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Die Innerste: Erzählung - 4

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  gestellt wird.«
  »Das ist ein Wort, Herr Vater, und ich bin der Mann zu dem Teller,
  Meister Müller. Aber nun adjes, Frau Mutter und Kamerad Albrecht! Bleibt
  gesund und munter. Beiläufig, es ist doch ein Gaudium, so frank und frei
  auf jeder Landstraße marschieren zu dürfen, ohne vor dem Colignon und
  seinen Leuten Bange zu haben. Da sieht man, wozu eine französische
  Kanonenkugel am richtigen Fleck nutze ist. ^Bon jour!^«
  Sie standen während dieser Reden alle auf dem Mühlenstege, der über die
  Innerste auf den Feld- und Wiesenweg nach Groß-Förste führte, und der
  Meister Christian Bodenhagen hielt im Arm die dickbäuchige
  Branntweinflasche, aus welcher er dem muntern Gast und braven Invaliden
  Seiner Majestät in Preußen zum fröhlichen Abschied den Weckauf, den
  Nebeldrücker und Lerchentriller eingeschenkt hatte. Aber auf diesem
  nämlichen Stege hatte er, der Alte, im Augenblick vorher ein anderes
  nach seinem Vornehmen ins Werk gerichtet, was auch des Erzählens wert
  ist.
  Wenn das Wasser, die Innerste, geschrien hat, so will sie ihren Willen
  haben, und wehe! wenn sie den nicht kriegt. Ein lebendiges Landtier
  fordert sie für ihren gierigen Hunger, und am liebsten ist ihr ein
  schwarzes Huhn; weshalb, das weiß man nicht. Bekommt sie ihren Willen
  nicht in Zeit von vierundzwanzig Stunden, wird ihr das Huhn nicht mit
  gebundenen Füßen und Flügeln in den Rachen geworfen, so hilft sie sich
  selber. Sie versteht es, sich selber zu helfen, und holt sich einen
  Menschen -- ohne Gnade und Gegenwehr einen Menschen! -- und zwar noch in
  dem nämlichen Jahre. Manchmal wartet sie heimtückisch boshaft bis in die
  letzte Stunde; aber sie erhascht ihr Opfer und sollte es auch erst in
  der letzten Minute des letzten Dezembertages geschehen.
  Diesmal jedenfalls hatte sie ihren Willen gehabt; der alte Müller an der
  Innerste, Meister Christian Bodenhagen, hatte die ganze Nacht hindurch
  ein zu seinem Unglück schwarzgefiedert Huhn, das ruhig und ahnungslos
  auf seinem Balken schlief, nicht aus seinen Gedanken und Träumen
  gelassen, und nun -- hatte es die Innerste bereits wie der Colignon den
  Rekruten, auf welchen er's abgesehen hatte. Die Zuschauer hatten mit
  geheimem Schauder das elende Tier in der Mühlrinne zappeln sehen und
  kreischen gehört -- die Innerste hatte ihre Beute verschlungen, und
  selbst der Korporal Brand hatte es nicht gewagt, den Meister Christian
  auszulachen. Der Korporal hatte sogar dem jungen Müller leise den
  Ellbogen in die Seite gestoßen und ihm hinter dem Rücken der Hand
  zugeflüstert:
  »Du! Der König Fritze würde zwar über dieses auf Französisch gelacht
  haben, doch mir ist's augenblicklich gar nicht lächerlich mehr. Nun ist
  mir doch wahrhaftig selber, als hätte ich gestern abend ein Geschrei
  gehört! Alle Wetter, Musketier Bodenhagen, gib mir acht, daß du für dein
  Teil auch immer ein schwarz Huhn zur Hand hast, wenn du hier allein Herr
  und Meister sein wirst. Selbst wenn mir jetzo die Sonne auf den Weg
  scheinen täte, was sie nicht tut, so würde sie mir diese Narrheit nicht
  aus dem Kopfe scheinen. Was ich gestern abend gesagt habe, behält eben
  doch seinen Sinn. Merk dir's, Kamerad.«
  Darauf hatte der junge Müller seinerseits dem Korporal den Ellenbogen in
  die Seite gesetzt, aber nur stumm dazu geseufzt. Der einarmige Invalide
  verschwand auf dem Wege nach Groß-Förste im Morgennebel, und der Meister
  Christian sagte:
  »Ja, ja, Albrecht; wärst du mir so wie der nach Hause gekommen, so
  hätt's mir auch besser gefallen. Das ist wenigstens ein Kerl und kein
  Windsack. Marsch an die Arbeit! was steht Er da und gafft, Junge?«
  Die Mutter Bodenhagen trug die Flasche und das Glas in das Haus zurück,
  und allesamt gingen sie, ein jeglicher an seine Geschäfte. Es gab viele
  Arbeit in der nächsten Zeit, und das war für alle gut, besonders aber
  für den Haussohn, denn dem flog's recht häufig um Stirn und Nase, gleich
  einer lästigen Fliege, die weder zu fangen noch zu verscheuchen war.
  Es ist gar nicht zu sagen, wie viele Leute sich auf die Hochzeit des
  jungen Müllers und der Jungfer von Papenbergs Hofe freuten und wie viele
  sich zu derselbigen geladen und ungeladen einfanden. Zu angesetzter
  Zeit, als die Welt wieder grün geworden war, fand sie statt, und es
  wurde eine große Lustbarkeit. Unter den ungeladenen Gästen fanden sich
  gottlob keine von denen, die Lieschen Papenbergs gute Freundinnen so
  gern aus den Feldlagern in Westfalen, Schlesien oder Böhmen hergebeten
  hätten. Die Sonne schien, die Geige schrillte, und der Brummbaß rumpelte
  dem Siebenjährigen Kriege und den Franzosen im Lande zum Trotze, und was
  das allerbeste war: die Innerste hat nicht die Pläsierlichkeit gestört,
  das Wasser hat nicht in die Lust hineingeschrien. Das war auch für sie,
  die Innerste, das beste; denn weder ein schwarz noch ein bunt Huhn wäre
  an dem Tage für sie auf dem Hofe zu finden gewesen. Groß und klein, jung
  und alt, waren sie in die Suppentöpfe gewandert -- nicht ein einziges
  entging dem Messer der Hausmutter.
  Und die Männer sagten alle, eine so saubere Braut wie das Lieschen sei
  im ganzen Fürstentum Hildesheim nicht zum zweiten Male zu finden.
  »Ich suche auch gar nicht danach,« sprach der junge Meister, und der
  alte Meister rieb sich die Hände und murmelte:
  »Nun mag es doch noch gehen; in sichere Zucht ist er anjetzo mit Gottes
  Hülfe gebracht. Ich habe das Meinige an ihm getan, und wann er jetzo dem
  Stabe Sanft parieren wird, so tue ich vor Johanni noch ein letztes und
  gebe das Regimente ganz und gar ab. Der Alten wird's auch so recht
  sein.«
  So reden die Menschen von dem, was sie morgen -- übermorgen -- vor
  Johanni tun wollen! Der Hochzeitsjubel ist verstummt in der Mühle; den
  Brummbaß samt seinem Musikanten hat man am Morgen in zärtlicher
  Umarmung, und was den Musikanten anging, im tiefen Schlaf im Graben an
  der Straße nach Hohen-Hameln, und den alten Müller, den wackern Meister
  Christian Bodenhagen, in seinem Bette tot gefunden. Der Medikus aus
  Sarstedt hat ihn, den Meister, nachträglich zur Ader gelassen, jedoch
  ganz und gar vergeblich.
  »Es ist eben, auch nach der Errichtung der Universität Göttingen, immer
  noch ein eigen Ding mit diesen Schlagflüssen, Mutter Bodenhagen,« sprach
  der Doktor zu der in Tränen und Jammer aufgelösten alten Frau. »Zu
  schnell kann unsereiner nie kommen. Halte Sie sich an den Trost, daß im
  vorliegenden Casu die ganze medizinische Fakultät der Georgia Augusta
  nicht mehr ausgerichtet hätte als wie ich.«
  
  
   Achtes Kapitel.
  
   Auf einer Trommel saß der Held
   Und dachte seine Schlacht,
   Den Himmel über sich zum Zelt,
   Und um sich her die Nacht;
  nämlich die Nacht vom vierzehnten auf den fünfzehnten August 1760. Als
  es dämmerig wurde, stand das Heer in voller Schlachtordnung auf den
  Liegnitzer Hügeln; die Österreicher rückten an gegen den linken Flügel
  der Preußen, und zwei Stunden später war wieder einmal alles ganz anders
  gekommen, als ein bedeutender Teil Europas erwartet hatte. Der König
  Fritz von Preußen hatte die Welt wieder einmal in ein nicht
  ungerechtfertigtes Erstaunen versetzt und die Schlacht bei Liegnitz
  gewonnen.
  Der Hauptmann von Archenholz, der als blutjunger Junker mit dabei war,
  sagt, daß der Morgen sehr schön war und daß die Sonne den blutigen
  Walplatz, die Leichen und Sterbenden hell beschien. Sehr hübsch
  schildert er auch, was nach der Affäre vorging:
  »Um fünf Uhr des Morgens, da die feine Welt in allen europäischen
  Ländern noch im tiefen Schlafe begraben lag und die arbeitenden
  Volksklassen sich erst von ihrem Nachtlager erhoben, waren hier bereits
  große Taten geschehen und vollendet. Man hatte einen wichtigen Sieg
  erfochten, der die Vereinigung der Russen und Österreicher hinderte, und
  alle ihre auf die schlesischen Festungen gemachten Entwürfe vereitelte.
  Friedrich ließ auf der Stelle von der ganzen Armee ein Freudenfeuer
  machen, und sodann setzte er sich sogleich in Marsch; ein Marsch, der
  durchaus einzig in seiner Art und erstaunenswürdig war, der Aufzeichnung
  so sehr wert, wie irgendeine große Begebenheit des gegenwärtigen Kriegs;
  denn diese von der Blutarbeit abgemattete und von zahlreichen Heeren
  umringte Armee mußte ohne Rast und ohne allen Zeitverlust fortrücken und
  dabei alles eroberte Geschütz, alle Gefangenen und auch alle Verwundeten
  mitnehmen. Man packte die letzteren auf Mehl- und Brotwagen; auch andere
  Wagen und Chaisen nahm man dazu, sie mochten gehören, wem sie wollten;
  selbst der König gab die seinigen her. Auch die Handpferde des Monarchen
  und der vornehmen Befehlshaber wurden hergegeben, um die Verwundeten,
  die noch reiten konnten, fortzubringen. Die ledigen Mehlwagen schlug man
  in Stücke und spannte die Pferde vor die erbeuteten Kanonen. Von den
  feindlichen Gewehren mußte ein jeder Reiter und Packknecht eins
  mitnehmen. Nichts wurde zurückgelassen oder vergessen, erheblich oder
  unerheblich; es war Beute. Auch nicht ein einziger Verwundeter blieb
  zurück, weder von den Preußen, noch von den Österreichern, so daß um
  neun Uhr, vier Stunden nach geendigter Schlacht, dies so unvorbereitet
  neu belastete Heer mit dem ganzen ungeheuren Troß schon im vollen
  Marsche war.«
  Wir haben die Schilderung ganz abgeschrieben, denn es wird einem so
  reinlich, leicht und gewissermaßen freundlich dabei zumute, daß es eine
  wahre Lust ist. Und der Morgen war in der Tat sehr schön, und nicht bloß
  in Schlesien. Um diese neunte sonnige Morgenstunde, während der alte
  Fritz mit seinem siegesfrohen Heere sich auf dem Marsche nach Parchwitz
  befand, sang in der Sarstedter Mühle eine helle Stimme, die aber mehr
  der arbeitenden als der feinen Welt Europas angehörte, fröhlich in den
  jungen Tag hinein.
  Die junge Müllerin sang, und die Räder der Mühle drehten sich lustig,
  die Innerste rauschte und glitzerte, und in dem kleinen Hausgarten
  grünte und blühte und duftete es. Die Vögel, die Blumen und die Bienen
  wußten so wenig wie die junge Müllerin, daß soeben der König von Preußen
  die Schlacht bei Pfaffendorf gewonnen hatte, und wenn jemand es ihnen
  gesagt hätte, würde es ihnen wahrscheinlich auch ziemlich einerlei
  gewesen sein. Die Vögel sangen, die Bienen summten, die Schmetterlinge
  flatterten um die Gartenblumen des achtzehnten Jahrhunderts, und die
  junge Müllerin sprang hell und glänzend in den Garten, um Petersilie zu
  pflücken, -- was ging sie alle die Bataille bei Liegnitz an?
  Es war jammerschade, daß der Sänger des Frühlings gerade vor einem Jahr
  bei Kunersdorf gefallen war, er hätte die Müllerin sehen und den Sommer
  besingen sollen! Es paßte alles zusammen: die junge Frau mitten unter
  dem Suppenkraut, das Herdfeuer, das man durch die offene Tür um den
  schwarzen Topf tanzen sah, die Bienen, die Vögel, die Blumen, das
  tanzende Rad, die Innerste und das grüne Weidengebüsch und die weiten,
  sonnigen Wiesenflächen jenseits der Innerste. Gleim lebte noch, aber er
  war damals noch nicht der alte Vater Gleim, sondern als Sekretär des
  Domkapitels von Halberstadt und des Stiftes Walbeck, ein Mann in seinen
  besten Jahren und sang Kriegslieder: _ihm_ hätte es damals nichts
  genutzt, das Hüttchen, das Flüßchen, die Wiese und den Garten, die Sonne
  und die junge Müllerin zu observieren. Es hat alles seine Zeit -- auch
  in einem poetischen Gemüte! Der tapfere Krieger singt von den Schäfern
  und Schnittern, der Herr Domsekretär von den preußischen Grenadieren,
  und wahrscheinlich ist's ganz das Rechte, erst der alte Vater Gleim zu
  werden und dann von Daphnis und Chloe zu singen -- Anakreon soll's auch
  so gemacht haben.
  Der jungen Müllerin sah man's nicht mehr an, daß ihr Hochzeitstag sie in
  ein Trauerhaus eingeführt hatte. Sie trug zwar noch ein schwarzes Band
  auf der Haube, aber das war auch allein als äußeres Zeichen von jenem
  jähen Schrecken, der ihrer Brautnacht folgte, an ihr übrig geblieben.
  Und so war's in der Ordnung! Die alte, ganz und gar schwarz gekleidete
  Frau drinnen im Hause, am offenen Fenster, die vor ihrem Spinnrade die
  Hände auf dem großgedruckten Gesangbuche gefaltet hielt, mochte hinter
  ihrer Hornbrille immer noch durch Tränen in den Sonnenschein
  hineinzwinkern; für die Jugend wollte es sich nicht schicken -- das
  Leben war kurz und der gegenwärtige Morgen gar zu schön!
  Die junge Müllerin sang: »Geh aus, mein Herz, und suche Freud!« sie
  sang:
   »Die Bäume stehen voller Laub,
   Das Erdreich decket seinen Staub
   Mit einem grünen Kleide.
   Narzissen und die Tulipan,
   Die ziehen sich viel schöner an
   Als Salomonis Seide.
  Aus Kleists Frühling war das nicht; auch nicht ein Lied von Gleim und
  noch viel weniger aus einer Ramlerschen Ode. Paul Gerhardt hatte es
  vordem gesungen:
   »Die Bächlein rauschen in dem Sand
   Und malen sich an ihrem Rand
   Mit schattenreichen Myrten;
   Die Wiesen liegen hart dabei
   Und klingen ganz vom Lustgeschrei
   Der Schaf' und ihrer Hirten, --
  und von dem lustig-lebendigen Rade her fiel eine Männerstimme in das
  Loblied des Sommers ein; der neue Herr der Mühle, Meister Albrecht
  Bodenhagen, sang mit, und er hatte allen Grund dazu; denn es war eine
  schmucke Frau aus der Jungfer Papenberg geworden, er -- Herr der Mühle
  an der Innerste oberhalb Sarstedt, und die Innerste war ein nahrhaftes
  Wasser: wer je Übles von ihr gesprochen hatte, der mochte die
  Verantwortung auf seine eigene Kappe nehmen.
  Ja, wenn nur drüben jenseits der Innerste im Weidengebüsch die Augen der
  Nixe nicht gewesen wären.
  Der Müller Albrecht Bodenhagen hörte Paul Gerhardts Sommerlied durch das
  Geklapper seiner Mühle, durch das Rauschen seines Baches, und sein Herz
  klopfte auch immer lebendiger. Er hielt es nicht länger aus:
   »Die unverdrossne Bienenschar
   Fleugt hin und her, sucht hier und dar
   Sich edle Honigspeise!«
  jauchzte er und kam auch in den Garten gesprungen. Die alte Frau am
  Fenster legte die Hand über die Augen zum Schutze gegen das Licht und
  schüttelte ob der lustigen Jagd, die jetzt um die Büsche anhob, den
  Kopf.
  »Drei Schritte vom Leibe!« rief die junge Frau, mit beiden Händen
  abwehrend. »Wie eine Schleiereule sieht er aus, ganz Groß-Förste hat
  seinen Spaß daran, wenn man solch ein weißgepudert Geschöpf im Kirchturm
  aushebt und die Jungen es im Dorfe herumtragen! Rühr mich nicht an! ich
  werfe dir unsern ganzen Garten an den Kopf, wenn du mir nahe kommst, du
  staubig Müllergespenst!«
  Eine Handvoll Petersilie bekam er sofort ins Gesicht und nicht in die
  Suppe; aber er griff doch zu und lachte:
  »Weshalb hat Sie einen Müller genommen, Jungfer Papenberg? Einen
  Schornsteinfeger hättest du dir wohl lieber gefallen lassen, Lieschen?«
  »Ich will nicht! ich will nicht! Mein Topf kocht über, und mein Brei
  brennt an, und über den Tisch schneidest du mir ein Gesicht!«
  Sie brachte einen Johannisbeerbusch zwischen sich und ihren Verfolger.
  »Und ich fange dich doch, mein Schatz!« rief der junge Meister.
  »Jawohl -- ei freilich: mein Schatz! das hast du auch gelernt im Felde
  --
   Lieschen, mein Engel, meine Herzenstrompet',
   Meine Pauke, Standarte und meine Musket',
  -- dazu hat dich der Colignon von der Landstraße mitgenommen. Nein,
  nein, ich will jetzt nicht! Drei Stunden hat man nachher an sich zu
  fegen und zu bürsten. Mutter! Hülfe, Mutter Bodenhagen!«
  Das alte Weiblein beugte sich weiter vor aus dem grünumsponnenen
  Fenster, und über das verrunzelte Gesicht glitt doch ein vergnügliches
  Lächeln. In den Liebesstreit der jungen Leute mischte die Greisin sich
  aber doch nicht ein; sie nickte nur mit dem Kopfe und murmelte:
  »Sind das schon fünfundvierzig Jahre her, seit mir mein Christian da
  durch dieselbigen Wege nachjagte?«
  In der Rosenlaube, dicht am Zaun und Bach, fing der junge Meister in der
  Mühle seine Müllerin --
   »Geh aus, mein Herz, und suche Freud
   In dieser lieben Sommerzeit
   An deines Gottes Gaben!
   Schau an der schönen Gärten Zier
   Und siehe, wie sie mir und dir
   Sich ausgeschmücket haben!«
  sie wußten in der Laube nichts von der blutigen Schlacht
  bei Liegnitz, die der König Friedrich und der Feldmarschall
  Laudon an diesem Morgen einander geliefert
  hatten, und sie wußten auch nichts von den zwei
  Augen drüben am andern Ufer der Innerste im
  Weidendickicht! --
  Es waren oben im Harze in den letzten Tagen starke Gewitter
  niedergegangen, und infolge davon war der kleine Fluß nach seiner
  Gewohnheit wieder einmal eine gute Strecke in den Busch und das Röhricht
  übergetreten. Und inmitten des Busches, mit dem linken Arm sich um einen
  knorrigen Weidenstumpen klammernd, der vorgesetzte rechte Fuß vom Wasser
  überspült, stand ein junges Weib, vorgebeugt durch das Gezweig nach der
  Mühle lugend. Nicht häßlich, aber seltsam verwildert war die Erscheinung
  anzusehen. Rotes, brennend rotes Haar, hastig geflochten, war um eine
  fast männlich breite Stirn gewunden, und eine der Flechten hatte sich
  gar gelöst und hing über die vorgeneigte Wange. Schlank, fast hager und
  gebräunt von Sonne, Wind und Wetter, in einem grauen Rock und grünem
  Jäckchen stand das Weib oder Mädchen da, und wunderlich, wunderlich ließ
  den Fuß im Wasser! Wie sie so dastand, hätte sie daraus hervorgestiegen
  sein können; es paßte alles zueinander in Gestalt und in Farbe: die
  Weiden und das Kleid der Lauscherin, das rote Haar und das gelbrote,
  trübe Wasser der Innerste, und vor allen Dingen zu allem die hellen,
  großen, grünblauen, kühlen Augen. Wer die Nixe der Innerste hätte malen
  wollen, der hätte diese Kreatur in sein Bild setzen müssen!
  Und sie regte sich nicht, diese Erscheinung! Der Wind rührte leise an
  die Weidenzweige über ihr, an die hohen Schilfdolden und die Blätter des
  Erlengebüsches um sie; aber nur ein einzig Mal auf einen kürzesten
  Moment wehte er ihr die gelöste Flechte ganz über das Gesicht.
  Zu ihren Füßen -- um ihren Fuß! -- regte sich und glitt leise die Flut
  der Mühle zu, und die Blasen -- die Luftblasen vom Atem der
  Wassergeister stiegen auch wieder empor zur Oberfläche und zerplatzten
  im Lichte. Manche sagen, die Wassergeister sitzen drunten in der Tiefe
  gleich riesengroßen Fröschen mit glühenden Augen und atmen still und
  warten »auf Seelen«; wir wissen das nicht und können nicht darüber
  nachsagen, und es ist nicht die Zeit, die rothaarige Lauscherin im
  Geröhricht danach zu fragen; aber die Frösche haben nicht solche Augen
  wie diejenigen, mit welchen sie in den Mühlgraben sah und nun in die
  Laube am Zaun des Gartens hinübersieht.
  »Du Schelm!« flüsterte der Meister Albrecht, und jetzt rührte sich das
  Weib im Ufergebüsch doch. Die Zweige, die Dolden und die Blätter um sie
  her erzitterten, der Fuß versank tiefer im Wasser und weichen
  Schlammboden, und -- das war alles um den letzten mutwilligen Schrei,
  mit dem sich die Müllerin unter den Rosen gegen den Kuß des Müllers
  wehrte.
  Die weißen Tauben, die sich auf dem Hausdache gesonnt hatten, erhoben
  sich flatternd, und ihr Federspiel blitzte, als sie sich in der
  Morgensonne und in der blauen Luft um den Schornstein schwangen.
  »Du wilder Albrecht -- wenn -- du nun begraben lägest mit den tausend
  und tausend anderen -- in einer Grube auf dem fremden Felde, wie der
  arme Barthold Dörries?!« flüsterte die junge Frau, und in demselbigen
  Augenblick lachte es laut im Weidengebüsch, und mit dem Lachen drang
  zugleich ein anderer Ton in die Laube herüber. Ein Rufen war es nicht;
  auch ein Schreien nicht; es war ein Lachen und Kreischen zu gleicher
  Zeit, und niemand konnte sagen, ob der Ton aus der Luft, aus dem Busch
  oder aus dem Wasser komme! -- -- --
  Die junge Frau wurde totenbleich in den Armen ihres Mannes. Dieser fuhr
  zusammen und ließ sein Weib los, und beide standen und horchten, und
  wieder erwarteten sie mit stockendem Atem und gefrierendem Blut, daß
  sich _das_ zum zweiten Mal vernehmen lasse. Vergeblich schien die Sonne
  morgendlich-schön und sommerlich-warm in den eiskalten Schrecken hinein.
  Von Hause her schlug der Spitzhund an und bellte heftig und zornig gegen
  die Innerste hin; aber ringsum blieb es still, und wiederum ließ sich
  die Stimme nicht zum zweiten Mal hören.
  Die Innerste schrie nicht wieder; diesmal aber hatte sie wirklich und
  wahrhaftig geschrien; -- es war keine Sinnestäuschung gewesen!
  »Um Gottes und Jesu willen, was war das?« rief die junge Frau. »Hast du
  es denn auch gehört? Ist es das, was dein Vater damals am Abend hörte?
  Albrecht, Albrecht, -- Mann, Mann, es ist doch wahr! Das Wasser hat
  gerufen wie ein böser Mensch in Angst und Zorn, und ich sterbe, wenn ich
  die Stimme noch einmal höre!«
  Der jetzige Herr der Mühle war gleichfalls bleich geworden; er preßte
  die Zähne zusammen und lachte heiser:
  »Sei still! es ist doch eine Dummheit! Sitze einen einzigen Augenblick
  still; -- diesmal fange ich den Halunken, der uns da in die gute Stunde
  hineingemeckert hat! Er wird uns nicht wieder hohnnecken; -- ich werde
  ihm doch noch einmal den tollen Bodenhagen zeigen.«
  »Nein, nein! Du gehst nicht von mir, Mann!«
  Er war aber schon gegangen. Er hatte dem Hunde gepfiffen und sprang aus
  dem Garten der Mühle zu. Sein Lieschen sah ihn über den Mühlensteg
  laufen und in dem Busche jenseits der Innerste verschwinden. Ängstlich
  rief sie ihn noch einmal; aber sie hörte ihn drüben nur: »Such, such,
  Laudon!« rufen und den Spitz bellen. Mit zitternden Knien saß sie auf
  der Bank in der Laube und versuchte es, ein Vaterunser zu beten, kam
  aber vor Angst und Beben nicht weit damit. Sie saß halb bewußtlos in der
  Sonne; alles -- Bäume und Büsche und Blumen, die Wiesen und das Haus,
  wirrte sich ineinander; -- sie wollte nach der alten Frau im Hause rufen
  und vermochte es nicht. Eine Ewigkeit verging dem armen Weibchen, bis
  der Mann zurück von seiner Suche kam, und es waren doch kaum zehn
  Minuten, die er ausblieb!
  Als sie ihn langsamen Schrittes über den Mühlensteg zurückschreiten sah
  mit dem Hunde hinter ihm, atmete sie tief auf; sie sah noch immer durch
  einen blendenden, flimmernden Nebel, aber die Gegenstände ringsum nahmen
  doch wieder ihre gewohnten Plätze ein und hielten sich ruhig. Ihr Müller
  aber versuchte lustig auszusehen, als er durch den engen Gartenweg kam
  und sich mit dem Kopfe auf der Schulter und untergeschlagenen Armen vor
  sie hinstellte.
  »Kein Jägersmann, dem man Glück zur Jagd gewünscht hat, kommt mit
  leererer Tasche zurück, Liese!« sagte er. »Es ist eine Dummheit und es
  bleibt eine Dummheit. Mein Trost ist nur, daß es nicht meine Sache ist,
  einen Menschenverstand in den Weiberschnickschnack und die
  Spinnstubenhistorien hineinzubringen.
  »Du hast nicht gefunden -- gesehen, was da lachte! O Herr Jesus!«
  Meister Albrecht schüttelte den Kopf.
  »Weit und breit nichts zu sehen als der Busch und die Wiesen, und nichts
  zu hören als der Wind im Busch! Der Satan finde aber auch mal einen, der
  es darauf ablegt, sich in dem Röhricht zu verstecken. Und der Laudon ist
  zu gar nichts nutze, der Korporal Jochen hat recht, Sackville sollte er
  heißen, und wir wollen uns einen Köter mit einer feineren Nase
  anschaffen zu deiner Beruhigung, Lieschen. Wahrhaftig, da läuft ihr noch
  eine Träne über die Backe. Jetzt tu mir den einzigen Gefallen, guck
  wieder auf. Morgen lege ich Fußangeln das ganze Weidicht durch, und ich
  gebe dir mein Wort, das nächste Mal fangen wir das Geschrei. Nach
  Sarstedt vors Gericht soll mir der Spuk, so wahr ich das Leben habe!«
  »O Albrecht,« rief die junge Frau Liese mit gefalteten Händen, »tue das
  nicht! denk an deinen seligen Vater! Du kannst die Innerste nicht mit
  Fußangeln fangen; sie will ein Lebendiges --«
  »Und den Hunger soll sie sich diesmal vergehen lassen, bei allen
  Teufeln! Mohrenelement, es sitzt ein neuer Mann auf dieser Mühle -- was
  vorher war, ist abgetan, und die alten Narrheiten kümmern den neuen
  Müller nicht mehr. Dazu bin ich nicht gegen den Franzos im Felde
  gewesen, um mir von solch einem nichtsnutzigen Wasser ein solches bieten
  zu lassen. Meine Hühner ess' ich selber! Solange mein Vater lebte, habe
  ich mich freilich genug ducken müssen; aber als ein Tropf vom Wirbel bis
  zur Zeh bin ich doch nicht nach Hause gekommen.«
  »Aber dein Vater --«
  »Der ruht endlich in Frieden, und ich bin Herr und Meister allhier an
  der Innerste. Komm ins Haus, mein Herz, mein Schatz, da kocht dein Topf
  über -- da haben wir ja schon das ganze Malheur und brauchen auf kein
  anderes zu warten. Wenn du mir aber noch einen Gefallen erweisen willst,
  Lieschen, so schwatz gegen keinen Dritten von dem Unsinn und vor allem
  nicht gegen die Alte. Die Alte wäre imstande, unseren ganzen Hühnerhof
  den Bach hinunterschwimmen zu lassen, und wenn das nicht reicht, mit dem
  Kuh- und Schweinestall obendrein dem Dinge den Mund zu stopfen. Es ist
  wahrlich so in der Welt: man braucht nur laut zu brüllen, um seinen
  Willen zu kriegen, und die Innerste versteht das meisterlich.«
  »Ich wollte, ich kriegte nur dieses allereinzigste Mal meinen Willen,«
  sagte weinerlich die junge Frau.
  »Die besten Stücke von dem allerschwärzesten Huhn sollst du am Sonntag
  haben,« sagte der Meister Albrecht, und sie traten durch die Küche in
  die Stube, wo die alte Frau in ihrem Lehnstuhl am Fenster saß.
  Sie traten fest herein, doch auf den Zehen gingen sie näher an den
  Lehnstuhl heran; Lieschen hatte den Finger auf den Mund gelegt und
  geflüstert:
  »O sieh, die Mutter ist eingeschlafen! Sie hat nichts von dem Schrei und
  Schrecken gemerkt! Guck nur, wie sanft sie schläft!«
  Es war freilich ein friedliches Bild, und die Süßigkeit des Schlummers
  lag wahrlich auf dem leicht zurückgelehnten alten guten Gesichte der
  Greisin. Das große Gesangbuch lag noch offen in ihrem Schoße, und die
  Hornbrille lag darauf, und die Mutter hatte die Hände darüber ineinander
  gelegt. Die Sonne drang freundlich durch die grünen Blätter vor dem
  Fenster und umspielte diese alten, harten, so lang so fleißigen Hände;
  die beiden jungen Leute traten noch einen Schritt näher an den
  Sorgenstuhl --
  »Meinethalb mag sie zu jeder Zeit, wenn es ihr Pläsier macht, den ganzen
  Viehstand zur Nordsee schwimmen lassen,« flüsterte der junge Herr und
  Meister in der Mühle.
  »Du bist doch ein guter Junge, Albrecht,« sagte leise die junge Müllerin
  zu ihrem Mann, und dann fügte sie noch leiser hinzu: »Wenn ihr das Buch
  von der Schürze rutscht, erschrickt sie auch und wacht auf; -- ich nehme
  es ihr unter den Händen sanft weg.«
  Sie beugte sich zärtlich herab, aber in demselbigen Moment fiel sie
  nieder auf die Knie und faßte die Hände der Greisin mit einem lauten
  Schrei:
  »Albrecht? Albrecht! -- Albrecht!« --
  Die Alte, die Mutter schlief; aber sie wachte von keinem Geräusch und
  Lärm in der Welt mehr auf. Kein Lärmen -- Weinen und Lachen rundum
  weckte sie mehr! Ob ihr Gesangbuch zu Boden fiel, ob die Innerste
  schrie, ob Friedrich, Daun und Laudon im Schlachtendonner sich trafen --
  einerlei! Die alte Frau schlief -- schlief ruhig weiter.
  
  
   Neuntes Kapitel.
  
  Im Jahre 1760 war der Harz bei weitem mehr als heute der _wilde_ Harz.
  Er ist seitdem kultiviert worden, wie die Leine, die Ihme und die
  Innerste reguliert worden sind. Was wir erzählen, gilt, sofern es die
  Natur -- Wald und Wasser betrifft, nur von der Mitte des 18.
  Jahrhunderts; was die Menschen angeht, so haben die sich weniger
  verändert, wenn sie gleich unendlich viel gebildeter geworden sind und
  anders zugeschnittene Kleider tragen, so Mann wie Weib.
  Mit dem wilden Harz haben wir es jetzo zu tun. Immer an der Innerste
  aufwärts bis in das Revier der drei Bergstädte Grund, Wildemann und
  Lautenthal führt uns die Historie von dem schreienden Wasser. Da liegt,
  wie der Leser schon weiß, zwischen Wildemann und Lautenthal Radebreckers
  Mühle an der Innerste; vordem, als die Räder sich noch drehten, eine
  Sägemühle mit gefräßigen Zähnen; aber die Räder stehen seit Jahren
  still, und der vom Fels hinter der Mühle sich abstürzende Bach findet
  allhier keine Arbeit mehr. Der Buschmüller hat dieses Geschäft längst
  aufgegeben und sich ein ander Brot gesucht.
  Das alte ruinenhafte Anwesen liegt in eine schluchtartige Windung des
  Tales gedrückt, umgeben vom dunklen Tannenhochwald. Wer die Innerste in
  
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