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Die Innerste: Erzählung - 3

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  Erlen und Weiden im Gebüsch ein hell und lustig Mädchenlachen. Die
  Verwandtschaft suchte sedate ihren Weg über den Mühlensteg; doch die
  junge hübsche Braut, das Lieschen Papenberg von Papenbergs Hofe, stand
  mit einem Male auf jenem Weidenstamme, auf dem im vorigen Sommer der
  heimkehrende verlorene Sohn saß, als wir ihn zum ersten Male zu Gesicht
  bekamen. Sie stand lachend und hell unter dem grauen Himmel vor dem
  schmutzig schleichenden Wasser und winkte:
  »Wir sind da! wir sind da, Albrecht! Hol über, hol über!«
  »Eine saubere Jungfer, um die man schon einen Sprung in das Wasser tun
  kann, Musketier Bodenhagen,« sagte der Korporal, höflich den Hut vor der
  lachenden Braut ziehend. Es war wahrlich ein bildsauberes Mädchen, und
  es stand zierlich in seinem Sonntagsstaat, und es war, als ob ein
  fröhlicher Schein von ihm ausgehe in der grauen Umgebung an dem trüben
  Februartage; die Innerste aber spiegelte nicht das hübsche, zierliche
  Bildnis wieder, sie kroch schlammig und heimtückisch hin, mürbe,
  schmutzige schwarze Eisstücke treibend. Und plötzlich regte sich der
  Stamm, auf welchem die junge Braut stand. Fort und fort hatte die
  Innerste unter ihm genagt, und er sank tiefer gegen ihren Spiegel, und
  sie verschlang ihn jetzt, daß nur der allerletzte Wurzelstumpf noch
  vorragte. Mit einem Schreckensschrei sprang das Mädchen von diesem hinab
  und stand auf festem Boden; auch die beiden Männer am Zaun hatten einen
  Angstruf ausgestoßen und eilten rasch durch den Garten nach dem
  Mühlenstege, der kommenden Freundschaft entgegen.
  »Da hättest du mich beinahe aus der Innerste auffischen müssen! Weshalb
  holtest du mich auch nicht herüber, Albrecht?« rief die junge Braut
  schmollend.
  »Die Innerste ist eine Kanaille, Jungfer Papenberg!« sagte der Korporal
  Brand, und der junge Müller sagte:
  »Dieses hier ist mein allerbester Freund in der ganzen Armee des Prinzen
  Ferdinand, Vater Papenberg. Er heißt Jochen Brand und ist aus der
  Bergstadt Grund im Harz. Den Weidenstrunk hol' ich morgen mit dem
  Frühesten aufs Trockene, Lieschen. Er soll nicht wieder einen Menschen
  in die Versuchung führen. Aber jetzt kommt nur alle herein, wir wollen
  uns einen pläsierlichen Tag machen.«
  Sie machten sich in der Tat einen guten Tag; seit langen Jahren hatte
  die alte Mühle nicht einen gleichen erlebt. Selbst der Meister Christian
  legte ein Feiertagsgesicht an, wie es die Mutter Bodenhagen seit ihres
  Sohnes Geburt nicht an dem Eheherrn gesehen hatte.
  Der Vater Papenberg, seiner Natur nach ein vierschrötiger grober
  Bauersmann und sozusagen acht Tage in der Woche ein Flegel, hatte so
  fein und zutunlich wie heute auch seit langem nicht den Qualm aus seiner
  Tonpfeife der Stuben- und Tischgenossenschaft ins Gesicht geblasen. Es
  war ein jeglicher auf seinem Schick, und weder unter den Vettern noch
  unter den Basen ging das Wort aus, wenn auch der Witz dann und wann
  nicht allzu hell durch die Unterhaltung glänzte.
  Und man hatte im Jahre 1760 allerhand Stoff, um darüber zu diskurrieren;
  der alte Fritz und sämtliche Völkerschaften Europas sorgten dafür.
  Hier war denn der einarmige Invalide von Minden, der Korporal Jochen
  Brand, an seiner Stelle. Sie hörten ihm mit Erstaunen zu, und was er
  sagte, war auch meistens höchst erstaunlich. Da war kein Kriegsrat, in
  welchem er nicht mitgesessen zu haben schien. Wenn man ihn hörte, so
  verwunderte man sich nur, daß er heute hier in der Mühle an der Innerste
  am Tische sitze und nicht in einer der beiden großen Staatsmühlen zu
  Berlin oder Wien am Trichter oder Beutelkasten; und daß ihn der
  französische König und seine Hauptstaatsdame, die Madame Pompadour,
  nicht auch schon längst nach Versailles geholt hatten, das war
  gleicherweise unbegreiflich.
  Im Winkel hinter dem Ofen saß aber Albrecht mit dem Lieschen. Sie
  sprachen am wenigsten, und ob sie alles, was die anderen sagten,
  vernahmen, das ist auch die Frage. Die Mannsleute rauchten allesamt, und
  so verschwand, als nun gar noch die Dämmerung dazu kam, das Brautpaar in
  seinem Winkel fast vollständig aus dem Gesichte der Verwandtschaft.
  Weidlich aß und trank die Verwandtschaft, und der Meister Christian ging
  stets selber in den Keller nach dem Bier. Als aber die Blechlampe
  angezündet auf den Tisch gestellt wurde, da half es wenig, daß man den
  Docht mit dem an dem Kettchen hängenden Drahthaken soweit als möglich
  hervorzog; sie gab wohl auch ihr Teil Qualm zu dem vorhandenen
  Tabaksdampf her, aber die Helligkeit, die sie hervorbrachte, wollte
  wenig bedeuten. Doch aber hatte das rote Pünktchen in dem Nebel eine
  andere Wirkung: das Gespräch kam von Krieg und Kriegsnot auf das, was
  dergleichen blutig und brandig Elend vordeutet, als wie Kometen,
  Feuerkugeln, feurige Reiter und Wagen im Gewölk, greuliche Veränderungen
  an Sonne und Mond, wie jeder davon zu sagen wußte und solches erlebt
  hatte, sowohl vor dem Ausbruch des jetzigen Krieges, wie vor dem Angang
  des ersten und des zweiten schlesischen. Wußte doch sogar ein Altvater
  noch von den Wundern zu erzählen, die sich zur Zeit des vorigen
  französischen Königs im spanischen Sukzessionskriege und vor der
  Schlacht bei Belgrad ereignet hatten.
  Davon war der Sprung klein auf das, was ein jeglicher für sein eigen
  Leben und Wesen an solchen Dingen als Mahnung und Warnung und Vorsage
  gesehen und gehört hatte, und der Vetter Hans aus Harsum meinte:
  »Da hat der Gevatter Bodenhagen wohl auch hier lange genug auf dieser
  Mühle gesessen, um davon nachsagen zu können.«
  Ein Murmeln ging um den Tisch, und dann wurde es still; es war, als
  horche jeder nach den dunklen Fenstern, und es war auch, als rausche die
  Innerste lauter als sonst durch die Nacht.
  Die Mienen des alten Müllers hatten sich mit einem Male wieder
  verfinstert.
  »Wenn es Ihm recht ist, Gevatter,« sagte er, »so lasse Er das auf sich
  beruhen. Ich bin im Frieden mit meinem Mühlwasser und will darin
  bleiben. Wir sind manches Jahr gut miteinander ausgekommen, die Innerste
  und ich, und es verdrießt mich, wenn Einer seine Zunge dazwischenstecken
  will.«
  »Nun, nun, Gevatter Bodenhagen,« sagte ein anderer, »manchen Possen hat
  sie dir doch gespielt im Laufe der Zeiten, und wir mit unseren Wiesen
  und Äckern sind auch nicht leer ausgegangen. Schreien hab' ich sie
  freilich nicht hören, und unter den hannoverschen Herrschaften, die im
  Sommer zu uns am Sonntage aufs Dorf gefahren kommen, ist auch mal einer,
  ein Hofrat und grausam gelehrter Professor aus Göttingen gewesen, der
  hat gesagt, das sei eitel dumm Zeug, denn --«
  Ein Faustschlag des alten Müllers auf den Tisch und ein zorniger Blick
  auf den Redner schlossen dem letzteren den Mund.
  »Wer die Innerste nicht hat schreien hören, der soll Gott danken!«
  sprach der Meister Bodenhagen. »Und jetzt ist's zu Ende mit dem
  Geschwätz darüber,« fügte er hinzu.
  Es war aber noch nicht zu Ende; dafür war der Korporal Jochen Brand als
  vielerfahrener Gast in der Mühle an diesem Abend vorhanden.
  »Wir hatten einmal einen Schwaben im Bataillon, der hat sich hoch
  verschworen, daß man jeden Quell, Brunnen oder Bach totmachen könne, daß
  er _nie_ wieder aus der Tiefe heraufkomme. Man müsse einen kupfernen
  Kessel auf den Grund der Quelle eingraben, sagte er, und Quecksilber
  hinein in den Born schütten, davon vergehe das Wasser; in seiner Heimat
  habe vor alten Zeiten ein reicher Graf so einmal einen großen Fluß zum
  Absterben gebracht, weil sein Töchterlein hineingefallen und vertrunken
  sei. Wem also die Innerste nicht gefällt, der mag morgen mit mir an ihr
  hinaufsteigen bis zu ihrem Ursprung im Harz und das Mittel probieren.
  Dem Müller hier wär' freilich trotz allem wenig damit gedient, wenn ihm
  plötzlich das Wasser Empfehle mich! sagte. Du da in der Ecke, Kamerad,
  da müßte dich doch die Jungfer Lieschen reineweg ans Spinnrad setzen,
  wenn dir so zwischen heut und morgen das Mühlrad stecken bliebe. Nicht
  wahr, Jungfer im Winkel, da soll die Innerste doch lieber schreien, so
  viel sie will?«
  Es kam ein Kichern aus der dunklen warmen Ecke hinter dem Ofen.
  »O ja!« rief Lieschen Papenberg; doch ein verdrossener Laut klang
  dazwischen, und der junge Müller sagte mürrisch:
  »Ich meine, was mein Vater meint, Jochen Brand, von wegen des Wassers.
  Laß es laufen, wie es will! Hier den Krug bring' ich dir, Jochen; tu
  Bescheid und sag uns einen feinen Spruch dazu.«
  »Das ist das Richtige!« rief die Verwandtschaft rund um den Tisch, und
  der Korporal ließ sich nicht lange nötigen. Er erhob sich, legte seinen
  leeren Ärmel auf der Brust zurecht und hob den Steinkrug mit der weißen
  Tulipane auf blauem Grunde in der heilen Linken.
  »So tu' ich denn diesen Spruch mit Verlaub und Gunst der ganzen
  anwesenden hochlöblichen Kumpanei:
   Vivat, der König Fritze soll leben
   Und die Jungfer Liese auch daneben;
   Und flöss' die Innerste voll rotem Wein,
   Sollt' sie nach mir nicht lange schrein.
   Was aber ein gut Wasser ist,
   Sich immerdar bergab ergießt,
   Und bis dieser Bach zurücke wird gehn,
   Soll immer hier das Rad sich drehn.
   Nun höret mich an, ihr lieben Leute,
   Prinz Ferdinand soll leben heute;
   Und wird die Braut erst Frau genannt,
   Rückt ein zur Taufe Jochen Brand!«
  Er war noch nicht fertig; denn wenn er einmal so angefangen hatte,
  konnte er selten ein kurzes Ende finden; diesmal aber kam er nicht
  weiter.
  Der alte Müller, der mit aufgestemmten Armen, das Kinn in der Hand,
  behaglich nickend zugehorcht hatte, fuhr mit einem Male zusammen, hielt
  sich mit beiden Händen am Tische und tat einen Ruck an demselben, daß
  die Krüge und Gläser auf ihm erklirrten und übereinander fielen. Er
  stand auf den Füßen, aber nicht fest; er horchte. Die Weiber rundum
  kreischten auf, und die alte Müllerin faßte zitternd den Arm ihres
  Mannes:
  »Jesus Christus, Bodenhagen?!«
  »Still!« flüsterte der Greis abwehrend, und nach einer Pause, während
  welcher man nichts hörte als das Picken der Uhr, das leise Schnaufen des
  am Ofen schlafenden Hundes und das Rauschen des Mühlwassers draußen,
  sagte er feierlich mit einem gewissen ängstlichen Grimm in der Stimme:
  »Wer will nun noch dagegen reden? Wollt Ihr Euch nun auf Eure eigenen
  Ohren verlassen, Gevatter Schulze, oder im kommenden Sommer wieder auf
  Euren Göttingenschen Hofrat? Wer hat es eben nicht gehört?!«
  
  
   Sechstes Kapitel.
  
  Nun hätten wohl auch wir in diesem Moment gern den gelehrten Professor
  aus Göttingen hier in der Stube des Müllers an der Innerste gehabt. Wir
  malen ihn uns wenigstens hinein und sehen ihn leibhaftig vor uns in dem
  Kostüm von Anno 1760, schwarz, mit wohlgeordneter Perücke, tadellosem
  Kragen und wohlgefälteter Hemdkrause, den Hut und Stock unterm Arm, die
  zierlich geöffnete Dose in der Linken und zwischen dem Daumen und
  Zeigefinger der Rechten die zierliche Prise. Er ist kurfürstlich
  hannoverscher Untertan, aber er hält die Illusion fest, zugleich
  königlich großbritannischer zu sein; -- er tut sich nicht wenig auf die
  letztere, etwas zweifelhafte Eigenschaft zugute, zumal da er vielleicht
  wirklich einmal in London war und den großen Mimen David Garrik auf den
  Brettern von Drury Lane »tragieren« sah. Wie dem auch sei, er nimmt
  seinen Tabak mit mehr Grazie als der große Doktor Samuel Johnson,
  blickt, die Achseln emporziehend, um sich her und murmelt:
  »Hm, hm!«
  So ziemlich das Nämliche tun wir; -- auch wir sagen Hm, hm, hm! und
  sehen im Kreise umher. -- Der Göttingensche Hofrat ist nicht ganz in der
  Verehrung des großen britischen Doktors Johnson aufgegangen; der
  Voltaireaner Fritz sitzt in Berlin (freilich reitet er um diese Jahre
  mehr in Schlesien und Sachsen hin und her), und der deutsche Professor
  glaubt selbst als königlich großbritannischer Untertan nicht an den
  Geist in Cock-Lane: er glaubt überhaupt nicht an Gespenster, und das ist
  ein Vorzug, auf den er gottlob kaum stolz sein darf als Professor von
  Göttingen.
  Hm, hm; wer in der Müllerstube hatte den Bach schreien hören? -- Niemand
  natürlich, das heißt niemand als der Müller selber! Es trat aber
  augenblicklich das ein, was gewöhnlich folgt, wenn irgend jemand in
  einer größeren Gesellschaft etwas Ungewöhnliches oder gar
  Geheimnisvolles gehört zu haben glaubt.
  »Alle gute Geister --« stöhnte die Müllerin, »jetzt habt ihr's doch alle
  vernommen und könnt bis zu eurem Ende davon nachsagen!«
  Und sie nickten fast alle, und die Weiber drängten sich zu Hauf und
  flüsterten zitternd. Die Männer warfen noch verstohlenere, scheuere
  Blicke nach den niedrigen schwarzen Fenstern, und wieder wurde es
  mausestill in der Stube.
  Sie warteten in Todesangst und doch voll eines geheimen Verlangens, daß
  der Ton noch einmal kommen, daß die Innerste zum zweiten Male schreien
  werde. Sie warteten jedoch vergeblich; man vernahm zu dem gewöhnlichen
  Rauschen des Wassers nur einen gurgelnden Laut aus der dicksten Mitte
  des Tabaksqualms. Dieser Laut rührte von dem Korporal Jochen Brand her,
  der abermals den Inhalt seines Kruges die Kehle hinunterlaufen ließ; und
  der Korporal war's auch, der zuerst wieder der Kompagnie ein lautes Wort
  zu hören gab.
  »Ich für mein Teil habe nichts gehört!« sprach er ganz gemütlich. »Alle
  Wetter, und sie haben doch mein feines Ohr manch liebes Mal auf
  Vorposten gelobt!« Damit setzte er den geleerten Krug mit einem Klapp
  auf den Tisch nieder. »Nicht wahr, Musketier Bodenhagen?« fügte er
  hinzu.
  Hinter dem Ofen hervor kam eine befangene Stimme:
  »Sei ruhig, Lieschen -- es war nichts! -- Ich -- ich glaube auch nicht
  dran!«
  Der Meister Christian nahm die Tonpfeife, die er vor sich hingelegt
  hatte, wieder auf, jedoch nur, um sie in zwei Stücke zu brechen und
  unter den Tisch zu werfen.
  »Junge?!« rief er. »Was will der Junge? Was sagt der Junge da? -- Will
  der Junge, der Landläufer, auch einmal wieder reden, ohne gefragt zu
  sein?«
  »Ja, Herr Vater,« kam die Antwort ein wenig zögernd, aber doch mürrisch
  genug aus dem Winkel zurück. »Und wenn die Innerste wirklich schreit, so
  schreit sie nicht bloß nach Ihm, Herr Vater, sondern auch nach mir; also
  darf ich diesmal doch reden, ohne von dem Herrn Vater gefragt worden zu
  sein.«
  Der Alte ächzte in maßloser Verwunderung und stand auf von seinem Stuhl.
  »Christian?!« rief die Mutter flehend; doch der Vater Bodenhagen schob
  sie wieder einmal von sich und streckte drohend die Faust nach dem Ofen
  hin. Es war die höchste Zeit, daß sich jemand ins Mittel schlage und,
  was noch an Behagen und friedlichem Einvernehmen zu retten war, in
  Sicherheit bringe. Auch hierzu war der Korporal Brand gut und auf der
  Stelle bereit.
  »Und setze ich den Fall, daß da draußen nicht alles in Ordnung sei oder
  einer sich einen Spaß mit diesem löblichen Konvivium und guter
  Vetternschaft und Freundschaft gemacht habe,« rief er, »Sakrament, so
  soll mich der Teufel holen, wenn ich nicht dem Dinge auf den Nacken
  springe und dem Schreier verdemonstriere, wie naß die Innerste ist!
  Bajonett auf, marsch, Musketier Bodenhagen. Komm mit hinaus in die
  frische Luft, Albrecht, wir fangen den Spuk mit oder ohne Fischschwanz.
  Hier in der Stube soll er uns was vorsingen, und der Herr Meister soll
  ihm die Noten halten!«
  Er sprang hinaus, und ihm nach sprang der junge Müller, dem Jungfer
  Lieschen Papenberg vergeblich einen kläglichen Bittruf nachschickte. Die
  übrigen blieben alle sitzen und legten sich von neuem aufs Horchen. Die
  Braut drückte sich an ihre Mutter, der Vater Papenberg schüttelte den
  Kopf, der Meister Christian senkte den seinigen finster auf die Brust
  und schlug die Arme ineinander. Nach zehn Minuten vergeblichen Harrens
  und Horchens ächzte die alte Müllerin:
  »Vater, ich trage es nicht länger! Das Herz will mir vor Angst
  zerspringen!«
  »Laß sie doch,« murmelte der Greis. »Laß sie nur suchen. In meiner
  Jungheit bin ich auch mal dem Rufen nachgegangen, meinem Vater zum
  Trotz. Morgen früh -- ja morgen früh soll jedem sein Recht werden; und
  jetzo, Freundschaft, guckt auf und kümmert euch um nichts. Schenk frisch
  ein, Mutter, die Innerste wird nicht mehr zum zweiten Male schreien; sie
  soll morgen früh ihr Recht haben!«
  Die letzten Worte hatte der Alte selber mit schreiender Stimme gegen das
  Fenster hin gerufen, und nun tat er selber einen hastigen, wilden Trunk.
  »Guck auf, Lieschen! Gevattersche Papenberg, bringe Sie das Kind wieder
  zu einem vergnügten Gesicht. Kümmert euch nicht mehr um die Innerste,
  Freundschaft, ich kenne sie und sie kennt mich, und sie hat nicht im
  Sinn, uns das Pläsier an diesem Abend zu verstören. Sie will nur ihr
  Recht haben, und das soll sie auch morgen mit dem Frühesten kriegen.«
  »Wenn ich nur meinen Jungen von draußen wieder drin hätte!« seufzte die
  Mutter Bodenhagen; aber da schnarrte der Alte wiederum höchst
  verdrießlich:
  »Der Junge? Ja, der Junge! Freilich sagt man: was hängen soll, versäuft
  nicht, und zu meinem Wunder ist der Junge ungehangen von dem Volk nach
  Hause gekommen. Ach was, Gevatter Papenberg, trinke Er aus und lasse Er
  nur das Kopfschütteln. Frisch weiter mit dem Pläsier!«
  Das »Pläsier« war jedoch, was der Müller an der Innerste auch sagen
  mochte, verdorben und blieb so, und die Fröhlichkeit des Abends kam
  nicht wieder in Gang. Dagegen aber kamen von neuem die seltsamen
  Historien in die Höhe, und ein jeglicher wußte abermals das Seinige zu
  sagen von der Leine, der Ihme und der Innerste und selten etwas Gutes.
  Die beiden Kriegskameraden blieben eine ziemliche Zeit aus; aber nicht
  einmal den wachsamen Hund Laudon, der mit ihnen auf die Suche und Jagd
  gesprungen, hörte man anschlagen, als ob er auf etwas Sonderbares
  gestoßen sei. Am besten wird's sein, wir gehen ihnen jetzo nach; denn
  wenn sie in der naßkalten Dunkelheit des Abends auch nichts Merkwürdiges
  fanden, so haben sie doch allerhand Kurioses miteinander geredet; die
  Jungfern, denen _wir_ erzählen, hören gern von dergleichen, zumal wenn
  es sie allesamt so genau angeht wie in diesem Fall. Es klingt nämlich
  durch die Nacht, das Rauschen des Mühlwassers und Wehen des Windes wie
  ein kurz abgerissenes Stück aus dem alten, alten Liede von der Treue.
  Sie standen beide still, nämlich die zwei einstigen Waffenbrüder vor der
  Tür der Mühle, und ein jeder tat einen langen Atemzug in der feuchten
  Kühle dieses Februarabends.
  »Puh,« meinte der Korporal, »da merkt man erst, aus was für einem
  Backofen man kommt und was für einen Dunst die gute Freundschaft im
  Zusammenhocken prästieren kann. Eine Taternhöhle ist ja gar nichts
  dagegen! -- Nun, Albrecht, steck die Laterne an, ohne eine Laterne
  kommen wir dem Spuk nicht auf die Sprünge! Sieh, der Sackville ist ja
  auch vorhanden, den können wir item gut gebrauchen. Such, such und
  bring, Mylord!«
  Der Hund tat ein paar Sprünge um seinen jungen Herrn herum, doch mit dem
  Suchen gab er sich weiter keine Mühe.
  »Du hast nichts vernommen, Jochen?« fragte der Haussohn.
  Der Korporal fing an, einen königlich preußischen Kriegsmarsch zu
  pfeifen, brach nach dem ersten Gesätz ab und erwiderte:
  »Dich möcht' ich lieber als alles andere beim Laternenschein besehen,
  Bodenhagen -- Musketier Bodenhagen! Die Innerste hat wohl nicht
  geschrien, wie der Alte vermeinte; aber die Doris da oben an der
  Innerste könnte wohl gelacht haben. Was meinst du, Albrecht?«
  Der junge Müller lachte jedenfalls, doch es klang rauh, und die
  Dunkelheit verhinderte den Korporal, zu sehen, wie sein Kamerad zu dem
  Lachen die Hand ballte. Die Faust öffnete sich aber wieder, und Jochen
  Brand fühlte die Hand seines Freundes an seinem gesunden Arme. Der
  Müller zog ihn weiter von dem Hause weg um das Haus herum, über den Hof,
  durch den Garten.
  »Wer hat Ihm das gesagt; oder hat Er es aus sich selber gesagt? Das mit
  dem Lachen? Jochen, es ist so; als der Vater sein Wort gerufen hatte und
  das Frauenzimmer in seinem Schrecken winselte, habe ich ein Lachen
  gehört. So wahr mir Gott helfe, es hat jemand in der Finsternis vor dem
  Fenster gelacht, und dabei war ein Knirschen -- da -- so -- hörst du? --
  gerade so!«
  Diesmal knirschte nichts, als zwei der Eisschollen, die sich auf dem
  dunklen, schläfrig dahinkriechenden Spiegel der Innerste aneinander
  rieben, und der Korporal spuckte deshalb erst verächtlich in den Bach
  hinein, dann aber sprach er ernsthaft genug:
  »Musketier Bodenhagen, ich habe vieles erlebt in der Welt, und was am
  grimmigsten aussah, das wurde manchmal zum größten Spaß. Ich bin mit dem
  König, volle Feldmusik und fliegende Fahnen vorauf, dem Feldmarschall
  Daun unter der Nase vorbeimarschiert, und er sah schauderhaft genug
  herunter von seinem Berge und hinter seinen Schanzen und Kanonen hervor.
  Ich weiß Bescheid in der Welt, Musketier, und zwischen Morgen und Abend
  habe ich auch von Ihm genug gesehen und gehört, um zu wissen, wie es mit
  Ihm steht. Will Er nun einen guten Rat annehmen?«
  »Wie von einem leiblichen Bruder!« rief der junge Müller.
  »So geh nicht wieder zurück in die Stube, Albrecht.«
  »Ach, Jochen, rede deutlich!«
  »Bleib draußen! Geh nicht wieder in das Haus zur Freundschaft zurück.
  Ich habe drei Reichstaler in der Tasche, mehr bin ich in der ganzen
  weiten Welt nicht wert; aber du sollst die Blechkappen haben und
  willkommen dazu sein. Da liegt der Mühlensteg über die Innerste; --
  spring, lauf und laß dich vor dem Jüngsten Gericht nicht wieder hier
  sehen. Dieses ist mein Rat, und meine Meinung dazu ist, daß du hier ohne
  Gnade und Barmherzigkeit kaput gehst. Der Alte ruiniert dich, die
  Freundschaft ruiniert dich und die Jungfer Papenberg ruiniert dich zu
  allermeist. Du spielst hier ja doch den wilden Bodenhagen nicht länger,
  _der_ gute Geruch verdampfte wie der Franzos bei Roßbach. Die Innerste
  aber holt dich bei guter Gelegenheit einmal wirklich, und die
  Freundschaft und Verwandtschaft wird dir keine Stange hinhalten, um dich
  aufs Trockene zu holen. Sie wird nur sagen, daß es ihr leid sei, wenn
  sie dich mit dem Haken durchs Schilf zieht. Albrecht, Bruder Albrecht,
  du weißt es selber, daß wir solche wie du zu Tausenden in der Armee
  haben, und, Bruderherz, es ist doch vergnüglicher, bei Trommeln und
  Pfeifen, mit Kling und Klang in angenehmer Kameradschaft eingescharrt,
  als so zu Hause in Güte und Herzlichkeit vom Bösen geholt zu werden.
  Kerl, geh zum Fritz nach Sachsen, wenn du den Prinzen Ferdinand satt
  hast. Den Colignon findest du immer noch unterwegs, und er zahlt auch
  ein immer besser Handgeld. Das ist der eine Weg aus deinem Jammer; der
  andere aber geht hier am Bache hinauf, immer den Bergen zu. Schleich
  dich zurück nach der Buschmühle, grüße Doris Radebrecker von mir und
  bestelle ihr, sie solle dir schon um meinetwillen den Hals nicht
  umdrehen.«
  Mit schluchzender Stimme wimmerte der wilde Bodenhagen:
  »Aber da drinnen in der Mühle in der Stube bei Vater und Mutter habe ich
  ja meinen Schatz, meine junge Braut sitzen?!«
  »Jawohl, hinter dem warmen Ofen, und des Herrn Vaters spanisch Rohr
  hängt ihr über dem Kopfe am Nagel. Kamerad, ich sage dir, nimm dich in
  acht, daß du die Innerste nicht wirklich und wahrhaftig nach dir
  schreien hörst, wenn der Pfaff dir das arme Ding erst niet- und
  nagelfest um den Hals geschmiedet hat. Nun, wie ist's? nimmst du
  Vernunft an von deinem alten Zeltbruder und Unteroffizier? Greif zu; --
  da hast du den Juden Ephraim und den Borussorum Rex dazu dreifach als
  Reisegeld. Als du zum ersten Male durchgingest, hat dir der Herr Vater
  wahrlich nicht so viel gutwillig mit auf den Weg gegeben.«
  Er hatte sein letztes Besitztum an klingender Münze aus der Tasche
  geholt und hielt es hin; der andere aber schob die Hand mit dem Gelde
  mattherzig zurück.
  »Dir ist dann nicht zu helfen,« sagte der Korporal Brand mit einem
  Fluch. »Also sehe ich auch nicht ein, daß wir uns noch länger hier in
  der Kühle und Feuchte herumtreiben. Laß uns zurück in die Stube.
  Element, nachher wundert sich Seine königliche Majestät Fritze noch, daß
  selber ihm manchmal eine Bataille schief abläuft. Kotz Blitz, es ist
  auch ein Wunder, daß er mit solchen Breiköpfen und Plattfüßen in Reihe
  und Glied sich doch noch so anständig durch zwei schlesische Kriege bis
  in diesen dritten hinein durchgeschlagen hat. Marsch zurück unter den
  Ofen, Sackville! Und meinen leeren Ärmel trag' ich auch noch nicht lange
  genug, um nicht die Nachtkühle an dem nichtswürdigen Stumpfe zu
  verspüren!«
  Er drehte sich kurz um und ging in das Haus zurück. Strack und munter
  trat er in die heiße, dampfvolle Stube ein, und dicht auf den Hacken
  schlich ihm Albrecht nach.
  »Herr Meister,« rief der Einarm lachend, »bei der Finsternis da draußen
  suche Ihm ein anderer Seine nächtlichen Spukmusikanten. Hier der
  Musketier Bodenhagen ist mein Zeuge, daß die Innerste so sanft
  dahinfließt, als hätte sie niemals ein Mühlenrad getrieben oder einem
  Müller die gute Laune verdorben. Und das muß ich auch sagen, das
  Gespensterhafteste, was man heute abend zu sehen kriegen kann, sind die
  Käsegesichter, welche die löbliche und angenehme Vetternschaft allhier
  durch den Nebel schneidet. Hab' ich recht, Jungfer Papenberg?«
  Die Jungfer Papenberg antwortete dem lustigen Invaliden nicht, ihr war's
  genug, daß sie den Bräutigam heil und ganz von der gefährlichen
  Expedition wieder hinter den Ofen ziehen konnte.
  Der alte Müller Bodenhagen sagte aber ruhig:
  »Er hat sich eine vergebliche Mühe gemacht, Musjeh. Meine Schuld ist es
  nicht, Korporal Brand. Das Wasser schreiet wohl, aber sehen läßt sich
  selten etwas, und das ist auch das Beste.«
  Die anwesende Gesellschaft, die trotz allem vollauf genügenden Grauen
  und Gruseln gehofft hatte, von den beiden mutigen Kriegsleuten noch
  etwas Grauligeres zu vernehmen, fühlte sich getäuscht, wenngleich
  niemand dieses zu sagen wagte. Es ist still geblieben, und die
  Freundschaft von Groß-Förste, die am Nachmittage auf dem Wiesenwege
  angekommen war, stieg nach einem bedrückten Abschiede auf den
  Leiterwagen und fuhr wieder ab auf dem Fahrwege. Ebenso die
  Vetternschaft aus Harsum und aus Pattensen.
  Als der junge Müller seine Braut auf den Wagen hob, erschien sie ihm
  beim Lichte der Laternen merkwürdig bleich, und sie schluchzte auch:
  »O Albrecht, ich werde toll, wenn ich erst ganz bei dir bin und einmal
  allein sitze und die Innerste schreit!«
  »Binde dir selber keine Dummheiten auf und laß dir keine aufbinden!«
  lachte der Bräutigam, doch klang sein Lachen gar nicht lustig.
  Was der Göttingensche Hofrat und Professor zu dem Rate des Korporals
  Jochen Brand gesagt haben würde, können wir leider nicht wissen: seine
  Ansicht darüber wäre uns aber sicherlich höchst willkommen gewesen.
  
  
   Siebentes Kapitel.
  
  »Den Ersten nennen wir bei der Fahne den Weckauf, der geht auf sein Wohl
  bergunter, Meister Müller. Den Zweiten nennen wir den Nebeldrücker;
  diesen bringe ich Ihr zu, Frau Meisterin, und verhoffe, daß Ihr kein
  Nebel in diesem Jahre den Dampf antue. Den Dritten nennen wir den
  Lerchentriller, und den trinke ich zum Schluß auf dein Wohl, Musketier
  Bodenhagen. Von den Lerchen ist freilich gegenwärtig noch nicht viel zu
  sehen und zu hören in der Luft -- es sieht mir vielmehr nach einem
  ordentlichen Schneefall aus. Aber einerlei, ein Soldat marschiert mit
  gleichem Mut durch jedes Wetter; also habt allesamt Dank für eure
  kompläsante Aufnahme und fürs gute Quartier; und Ihm, Meister Müller,
  wünsche ich noch ganz apart beiseite, daß Er recht behalte, und daß das,
  was Er da eben so grausamlich vollführet hat, Ihn und sein Hauswesen vor
  allen Halunken von Geistern und Gespenstern schütze und nicht bloß vor
  denen, die in Seinem Mühlwasser ihr heimtückisch Wesen treiben.«
  Also sprach am anderen Morgen gegen neun Uhr der Korporal Jochen Brand,
  und der Meister Christian entgegnete ihm:
  »Seinen Wunsch will ich annehmen und gelten lassen, obgleich Er ihn wohl
  ein wenig feiner hätte vorbringen können. Sonst aber hat Er mir ganz
  wohl gefallen, Korporal, und es freut mich, daß mein Junge unter Seinen
  Stock unterm Volk geraten ist. Das Quartier war gern gegeben, und wenn
  Ihn Sein Weg schon nochmals hier vorbeiführen wird, so erinnere Er sich,
  daß ein Teller für Ihn ohne Maulverziehen mit Satisfaktion auf den Tisch
  
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