Die Innerste: Erzählung - 1

Total number of words is 4360
Total number of unique words is 1555
37.4 of words are in the 2000 most common words
49.5 of words are in the 5000 most common words
55.2 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Wilhelm Raabe
Bücherei
Erste Reihe
Band 12
Wilhelm Raabe
Bücherei
Erste Reihe:
Kleinere
Erzählungen
Zwölfter Band
Berlin-Grunewald
Verlagsanstalt für Litteratur und
Kunst / Hermann Klemm
Wilhelm Raabe


Die
Innerste

Erzählung
Dritte Auflage
11.-16. Tausend
Berlin-Grunewald
Verlagsanstalt für Litteratur und
Kunst / Hermann Klemm
Gedruckt bei G. Kreysing in Leipzig
Einbandzeichnung entworfen von Bernhard Lorenz
Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig


Die Innerste


Erstes Kapitel.

Diese Geschichte handelt von einem Bach und zwei Mühlen und ist wahr. Es
hat sich alles so zugetragen, wie es erzählt werden wird: wer da meint,
daß es anders hätte zu Ende gehen können, der erzähle es anders.
Es waren drei Fräulein vor etwa hundertundzwanzig Jahren, und sie leben
heute noch und heißen die _Leine_, die _Ihme_ und die _Innerste_. Sie
sind im Laufe der Zeiten reguliert worden; aber hübscher sind sie nicht
dadurch geworden. Vor hundertundzwanzig Jahren war ihnen allen dreien
nicht zu trauen; doch die Innerste war die schlimmste und ist es bis auf
den jetzt vorhandenen Tag geblieben. Wenn wo das alte Wort Gültigkeit
hat, daß schlechter Umgang gute Sitten verdirbt, so ist es in diesem
Falle.
Man sagte wohl im Lande umher: »Die Leine ist falsch! Die Leine ist ein
böses Wasser! Die Leine ist tückisch!« und es war ein gut Stück
Verleumdung in jeglichem landläufigen Diktum. Die Leine war nicht
besser, als sie war; aber von Natur aus war sie jedenfalls besser als
ihr Ruf. Von Natur ein braves Wasser, ein gutes Wasser, ein gutmütiges
Wasser, wurde sie durch die Innerste verdorben.
Im Hildesheimschen Amt Rethen vereinigt sich die Innerste mit der Leine,
und nachher ist's freilich zu Ende mit den guten Sitten der letzteren,
und die Stadt Hannover hat zweifelsohne mancherlei zu erzählen von ihrer
üblen Laune und Heimtücke.
Von der Ihme brauchen wir eigentlich nichts zu erzählen. Reißend und
sumpfig zugleich, voll von Wirbeln und Drehkuhlen, faulen Bäumen,
Pfählen und Klötzen, stinkend von den Flachsrotten der Anwohner und
überall sehr trübe, lassen wir sie laufen und sagen nur noch, daß auch
ihre schlechten Eigenschaften die arme Leine auf ihre Rechnung zu nehmen
hat, nachdem sie, die Ihme oder der Ricklinger Bach, vom lieblichen
Deister heruntergekommen ist, die freundlichen Dörfer Bredenbeck und
Vörie und die Landwehrschenke im Amt Kalenberg passiert und gleichfalls
ihre Sehnsucht nach der Stadt Hannover befriedigt hat. Wer mehr von dem
Wasser wissen will, schlage nach in Grupens hannöverschen Altertümern.
Jetzo wenden wir uns zur Innerste.
Von ihrem Ursprunge mitten im wilden Harzgebirge an bis zu ihrer
Ausmündung im Amt Rethen verschlechtert sich ihr Charakter von Schritt
zu Schritt, und alle Glocken und alle Pfaffengesänge von Hildesheim
treiben ihr die bösen Teufel nicht wieder aus. Selten aber auch geriet
ein unschuldig hellblickend, klaräugig Bergwässerlein und Quellnixlein
sofort bei seinem Austritt aus dem dunklen Schoß der Erde in so
schmutzige Hände und an solch schwarz schweflicht Handwerk als diese
arme hercynische Najade oder Nymphe. Wahrlich, ihr sind niemals Öl,
Wein, Milch und Blumen geopfert worden! Wildemann nimmt sie beim
Schopfe, Lauthenthal und Langelsheim mit ihren Hütten und Pochwerken tun
ihr alle erdenkliche Schmach an, und so ist es kein Wunder, daß sie bei
Ringelheim schon vollständig verderbt ist und bei Himmelstür frech,
boshaft und scheußlich in die Ebene hervorgeht, und daß trotz allen
Hildesheimschen Pfaffengesängen und Glockenklängen bei _Sarstedt_ die
schlimmsten Gerüchte von ihr im Schwange sind. Es hilft ihr nichts, daß
sie da zur Leimoniade, zur Wiesennymphe wird: wild, heimtückisch und
_blutdürstig_ bleibt sie. Mit dem Auswurfe des Harzes, dem verderblichen
Puchsande geschwängert, bleiben ihre Begierden unordentlich und wird sie
von Zeit zu Zeit von unheimlichen Gelüsten ergriffen, und dann _schreit_
sie.
Der Erzähler hörte sie schreien, der junge Müller Albrecht Bodenhagen
gleichfalls. Nun aber wollen wir von der einen Mühle reden und nachher
von der andern.
Zwischen Groß-Förste und Sarstedt war die eine Mühle gelegen, heute ist
sie nicht mehr vorhanden. Die Gebäude sind längst niedergebrochen, der
Garten ist wieder zur Wiese geworden; wo die junge Müllerin unter dem
Flieder saß und spann, wächst manneshohes Schilf. Die Innerste ärgert
sich hier nicht mehr an dem lustigen Rade, das sich sonst an dieser
Stelle drehte; sie hat sich über ganz andere Dinge zu erbosen; der
harzische Bergmann quält sie nicht allein mehr; es ist manche
nichtswürdige Fabrik an ihrem Laufe entstanden seit dem Jahre 1760, und
von Rechts wegen müßte sie heute da heulen, wo sie sonst nur schrie.
Im Jahre 1760 drehte sich das Rad, klapperte das Werk und war alles im
Gange, wie das Säkulum selber. Es war eine muntere Zeit. Eine
vollständige Tressenbesetzung für eine Mannsperson kostete, wenn man sie
billig kaufte, ihre sechsundsiebzig Reichstaler; aber kaum der dritte
Teil der meisten Städte war bewohnt, und zwei Teile bestanden aus wüsten
Stellen und leeren Häusern. Zwar führte jedermann seinen Haushalt wie
die Patriarchen im Alten Testamente, ein jeglicher zwischen seinen
eigenen vier Pfählen mit eigenem Acker, Garten und Vieh; aber es war
denn auch danach. Nur einige Mal in der Woche kochte man und fraß sich
durch die schwere Zeit an Brei, Hülsenfrüchten und gemeinen Kohlarten.
Wer sich recht gütlich tun konnte, hielt sich zum Neide der Nachbarn an
das eingeschlachtete, entweder geräucherte oder gepökelte Fleisch, wer
aber ganz und gar sardanapalisch schlampampen wollte und nach frischem
Fleische lechzte, der hatte sich mit einem gleichen Schwelger zum Ankauf
eines Stück Viehs zu einigen. Auf gut Glück schlachtete kein Metzger.
Das war die gute alte Zeit, wo niemand von dem andern etwas nötig hatte,
die gute alte Zeit des Siebenjährigen Krieges, wo man, wenn die
Einquartierung es litt, sich früh zu Bett legte und spät wieder
aufstand, und wo man bei festlichen Gelagen Honigkuchen in eine Schale
Branntwein brockte und je nach der politischen Meinung entweder den
König Fritz oder die Kaiserin-Königin hoch leben ließ in dem olympischen
Göttertranke; immer selbstverständlich dabei vorausgesetzt, daß die
Einquartierung nicht hinderlich dabei in den Weg trat und den
bürgerlichen Nektar in die eigene ausgepichte Kriegsgurgel
hinüberfließen ließ.
So war es in Hannover, so war's in Göttingen und in Hildesheim, und so
war's auch in Sarstedt an der Innerste. Trotz allem eine wunderlich
real-geheimnisvolle Zeit voll seltsamer Schwingen und Flüge! Wer da etwa
glauben möchte, daß heutzutage hinter den Stirnen und unter den Schädeln
mehr in den Menschenköpfen vorgehe als damals, der irrt sich bedeutend.
Ja wahrlich, jeder gegenwärtige Augenblick ist stets ein ^novus homo^,
ein Emporkömmling; und die Vergangenheit, selbst mit dem Zopf und der
Beutelperücke und im Reifrock auf den hohen Stöckelschuhen, erscheint
merkwürdig als der vornehme Herr und die erlauchte gnädige Dame. Sie tun
aber meistens so, als lachten sie darüber, die Leute des Tages, und
beweisen gerade durch ihr Lachen nur die niedrigere Beschaffenheit ihres
Standes. Wer wahrhaft vornehm ist, hat immer Respekt, wo er hingehört,
der Pöbel nicht.
Die Franzosen waren im Lande, und der Herzog Ferdinand lag gegen sie zu
Felde. Bei Bergen war er von Broglio zurückgedrängt worden, und bei
Minden sollte er über Contades siegen. Zwischen den beiden Schlachten,
also im Jahre 1759, und gerade in der schönsten Sommerzeit hebt unsere
Historie an.


Zweites Kapitel.

Damals saß noch ein alter Müller mit seiner ebenso alten Müllerin in der
Mühle und der nachherige Herr war noch in der Fremde -- fern und
verschollen, wenn er noch lebte. Die ihn genau gekannt hatten,
erwarteten ihn gar nicht zurück; es gab mehr als einen handfesten Galgen
in der Welt, und mehr als ein würdiger, ehrenfester Sarstedter
Bürgersmann legte, wenn die Rede auf den Jungen aus der Mühle, Albrecht
Bodenhagen, kam, den Finger an die Nase und gab seine Meinung dahin ab,
daß niemand wissen könne, wo _der_ sich im Winde drehe; daß er sich aber
im Winde drehe, das sei sicher.
Der brave Albrecht hatte es seinerzeit in der Stadt und der Umgegend,
weit über Groß-Förste hinaus, nicht danach gemacht, daß man sich nach
ihm sehnte, und die alten Eltern wußten nichts von dem einzigen Sohn.
Seit dem Beginn des Krieges hatten sie ihn nicht zu Gesicht gekriegt.
Eines Morgens hatte er seine Pelzmütze geschwenkt.
»Vivat Fridericus! Adjes, Herr Vater! Adjes, Frau Mutter! Aushalten tu
ich's nicht länger zu Hause. Wär' ich nicht zu gut gewesen, so hätt's
der Herr Vater nicht zu schlimm mit mir gemacht. Adjes!«
Und dann war er mit einem Sprunge über die nächste Hecke weg gewesen,
und die Sarstedter Jungfern hatten mit den Eltern das Nachsehen nach dem
angenehmsten Junggesellen der Gegend gehabt. Nachher sind nur Gerüchte
über ihn und sein Verbleiben nach Hause gekommen, und es stand jedem
frei, dieselbigen zu glauben oder nicht.
Da hat mit ihm einer in einem berüchtigten Freibataillon Schulter an
Schulter gestanden; ein anderer hat mit ihm nach der Schlacht bei
Leuthen vor Schweidnitz gelegen, und wieder ein anderer hat ihn
Spießruten laufen sehen im Lager vor Olmütz. Ein Vierter jedoch, und der
war, wie viele meinen wollten, der einzige Glaubwürdige -- Barthold
Dörries aus Dielmissen behauptete, Albrecht Bodenhagen habe freilich
zuallererst sein Glück in dem preußischen Freibataillon probiert, doch
nicht lange. Nach Kollin sei er desertiert, und droben im Harz zwischen
Wildemann und Lautenthal, gleichfalls an der Innerste, sei auch eine
Mühle gelegen, und die Tochter daselbst, die wisse vielleicht am meisten
von dem Albrecht! Er -- Barthold Dörries -- habe auf der Wanderschaft
daselbst das Handwerk angesprochen und eine Nacht allda genächtiget,
aber kein Teufel kriege ihn wieder unter das Dach, denn da könne man
zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang mehr erleben als in einem
ganzen Feldzug des Königs Fritz, zwischen dem ersten Aufbruch aus den
Winterquartieren und der letzten Schlacht vor dem ersten Schnee.
Dem Meister und der Meisterin sprach der gute Müllerknappe nicht
hiervon, denn der Alte hatte ihm beim ersten Wort das Maul verboten,
wohl aber erzählte er den Mühlgästen, die ihm ein offenes Ohr liehen,
und das taten sie alle, wenn die Rede auf den tollen Albrecht kam. Das
ging denn wie der Laufer um das Mühleneisen, und wenn nur der Bodenstein
irgend feste lag, so gab's ein erklecklich fein Mehl.
Es war ein feiner Meisterssohn, dieser Barthold, und mit Grausen war er
aus dem wilden Harz hervorgekommen. Wie gesagt, verschwur er sich am
Schlusse jeder Rede jedesmal hoch und teuer, daß ihn nie wieder einer in
die wüsten Berge unter das wüste Volk da kriegen tun täte. Von der
Waldmühle, ihren Leuten und Gästen aber erzählte er, daß dem Hörer die
Haare sich sträubten -- und da -- da sollte dieser Albrecht Bodenhagen
immer noch sitzen, und die Müllerstochter, die rothaarige Doris
Radebrecker, sollte sein Liebchen sein!
»Das ist freilich ein Ort für den bösen Jungen!« murmelten die Leute aus
dem Mühlenbann zwischen Sarstedt und Groß-Förste und sahen mit
melancholischem Kopfschütteln auf den alten Vater und die alte Mutter
Bodenhagen, und die Gerüchte wurden immer schlimmer.
Nun stand einmal im Juli des Jahres 1759 der alte Müller Bodenhagen an
seinen Gartenzaun gelehnt und sah verdrossen auf die leise an demselben
hinfließende Innerste, und schien die Blasen zu zählen, die vom Grunde
des Flüßchens emporstiegen, zerplatzten und anderen Platz machten. Es
sollen aber diese Luftblasen von dem Atem der Wassergeister in der Tiefe
herrühren, und was viele Leute auf Hörensagen hier weiter sprechen, das
wußte der alte Christian Bodenhagen ganz genau. Er sprach aber nicht
gern davon und zog meistens ein finsteres Gesicht und verlor sich hinter
dem Dampf seiner schwarzen Tonpfeife, wenn die Rede darauf kam. Er
kannte sein Mühlwasser genau und wußte, daß nicht mit ihm zu spaßen war.
Die Morgensonne schien, die Lerchen sangen in der blauen Luft, auf den
Wiesen lag das Heu in Haufen, und der leichte Wind trug den Duft her;
doch die Wassergeister schienen schwere und heftige Atemnot zu haben.
Die Blasen perlten in Stößen auf, und der Meister Bodenhagen zog seinen
Atem gleichfalls bedrückt aus der Tiefe der Brust herauf und stieß ihn
in Seufzern von sich. Sein altes Weib hatte ihm wieder mal des
verlorenen Sohnes wegen von Mitternacht an den doch schon so
kümmerlichen Schlaf ganz verscheucht und dann sich natürlich an ein
gesundes Schnarchen gegeben und ihn wachen lassen.
»Und kann ich denn dafür?« murmelte er jetzo. »Liegt es nicht seit der
Schwedenzeit auf dem Dach und dem Rade? Ich habe nicht gezählt, wie
viele Räder die Innerste dreht, vom Ursprung an bis zum Eingang in die
Leine; aber daß sie auf dieses seit vielen hundert Jahren trotz aller
guten Nahrung einen besonderen Groll hat, das weiß ich, und mein Vater
und mein Großvater haben ihn auch verspüren müssen. Sie sagen, seit der
Schlacht bei Lutter am Barenberge, allwo der General Tilly und der König
von Dänemark aneinander waren, hat sich alles geheime Volk in Wasser,
Wald und Luft hier in der Gegend mit dem Menschen überworfen. Gott soll
mich behüten, darauf nachzusagen, aber die Bodenhagen-Mühle weiß das
Ihrige davon. Vor der Bataille soll dieses alles nicht gewesen sein.
Zwerg, Nix und Waldspuk hat wohl auch sein Wesen getrieben, aber mit
Gutmütigkeit und im Spaß. Nachher erst sind sie giftig geworden -- sie
mögen wohl ihre Gründe gehabt haben -- und begnügen sich nicht mehr mit
dem bloßen lustigen Schabernack; sondern --«
Er brach ab und sah sich scheu um und legte die Hand auf den Mund.
Beinahe hätte er von dem Herzeleid gesprochen, was insbesondere die
Innerste ihm und seinen Vorfahren in der Mühle angetan haben sollte;
allein er besann sich noch zur rechten Zeit und schwieg. Es ist gewissen
Mächten gegenüber stets sicherer, zu schweigen, als sich zu
beklagen; aber recht hatte der alte Meister doch in betreff der
Charakterveränderung des geheimnisvollen Volkes seit dem Dreißigjährigen
Kriege.
Schon lange ging man nicht mehr mit einem bloßen Grusel oder gar einem
behaglichen Lächeln zu Bett, wenn man am Winterabend hinter dem warmen
Ofen ein neues Histörchen von ihm vernommen hatte. Seit der Schlacht bei
Lutter am Barenberge, wo die Liguisten den Dänenkönig klopften und sein
Heer ausreuteten, und gar seit der Schwedenzeit hatte sich das gründlich
zum Schlimmen und Bösen geändert. Mit der Menschennatur verwandelte sich
in jener greulichen Zeit auch der Sinn der Geister in allen Elementen.
Wo sie schalkhaft gewesen waren, wurden sie nun boshaft. Ihr spaßig
Lachen wurde zu hämischem Grinsen, und wie der Mensch fanden auch die
Geister nunmehr ihre Lust an der Grausamkeit, dem Elend, dem Verderben.
Es war die Axt an alles harmlose Behagen gelegt worden, und die Leine
und die Ihme sahen viel zu viele niedergeschlagene Wälder und verbrannte
Wohnstätten der Menschen an ihrem Wege, um bleiben zu können, was und
wie sie waren. Was aber die Innerste anbetraf, so gab ein Müller
Bodenhagen die Überlieferung, daß ihr nicht zu trauen sei, weiter an den
andern. Es ging kaum ein Jahr vorbei, ohne daß man sie schreien hörte --
kein Auftauen des Winterschnees, ohne daß sie das Land weit und breit
überflutete. Die Leute in der Mühle jedoch hielten das Schreien für das
Schlimmere und Unheimlichere.
Gegenüber dem Mühlengarten zog sich am andern Ufer ein ziemlich dichtes,
ineinander geflochtenes und gewirrtes Erlen- und Weidengebüsch hin, und
gerade dem Orte gegenüber, allwo der alte Meister Bodenhagen an seinem
Zaune lehnte, hatten die Wirbel das Erdreich unter einem knorrigen
Stamme weggespült, der Baum hatte sich gesenkt, lag mit dem Gezweig im
Wasser und streckte sein verworren Wurzelwerk in die Luft: die Nixen
spielten auch den Baum- und Buschnymphen ihre Streiche, wo sie es
konnten.
»Guten Morgen, Herr Vater!« sprach es plötzlich von dort herüber, und
der Alte, von den Wasserperlen der Innerste mit einem heftigen Schrecken
in die Höhe sehend, hielt sich mit beiden Händen am Zaune.
»Schmeckt Ihm sein Pfeifchen wie sonsten? Es soll mich freuen,« erscholl
es wieder, und die Pfeife wäre fast dem Munde des Müllers Bodenhagen
entglitten. Er griff aber doch noch danach, wie der Held der
Pfeffelschen Ballade, und legte die zitternde linke Hand über die Augen
-- traute ihnen noch immer nicht und starrte wortlos über sein
Mühlenwasser nach dem Weidenstamm hin.
Da saß auf dem klumpigen Wurzelwerk, das in der Tat einen recht
bequemlichen Sitz bildete, ein Mensch, der sich immer noch nicht wie ein
Phantom in dem flimmernden Sonnenschein auflösete oder in das Wasser,
aus dem er auch vielleicht aufgestiegen sein konnte, zurücksank. Ein
Mensch, ein richtiger Mensch, aber nicht gar erfreulich anzuschauen! Er
trug einen zerlumpten blauen Rock mit schmierigen roten Aufschlägen,
Kragen und Futter; er trug gelblich-schmutzige Kniehosen und zerfetzte
Gamaschen; und den dreieckigen alten Soldatenhut trug er schräg über das
eine Auge gedrückt, über dem andern eine Binde. Wie der greise, weiße,
reinliche alte Müller hielt er auch eine Tonpfeife zwischen den Zähnen,
und jetzo legte er militärisch grüßend die Hand an den Hut und rief von
neuem über die Innerste:
»Ich wünsche dem Herrn Vater den allerschönsten guten Morgen und
rekommandiere mich fürs geschlachtete fette Kalb. Ich bin's, Herr Vater,
und frage an, ob Er und die Frau Mutter was dagegen einzuwenden haben,
daß ich über den Steg laufe und den lieben Eltern mit Tränen in die Arme
renne?«
Der Alte stieß ein Gestöhne aus; aber zu antworten vermochte er noch
nicht.
»Nun, wie ist's?« fragte der Blaurock von jenseits her. »Soll es heißen:
Pardon, Grenadier; oder gebt Ihr kein Quartier? Hunger, Durst und einen
zerschlagenen Kopf bringe ich mit, ich komme aus dem Westfalenland, und
es ist uns als wie den hohen Alliierten und dem Herzog Ferdinand
herzlich schlecht ergangen. Sage Er Quartier, Herr Vater -- ich bringe
zu allem übrigen ein gebessert Gemüte und weiß nun aus der Erfahrung,
daß es zu Hause bei der Frau Mutter am besten ist. Mache Er ein Ende,
Vater, und lasse Er mich wieder ein; es ist mein blutiger Ernst, und ich
habe beides satt, den Krieg wie das Wandern!«
»Ist Er es? Oh!« ächzte der Alte; aber er antwortete den Fragen von dem
anderen Ufer der Innerste auch jetzt noch nichts. Er ließ den Zaun los
und drehte sich um und wackelte dem Hause zu durch den engen Gartenweg,
beide Hände mit ausgespreizten Fingern vor sich hinstreckend, als müsse
er seinen Weg durch eine dicke Finsternis tasten. Aus dem Garten trat er
in die Küche, wo seine graue Frau am Herde wirtschaftete, und er setzte
sich stumm auf die Bank neben dem Herde, und die Müllerin ließ
erschreckt ihren Topf und Löffel und schrie:
»Jesus Christus, Vater, was ist? was ist los? was ist geschehen?«
»Ja, Vater, Vater, Vater!« murmelte der Müller Bodenhagen; und drüben
auf dem Weidenstamme hob der zerlumpte Kriegsmann den Dreiecker vom
wirren Haarwulst, ließ ihn wieder fallen und sagte zwischen den Zähnen:
»Kotz Kreuz und tausend Schwadronen, hab' ich nun eine Antwort oder
nicht? Da geht der Dampf aus dem Schornstein, und ich meine, den
gebratenen Speck bis hierher zu riechen. Hu, Speck und Eier, und gestern
ist auch der Tag gewesen, allwo wir frisch backen! Der Teufel, im Lager
zu Pirna konnte kein Sachs mehr Wehmut ausstehen, als ich anjetzt auf
dieser hohlen Weide! Nun hält er Kriegsrat drinnen mit der Alten. O,
Albrecht Bodenhagen, wie bist du heruntergekommen seit der Bataille bei
Bergen!«
Er starrte auch in das Wasser nach den aufsteigenden Blasen und Perlen,
und mit einem Male setzte er finsteren Auges die Zähne fester auf die
Lippen, daß ihm das Pfeifenrohr zerbrach, und murmelte:
»Und da ist die Innerste wieder! Wie wär's, wenn ich noch einige
Tagemärsche dran aufwärts rückte und den Speck in der Pfanne an einem
anderen Ort in die Naslöcher zöge? O, heulen möchte man, daß man so
wenig geschickt ist für den Krieg und das Wandern. Sie würden alle
lachen, wenn sie das wüßten!«
In diesem Augenblick ließ sich ein Weibergeschrei aus der Mühle
vernehmen, und der Mensch auf der Weide stotterte:
»Die Alte! das war die Alte! jetzt weiß die Alte, wie weit es am Tage
ist!«
Und es war so. Die Alte war's, und die Alte wußte, wie weit es am Tage
war. Sie kam durch den Garten, so hastig, als es ihr ihre fünfundsechzig
Jahre erlauben wollten, sie streckte auch die Arme weit vor sich hin,
doch durch eine Finsternis brauchte sie sich nicht zu tasten.
»Mein Sohn! mein Kind!« kreischte sie; und drüben hatte der Soldat den
preußischen Infanteristenhut abgenommen und hielt ihn in den Händen, und
der Pfeifenstummel war ihm entglitten und in die Innerste gefallen.
»Frau Mutter, wenn Sie Gnade für Recht ergehen lassen will, und wenn der
Herr Vater damit zufrieden ist, so komme ich über den Mühlensteg. Ich
hab' es satt in der weiten Welt, und den Krieg um Schlesien sollen sie
unter sich allein ausmachen, und den Colignon, den Werber, den soll der
blutige Teufel holen. Frau Mutter, will Sie mir heute wieder mit einen
Teller auf den Tisch setzen? Den Geruch Ihres Specks, Frau Mutter, halte
ein anderer aus, ohne zu schluchzen wie ein Kind: ich heule Ihr
geradeweg was vor, wenn der Herr Vater mich nicht über den Steg am
Mühlenschütt kommen läßt und mich weiter schickt zum Träberfressen und
Schweinehüten oder zum General Freytag.«
Der Vater Bodenhagen zeigte sich nicht wieder vor dem Hause; aber Mutter
und Sohn begegneten einander auf dem Mühlensteige, und zwischen ihnen
beiden war alles in Richtigkeit, und als ob nie etwas vorgefallen sei,
was dem schlimmen Jungen, dem Albrecht, einen häuslichen Verdruß bei
seiner Heimkehr aus dem Felde und von der Wanderschaft hätte einbringen
können. Als sie jedoch Hand in Hand und die Alte in Tränen in die Stube
traten, da saß der Alte am Tisch, drehte der Tür den Rücken zu und hatte
die Faust auf die Tischplatte gelegt. Er wandte sich nicht um bei ihrem
Eintritt.
»Mit Permission, Herr Vater --«
»Er Halunk!« murrte der Alte. »Wenn Er es wirklich ist, so sage Er mir,
wer ihn gerufen hat? Hat sich der Herr wirklich nicht in der Tür
geirrt?«
Die alte Frau legte ihrem Ehemanne die Hand auf die Schulter:
»Ich habe ihn gerufen in meinen bangen Nächten; er muß es mitten unter
dem Volk gehört haben.«
»Der Vagabonde -- der Landläufer!«
»Und er ist zurückgekommen mit schleppendem Fittich und hat sich nicht
in der Tür geirrt. Sieh dich um, Bodenhagen, sieh ihn an, Vater. Hab'
ich ihn mit meinen Tränen hergeweint, so hast du in deinem Ärger nach
ihm geschnarrt. Sieh dich um, Alter.«
Und der Müller Christian Bodenhagen sah sich um nach seinem lieben
Söhnchen und zwar trotz seinem Alter mit den munterst funkelnden Augen.
»Das ist das Wort! In meinem Ärgernis hab' ich nach dem Strolchen, dem
schwachmütigen Lumpen auch gerufen und es kaum erwarten können, daß es
so käme, wie es heute endlich gekommen ist! Ho, wirklich, er ist's, und
ganz so, wie ich ihn mir im Traum und Wachen phantasiert habe, der Haas
im Marderpelz! Alte, Alte, wenn ich den Schlingel nicht zu genau kennte,
so würde er mir wahrhaftig nicht über die Innerste gekommen sein. Das
ist der Milchtopf auf dem Feuer -- er kocht über und es stinkt. Du
rückst ihn ab von der Glut, und er gibt sich fein zur Ruhe. O, du
jammerhafter Wischlappen, was hattest du im Felde beim König Fritz und
dem Prinzen Ferdinand zu suchen? Du Großmaul, haben sie dir nach
Verdienst den Buckel zerbläut und dich heulend zu Vater und Mutter
heimgeschickt? Ich habe es so gewußt, mein Sohn, verlaß dich drauf. Du
bist mir nicht als etwas ganz Neues drüben am Wasser aufgegangen; und
weil dem so ist -- deshalb -- sei gesegnet dein Eingang!«
Er hatte sein spanisch Sonntagsrohr neben der alten knochigen harten
Hand auf dem Tische liegen, und jetzo war er aufgesprungen, und es erhub
sich ein Tanz, beinahe noch lustiger und wilder, als er am kommenden
ersten August bei Minden zwischen dem Herzog von Braunschweig und dem
französischen Marschall Contades aufgeführt werden sollte. Die Mutter
Bodenhagen flüchtete sich schreiend in eine Ecke; das Haus- und
Mühlengesinde lief entsetzt zu Hauf -- der Meister Christian schlug brav
zu und kümmerte sich nicht, wohin er traf. Den wilden Albrecht aber
mußte die Schlacht bei Bergen und der darauf folgende Hunger wahrlich
tief heruntergebracht haben. Er wehrte sich kaum anders als durch ein
ununterbrochen Ausweichen rund um den Tisch herum.
Sie wußten im achtzehnten Jahrhundert, selbst in der rand- und
bandlosesten Zeit des Siebenjährigen Krieges, immer noch in der
richtigen Art und Weise mit den verlausenen Herren Söhnen umzugehen, die
Herren Väter. Sie hatten es gelernt von Seiner königlichen Majestät in
Preußen, Friedrich Wilhelm dem Ersten, und waren imstande, Seine
Majestät König Fritz den Zweiten als glorreiches Exemplum hinzustellen
und sich des weiteren und breiteren darüber zu ergehen, daß der das
hispanische Rohr selber fühlen müsse, welcher es einmal selber führen
und andere, als z. B. die Kaiserin Maria Theresia und den französischen
König Louis, fühlen lassen wolle.


Drittes Kapitel.

Es war der gutmütige und handfeste Mühlknappe Barthold Dörries aus
Dielmissen, der dem zornigen Hausvater endlich den Stab Wehe entrang und
den Haussohn vor dem Schicksal errettete, zu fein gemahlen zu werden.
Auch das übrige Gesinde sprang endlich zu; dann kam die Mutter und am
andern Morgen die ganze umliegende Landschaft zu Worte. Letztere behielt
es längere Wochen hindurch über die Vorgänge in der Sarstedter Mühle.
Es gibt nicht wenige Leute, die, wenigstens zu einer gewissen
Lebenszeit, einen schlimmen Ruf für besser als gar keinen halten; allein
es gehört Charakter dazu, diese Ansicht bis zum Ende festzuhalten, und
solche Seelenstärke besitzen freilich nicht alle. Albrecht Bodenhagen
besaß sie sicherlich nicht.
Er hatte genug des Ruhmes oder Rufes und gab, wie man das nennt, klein
bei; und auch darüber machte die Umgebung dann natürlich wieder ihre
Glossen.
Selten sind zu irgendeiner Zeit so viele Kornsäcke nach der Mühle an der
Innerste getragen und gefahren worden als in jenen Tagen. Ein jeglicher
wollte den verlorenen Sohn sehen, ein jeglicher gern ein Wort mit ihm
reden, und manch einer kam zu seinem Zweck zum großen Verdruß des
Heimgekehrten, dem beides ein Greuel war, das Vermahnen sowohl als das
Beglückwünschen, und der jedem Gevatter und jeder Gevatterin unter dem
wachsamen Auge des Herrn Vaters still zu halten hatte. So blühte mit dem
Geschwätz das Geschäft, und die Räder drehten sich, und der Laufer
drehte sich auch, und die Innerste quirlte lautlos ihr schmutzig Wasser
vorbei und nach Sarstedt, um jenseits der Stadt andere Mühlen zu treiben
und auf anderer Leute Angelegenheiten tückisch Achtung zu geben. Das
geht uns aber nichts an.
An einem Donnerstage war Albrecht nach Hause gekommen, und am Sonnabend
kam nach alter fester Sitte der Balbierer von Sarstedt, um dem Meister
Christian den Wochenbart abzunehmen. Stumm und mürrisch ließ sich der
You have read 1 text from German literature.
Next - Die Innerste: Erzählung - 2
  • Parts
  • Die Innerste: Erzählung - 1
    Total number of words is 4360
    Total number of unique words is 1555
    37.4 of words are in the 2000 most common words
    49.5 of words are in the 5000 most common words
    55.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Innerste: Erzählung - 2
    Total number of words is 4623
    Total number of unique words is 1473
    40.8 of words are in the 2000 most common words
    53.3 of words are in the 5000 most common words
    58.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Innerste: Erzählung - 3
    Total number of words is 4497
    Total number of unique words is 1510
    40.2 of words are in the 2000 most common words
    53.3 of words are in the 5000 most common words
    59.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Innerste: Erzählung - 4
    Total number of words is 4502
    Total number of unique words is 1563
    39.6 of words are in the 2000 most common words
    52.0 of words are in the 5000 most common words
    57.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Innerste: Erzählung - 5
    Total number of words is 4634
    Total number of unique words is 1505
    39.0 of words are in the 2000 most common words
    51.8 of words are in the 5000 most common words
    58.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Innerste: Erzählung - 6
    Total number of words is 4509
    Total number of unique words is 1592
    37.1 of words are in the 2000 most common words
    50.6 of words are in the 5000 most common words
    55.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Die Innerste: Erzählung - 7
    Total number of words is 2006
    Total number of unique words is 865
    45.5 of words are in the 2000 most common words
    55.8 of words are in the 5000 most common words
    62.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.