldigen, muß nicht, tut es freiwillig, hört so gern von
Ihnen, liebt Sie.--O säß' ich zu Ihren Füßen in dem lieben,
vertraulichen Zimmerchen, und unsere kleinen Lieben wälzten sich mit
einander um mich herum, und wenn sie Ihnen zu laut würden, wollte ich
sie mit einem schauerlichen Märchen um mich zur Ruhe versammeln.
Die Sonne geht herrlich unter über der schneeglänzenden Gegend, der
Sturm ist hinüber gezogen, und ich--muß mich wieder in meinen Käfig
sperren.--Adieu! Ist Albert bei Ihnen? Und wie--? Gott verzeihe mir
diese Frage!

Den 8. Februar
Wir haben seit acht Tagen das abscheulichste Wetter, und mir ist es
wohltätig. Denn so lang ich hier bin, ist mir noch kein schöner Tag
am Himmel erschienen, den mir nicht jemand verdorben oder verleidet
hätte. Wenn's nun recht regnet und stöbert und fröstelt und taut: ha!
Denk' ich, kann's doch zu Hause nicht schlimmer werden, als es
draußen ist, oder umgekehrt, und so ist's gut. Geht die Sonne des
Morgens auf und verspricht einen feinen Tag, erwehr' ich mir niemals
auszurufen: da haben sie doch wieder ein himmlisches Gut, worum sie
einander bringen können! Es ist nichts, worum sie einander nicht
bringen. Gesundheit, guter Name, Freudigkeit, Erholung! Und meist
aus Albernheit, Unbegriff und Enge und, wenn man sie anhört, mit der
besten Meinung. Manchmal möcht' ich sie auf den Knieen bitten, nicht
so rasend in ihre eigenen Eingeweide zu wüten.

Am 17. Februar
Ich fürchte, mein Gesandter und ich halten es zusammen nicht mehr
lange aus. Der Mann ist ganz und gar unerträglich. Seine Art zu
arbeiten und Geschäfte zu treiben ist so lächerlich, daß ich mich
nicht enthalten kann, ihm zu widersprechen und oft eine Sache nach
meinem Kopf und meiner Art zu machen, das ihm denn, wie natürlich,
niemals recht ist. Darüber hat er mich neulich bei Hofe verklagt, und
der Minister gab mir einen zwar sanften Verweis, aber es war doch ein
Verweis, und ich stand im Begriffe, meinen Abschied zu begehren, als
ich einen Privatbrief von ihm erhielt, einen Brief, vor dem ich
niedergekniet, und den hohen, edlen, weisen Sinn angebetet habe. Wie
er meine allzu große Empfindlichkeit zurechtweiset, wie er meine
überspannten Ideen von Wirksamkeit, von Einfluß auf andere, von
Durchdringen in Geschäften als jugendlichen guten Mut zwar ehrt, sie
nicht auszurotten, nur zu mildern und dahin zu leiten sucht, wo sie
ihr wahres Spiel haben, ihre kräftige Wirkung tun können. Auch bin
ich auf acht Tage gestärkt und in mir selbst einig geworden. Die Ruhe
der Seele ist ein herrliches Ding und die Freude an sich selbst.
Lieber Freund, wenn nur das Kleinod nicht eben so zerbrechlich wäre,
als es schön und kostbar ist.

Am 20. Februar
Gott segne euch, meine Lieben, geb' euch alle die guten Tage, die er
mir abzieht!
Ich danke dir, Albert, daß du mich betrogen hast: ich wartete auf
Nachricht, wann euer Hochzeitstag sein würde, und hatte mir
vorgenommen, feierlichst an demselben Lottens Schattenriß von der Wand
zu nehmen und ihn unter andere Papiere zu begraben. Nun seid ihr ein
Paar, und ihr Bild ist noch hier! Nun, so soll es bleiben! Und warum
nicht? Ich weiß, ich bin ja auch bei euch, bin dir unbeschadet in
Lottens Herzen, habe, ja ich habe den zweiten Platz darin und will und
muß ihn behalten. O ich würde rasend werden, wenn sie vergessen
könnte--Albert, in dem Gedanken liegt eine Hölle. Albert, leb' wohl!
Leb' wohl, Engel des Himmels! Leb' wohl, Lotte!

Den 15. März
Ich habe einen Verdruß gehabt, der mich von hier wegtreiben wird. Ich
knirsche mit den Zähnen! Teufel! Er ist nicht zu ersetzen, und ihr
seid doch allein schuld daran, die ihr mich sporntet und treibt und
quältet, mich in einen Posten zu begeben, der nicht nach meinem Sinne
war. Nun habe ich's! Nun habt ihr's! Und daß du nicht wieder sagst,
meine überspannten Ideen verdürben alles, so hast du hier, lieber Herr,
eine Erzählung, plan und nett, wie ein Chronikenschreiber das
aufzeichnen würde.
Der Graf von C... liebt mich, distinguiert mich, das ist bekannt, das
habe ich dir schon hundertmal gesagt. Nun war ich gestern bei ihm zu
Tafel, eben an dem Tage, da abends die noble Gesellschaft von Herren
und Frauen bei ihm zusammenkommt, an die ich nie gedacht habe, auch
mir nie aufgefallen ist, daß wir Subalternen nicht hineingehören. Gut.
Ich speise bei dem Grafen, und nach Tische gehn wir in dem großen
Saal auf und ab, ich rede mit ihm, mit dem Obristen B..., der dazu
kommt, und so rückt die Stunde der Gesellschaft heran. Ich denke,
Gott weiß, an nichts. Da tritt herein die übergnädige Dame von S...
mit ihrem Herrn Gemahl und wohl ausgebrüteten Gänslein Tochter mit der
flachen Brust und niedlichem Schnürleibe, machen en passant ihre
hergebrachten, hochadeligen Augen und Naslöcher, und wie mir die
Nation von Herzen zuwider ist, wollte ich mich eben empfehlen und
wartete nur, bis der Graf vom garstigen Gewäsche frei wäre, als meine
Fräulein B. hereintrat. Da mir das Herz immer ein bißchen aufgeht,
wenn ich sie sehe, blieb ich eben, stellte mich hinter ihren Stuhl und
bemerkte erst nach einiger Zeit, daß sie mit weniger Offenheit als
sonst, mit einiger Verlegenheit mit mir redete. Das fiel mir auf.
Ist sie auch wie all das Volk, dacht' ich, und war angestochen und
wollte gehen, und doch blieb ich, weil ich sie gerne entschuldigt
hätte und es nicht glaubte und noch ein gut Wort von ihr hoffte
und--was du willst. Unterdessen füllte sich die Gesellschaft. Der
Baron F. mit der ganzen Garderobe von den Krönungszeiten Franz des
Ersten her, der Hofrat R..., hier aber in qualitate Herr von R...
genannt, mit seiner tauben Frau etc., den Übel fournierten J... nicht
zu vergessen, der die Lücken seiner altfränkischen Garderobe mit
neumodischen Lappen ausflickt, das kommt zu Hauf, und ich rede mit
einigen meiner Bekanntschaft, die alle sehr lakonisch sind. Ich
dachte--und gab nur auf meine B... acht. Ich merkte nicht, daß die
Weiber am Ende des Saales sich in die Ohren flüsterten, daß es auf die
Männer zirkulierte, daß Frau von S. mit dem Grafen redete (das alles
hat mir Fräulein B. nachher erzählt), bis endlich der Graf auf mich
losging und mich in ein Fenster nahm.--"Sie wissen", sagt' er, "unsere
wunderbaren Verhältnisse; die Gesellschaft ist unzufrieden, merkte ich,
Sie hier zu sehn. Ich wollte nicht um alles"--"Ihro Exzellenz," fiel
ich ein, "ich bitte tausendmal um Verzeihung; ich hätte eher dran
denken sollen, und ich weiß, Sie vergeben mir diese Inkonsequenz; ich
wollte schon vorhin mich empfehlen. Ein böser Genius hat mich
zurückgehalten." Setzte ich lächelnd hinzu, indem ich mich neigte.
--Der Graf drückte meine Hände mit einer Empfindung, die alles sagte.
Ich strich mich sacht aus der vornehmen Gesellschaft, ging, setzte
mich in ein Kabriolett und fuhr nach M., dort vom Hügel die Sonne
untergehen zu sehen und dabei in meinem Homer den herrlichen Gesang zu
lesen, wie Ulyß von dem trefflichen Schweinehirten bewirtet wird. Das
war alles gut.
Des Abends komm' ich zurück zu Tische, es waren noch wenige in der
Gaststube; die würfelten auf einer Ecke, hatten das Tischtuch
zurückgeschlagen. Da kommt der ehrliche Adelin hinein, legt seinen
Hut nieder, indem er mich ansieht, tritt zu mir und sagt leise:"du
hast Verdruß gehabt?"--"Ich?" sagt' ich.--"Der Graf hat dich aus der
Gesellschaft gewiesen."--"Hol' sie der Teufel!" sagt' ich, "mir war's
lieb, daß ich in die freie Luft kam."--"Gut," sagt' er, "daß du's auf
die leichte Achsel nimmst. Nur verdrießt mich's, es ist schon überall
herum."--Da fing mich das Ding erst an zu wurmen. Alle, die zu Tisch
kamen und mich ansahen, dachte ich, die sehen dich darum an! Das gab
böses Blut.
Und da man nun heute gar, wo ich hintrete, mich bedauert, da ich höre,
daß meine Neider nun triumphieren und sagen: da sähe man's, wo es mit
den Übermütigen hinausginge, die sich ihres bißchen Kopfs überhöben
und glaubten, sich darum über alle Verhältnisse hinaussetzen zu dürfen,
und was des Hundegeschwätzes mehr ist--da möchte man sich ein Messer
ins Herz bohren; denn man rede von Selbständigkeit was man will, den
will ich sehen, der dulden kann, daß Schurken über ihn reden, wenn sie
einen Vorteil über ihn haben; wenn ihr Geschwätze leer ist, ach da
kann man sie leicht lassen.

Am 16. März
Es hetzt mich alles. Heut' treff' ich die Fräulein B... in der
Allee, ich konnte mich nicht enthalten, sie anzureden und ihr, sobald
wir etwas entfernt von der Gesellschaft waren, meine Empfindlichkeit
über ihr neuliches Betragen zu zeigen.--"O Werther," sagte sie mit
einem innigen Tone, "konnten Sie meine Verwirrung so auslegen, da Sie
mein Herz kennen? Was ich gelitten habe um Ihretwillen, von dem
Augenblicke an, da ich in den Saal trat! Ich sah alles voraus,
hundertmal saß mir's auf der Zunge, es Ihnen zu sagen. Ich wußte,
daß die von S... und T... mit ihren Männern eher aufbrechen würden,
als in Ihrer Gesellschaft zu bleiben; ich wußte, daß der Graf es mit
ihnen nicht verderben darf,--und jetzt der Lärm!"--"wie,
Fräulein?" sagt' ich und verbarg meinen Schrecken; denn alles, was
Adelin mir ehegestern gesagt hatte, lief mir wie siedend Wasser durch
die Adern in diesem Augenblicke.--"Was hat mich es schon gekostet!"
sagte das süße Geschöpf, indem ihr die Tränen in den Augen standen.
--Ich war nicht Herr mehr von mir selbst, war im Begriffe, mich ihr
zu Füßen zu werfen.--"Erklären Sie sich!" rief ich.--Die Tränen
liefen ihr die Wangen herunter. Ich war außer mir. Sie trocknete sie
ab, ohne sie verbergen zu wollen.--"Meine Tante kennen Sie," fing sie
an, "sie war gegenwärtig und hat--o, mit was für Augen hat sie das
angesehen! Werther, ich habe gestern nacht ausgestanden und heute
früh eine Predigt über meinen Umgang mit Ihnen, und ich habe müssen
zuhören Sie herabsetzen, erniedrigen, und konnte und durfte Sie nur
halb verteidigen." Jedes Wort, das sie sprach, ging mir wie ein
Schwert durchs Herz. Sie fühlte nicht, welche Barmherzigkeit es
gewesen wäre, mir das alles zu verschweigen, und nun fügte sie noch
hinzu, was weiter würde geträtscht werden, was eine Art Menschen
darüber triumphieren würde.
Wie man sich nunmehr über die Strafe meines Übermuts und meiner
Geringschätzung anderer, die sie mir schon lange vorwerfen, kitzeln
und freuen würde. Das alles, Wilhelm, von ihr zu hören, mit der
Stimme der wahrsten Teilnehmung--ich war zerstört und bin noch wütend
in mir. Ich wollte, daß sich einer unterstünde, mir's vorzuwerfen,
daß ich ihm den Degen durch den Leib stoßen könnte; wenn ich Blut sähe,
würde mir's besser werden. Ach, ich hab' hundertmal ein Messer
ergriffen, um diesem gedrängten Herzen Luft zu machen. Man erzählt
von einer edlen Art Pferde, die, wenn sie schrecklich erhitzt und
aufgejagt sind, sich selbst aus Instinkt eine Ader aufbeißen, um sich
zum Atem zu helfen. So ist mir's oft, ich möchte mir eine Ader öffnen,
die mir die ewige Freiheit schaffte.

Am 24. März
Ich habe meine Entlassung vom Hofe verlangt und werde sie, hoffe
ich, erhalten, und ihr werdet mir verzeihen, daß ich nicht erst
Erlaubnis dazu bei euch geholt habe. Ich mußte nun einmal fort, und
was ihr zu sagen hattet, um mir das Bleiben einzureden, weiß ich
alles, und also--bringe das meiner Mutter in einem Säftchen bei, ich
kann mir selbst nicht helfen, und sie mag sich gefallen lassen, wenn
ich ihr auch nicht helfen kann. Freilich muß es ihr wehe tun. Den
schönen Lauf, den ihr Sohn gerade zum Geheimenrat und Gesandten
ansetzte, so auf einmal Halte zu sehen, und rückwärts mit dem
Tierchen in den Stall! Macht nun daraus, was ihr wollt, und
kombiniert die möglichen Fälle, unter denen ich hätte bleiben können
und sollen; genug, ich gehe, und damit ihr wißt, wo ich hinkomme, so
ist hier der Fürst **, der vielen Geschmack an meiner Gesellschaft
findet; der hat mich gebeten, da er von meiner Absicht hörte, mit ihm
auf seine Güter zu gehen und den schönen Frühling da zuzubringen.
Ich soll ganz mir selbst gelassen sein, hat er mir versprochen, und
da wir uns zusammen bis auf einen gewissen Punkt verstehn, so will
ich es denn auf gut Glück wagen und mit ihm gehen.

Zur Nachricht

Am 19. April
Danke für deine beiden Briefe. Ich antwortete nicht, weil ich
dieses Blatt liegen ließ, bis mein Abschied vom Hofe da wäre; ich
fürchtete, meine Mutter möchte sich an den Minister wenden und mir
mein Vorhaben erschweren. Nun aber ist es geschehen, mein Abschied
ist da. Ich mag euch nicht sagen, wie ungern man mir ihn gegeben hat,
und was mir der Minister schreibt--ihr würdet in neue Lamentationen
ausbrechen. Der Erbprinz hat mir zum Abschiede fünfundzwanzig Dukaten
geschickt, mit einem Wort, das mich bis zu Tränen gerührt hat; also
brauche ich von der Mutter das Geld nicht, um das ich neulich schrieb.

Am 5. Mai
Morgen gehe ich von hier ab, und weil mein Geburtsort nur sechs
Meilen vom Wege liegt, so will ich den auch wiedersehen, will mich
der alten, glücklich verträumten Tage erinnern. Zu eben dem Tore will
ich hinein gehn, aus dem meine Mutter mit mir heraus fuhr, als sie
nach dem Tode meines Vaters den lieben, vertraulichen Ort verließ, um
sich in ihre unerträgliche Stadt einzusperren. Adieu, Wilhelm, du
sollst von meinem Zuge hören.

Am 9. Mai
Ich habe die Wallfahrt nach meiner Heimat mit aller Andacht eines
Pilgrims vollendet, und manche unerwarteten Gefühle haben mich
ergriffen. An der großen Linde, die eine Viertelstunde vor der Stadt
nach S... zu steht, ließ ich halten, stieg aus und hieß den Postillon
fortfahren, um zu Fuße jede Erinnerung ganz neu, lebhaft, nach meinem
Herzen zu kosten. Da stand ich nun unter der Linde, die ehedem, als
Knabe, das Ziel und die Grenze meiner Spaziergänge gewesen. Wie
anders! Damals sehnte ich mich in glücklicher Unwissenheit hinaus in
die unbekannte Welt, wo ich für mein Herz so viele Nahrung, so vielen
Genuß hoffte, meinen strebenden, sehnenden Busen auszufüllen und zu
befriedigen. Jetzt komme ich zurück aus der weiten Welt--o mein
Freund, mit wie viel fehlgeschlagenen Hoffnungen, mit wie viel
zerstörten Planen!--Ich sah das Gebirge vor mir liegen, das
tausendmal der Gegenstand meiner Wünsche gewesen war. Stundenlang
konnt' ich hier sitzen und mich hinüber sehnen, mit inniger Seele
mich in den Wäldern, den Tälern verlieren, die sich meinen Augen so
freundlich-dämmernd darstellten; und wenn ich dann um die bestimmte
Zeit wieder zurück mußte, mit welchem Widerwillen verließ ich nicht
den lieben Platz!--Ich kam der Stadt näher, alle die alten,
bekannten Gartenhäuschen wurden von mir gegrüßt, die neuen waren mir
zuwider, so auch alle Veränderungen, die man sonst vorgenommen hatte.
Ich trat zum Tor hinein und fand mich doch gleich und ganz wieder.
Lieber, ich mag nicht ins Detail gehn; so reizend, als es mir war, so
einförmig würde es in der Erzählung werden. Ich hatte beschlossen,
auf dem Markte zu wohnen, gleich neben unserem alten Haus. Im
Hingehen bemerkte ich, daß die Schulstube, wo ein ehrliches altes
Weib unsere Kindheit zusammengepfercht hatte, in einen Kramladen
verwandelt war. Ich erinnere mich der Unruhe, der Tränen, der
Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangst, die ich in dem Loche
ausgestanden hatte.--Ich tat keinen Schritt, der nicht merkwürdig
war. Ein Pilger im heiligen Lande trifft nicht so viele Stätten
religiöser Erinnerungen an, und seine Seele ist schwerlich so voll
heiliger Bewegung.--Noch eins für tausend. Ich ging den Fluß hinab,
bis an einen gewissen Hof; das war sonst auch mein Weg, und die
Plätzchen, wo wir Knaben uns übten, die meisten Sprünge der flachen
Steine im Wasser hervorzubringen. Ich erinnerte mich so lebhaft, wenn
ich manchmal stand und dem Wasser nachsah, mit wie wunderbaren
Ahnungen ich es verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die Gegenden
vorstellte, wo es nun hinflösse, und wie ich da sobald Grenzen meiner
Vorstellungskraft fand; und doch mußte das weiter gehen, immer weiter,
bis ich mich ganz in dem Anschauen einer unsichtbaren Ferne verlor.
--Sieh, mein Lieber, so beschränkt und so glücklich waren die
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  • Die Leiden des jungen Werther — Band 2 - 4
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  • Die Leiden des jungen Werther — Band 2 - 5
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