Die fünf Waldstädte: Ein Buch für Menschen, die jung sind - 5

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und ich trug eine dunkelblaue Mütze. Er
ein Cambridger, ich ein Oxforder! Trotzdem fuhr
er großartig. Ich ein Oxforder, o nein, ein Ochse,
ein großer Ochse! Zu verschlafen! Kutscher, wir
müssen, müssen, müssen zurechtkommen!
Und wir kamen zurecht. Ich konnte gerade
noch den Pressedampfer abdampfen sehen. Ich
streckte die Arme nach ihm aus, ich brüllte wie
ein Stier hinter dem Schiffe her, dann setzte ich
mich auf einen Straßenstein und knirschte vor
Wut mit den Zähnen. Es war mir, als müsse
ich den bummeligen Kerl, der das verschuldet
hatte, beim Kragen kriegen und in der Themse
elend ersäufen -- mich!
Extra von Berlin gekommen in dies blödsinnige
Nest, wo die Dampfer so pünktlich abgehen,
und jetzt, wo's da draußen losgeht, kauere
ich hier wie ein trauriger Affe auf dem Straßenstein.
Müde erhob ich mich. Keine Möglichkeit, auf
anderem Wege nach Putney zu kommen. Ein
Boot? Unsinn, das kam gerade hinaus, wenn
der Start längst vorüber war. So schlenderte ich
in seltsamen Gefühlen und eigenartigen Selbstbetrachtungen
den Kai entlang.
Da sah ich dicht an der Ufermauer einen stattlicher
Dampfer liegen. Leer! Nur ein paar Bedienungsmannschaften
lungerten träge herum, und
der Kapitän spazierte auf Deck hin und her.
Ein Gedanke! Ein rettender Gedanke!
»Sir!« rufe ich dem Kapitän zu, »ich habe den
Pressedampfer verpaßt, was mir äußerst unangenehm
ist, und ich muß nach Putney, ich muß!
Wollen Sie mich, mein Herr, auf Ihrem Schiff
nach Putney fahren?«
»Aber sehr gern, mein Herr!« erwiderte er in
freundlichstem Ton; »ich habe gerade Zeit, und es
wird mir ein Vergnügen sein, Sie nach Putney
zu fahren.«
Hurra!
»Und welches ist der Preis für den Extradampfer?«
»O, mein Herr, der Preis ist Nebensache. Steigen
Sie nur ein!«
»Ja, ~my dearest~, so ungefähr möchte ich wohl ...«
»Steigen Sie nur ein, Sir, Sie werden sehr zufrieden
sein. Indes vergeht sonst unnütz die
Zeit.«
Das sah ich ein, und ich bestieg das Schiff, auf
die Gefahr hin, daß mir hinterher der Mann eine
riesige Summe abverlangte. Ich mußte doch nach
Putney! Ein Kommandowort nach dem Maschinenraum,
ein Signal, das Schiff setzte sich in Bewegung.
Und ich war sein einziger Passagier!
An einem solchen Tage, wo sonst alle Schiffe überfüllt
waren! Ein freudiger Stolz, ein Gefühl
großer Vergnügtheit ergriff mich.
Der Kapitän trat an meine Seite und sagte:
»Mein Herr, Sie werden gewiß das wundervolle
bunte Leben und Treiben auf der Themse
und an ihren Ufern, wie es gerade der heutige
Tag bringt, beobachten wollen. Wir haben hier
an Bord einen brillanten Auslugposten. Sehen
Sie, hier, wo die Bordwand unterbrochen und
durch ein schmales Geländer ersetzt ist! Stellen
Sie sich hierher! Hier sehen Sie alles.«
Ich war dem liebenswürdigen Manne aufs
äußerste dankbar, drückte ihm gerührt die Hand
und stellte mich an den bezeichneten Platz.
Eine prachtvolle Aussicht! Eben kommt eine
blumengeschmückte Gondel vorbei. Dunkelblaue
Fahnen, alle Insassen mit dunkelblauen Abzeichen.
Oxforder!
Da -- mit einem Male stutzen die Leute im
Boot, betrachten mein Schiff, betrachten mich und
-- brechen in ein schallendes Gelächter aus.
»O, Ihr lieben Oxforder! Ihr seht wohl meine
dunkelblaue Mütze, seht, daß ich von Eurer Partei
bin, ahnt, daß ich mir einen Extradampfer gechartert
habe, um noch nach Putney zu kommen,
und bringt mir diese jubelnde Ovation?! Seid
bedankt, Freunde, seid bedankt!«
Und ich schwenke vergnügt meine dunkelblaue
Mütze. Als die Leute das sehen, jubeln sie noch
viel lauter. Entzückend, diese übersprudelnde Fröhlichkeit!
Da -- ein Boot mit Hellblauen! Die gegnerische
Partei. Aber auch sie -- auch sie brechen ja
in ein jubelndes, in ein schallendes Gelächter
aus ...
Nanu!
Was haben die Kerle zu lachen?
Aha, das ist Hohn! Sie sehen, daß ein Dunkelblauer
sich verspätet hat und ein Extraschiff nehmen
mußte. Glaubt nur ja nicht, ihr dummen
Kerle, daß ich mich über euch ärgere! Im Gegenteil,
ich schwenke herausfordernd meine dunkelblaue
Mütze und wundere mich nur, daß diese
hellblauen Kunden so blödsinnig vergnügt weiter
lachen. Na ja, die Hellblauen, von denen kann
man alles erwarten.
Potz Blitz, was ist das dort drüben am Strande?
Ein Menschenauflauf. Männer, Weiber, Kinder
stürzen herbei, und alles zeigt auf mein Schiff
und auf mich, der ich an seinem sichtbarsten Punkt
stehe, und eine donnernde Lachsalve tönt vom Ufer
herüber. Die Männer fuchteln mit den Armen,
einzelne Frauen setzen sich platt auf die Erde
und scheinen sich in Lachkrämpfen zu winden,
Buben schlagen Purzelbäume vor Vergnügtheit,
und immer neue Scharen strömen, nein, stürzen
herbei und stimmen in das Gelächter ein.
Ich winke hinüber -- stürmischer Jubel! -- ich
begucke und betaste bestürzt meinen Anzug --
zwerchfellerschütternde Heiterkeit, -- ich drehe
mich verwirrt dreimal um meine Achse -- ein
brüllendes Gewiehere -- ich reiße einen kleinen
Spiegel aus meiner Tasche und betrachte mich --
die Leute wollen bersten!
»Um Himmels willen, Kapitän, was ist denn
los?«
Er sieht mich mit freundlichem, unendlich wohlwollendem
Gesichte an.
»Ein bißchen verrückt,« sagt er phlegmatisch.
»Was, ein bißchen verrückt? Total verrückt ist
diese Gesellschaft!«
Ein zweites, drittes, viertes -- zehntes Boot
fährt vorüber, und alle, alle, alle Insassen lachen,
lachen, lachen ein wahnsinniges, tollhäuslerisches
Gelächter.
Darüber werde ich völlig verwirrt. Ich drehe
mich wie ein Kreisel, ich werfe die Arme wie
Windmühlflügel, ich deute nach der Stirn, um die
Leute auf ihren Geisteszustand aufmerksam zu
machen.
Sie lachen, sie lachen Stürme!
»Kapitän, sagen Sie mir -- erklären Sie mir
um Himmels willen -- das ist ja -- das ist ja --«
»~Boat race~,« sagte er schmunzelnd.
»Aber Mann, wenn auch heute Oxford-Cambridge-Tag
ist, braucht doch dieses Volk nicht über
einen anständigen Ausländer in ein so verrücktes --«
Ein Schrei. Ein »Seelenverkäufer«, in dem
zwei Leute gesessen haben, ist gekentert. Die
Kerle klammern sich an ihr Boot, kämpfen mit
den Wellen und lachen, lachen, -- -- -- sie ersaufen
beinahe und zeigen doch auf mich und
lachen -- lachen --
Also -- irgend jemand mußte hier verrückt sein!
Und da doch wahrlich nicht ganz London plötzlich
toll geworden war, so war wahrscheinlich ich -- --
Ein Angler, der am Ufer sitzt, zieht eben einen
Fisch aus dem Strom, sieht mich, kriegt augenblicklich
Schreikrämpfe und fliegt samt Angelrute
und Fisch kopfüber ins Wasser. Mich überläuft
es siedendheiß. Ich zittere vor Aufregung.
Da -- ein Marineschiff kommt daher. Endlich
ein ernstes Fahrzeug. Ein wildes, knallartiges
Gelächter der Mannschaft samt den Offizieren ...
Also doch!! Elender Porter! Elender Brandy!
Eine einzige Nacht, und ich bin -- -- o, es ist
nicht zum Ausdenken! Vielleicht befinde ich mich
gar nicht auf einem Schiff; vielleicht bilde ich mir
das alles bloß ein! -- Aber hier stehe ich doch,
hier halte ich doch das Geländer, hier ist doch
die Themse!
»Es ist ein guter Tag heute!« sagt freundlich
der Kapitän.
»Guter Tag?«
Ich fange an, einfach radzuschlagen und die
Beine nach oben zu strecken.
Rundum dröhnt die Luft, knallt, prasselt, ächzt,
stöhnt, heult es vor Gelächter. Am Strande, auf
kleinen Booten, auf Segelschiffen, auf Dampfern,
überall, überall diese entsetzlich lachenden Menschen.
Ich drehe mich um die horizontale oder
um die vertikale Achse wie eine Spule oder wie
ein Flugrad. Mit einem Wort: ich rotiere.
Der Kapitän behält seinen menschenfreundlichen,
wohlwollenden, zufriedenen Gesichtsausdruck.
Unheimlich, grauenhaft ist meine Lage.
Da endlich sehe ich den Pressedampfer. Selbst
in meinen Kinderjahren habe ich nicht an Zauberei
geglaubt, jetzt aber bin ich felsenfest überzeugt,
daß ich mich auf einem verhexten Schiffe
befinde.
»Halt! Kapitän, halt! Ein Boot! Ich will
da hinüber! Da auf den vernünftigen Pressedampfer.
Verlangen Sie meinetwegen, was Sie
wollen, nur lassen Sie mich von diesem blödsinnigen
Schiff herunter!«
Dort -- dort sammeln sich die Hell- und Dunkelblauen
zum Start. Die ganze internationale
Pressegesellschaft sieht zu. Aber plötzlich verliert
für sie die ~boat race~ alles Interesse, alle wenden
sich meinem Schiff zu, und ein internationales
Gelächter erdröhnt, untermischt mit Jubelrufen in
aller Herren Sprachen.
Kalter Schweiß rinnt mir von der Stirn. Auch
diese -- auch diese Internationalen! Nur mühsam
fuchtele ich noch mit den Armen.
»Was bin ich Ihnen schuldig?« keuche ich.
»Nichts!« sagt der Kapitän.
»Nichts? Für einen Extradampfer -- nichts?
Ach ja -- ich -- ich -- bin ja --«
»Im Gegenteil,« fährt der Kapitän fort, »meine
Gesellschaft ist Ihnen zu großem Dank verpflichtet,
und ich bedaure nur, daß es nicht möglich ist,
Sie beständig für uns zu engagieren. Sie wären
eine Goldgrube für uns. Bitte, behalten Sie dies
zum freundlichen Andenken!«
Er gibt mir ein kleines Paket. Mir ist schon
alles eins; ich nehme das Paket.
»Also nichts?« lallte ich.
»Nichts!« sagte er. »Im Gegenteil: tausend
Dank!«
Endlich sitze ich in einem Boot, das mich nach
dem Pressedampfer bringen soll, von dem unaufhörlich
das Gelächter weiterdröhnt.
Wie ich etwas Distanz gewonnen habe, wage
ich es, einen Blick auf das verlassene Zauber- und
Gelächterschiff zu werfen.
Da sehe ich -- -- -- daß der ganze mächtige
Schiffsrumpf mit schreienden Plakaten bedeckt
ist.
Ein Reklameschiff ist es.
Und ich lese:
»Beechams Pillen! Beechams Pillen! Alle
Krankheiten kommen aus der Leber! Und die
Leber wird einzig geheilt durch Beechams Pillen!
Wer an Cholera, Verstopfung, Gehirnschwund,
Bartlosigkeit, Krätze, Triefaugen, Plattfüßen,
Buckel, roter Nase, Hühneraugen oder Altweiberrunzeln
leidet, nehme Beechams Pillen!!!«
Die Liste war noch viel länger, noch viel beleidigender.
Die Hauptsache aber:
Unter dem Auslugposten, auf dem ich gestanden
und auf dem ich in der Erregung meine wilden
Bewegungen mit den Händen und Beinen
gemacht hatte, war eine Riesenhand mit nach oben
gestrecktem Zeigefinger gemalt und daneben
stand:
»Sehet diesen Mann! Er hat an sämtlichen
Krankheiten gelitten, die an unserem Schiff verzeichnet
stehen. Er hat Beechams Pillen genommen
und ist kuriert worden. Seht seine freundlichen
und kräftigen Bewegungen!«
* * * * *
Das kleine Paket, das mir der wohlwollende
Kapitän zum Andenken überreicht hatte, enthielt
eine Schachtel Beechams Pillen.


Die Ferienkolonisten.

»Durch die Güte freigebiger Menschen kann auch
in diesem Jahre wieder eine Anzahl bedürftiger
Kinder in die Ferienkolonie geschickt werden.«
Es gab einen Tumult in der Klasse, als der
Lehrer das sagte. Doch er setzte bald einen
Dämpfer auf die Freude.
»Pst! Wir haben 400 Kinder in der Schule,
und davon dürfen wir nur sechs vorschlagen, von
denen wieder der Schularzt nur zwei auswählt.
Also, von den 400 Kindern unserer Schule können
nur zwei in die Ferienkolonie mitgenommen
werden.«
»Heißt 'n halbes Perzent,« brummte Moritz
Cohn auf der hintersten Bank. Er beschloß, bei
so schlechten Chancen auf dies Geschäft erst gar
nicht zu reflektieren.
Anders Heinrich Menzel. Er saß ganz vorn,
war der kleinste und schwächlichste von allen.
Tagelang zerbrach er sich den Kopf, ob er zu den
zwei Auserwählten gehören würde, betete inständig
zum lieben Gott um diese Gnade, verfiel
zuletzt sogar in Aberglauben, indem er Vaters
alten Würfelbecher zum Orakel machte. Einen
Wurf mit den drei Würfeln! Wenn es über
16 wären, würde es mit der Ferienkolonie glücken.
Schon hatte er den Becher in der Hand, da setzte
er die Schicksalszahl von 16 auf 14 herab.
Er warf 18!
Und richtig wurde er am nächsten Tage unter
die sechs Kandidaten eingereiht, aus denen der
Schularzt als oberste und unwiderrufliche Instanz
die zwei Glücklichen auswählen würde, die
auf vier lange Wochen das unsägliche Glück haben
sollten, in einem grünen Gebirgsdorf zu leben,
fern von den engen Straßen und dumpfen Höfen
der Großstadt.
Der kleine Trupp der sechs Buben machte sich
auf den ziemlich weiten Weg zum Schularzt.
Auch Moritz Cohn gehörte zu ihnen. Vornweg
stelzte Karl Perschke mit seinem lahmen Bein.
Wie ein Anführer zog er daher, überzeugt, daß
ihn sein sichtliches Gebrechen zum Siege führen
würde. Fritz Neumann prahlte mit den eiterigen
Mandelentzündungen, die er hinter sich hatte.
»Das ist noch gar nichts,« warf Gottlieb
Scharfenberger ein, »zweimal Diphtherie, einmal
Scharlach und einen Leistenbruch, das soll mir erst
mal einer nachmachen. Die Zahnkrämpfe gar
nicht mitgerechnet.«
Dagegen kam sich allerdings Heinrich Menzel
mit seinen lumpigen Masern und seinem Ziegenpeter
gerader ärmlich vor.

»Der Max Scholz, der sollte erst gar nicht mitmachen,«
sagte einer verächtlich, »er ist bloß zweimal
übers Treppengeländer gefallen.«
»Aber einmal vom zweiten Stock herunter, und
da hat der Kopp gelitten,« verteidigte sich Scholz.
»Ach was, Kopp! Kopp ist nicht so schlimm!«
»Ich hab auch was für mich,« dachte Moritz
Cohn. »Ich bin der einzige Jude in der Schule,
und ganz können sie unsere Religion auch nicht
ausschließen. Wir müssen berücksichtigt werden!«
So zog der kleine Trupp dahin in Hoffen und
Bangen, und keiner der vielen reichen Leute, die
ihm begegneten, dachte daran, daß da sechs auszögen,
um vier Wochen grüne Waldjugend zu
suchen.
»Es gibt doch gute Leute,« meinte Scholz;
»Leute, die für so was das Geld geben. Es kostet
dreißig Mark pro Mann. Ein schweres Geld!«
»Oh,« sagte Moritz Cohn, »30 Mark for 'ne vierwöchige
Sommerfrische is immer noch 'n reeller
Preis!« ...
Sie kamen zum Arzt, wurden untersucht und
über vielerlei gefragt, und endlich fällte der
Mann mit der goldenen Brille den entscheidenden
Spruch:
»In die Ferienkolonie werden mitgenommen:
Gottlieb Scharfenberger und der Kleine da, der
Heinrich Menzel.«
Heinrich entfuhr ein kleiner Freudenschrei, und
der Arzt lächelte. Dann sagte er freundlich:
»Es tut mir ja leid, daß ich euch nicht alle sechs
schicken kann. Am liebsten schickte ich die ganze
Schule. Na, vielleicht kommt ihr anderen in
einem der nächsten Jahre dran. Jetzt könnt ihr
gehen.«
Draußen vor der Haustür sagte Moritz Cohn,
der nicht mit »ausgehoben« worden war: »Der
Mann is 'n Antisemit.«
Der Lahme aber fing in ohnmächtigem Zorn
an zu heulen.
* * * * *
Der Mond schien in die Stube, in der Heinrich
Menzel mit seinen Geschwistern schlief. So eng
die Klause -- und doch vor dem träumenden
Kinderauge die Welt so weit. Ein Waldtal stand
vor der jungen Seele, wie es phantastische Bilder
zeigen: himmelhohe Berge, ein klarblauer See,
eine Sägemühle am silbernen Bach, im Hintergrund
eine drohende finstere Burg.
»Du«, fragte ihn sein jüngerer Bruder, »ob es
da auch Wölfe und Löwen gibt?«
»Du bist dumm,« sagte Heinrich im Tone aufgeklärter
Leute, »Wölfe und Löwen gibt es nicht,
aber Hirsche in Menge und gewiß auch Räuber
und Wilddiebe.«
»Da würd' ich mich fürchten!« sagte der Kleine.
»Oh, ich fürchte mich gar nicht!« rief Heinrich
und setzte sich im Bette auf.
Er reckte seine dünnen, schwachen Ärmchen,
wie er an die Räuber und Wilddiebe dachte, die
es möglicherweise im Gebirge gab, und beschloß,
seine kleine braune Büchse mitzunehmen, die er
von dem reichen Hauswirtssohn bekommen hatte.
Die Büchse ging zwar nicht mehr los, weil die
Feder schon zerbrochen war, als er sie bekam,
aber gut würde es sich ausnehmen, wenn er sie
auf dem Rücken trüge. Die Hasen, Füchse und
Adler würden einen Schreck bekommen und
schleunigst die Flucht ergreifen, und das würde
ein Spaß sein. Augen würde er da machen --
oh! Wer sich nicht vor der Flinte fürchtete, sollte
vor den Augen ein Gruseln bekommen!
Und dann konnte er mit dem Munde so
täuschend einen Flintenschuß nachmachen, daß der
Erfolg gewiß nicht fehlen konnte. Und fischen
wollte er! Hechte fangen und Karpfen! Eine
Schnur für die Angel besaß er schon; einen
Stecken schnitt er sich aus dem Walde, und nur
der Angelhaken fehlte. Aber der würde sich wohl
finden; im schlimmsten Falle bog man eine Stecknadel
krumm. Da würden aber die Hechte was
zu zappeln haben! Blumen pflücken, Pilze
sammeln, nach dem Hexenhause im Walde
suchen und womöglich einen Räuber fangen
helfen! -- Oh!
Wieder reckte er die dünnen Ärmchen, und in
seiner Erregung sprang er aus dem Bett, öffnete
weit das Fenster und schaute hinaus.
Die goldenen Sterne funkelten in die Kinderaugen;
hinten am Horizont stand eine Wolke,
die sah aus wie ein zerklüftetes Bergland. Die
Firnen waren weiß vom Sternenlicht, und rundum
der Himmel war wie dunkelgrünes Wiesenland.
Ob dort drüben das liebe, gesegnete Land
der Waldfreiheit war?
* * * * *
Zwei Tage vor der Abreise in den Sommeraufenthalt
sagte der Lehrer in der Schule:
»Da also leider der kleine Heinrich Menzel an
schwerer Lungenentzündung erkrankt ist, wird
Moritz Cohn an seiner Statt in die Ferienkolonie
mitgenommen.«
Moritz Cohn bedankte sich und dachte im stillen:
»Man soll also nie eine Sache voreilig aufgeben;
's kann immer noch werden.«
Moritz war ein ganz guter Junge. Anfangs
beschloß er, Heinrich Menzel aufzusuchen; aber
dann dachte er:
»Was sollste sagen? Daß der's leid tut? Das
wird er nich glauben. Er wird bloß einen Gift
auf der haben. Wirst ihm eine Ansichtskarte schicken,
wenn se dort nich zu teuer sind.«
Im Fiebertraum war der kleine Heinrich immer
in den Bergen. Er ging auf die Jagd, fischte,
kämpfte mit Rittern und Räubern. Manchmal
lachte er zwischen dem Röcheln und Stöhnen
seiner Schmerzen selig auf.
Und einmal, als er einige Minuten unbewacht
war, sprang er aus dem Bett, öffnete das Fenster,
streckte die Arme aus und wollte hinaussteigen
und mitten durch die Luft ins grüne Land wandern.
Die Mutter erfaßte ihn noch, und es war
ein Wunder, daß kein Rückschlag der Krankheit
eintrat.
In der vierten Ferienwoche, als Heinrich schon
auf dem Wege der Genesung war, bekam er einen
Brief von Moritz Cohn:
Eulenhausen, den ...
Die Ansichtskarten sind hier schlecht und teuer.
Den Briefbogen hat der Wirt umsonst hergegeben,
und die 10 Pfennige auf die Marke kannst du mir
einmal wiedergeben, wenn du wirst Geld haben.
Lieber Heinrich, Räuber und Hechte gibt es
hier nicht. Es ist überhaupt nichts los, nichts wie
lauter Buschwerk, Kühe, Stallmägde und Heuwiesen.
Die anderen helfen auf dem Felde; ich
bin zur Erholung hier. Ein paarmal war ich
beim Kaufmann, welcher Krämer heißt. Es ist
ein jammervolles Geschäft. 3 Mark 50 Pfennig
Losung hat der Mann einmal auf den ganzen
Tag gehabt. Ich wundere mich, wo er den Kredit
hernimmt. Der Laden hat zwar eine gute Lage,
aber Eulenhausen ist überhaupt kein Geschäftsort.
Für Zucker nimmt der Mann bloß 2 Prozent,
und wieviel wiegt er ein!
Lieber Heinrich, da du so gern nach Eulenhausen
willst, so habe ich an meinen Vater geschrieben.
Wir werden's machen! Ich habe mit
dem Wirt gesprochen. 30 Mark bekommt er pro
Mann (da kommt er gut auf seine Rechnung).
Für dich wollte er auch 30 haben. Da habe ich
ihn ausgelacht: »Spaß,« habe ich gesagt, »30 Mark,
wo die Ferien vorbei sind, und es ist bloß die
lumpige Nachsaison.« 12 habe ich ihm geboten.
Er hat gelacht und hat noch hin- und hergeschmust,
und für 15 will er's machen. Der Lehrer hat
mich auch ein bißchen unterstützt. Aber mit der
Ferienkolonie ist das nun vorbei, die zahlt nicht.
Da macht's mein Vater. 15 Mark kostet es, mit
Reisespesen 18 Mark. Da hat sich der Vater mit
sechs anderen zusammengetan, von denen gibt
jeder einen Taler. Du kannst also, wenn du gesund
sein wirst, vier Wochen hierher kommen;
im September ist noch das schönste Wetter.
Es grüßt dich Dein Freund
Moritz Cohn.
Selig lächelnd lag Heinrich Menzel mit dem
Brief im Bette. Nun sollte er doch noch in sein
geliebtes Waldtal! Er sollte dann ganz allein
dort der Herr aller Berge sein ... Räuber und
Hechte gäb's nicht? Oh, Moritz hat sie bloß nicht
gesehen, hat den ganzen Tag beim Krämer gesteckt
und zugesehen, was der einnimmt.
Die große Freude trat als Wundertäterin an
Heinrichs Bett und machte ihn gesund.
»Ja,« sagte aber einmal Heinrichs Schwester
nachdenklich, »wenn es 18 Mark kostet und wenn
Moritz' Vater sich noch mit sechs anderen zusammengetan
hat, von denen jeder einen Taler
gibt, da hat er ja selber gar nichts gegeben!«
»Laß nur,« sagte Heinrich, »die Hauptsache ist:
er macht's. Die Hauptsache ist: ich kann in den
Wald!«



Gedeon.

Mein Onkel Eduard hatte zehn Kinder. Sein
linker Nachbar, der Krämer Franzke, hatte auch
zehn Kinder, und sein zweiter Nachbar, der Müller
Seiffert, hatte auch zehn Kinder.
Die befreundeten Familien standen natürlich
gegenseitig zu Paten. Im Winter brachten
Müller und Krämer meinem Onkel je zwei geputzte
Taler als Patengeschenk ins Haus; im
Sommer trug mein Onkel in Begleitung des
Krämers zwei Taler zum Müller, im Herbst in
Begleitung des Müllers zwei Taler zum Krämer.
So machten sich die Nachbarn gegenseitig »nobel«,
und des Bedankens und Verwunderns ob der
reichen Geschenke wollte immer gar kein Ende
werden.
Gott ließ regnen und seine Sonne leuchten
über all diese Gerechten. Die Kinder bekamen
prompt der Reihe nach Masern, Scharlach und
Diphtherie und wurden alle ebenso prompt
wieder gesund. Alle Jahre wurde ein neuer
Jungenanzug und ein neues Mädchenkleid für
die beiden Ältesten und Größten gekauft, während
sämtliche andere Garnituren um einen Jahrgang
nach unten rückten. So ist es kein Wunder, daß,
je kleiner die Kinder waren, desto unvorteilhafter
sie gekleidet erschienen und deshalb eifersüchtig
auf ihre Vorderleute Obacht gaben, ob sie ihnen
die nächstjährige Gewandung auch nicht allzu sehr
ruinierten.
Der ewig Neue, Strahlende, Moderne, Feine,
Ungeflickte aber war Gedeon, der Älteste, der
Kronprinz aus dem Hause meines Onkels. Eigentlich
hieß er nicht Gedeon sondern August, aber
er hatte sich den biblischen Heldennamen aus
eigener Machtvollkommenheit beigelegt, und es
hätte ihm den Titel niemand streitig zu machen
gewagt. Selbst Vater und Mutter und der alte
Kantor, ja sogar der Briefträger und der Gendarm
nannten ihn Gedeon.
Gedeon war unbestritten der Beherrscher sämtlicher
dreißig Kinder; der Älteste des Krämers
war ein schwächlicher Knabe, der für die Herrschaft
nicht in Betracht kam, und der Älteste vom
Müller war von Gedeon besiegt und unterworfen,
hörig gemacht worden.
Gedeon hatte eine so große Vorliebe für das
Alte Testament, daß er nicht nur sich selbst, sondern
auch jedem seiner Untertanen einen biblischen
Namen beilegte.
Bei den Knaben spielten die Namen der Brüder
Josephs und der kleinen Propheten eine
große Rolle. Schwieriger war die Benennung der
Mädchen. Eva, Rahel, Ruth, Sarah, Judith,
Mirjam, Lea, Rebekka, alles war schon vorhanden;
als daher des Müllers Jüngste, die im Kinderwagen
saß und in sanfter Unschuld an einer
Milchflasche sog, in das »Volk« aufgenommen
werden sollte, kraute sich Gedeon, der Namengeber,
verlegen hinter den Ohren und wußte keinen
alttestamentlichen Mädchennamen mehr. Schließlich
sagte er langsam: »Nun, vorläufig kann sie
heißen: die makkabäische Mutter.«
Darauf erteilte er dem Neuling mit seinem
hölzernen Schwerte den »Ritterschlag«, worauf die
makkabäische Mutter die Milchflasche weglegte und
erbärmlich zu schreien anfing.
* * * * *
In Ferientagen kam ich öfters in des Onkels
Haus zu Besuch. Mein Vater behauptete zwar in
einem schiefen Gleichnis, ich sei das elfte oder
gar das einundreißigste Rad am Wagen, aber
die Verwandten nahmen mich immer freundlich
auf, ohne sich sonst weiter darum zu kümmern,
was ich etwa äße oder tränke oder wo ich schliefe.
Es kam vor, daß ich schon zwei oder drei Tage
da war, ehe mich der Onkel bemerkte. Er hatte
mich im Gewühl übersehen.
Als ich das erste Mal auftauchte, musterte mich
Gedeon kritisch und unterzog mich einer Prüfung.
Ich mußte über einen ziemlich hochgehaltenen
Stock springen, was ich fertig brachte, dann befahl
er mir, ohne Leiter auf eine Linde zu kriechen,
was gänzlich mißlang. Auch die Aufgabe, der
Länge nach über einen beladenen Düngerwagen
wegzuspucken, erwies sich als zu schwer für mich.
Zuletzt sollte ich dem bösen Kettenhunde den
Saufnapf mit Wasser füllen, was ich eifrig ablehnte.
»Er kann nichts, und er hat Angst! Er ist ein
Muttersöhnchen!« sagte Gedeon verächtlich und
wandte mir den Rücken. Darauf wandten mir
auch alle anderen den Rücken. Ich war ein Dummkopf;
ich war ein Feigling. Ich hatte mich gesellschaftlich
unmöglich gemacht. Nur die makkabäische
Mutter nahm sich meiner ein wenig an,
indem sie mich ihren Breilöffel ablecken lassen
wollte.

Zwei Tage lang litt ich als Unzünftiger, dann beschloß
ich, durch eine Tat von außergewöhnlicher
Intelligenz meine Schneidigkeit darzutun. Einen
schlimmeren Schimpfnamen als »Muttersöhnchen«
gibt es für einen Jungen nicht. Am liebsten
hätte ich abgestritten, je eine Mutter gehabt zu
haben.
Nun hatte ich von Hause eine alte Schnupftabakdose
mitgebracht, die ließ ich beim Krämer
füllen. Im Kinderstaate ging alsbald die Mär
von Mund zu Mund: »Er schnupft!« Das hörte
auch der Autokrat Gedeon, und was ich gewollt
hatte, geschah -- er suchte mich auf. Ich probierte
gerade, auf einer starken Wagendeichsel auf einem
Beine zu stehen, und fiel auf die Erde, als ich
des Gewaltigen ansichtig wurde. Da lächelte er
wieder verächtlich und hüpfte einmal höhnisch
auf einem Beine die ganze Deichsel entlang,
setzte sich aber doch zuletzt zu mir auf die Erde.
»Was kannst du eigentlich?« fragte er kalt.
»Ich hab' in Geographie ›gut‹ und im Aufsatz
›genügend plus‹,« sagte ich beklommen.«
Ob dieser Schulweisheit machte er nur eine
maßlos verachtungsvolle Gebärde mit der Hand.
Ich sah ein, daß ich mich da wieder greulich
philisterhaft benommen hatte.
Darauf legte er mir eine Reihe von Fragen vor:
ob ich boxen, angeln, kopfstehen, radschlagen,
Sechsundsechzig spielen oder wenigstens mit den
Ohren wackeln könne.
Nein, ich konnte von alledem nichts.
Gedeon runzelte finster die Stirn. Nie war
ein Prüfungskandidat in ärgeren Nöten als ich.
Da platzte ich heraus:
»Ich kann schnupfen!«
Er sah mich etwas freundlicher an.
»Wenn man richtig schnupfen kann, darf man
nicht niesen hinterher,« sagte er.
»Nein, nein, das darf man nicht,« beeilte ich
mich beizupflichten.
»Zeig' mir die Dose!« befahl er dann. Ich
reichte ihm die Dose hin und bat ihn, eine Prise
zu nehmen. Das tat er, und darauf blickten wir
uns an. Ich sah, daß Gedeon feuerrot im Gesicht
wurde, daß seine Nase hundert Runzeln zog, die
Muskeln zuckten, sich die Lippen fest aufeinander
preßten, die Augen tränten, sich das Gesicht verzerrte,
die ganze Gestalt bebte, und dann -- nahm
ich eine Prise und platzte augenblicklich los und
nieste siebzehnmal.
Als ich wieder geradestehen und keuchend Luft
schöpfen konnte, stand Gedeon gelassen an die
Wagendeichsel gelehnt und sagte:
»Du kannst nicht schnupfen! Ich habe nicht ein
einziges Mal geniest!«
In diesem Augenblick fing ihm heftig an die
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