Die fünf Waldstädte: Ein Buch für Menschen, die jung sind - 4

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und hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen.
Er grüßte nicht und stellte sich dem erstaunten
und erschrockenen Müller ganz nahe gegenüber.
Und er tat seinen Mund auf und sprach ohne jede
weitere Einleitung:
»Müller! Müller! Gold ist Wind!«
Damit griff er dem Müller, der ganz verblüfft
dasaß, an die Nase, zog ihm eine Menge Dukaten
heraus und warf das blinkende Gold in die Luft,
wo es spurlos verschwand. Dann sprach der
Fremde weiter:
»Müller! Müller! Gold ist Wasser.«
Und er griff aus der Luft die Dukaten zurück,
ließ sie am Herdfeuer auf seiner flachen Hand
glänzen und steckte sie darauf in den Mund, worauf
er einen Strahl Wasser auf den Fußboden
spuckte, lachte und weitersprach:
»Wenn nun Gold Wind und Wasser ist, müssen
alle Wind- und Wassermüller im Lande reich
werden.«
Dem Müller standen die Haare zu Berge, und
er vermochte es nicht, ein Wörtlein zu sagen.
Der Fremde aber sagte:
»Auch in der Erde liegt Gold.« Er bückte sich
darauf nach dem schwarzen Estrich der ungedielten
Stube und hob da viele Getreidekörner auf, die
zuvor dort nicht gelegen hatten. Er zeigte dem
Müller die Körnlein, und sie wurden zu Goldmünzen.
»Wenn nun,« sprach der Fremde mit ernster
Stimme, »Wasser und Wind und Erde Gold sind,
warum hängst du so sehr am geprägten Golde?
Wisse, es ist nicht gleich, ob du sagst: ›Wind ist
Gold‹ oder ob du sagst: ›Gold ist Wind.‹ Es ist
ganz etwas anderes, es ist das Entgegengesetzte.
Verstehst du das?«
Der Müller schüttelte den Kopf; in diesem
Augenblick hätte er überhaupt nichts verstanden.

Der Fremdling nahm nun den Hut ab und
strich sich durch die Haare. Da zischten und blitzten
Flammen daraus; auch begann die Nase des unheimlichen
Gastes in grellem Lichte zu leuchten.
Zwei große Augen richteten sich auf den zitternden
Müller, und der Fremde sprach:
»Den wahren Schatz hast du verschleudert; den
Mann, der dir aus Wind und Wasser und Erde
Gold gemacht hätte, hast du verjagt, und als ihn
dir die höheren Mächte zurückbrachten, hast du
ihn einem abscheulich verrohten Kerkermeister
übergeben. Wenn du ihn nicht freimachst und ihn
nicht deiner Trudel vermählst, so wird all dein
Hab und Gut zerrinnen, so bist du über Jahr und
Tag ein Bettler. Bedenke das wohl. Ich sage
es, ich, der große Zauberer Kiutschitsufilutschi.«
Und der Zauberer griff mit der rechten Hand
eine kleine Trommel, mit der linken einen
Schläger aus der Luft, schlug einen kurzen,
dumpfen Wirbel, öffnete seinen Mund und spie
Rauch und Flammen aus, warf Trommel und
Schläger durchs geschlossene Fenster hinaus, nahm
eine große Wurst vom Tisch, die sich zusehends in
eine Schlange verwandelte und ihm in den Halskragen
kroch, verwandelte ein Stück Speck, das
dalag, in eine Maus, die in seine Rocktasche
schlüpfte, und verschwand knarrend durch die Tür.
Den Müller schwitzte und fror in dem gleichen
Augenblick. Lange saß er fassungslos da, dann
schrie er um Hilfe. Das Trudelchen kam gesprungen
und war außer sich vor freudigem Schreck,
als ihr der Vater keuchend sagte:
»Trudelchen, zieh dir eine Jacke an; wir müssen
augenblicklich den Reinhard aufsuchen, und du
mußt ihn heiraten! Es ist etwas Schreckliches
geschehen: du mußt jetzt den Reinhard heiraten,
oder ich werde ein Bettler.«
O, wie flink hatte das Trudelchen die Jacke an
und das Tuch über den Kopf gebunden! Die
beiden machten sich nun auf und gingen zu Herrn
Schleifle, der eben vor der Tür seines Bahnwärterhauses
damit beschäftigt war, sich mittels
eines Steines auf der Schiene Haselnüsse aufzuklopfen.
Er hielt in seiner Arbeit inne und sah die beiden
erwartungsvoll an.
»Schleifle,« sprach der Müller, und man hörte
ihm an, daß ihm das Reden schwer wurde,
»Schleifle, du bist ein Mann der Gerichtsbarkeit.
Du hast den Reinhard eingesperrt und mußt nun
sehen, daß du ihn wieder herausbekommst, denn
mein Trudelchen muß ihn heiraten.«
Herr Schleifle war sehr erstaunt, und indem er
einige Haselnußschalen von der Schiene putzte,
dachte er bei sich: Ei, ei, seht an, das Mädel hat
den Alten herumgekriegt; nun soll es ihn aber
auch was kosten! Er schob also seine Amtsmütze
aufs linke Ohr und sagte:
»Reinbringen ist leicht; rauskriegen ist schwer!
Reinhard sitzt da drin im Namen des Gesetzes;
ich kann ihn nicht begnadigen.«
Der Müller griff in die Hosentasche und ließ
von ungefähr einen blanken Taler sehen, aber
Schleifle, der schnell im stillen ausrechnete, drei
Taler seien mehr als einer, meinte:
»Die Obrigkeit sieht nicht aufs Geld. Reinhard
ist nun einmal ein Räuber und muß dafür
brummen.«
In diesem Augenblick kam ein Zug angesaust.
Herr Schleifle, der dieses Ereignis nicht vermutet
hatte, sprang beiseite und stand stramm,
in der einen Hand den Stein, in der anderen die
Haselnußtüte. Auch als der Zug fort war, blieb
Herr Schleifle fest und meinte, die Geschichte mit
Reinhard sei ein schwerer juristischer Fall und
er könne da vorläufig nichts tun.
Mit diesem Bescheid mußten sich die beiden
begnügen, und der Müller ging verdrossen mit
dem weinenden Trudelchen heim. Was sollte nun
werden? Der unheimliche Fremde, der so unerhörten
Zauber ausüben konnte, hatte gedroht,
der Müller würde zum Bettler werden, wenn der
Reinhard die Trudel nicht heiratete. Und Schleifle
war als Beamter wie von Stahl und Eisen. Was
sollte nun werden?!
Eine schwermütige Nacht brach an. Das Trudelchen
war schluchzend nach seiner Schlafkammer
gegangen; der Müller saß allein und hörte den
Nachtwächter die zehnte Stunde tuten. Die Zukunft
lag erschreckend und trostlos vor ihm. Wie
der Fremdling Trommel und Schlägel durchs
geschlossene Fenster geschleudert hatte, so würde
all Müllers Geld und Gut auf die Gasse fliegen,
er mochte es verschließen und bewachen, wie er
wollte. Und wie sich Müllers schöne Wurst und
sein saftiges Stück Speck in eine Schlange und eine
Maus verwandelt hatten, so würde all seine Habe
der Geier holen. Wer kam gegen Zauber an?
Wie nun der Ärmste noch in so schweren Gedanken
dasaß, hörte er plötzlich vom Garten her
wieder das silberhelle Klingen des Glöckleins.
Mit drei Sätzen war der Müller im Hof, ergriff
den Spaten und eilte nach dem Garten. O, wenn
der Reinhard wieder unter dem Baume in der
Erde steckte, welch ein Glück!
Der Müller stieß den Spaten in den Rasen,
hob die Schollen ab, grub, grub um den ganzen
Baum herum, und fand schließlich ein Kästlein,
das zwar nicht ganz klein war, aber sich doch bequem
in den Händen tragen ließ.
Wie betäubt stand der Müller mit dem Kasten
da, stand wohl länger als fünf Minuten still,
ehe er die Kraft fand, mit dem Schatz nach der
Stube zu gehen.
Dort öffnete er den Kasten und stieß einen
jubelnden Schrei aus.
Gold! Gold! Gold! Pures, eitles, blinkendes
Gold! Flimmernde Stücke ohne Zahl! Der
Müller schloß die Augen, nahm drei, nahm zehn
Münzen, nahm beide Hände voll und lachte und
schluchzte und verschluckte sich und bekam einen
Krampfhusten vor lauter Freude.
Zehnmal wühlte er die Hände in den goldenen
Segen. Das war ein Reichtum ohne Maß. Auch
Diamanten, Rubinen und schimmernde Smaragdsteine
waren unter den Münzen, und manch einer
von den Edelsteinen war so groß wie ein Taubenei.
Der Müller brach in Tränen aus. Er war
reich, reich wie kein Mensch der Welt, reicher als
der Kaiser, reicher als der Sultan, reicher selbst
als Herr von Pritzewitz, der drei Rittergüter besaß!
Nun war alles gut und herrlich, nun konnte
sich sein Trudelchen goldene Schuhe und silberne
Schürzen kaufen, und jeder Jackenknopf sollte
ein Demant sein. Und den Reinhard wollte er
loskaufen, den Reinhard --
Hm! Halt! Halt! Hm! Vorsicht! Immer sachte!
Man brauchte nichts zu voreilig zu tun, man
konnte es sich überlegen. Wer war er jetzt, der
Müller, wer war die Trudel, und wer war der
arme Reinhard? Unerhört wäre es, wenn ein
Müllerbursch eine Prinzessin heiratete, die die
Erbin solcher Güter war, die einen Fürsten oder
gar einen Offizier bekommen könnte. Müller
übereil' dich nicht! Wenn das Mädel das hier
sieht, diese Pracht, diesen märchenhaften Reichtum,
dann wird sie schon von selbst vernünftig werden.
Der Zauberer? Der Zauberer mit seiner Prophezeiung?
Wo ist seine Prophezeiung? Wenn
er der Teufel gewesen ist, muß er ein sehr dummer
Teufel gewesen sein. Ist das der Rückgang von
Müllers Wohlstand? Kann soviel Geld und
Reichtum überhaupt je zu Ende gehen? Unsinn!
Müller, sei fest, jetzt kann dir kein böser Geist mehr
was anhaben. Halloh, nun mußte noch alles
anders, ganz anders kommen, mußte so kommen,
wie es der Müller wünschte. -- --
Es klopfte ans Fenster. Der Müller erschrak
und schloß den Kasten. Draußen an den Scheiben
wurde das rote, umfangreiche Riechorgan Herrn
Schleifles sichtbar. Der Müller ging in den Hof
hinaus.
»Was willst du?«
Herr Schleifle machte eine hoheitsvolle Amtsmiene.
»Müller,« sagte er, »ich hab mir's überlegt und
die Gesetzbücher nachgeschlagen. Ich könnte den
Reinhard doch vielleicht freikriegen. Aber es ist
ein schwieriger Fall. Und Spesen wird's machen,
viel Spesen.«
Der Müller sah Herrn Schleifle hochmütig an.
»Ich brauch' dich nicht mehr, Schleifle. Es ist
anders gekommen. Meinetwegen kann nun der
Reinhard solange im Gefängnis sitzen, wie ihm und
den Herren Richtern beliebt. Nicht einen Pfennig
gebe ich für ihn her.«
Damit schlug er dem verdutzten Gerichtsmann
die Tür vor der Nase zu und ging nach der Stube
zurück. Dort wartete er, bis er sich völlig unbeobachtet
wußte, und öffnete dann wieder sein
Schatzkästlein.
Da starrten seine Augen -- -- da stieß er einen
Schrei aus, der durch die ganze Mühle gellte, und
fiel schwer zu Boden. -- -- --
Das Trudelchen fand ihren Vater vor einem
geöffneten Kästlein, in dem nichts war als ein
paar Scherben, ein paar Kieselsteine, ein Bündelchen
dürres Gras und ein Häufchen Asche.
* * * * *
Vierzehn Tage lang lag der Müller krank, dann
stand er auf, tat Geld in seinen Beutel und
wanderte nach dem Amtsgericht. Dort fragte er
nach Reinhard. Er hörte, daß Reinhard und Jakoble
inzwischen nach der Stadt hineingeschafft und dort
von dem Gericht freigegeben worden wären, da
keine Schuld an ihnen gefunden worden sei.
Der Müller wanderte nach der Stadt und fragte
nach Reinhard und Jakoble. Sie waren auf und
davon; niemand wußte wohin.
Da ging der Müller aus der Stadt hinaus,
setzte sich auf einen Wiesenrain und schluchzte zum
Steinerbarmen. Nun wußte er, daß sein Glück
dahin war, wußte, wie grausam sich die Prophezeiung
des fremden Zauberers erfüllen
würde. Eine ingrimmige Reue erfaßte den
Müller. Wie hatte er sein Glück verscherzt! Nun
mußte er ein Bettler werden, wenn er Reinhard
nicht fand und nicht Schuld und Strafe von sich
und seiner Mühle abwandte. Suchen mußte er
den Reinhard, suchen, und wenn ihm die Füße
bluteten.
* * * * *
Jahrelang wanderte der Müller durchs ganze
Land. In allen Herbergen, auf allen Straßen
fragte er nach Reinhard und Jakoble. Er fand sie
nicht. Oft glaubte er, eine Spur zu haben, doch
er verlor sie immer bald wieder. Oft auch beschloß
er heimzukehren; aber er fürchtete sich. Vielleicht
war inzwischen seine Mühle abgebrannt, seine
Trudel gestorben; vielleicht war auch sein Besitztum
verpfändet und sein Kind davongetrieben
worden in die weite Welt. Das hätte er nicht
ertragen; viel lieber wollte er suchend durch die
ganze Welt irren, um am Ende doch noch, wenn
er seine Schuld gesühnt hatte, Reinhard zu finden
und für sich und sein Kind das Glück zurückzugewinnen.
So wurde der Müller wirklich ein Bettler.
* * * * *
Nach Jahren, als seine Haare und sein Bart
lang und grau geworden waren, kam er in eine
Stadt und setzte sich müde auf eine Bank, die
unter einer großen Linde war. Ihm gegenüber
war ein schmuckes, ansehnliches Haus, davor hing
ein blinkendes Becken, wie es die Barbiere als
Aushängeschild haben. Über der Tür stand:
Heinrich Bimske, Frisier- und Rasiersalon. Im
Fenster, an der Tür und an den Wänden waren
große Plakate, darauf stand in fetten Lettern zu
lesen: »Bimskes Universalsalbe!« »Bimskes unfehlbares
Haarwasser!« »Bimskes wohlriechende
Mundpastillen!« »Bimskes weltbekanntes Zahnschmerzmittel!«
Und so waren noch viele Schilder
und eines in roten Buchstaben lautete: »Alles
eigene Erfindung«! Auch wurden »Wahrsagen«,
»Hühneraugentod« und eine wunderbare
»Wünschelrute« angezeigt.
Nach einiger Zeit trat ein gelenkes Männlein
aus dem Laden, kam auf den Müller zu und sagte:
»He, Herr Nachbar, Ihr seid wohl hier fremd?
Wollt Ihr Euch vielleicht Kopf- und Barthaar
scheren, Schröpfköpfe setzen oder wahrsagen lassen?
Alles schmerzlos und konkurrenzlos billig! Erste
Firma am Platz.«
Der Müller schüttelte den Kopf; aber dann
fragte er schüchtern, was wohl das Wahrsagen
koste.
»Von 25 Pfennig an aufwärts!« erwiderte das
Männlein flink; »kommt ganz auf die Qualität
an, mein Lieber. Aber da ich sehe, Ihr wollt nicht
viel ausgeben, und da jetzt gerade stille Geschäftszeit
ist, kommt nur mit! Fünfzehn Pfennig wird
Euch für einen klaren Blick in die Zukunft nicht
zu viel sein.«
Der Müller kramte in seinen Taschen, brachte
fünfzehn Pfennige Kupfergeld zusammen und
ging mit dem Barbier in eine Stube, wo es recht
kunterbunt aussah von allerhand geheimnisvollen
Dingen, als da sind: Totenköpfe, Eulen, Phiolen,
und Siedekessel, seltsame Waffen, Urnen, alte
Bücher. Vor allem aber fiel dem Müller ein
Kästchen auf, das auf das Haar jenem Kästchen
ähnlich war, das er einst unter dem Apfelbaum
daheim ausgegraben und das ihm erst so viel
Glück und dann so viel Kummer und Herzeleid
gebracht hatte.
»Was möchtet Ihr nun wissen?« fragte der
Wahrsager.
Der Müller seufzte und erzählte seine ganze
Geschichte, vor allem, wie er nun seit Jahren Land
aus, Land ein den Reinhard suche, der ihm allein
sein Glück und seine Ruhe wiedergeben könne.
Während dieser Erzählung rückte der Wahrsager
unruhig hin und her, kratzte sich auf dem
Kopf und wurde abwechselnd blaß und rot. Als
der Müller geendet hatte, wandte sich der Barbier
ab und sagte:
»Ja -- hem -- das tut mir leid -- ja hem --
das hätte ich nicht gedacht -- nicht -- nicht gewollt
und ich -- ich -- nun wartet, da muß Euch ein
stärkerer Geist helfen, als ich bin.«
Ein Viertelstündchen verging, dann trat Kiutschitsufilutschi
ins Zimmer. Der Müller stieß
einen Schrei aus; aber der Zauberer beruhigte
ihn und sprach: »Ich komme als dein Freund!
Deine Schuld ist gesühnt; ziehe nach Hause, du
wirst wieder glücklich werden.«
Darauf legte er eine Schlange auf den Tisch;
sie verwandelte sich in eine Wurst. Er ließ eine
Maus aus dem Ärmel krabbeln; sie verwandelte
sich in ein Stück Speck.
»Das nehmt,« sagte der Zauberer; »ich glaube,
ich blieb es Euch schuldig. Und dann nehmt noch
diese drei Taler, setzt Euch auf die Eisenbahn und
fahrt heim!«
* * * * *
Und der Müller fuhr wirklich nach Hause. Als
er seiner Mühle ansichtig wurde, überfiel ihn
heftiges Zittern aus Angst und Sorge, wie er da
alles antreffen werde.
Plötzlich sah er das Jakoble. Es ging eben mit
einer Sense aufs Feld.
»Jakoble! Jakoble!« schrie der Müller; »sag,
bist du's? Sag, wo ist der Reinhard?«
Das Jakoble erschrak, erkannte den Müller und
wollte Reißaus nehmen. Erst auf die klagenden
Zurufe des alten Mannes kam er näher.
»Jakoble, sag mir, wo ist Reinhard? Sag mir,
was ist aus meiner Trudel und meiner Mühle
geworden?«
Da duckte sich Jakoble und sagte:
»Meister, gebt Ihr mir keine Ohrfeige?«
»Nie mehr!« sagte der Müller. »Nie mehr,
liebes Jakoble.«
»So will ich Euch sagen: die beiden sind längst
verheiratet, und es geht ihnen gut.«
»Sie sind -- sind verheiratet?«
»Ja! Ihr, Meister, seid den Weg nordwärts
gegangen und habt uns nicht gefunden; aber die
Trudel ist südwärts gegangen, und da saßen wir
beide, als wir aus dem Gefängnis heraus waren,
ganz nahe bei der Mühle. Und da haben sie sich
halt geheiratet. Und zwei Kinder haben sie, und
Geld haben sie auch.«
»So, so,« nickte der Müller. »Es ist gut. Nun
wollen wir heimgehen.«
Sie gingen. Unterwegs blitzte dem Müller
durch den Kopf, da alles gut gehe, müsse er sehen,
daß er nun das Heft wieder in die Hand bekomme.
Man könne ja nicht wissen, ob das Glöcklein auf
dem Baume am Ende doch nicht noch einmal
läute.
Drei Tage später bekam Jakoble wieder die
erste Ohrfeige.


Der angebundene Kirchturm.

Der Kirchturm von Waldauendorf war schlechter
Laune. Er hatte auch Ursache dazu. Was meint
man, was einem alten, ehrwürdigen Kirchturm
alles passieren kann? Angebunden hatten sie
ihn wie einen Hund! Da waren solche schnippische
Kerle aus der Stadt gekommen, hatten
eine endlos lange eiserne Schnur hinter sich hergeschleppt,
sie an Bäumen und Masten befestigt
und schließlich auch den Kirchturm daran gebunden.
Also so etwas soll sich ein alter, ehrwürdiger Herr
heutigen Tags gefallen lassen! Der Turm guckte
mit seinen großen Augen, die als Wimper eine
schöne Jalousie hatten, zornig auf die städtischen
Knirpse, die einen mächtigen Haken in seine
Seite schlugen und ein Porzellanhütchen daraufsetzten.
Nun tut ja einem Kirchturm ein eingeschlagener
Haken nicht mehr weh, als wenn andere
Leute sich mit einer Stecknadel pieken. Auch das
Porzellanhütchen hätte man sich gefallen lassen
können wie einen schmucken Westenknopf.
Aber die Schnur! Daß er angebunden wurde,
das ging gegen seine Ehre!
Der alte Herr, der als braver Kirchturm sonst
sehr christlicher Gesinnung war, hatte plötzlich einen
feindseligen Gedanken. Er lugte nach dem Waldrand
hinüber und wünschte, die Schweden möchten
kommen und die Frechlinge, die unten auf
der Leiter hämmerten und bastelten, mit ihren
Kanonen herunterschießen. Der Kirchturm kannte
die Schweden. Erst neulich waren sie dagewesen;
es konnte höchstens zwei- oder dreihundert Jahre
her sein. Da hatten sie das Dorf beschossen, und
auch dem Kirchturm steckten noch ein paar Kanonenkugeln
in den Gliedern, wie einem Bauern,
der zur Treibjagd war, die Schrotkörner.
Damals hat der Turm die Schweden als die
Feinde seiner Gemeinde gehaßt und ein halb
zorniges, halb jubelndes Glockenlied gesungen,
als sie endlich abziehen mußten. Aber jetzt
wünschte er sie sich her. Die würden schon die
bösen Buben, die ihn an die Leine legen wollten,
vertreiben. Beim ersten Schuß würden sie ausrücken.
Natürlich, wie's so ist: braucht man einmal
Schweden, sind sie nicht da. Die Männlein vollendeten
ihr Werk und zogen mit einer anderen
Schnur weiter durchs Dorf und in den Wald hinein.
Der Kirchturm war nach zwei Seiten hin
angebunden.

O Schmach! Was nutzte es ihm nun, daß er
seit zehn Jahren einen sehr feinen hellgrauen
Anzug besaß; was nutzte es, daß ihm der Herr
Pfarrer neulich einen ganz neuen roten Hut versprochen;
ja, was nutzte ihm sogar sein größter
Stolz: daß er vor zwanzig Jahren eine richtig
gehende Taschenuhr bekommen hatte? Die alte
Sonnenuhr, die er einige hundert Jahre getragen,
war schließlich etwas eingestaubt gewesen, und
man hatte ihm eine Uhr mit richtigen Ziffern und
Rädern gekauft. Da hatte er in seinem Stolz und
seiner Freude den ganzen Tag darauf geschielt,
wie spät es sei. Schöne Zeit war das!
Jetzt war alles dahin: sein Schmuck, seine Ehre,
seine frohe Laune. Er war angebunden! -- -- --
Der Abend kam. Durch die Mauerluke des
Turmes ging der Wind wie schluchzendes Atmen,
und ein paar kalte Tropfen rannen über seine
großen Augen.
Was hatte er seiner Gemeinde getan, daß sie
ihm diese Schmach widerfahren ließ? Hatte er
nicht freudig sein Lied gesungen zu ihren Festen?
Hatte er nicht sein tröstendes Sprüchlein gesagt,
wenn eine Seele am Scheiden war; hatte er
nicht in wilden Sturmnächten, wie in den
Blütenstunden des Mai Wache gestanden an
ihren Gräbern; hatte er nicht als erster jedem
Heimkehrenden, der aus der Fremde kam, einen
Willkommensgruß zugewinkt? Und sein golden
Kreuzlein hatte er über Hof und Haus, Feld
und Wald gestreckt, wie einen immerwährenden
Segen. -- -- --
Ein paar Tage vergingen. Wieder war es
Abend.
Die Schulmagd kam, die Glocke zu läuten. Der
Turm tat seine Pflicht: er sang seinen Abendsegen.
Aber in seiner Stimme war ein Klang
von Trauer und Herzeleid. --
Unten knarrte das Kirchhoftürchen.
Die junge Frau Annemarie kam. Sie ging
schnell und aufgeregt. Ihre Blicke irrten über
den Kirchhof. Und sie fiel vor dem großen Kreuz
auf die Knie, das unter der Linde stand.
»Erbarm dich, Herr, erbarm dich! Laß mein
Kind nicht sterben! Laß mein Kind nicht sterben!«
Sie wiederholte schluchzend immer dieselben
Worte.
Der Kirchturm wußte Bescheid. In ein paar
Tagen mußten seine Glocken klingen über einem
kleinen Grab, und in sein Läuten würde sich
lautes Mutterweinen mischen und der Gesang:
»In der Blüte deiner Jahre ...«
Der Turm kannte das. Es war das alte Lied
seit vielen, vielen hundert Jahren. Mütter weinen
an den Gräbern am schmerzlichsten.
»Erbarm dich, Herr, laß mein Kind nicht
sterben!«
Wieder ging die Kirchhofstür. Der alte Herr
Kantor kam. Er war wohl der Annemarie nachgegangen.
»Der Arzt muß kommen!« sagte er zu ihr.
Sie blickte ihn an wie irr.
»Der Arzt? Ehe ein Bote in die Stadt kommt
und den Arzt holt, ehe der Arzt kommt und das
Kind untersucht, ehe er wieder nach der Stadt
zurück ist und von dort die Medizin schickt, ist das
Kind tot -- ist es tot!«
Da sprach der Kantor etwas, was der Turm
durchaus nicht verstand; er sagte:
»Ich werde dem Arzt telephonieren!«
Und er zog die weinende Annemarie mit sich
fort. -- -- --
Was wird er dem Arzt? Telephonieren? Was
war das? Es ist wahr, das Gehirn des Kirchturms
war schon ein bißchen morsch, und er mußte
sich Mühe geben, Neues zu begreifen. Dafür war
sein Herz gut und darum sein Gefühl unendlich
fein geblieben.
O, was war das für ein wundersamer Abend!
Der Kirchturm, der mit allen Sinnen spähend stillstand,
hörte plötzlich die Stimme seines alten Kantors.
Er schielte nach unten, nach dem Kirchhof,
nach der Dorfstraße: der Kantor war nicht zu
sehen. Seine Stimme klang etwas verschleiert,
aber sie war doch deutlich genug, daß der Turm
alles verstand. Das heißt, er verstand die Worte,
der Sinn aber erschien ihm gänzlich konfus.
Also, der Kantor, der doch im Waldauendorfe
war, sprach mit dem Arzt, der in der Stadt war;
der Kantor erklärte den Zustand von Annemaries
Kinde, und der Doktor sagte: jawohl, das sei
Diphtherie, er werde sofort kommen und das
Kind impfen, da werde es wohl wieder gesund
werden.
So verdutzt war der Kirchturm noch nie gewesen
in seinem langen Leben, und als eine
Stunde später eine Fuhre mit dem Doktor wirklich
durchs Dorf fuhr, bekam er Atembeschwerden
und Herzbeklemmung.
Ehe der Arzt zurückfuhr, begleitete ihn der
Kantor ein Stück die Dorfstraße hinunter, und der
Turm hörte, was die beiden sprachen, als sie vorbeigingen:
»Es ist doch gut, daß Sie jetzt die elektrische
Leitung haben,« sagte der Arzt; »bei dem Kinde
war keine Zeit zu verlieren.«
»Ja,« sagte der Kantor, »in meinen jungen
Jahren hätte ich es nicht für möglich gehalten, daß
man einmal einen Draht an meinen alten Kirchturm
befestigen und daß ich durch diesen Draht
über Berg und Tal sprechen können würde. Eine
neue Zeit!«
»Keine schlechte Zeit!« sagte der Arzt.
Die Männer trennten sich; der Kirchturm
schnappte nach Luft. Also die Schnur, an die er
gebunden war, war ein Draht, und durch diesen
Draht konnte man bis in die Stadt sprechen!
Der Turm dachte nach, daß ihm die Balken
seines Gehirns knackten -- aber er kriegte nicht
zusammen, wie das alles möglich sein könne.
Da faßte ihn tiefe Betrübnis. Er holte schwer
Atem und sprach zu sich selbst:
»Wenn ich schon meine Gemeinde nicht mehr
verstehe, wünschte ich, ich wäre tot. Vielleicht
kommen die Schweden und erschießen mich, oder
die Leute reißen mich weg und bauen einen
neuen und klügeren Turm!«
So stand er traurig die ganze Nacht. Am
nächsten Morgen aber hörte er aus dem Draht
heraus die Stimme des Herrn Pfarrers. Der
sprach mit einem Dachdeckermeister in der Stadt
und bestellte tatsächlich den neuen roten Hut für
den Turm.
»Wir müssen den alten Herrn schon etwas heraus
putzen,« sagte der Pfarrer, »denn er ist ja im
Nebenamt jetzt sogar Telephonbeamter geworden.«
Telephonbeamter! Da habt ihr's! Da ist man
ein großes Tier und weiß es gar nicht, da ist man
ein Beamter und hat keine blasse Ahnung von
seinem Beruf! Aber das sollte jetzt anders werden!
Telephonieren wollte der Turm, was das
Zeug hielt.
Die gute Laune war plötzlich in goldenstem
Maße wieder da. Der Turm sah nach seiner
Taschenuhr. 9 Uhr! Wenn es der Dachdecker
ebenso eilig hatte wie gestern der Doktor, konnte
die Sache mit dem roten Hut also um 10 Uhr
losgehen.
So schnell ging's nun nicht. Aber der Turm
war immerfort in großem Glücksgefühl; er wußte,
daß er nach wie vor seiner Gemeinde diente.
So mußte wohl auch auf den neuen Wegen der
alte Gott regieren. Und hoch hob der Turm sein
golden Kreuzlein über seine Gemeinde.


Ein Abenteuer auf der Themse.
Von meinem Freunde erzählt, dem die Geschichte
passiert ist.

»Weißt Du, was die ~Oxford-Cambridge Boat
Race~ ist? Nichts Genaues? Also eine Ruderwettfahrt
in Achtern zwischen den Studenten der Universität
Cambridge und Studenten von Oxford.
Eine alte Sache. Schon seit 1829 im Schwange.
Die Cambridger sind die Hellblauen und die
Oxforder die Dunkelblauen. Natürlich wettet die
Hälfte von London auf Hellblau, die andere
Hälfte auf Dunkelblau. Die Damen tragen
dunkel- oder hellblaue Toiletten, Hüte, Schleifen
(natürlich die Farbe, die sie am besten kleidet);
Herren tragen hell- oder dunkelblaue Krawatten,
Kinder hell- oder dunkelblaue Fähnchen,
die Droschkenkutscher hell- oder dunkelblaue Bänder
an den Peitschen. Ein Volksfest, ein Rummel!
Ganz London auf der Themse oder wenigstens
an der Themse.
Also, ich stand damals mit einem großen Sportblatt
in Verbindung, war reiselustig und fuhr
extra von Berlin nach London, um an der ~Oxford-Cambridge
Boat Race~ teilzunehmen und meinem
Blatt Bericht zu erstatten. Ich wußte, daß der
Statt der Studenten bei Putney, zwei Stunden
oberhalb Londons, stattfand und hatte nach mancherlei
Mühe einen Platz auf dem Pressedampfer
bekommen, von dem aus das Schauspiel am besten
zu beobachten war.
In London treffe ich einige Bekannte und mache
mit ihnen eine lange Nacht. Als ich um fünf
früh ins Hotel kam, fühlte ich mich ruhebedürftig
und schlafe und schlafe und schlafe richtig bis dreiviertel
zehn Uhr.
Punkt 10 Uhr aber fuhr der Pressedampfer vom
Londoner Kai aus hinaus nach Putney. Ich
erschrak. Heraus aus dem Bett und die Unterhose
verkehrt anziehen war eins. Donnerwetter!
Donnerwetter! So ein Lumpenkerl -- ich! Extra
nach London gekommen, und nun -- wo sind
die Strümpfe? -- Wenn bloß der Kragen nicht
so blödsinnig eng -- Waschen? Verrücktheit! Ich
wasche mich andermal wieder -- Himmel, da ist
ja mein linker Schuh am rechten -- Portier!
Portier! ~Waiter! Waiter!~ Einen Wagen! Ein
~cab~! Sofort!
Ich flog die drei Treppen hinab und stieß mir
sechs Beulen, auf jeder Treppe zwei, saß im
Wagen, versprach dem Kutscher eine königliche
Belohnung. Der Kerl hatte hellblaue Peitschenschnüre,
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