Die fünf Waldstädte: Ein Buch für Menschen, die jung sind - 2

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Am späten Nachmittag holten wir aus dem
Handwerkskasten einen Hammer und einen starken
Nagel heraus und verbargen beides unter dem
welken, abgefallenen Laub eines Kastanienbaumes.

Als die ersten Lichter angezündet wurden,
schauten wir uns starr in die Augen. Unter
Heinrichs Wimpern blitzte eine Träne. Aber ich
-- ich hätte für schöne Geschichten mein Leben
hingegeben und faßte ihn an der Hand.
»Soll ich allein gehen?« fragte ich.
»Nein, ich lass' dich nicht allein gehen,« sagte er.
Er war immer ein treuer Freund. Er borgte
mir sogar seine Flinte.
So schlichen wir uns aus dem Hof hinaus und
gingen über die Felder. Der Wind jagte grauweiße
Wolkenfetzen über den Himmel, und es
regnete sacht. Wir kamen nach Ameisenfeld. Die
ganze Stadt schlief. Wir gingen an der Wotanseiche
vorbei. Sie stöhnte leise im Winde. Durch
die Brombeerhecken brachen wir. Heinrich trug
den Hammer; ich hatte den Nagel in der Hand
wie einen spitzen Dolch. Manchmal war es mir,
als ob er glühend heiß sei.
Wir sprachen beide kein Wort, denn das hatte
uns der Förster eingeschärft. Aber das Schweigen
machte unsere Herzen noch beklommener.
Nun tauchte der Geistergrund auf. Die niederen
Erlen und Weiden zogen sich am schwarzen
Graben entlang, eine hohe Ulme ragte über sie
hinweg. Unter ihr sollten der Pilz und die
Schlange gesehen worden sein. Und links von ihr,
ein Stückchen vom Bachrande weg, war die
Judasweide.
Ich schloß die Augen. Wie ein Wirbel war es
in meinem Kopf. Rote Ringe sah ich tanzen, ein
brennendes Dorf sah ich, durch das auf schwarzem
Roß der tolle Müller ritt. Dicker Schweiß rann
mir unterm Hut hervor. Aber vorwärts ging es,
immer vorwärts, zuletzt im Trab. Fest hielt ich
den Nagel in der Hand. Heinrich strauchelte und
fiel hin. Der Hammer entglitt ihm. Er hob ihn
auf und packte mich fest am Arm. Unsere Herzen
schlugen in rasender Schnelligkeit. Wir gingen
immer noch vorwärts.
Da -- erst sah ich's -- dann sah's Heinrich --
dann fielen wir auf die Knie --
Aus dem Erlengebüsch trat eine weiße Frau.
Die Frau aus dem Moor -- die Frau, die ihr
Kleid wäscht --
Wir schrieen laut um Hilfe.
* * * * *
Es war nicht die Frau aus dem Moor. Es
war Heinrichs Mutter. Es war unsere Fee.
»Was wolltet ihr machen?« fragte sie freundlich.
Da gestanden wir alles.
Sie zürnte uns nicht; sie strich uns beiden über
die Köpfe.
»Nun, habt keine Angst; es passiert euch nichts,
ich bin ja bei euch!«
Ja, nun wußten wir: es konnte uns nichts
passieren, da sie bei uns war. Heinrich schlang
den Arm um seine Mutter und küßte sie zweimal,
und dann nahm ich sie um den Hals und küßte sie
dreimal.
Wir schritten ein paarmal an dem Graben auf
und ab, ganz friedlich, als ob wir spazieren
gingen, und nachdem wir etwa zehnmal ganz tief
und erleichternd aufgeseufzt hatten, fühlten wir,
daß unsere Herzen ruhiger wurden.
»Hat euch der Förster gerade um die jetzige
Stunde bestellt?« fragte die Fee.
»Jawohl, später als 6 Uhr dürfe es nicht sein,
hat er gesagt.«
»So wollen wir einmal hinübergehen in den
Geistergrund,« meinte sie. Wir gingen ruhig und
ohne Angst mit ihr über den schmalen Steg, der
über den schwarzen Graben führte. Sie hielt uns
an den Händen und sagte:
»Nun seht, wie still es hier ist, ebenso still wie
überall im Walde.«
Dann gingen wir schweigend weiter. Über dem
moorigen Grund wuchs dichtes, weiches Moos,
und wir gingen ganz unhörbar. Einmal blieb
die Fee stehen und sagte leise:
»Wenn euch etwas Seltsames oder Schreckliches
auffällt, so erschreckt nicht oder schreit nicht; denn
es ist ganz gewiß nichts wirklich Schreckliches.«
Da faßten wir großen Mut. Plötzlich aber
blieben wir doch in jähem Schreck stehen.
Unter der hohen Ulme war der Pilz, ein schrecklich
großer, blutroter Pilz, und unter dem Pilze
lag eine Frau. Heinrich begann zu weinen, ich
begann zu schlucken, die Fee aber faßte fest unsere
Hände und rief ganz laut und ruhig: »Du Pilz
und du Pilzweib, kommt einmal beide her!«
Da schnellte plötzlich der verhexte Pilz hoch in
die Höhe, das Weib richtete sich auf, und eine
tiefe Stimme sagte:
»O jemine, die gnädige Frau!«
»Komm nur mal näher!« befahl die Fee.
Unsere Herzen schlugen; aber es war jetzt mehr
Neugierde als Angst.
Der Pilz und die Frau wandelten ganz langsam
auf uns zu. Und plötzlich brach Heinrich in
ein lautes Gelächter aus, und ich lachte unter
Tränen mit.
Vor uns stand der Herr Förster. Er hatte sich
die Kleider seiner zweiundneunzigjährigen Großmutter
angezogen, und der Pilz war der riesengroße
und brennend rote Regenschirm der alten
Frau, der die Verwunderung der ganzen Gemeinde
bildete, wenn die Alte noch einmal zur
Kirche gehumpelt kam.
»Gnädige Frau -- gnädige Frau --« stammelte
der Förster.
Er sah greulich aus. Der weite blumige Rock
war ihm viel zu kurz, so daß seine groben
Stiefel zum Vorschein kamen, das altmodische
Leibchen war ihm viel zu schmal, so daß man seine
Weste sah, und die alte Schleifenhaube saß ihm
ganz windschief auf seinem struppigen Kopf. Den
roten Schirm hatte er nun zugeklappt und quetschte
ihn wie ein brennendes dickes Gebund in höchster
Verlegenheit unter den Arm.

Die Fee blickte halb streng und halb lächelnd
auf den sonderbaren Geist und sagte:
»Schämen Sie sich denn nicht, Förster, solche
Faxen zu machen? Denken Sie nicht daran,
was den Kindern vor Schreck passieren kann?«
Die Pilzbäuerin raffte in tödlicher Scham an
ihrem Kleid herum.
»Gnädige Frau, weil halt -- weil halt die beiden
solche Schlingel sind.«
»Es gibt viele Schlingel auf der Welt, große
und kleine,« sagte die Fee.
Der Förster kraute sich die Schleifenhaube.
»Nun werd' ich wohl gar meine Stellung verlieren,«
sagte der trostlose Hüter des Waldes.
Die Fee lächelte milde.
»Etwas werden Sie schon verlieren: Sie werden
den Jungen zur Strafe Ihre Dohle schenken!«
»Können sie kriegen, können sie kriegen!« schrie
da das Zauberweib voll Entzücken und haschte
nach der Hand der guten Fee, die sich abwenden
mußte, weil es wohl mit ihrer Fassung vorbei
war.
»Gnädige Frau,« sagte der Förster, »wenn es
erlaubt ist, möcht' ich mich aus dieser sehr fatalen
Begebenheit empfehlen.«
»Gehen Sie nur, gehen Sie nur!« sagte sie und
blieb immer mit dem Gesicht abgewandt.
Da machte er eine Verneigung, wobei ihm der
geblümte Rock bis über die Kniekehlen emporrutschte,
und dann ging er davon. Als er an den
Bach kam, wollte er, wie er's gewöhnt war, hinüberspringen;
aber die Feiertagszier seiner
Großmutter wickelte sich um seine Beine und
er plumpste dicht am Rande in die Flut. Das war
für uns Kinder der glänzendste Spaß. Gleich
darauf pudelte er sich ans Ufer und jagte in
fliegendem Gewande und mit flatternden Haubenschleifen
davon. --
Die Dohle haben wir bekommen; da sie aber
tagaus, tagein nichts anderes zu erzählen wußte
als: »Beatrice! Beatrice!«, wurde sie uns langweilig.

Heinrichsburg.
Die Stadt lag auf einer Insel, die ringsum von
dem Wasser eines Stromes umgeben war. Wenn
ein starker Regen fiel, wurde dieser Strom so tief,
daß wir uns die Hosen aufstreifen mußten, um
ihn durchwaten zu können. In trockenen Zeitläuften
blies der Wind den Staub vom Flußgrunde
bis in unsere Stadt. Wir warfen uns
dann platt auf die Erde und redeten vom Samum.
Die Insel war mehrere Steinwürfe lang und
fast eben so breit. Ihr Gebiet umfaßte die Hohkönigsburg,
die Stadt selbst, das Felsengebirge,
einen Kriegs- und einen Handelshafen, ein Jagdschloß,
eine Meierei und eine Hundehütte. In
der Stadt gab es ein Rathaus, eine katholische,
evangelische, jüdische und heidnische Kirche, ein
Museum, ein Hotel, sehr viele Geschäfts- und
Wohnhäuser und einen Reichstag.
Die größten Gebäude waren die Hohkönigsburg,
das Hotel und die Hundehütte. Die Burg war im
19. Jahrhundert vom Zimmermann Schadel erbaut,
und der Bau hatte über 70 Mark verschlungen.
Dafür war er aber auch prächtig und stattlich.
Die Burg umfaßt nur den Thronsaal; für
mindere Räume war kein Platz. Eine stolze Fahne
wehte vom Dache, und an der Pforte zeigten zwei
angeklebte Bilder grimmiger Löwen, von denen
der eine ein Tiger war, daß hier im Schloß Macht
und Größe wohne und jeder ein Kind des Todes
sei, der sich den hier herrschenden Gewalten widersetze.
Bei Regenwetter wurden sämtliche Hauptteile
der Stadt mit Wachsleinwand überdeckt.
Das Hotel hatte früher dem Pächter einer
Kirschenallee gehört, der darin sein Wächteramt
ausgeübt hatte. Kinder unter vier Jahren konnten
erhobenen Hauptes durch seine Pforten schreiten,
und auch wir brauchten uns nicht sonderlich zu
bücken, wenn wir eintraten. Es hieß »Hotel
Bristol« und trug an seiner Front viele Schilder,
als: »Zivile Preise«, »Warme und kalte Speisen zu
jeder Jahreszeit«, »Eintritt verboten!« und was
etwa sonst noch an ein gutes Hotel an Anschlägen
gehört.
Der einzige ständig bewohnte Raum von
Heinrichsburg war die Hundehütte. Hier hauste
Pluto, der Wachhund. Er war von strengem
Charakter, aber gutem Appetit, deswegen geriet
er in Verlegenheit, wenn ihm einer, den er
eigentlich bekämpfen sollte, einen Knochen anbot.
Auf diese Weise hat Pluto es leider nicht verhütet,
daß uns eines Nachts das Hotel gestohlen
wurde. Er stand am Morgen nach der Unglücksnacht
mit albernem Gesicht auf der leeren Baustelle,
wedelte verlegen mit dem Schwanze und
bellte nach dem Ufer hin, wie einer bellt, der kein
gutes Gewissen hat. Den Bestechungsknochen
hatte er an einer leicht kenntlichen Stelle verscharrt.

Bei der letzten Volkszählung in Heinrichsburg
wurde Plutos Flohbestand in Fell und Hütte auf
zusammen 250 Stück lebend angegeben. Natürlich
nur schätzungsweise, wie es bei wilden Stämmen
immer geschieht. All dieses Kleinvolk hielt Pluto
in guter Zucht; Übergriffe ahndete er mit scharfer
Kralle.
Pluto war sehr vielseitig von Beruf: des Nachts
mußte er wachen, am Tage zog er als prächtig aufgeschirrtes
Roß den Triumphwagen des Königs,
Sonntags trat er in der Stierkampfarena mit
grimmem Mute als Bulle auf, und oft spielte er
im Felsengebirge den Drachen oder fing in der
Stadt Mäuse, welche sehr lästig waren, weil sie
uns bereits die Rathaustreppe und einen Nachtwächter
aufgefressen hatten. Nur als Delphin
hatte Pluto kein Talent; denn allemal, wenn wir
auf seinem Rücken durch die Fluten des Stromes
ziehen wollten, warf er uns ab, sprang ans Ufer
und schüttelte sein Fell, was kein Delphin tun
darf.
Das Felsengebirge war ein Steilgebirge von
durchaus alpinem Charakter. Seine größte Erhebung,
die Adlerkoppe, hatte eine relative Höhe
von 2500 Zentimetern; sie war im Winter mit
»ewigem Schnee« bedeckt und fiel steil zum Flusse
ab, von dessen Seite her sie nur von den geübtesten
Bergsteigern mit Nagelschuhen, Eispickel
und nach vorangegangener Anseilung zu
erreichen war. Ein prächtiger Aussichtsturm von
30 Zentimeter Höhe krönte ihren stolzen Gipfel,
und wer sich auf die Erde legte und über diesen
Aussichtsturm hinweg in die Ferne sah, genoß
die herrlichsten Landschaftsbilder. Dicht unter
ihm das wildzerklüftete Gebirge, an dessen Fuß
der Strom mit seinen weißen Segelbooten und
seinem Spiritusdampfer brandete, dann die
Stadt, die »wie eine Spielzeugschachtel« ausgebreitet
lag, die trotzige Hohkönigsburg, die dunkel
aufragende Hundehütte, der weite Wald und das
grüne Wiesenland bis weit hinaus an den Horizont
in das Gebiet von Geistergrund und
Ameisenfeld.
Wie ich inzwischen auch herumgekommen bin
in fremden Landen und Erdteilen: die Aussicht
von der Adlerkoppe bei Heinrichsburg ist die einzige,
die ich in dem Reisebuch meines Lebens mit
drei Sternen bezeichnen mag.
Der Abstieg von der Adlerkoppe nach der Stadt
bot nur mäßige Schwierigkeiten und war ohne
Lebensgefahr zu bewerkstelligen. Er führte an
einer grünen Alm vorüber, auf der eine Herde
buntgescheckter Kühe weidete und ein Hirtenbub
vor seinem Alpenhäuslein saß und lieblich auf
einer Schalmei spielte. Nur eine drohende Kuppe
ragte noch auf. Dort legte ein kühner Alpenjäger
eben auf eine Gemse an. Wenn man sich die
hohlen Hände als Fernglas vor die Augen hielt,
konnte man die aufregende Szene so oft beobachten,
wie man vorbeikam.
Etwa in halber Höhe des Gebirges war der
»Gebirgsbahnhof« angelegt. Er hatte einen sehr
schmuck eingerichteten Wartesaal, eine Wegeschranke
und eine Telegraphenstange ohne Draht.
Der Zug bestand aus einer Lokomotive und drei
allerliebsten Aussichtswagen. Die Passagiere
waren immer dieselben: ein Engländer, ein Professor
mit einer Botanisiertrommel und eine
Köchin mit einem Korb am Arm, die jedenfalls
auf der Höhe nach Suppengemüse gesucht hatte.
Wenn nun auch der Zug nicht übermäßig besetzt
war, so war es doch herrlich anzusehen, wenn er
in die Tiefe fuhr. Er machte die kühnsten Kurven,
setzte über Viadukte, die über schauerliche Abgründe
gespannt waren, raste durch pechdunkle
Tunnel, durchbrauste die Ebene und fuhr endlich
donnernd in den Bahnhof von Heinrichsburg ein,
wo es sich bei dem Kommando: »Alles aussteigen!«
ärgerlicherweise meist herausstellte, daß
der Professor, der Engländer und die Köchin auf
der raschen Fahrt von den Sitzen gepurzelt waren
und auf dem Fußboden lagen. Ein Eisenbahnunfall
wurde trotzdem, wie auf allen Gebirgsbahnen,
nie bekannt.
O, und die Stadt Heinrichsburg selbst! Fürwahr,
ein Fremdling hätte sich in ihrem Gewirr
von Straßen und Plätzen rettungslos verlaufen.
Auf dem Marktplatz stand das Rathaus; da
guckte der Bürgermeister den ganzen Tag zum
Fenster heraus. In der katholischen Kirche war
beständig Hochzeit, in der evangelischen immer
Kindtaufen. Im Judentempel saßen tagaus, tagein
drei Männer mit Zylinderhüten auf dem
Kopf, und in der heidnischen Kirche schlachtete ein
Priester, namens Mohammed, ständig ein Kind.
Das Museum umfaßte vier Bilder und zwei
Statuen, der Reichstag war immer geschlossen.
Wir haben ihn, da wir nichts Rechtes mit ihm
anzufangen wußten, später in eine »Aktien-Brauerei«
umgewandelt.
Die Pracht der Auslagen, die sich die Geschäftshäuser
leisteten, war erstaunlich. Allein der
Fleischerladen mit seinen feuerroten Schinken und
brennend braunen Würsten war ein kleines
Weltwunder. Majestät sprach nebst hohem Gefolge
täglich persönlich in diesem Geschäfte vor,
dessen Warenbestand immer pünktlich erneuert
wurde.
Heinrichsburg war eine werktätige Stadt: da
saß der Schuster vor seinem Haus und zog den
Pechdraht, da hieb in seiner dunklen Höhle der
Schmied auf den Amboß, da saß der Weber am
Webstuhl. Lastwagen fuhren die Straße entlang
oder hielten vor dem Wirtshaus; der Postillon
saß hoch auf dem Bock und blies sein lustiges
Signal. Alle Handwerker waren vertreten, und
wo ein Gewerbe fehlte, da wurde zu Weihnachten
oder zum Geburtstag Seiner Majestät König
Heinrichs I. Abhilfe geschafft.
Nur eine Schule gab es in Heinrichsburg nicht.
Majestät meinten, das sei nicht lustig und verderbe
den Spaß. Dafür marschierten glänzende Soldaten
auf den Straßen, und die Musikkapelle zog
den ganzen Tag mit Tiradebumdieh durch die
glückliche Stadt.
Merkwürdig war der Denkmälerbestand von
Heinrichsburg. Von historischen Größen hatten
Kaiser Wilhelm, Blücher, Zieten und der alte
Fritz je ein Monument. Dann hatte Majestät
selbst ein Denkmal, ebenso seine erlauchten
Eltern: Rittergutsbesitzer Gerhardt und Frau.
Diese Denkmäler bestanden aus Photographien,
die in Steinpyramiden eingemauert waren. Bei
Regenwetter wurden Zigarrenschachteln als
Schutzdecke darüber gestülpt. Dann aber waren
in Standbildern noch verewigt Robinson Crusoe
und der »Pfadfinder«. Diese Denkmäler waren
aus Holz, von Sr. Majestät selbst entworfen und
modelliert. Sie wurden bei Regenwetter nicht
zugedeckt; denn sie waren »abgehärtet«. Bei festlichen
Gelegenheiten wurden sämtliche Denkmäler
illuminiert.
Im Gerichtsgefängnis saßen Napoleon und der
Räuberhauptmann Schinderhannes.

Herrlich war es draußen am Hafen. Oft lagen
wir da am Ufer und sahen auf die weite, unübersehbare
Wasserfläche und sprachen kein Wort.
Wenn ein Schiff seine weißen Segel blähte und
langsam von dannen fuhr, dann sahen wir ihm
nach, dann schaute unsere junge Seele weit hinaus
bis in die fernen Länder, nach denen das Schiff
fuhr, zu fremdartigen Menschen, die in Zelten
auf ewig grünen, ewig weiten Wiesen wohnten
und andere Blumen und andere Sterne sahen als
wir. Und all die tausend Gefahren, die das Schiff
haben würde in Scylla und Charybdis, bei Seeräubern
und Meerungeheuern, erwogen wir und
kämpften alle Not selbst durch und waren dabei,
wenn das siegreiche Schiff eines Tages doch stolz
und sicher in den Hafen fuhr.
Manchmal kam unsere gute »Fee«, die Schutzgöttin
unseres Insellandes, zu uns herüber.
Dann feuerten unsere Strandkanonen Salut, die
Ehrenwache stand am Ufer, die ganze Militärkapelle
war aufgestellt, und von allen öffentlichen
und vielen privaten Häusern wehten Fahnen.
Der König ging der »Schutzgöttin« entgegen und
küßte ihr die Hand, und sie ging mit freundlichen
Augen durch unsere Stadt, und wo es an etwas
fehlte, das sah ihr gütiger Blick und ergänzte alsbald
ihre geschickte, freigebige Hand.
Nur Pluto war an solchen Feiertagen eingesperrt.
Wurde er losgelassen, so fuhr er in einer
unsinnigen Freude durchs ganze Land, riß die
Stadt um und brachte den Zug zum Entgleisen.
O, es war schön in Heinrichsburg! Die größten
Ehren habe ich dort genossen: ich war Großwesir
und Stierkämpfer, Hofdichter und Scharfrichter,
Hotelportier und Mitregent. Ich habe die Straßen
ausgebessert und das Gesetzbuch verfaßt, ich war
Dachdecker und Theaterdirektor, Seeräuber und
Staatsanwalt. Selbst die Frau Königin bin ich
gewesen; da hatte ich lange gelbe Locken und ein
weißes Kleid mit einem Goldgürtel und ein
Taschentuch, mit einer Krone gezeichnet. Am
liebsten war ich Leuchtturm. Dann trug ich eine
Laterne auf dem Kopf und ließ ihr Licht nach
allen Seiten spielen, bis die Schiffe, die in Wetter
und Not draußen waren, glücklich den Hafen erreicht
hatten.
* * * * *
Unsere gute Fee! Wenn ich jetzt, da ich lange,
lange schon ein Mann geworden bin, manchmal
träumend die Augen schließe, sehe ich ein weites
Gelände vor mir, dadurch ein schmaler Weg führt.
Es ist der Weg, den ich durch mein Leben gegangen
bin. Grüne Wälder, aber auch öde Schutthalden
sind an seiner Seite, und es fehlt nicht an
Denksteinen, und mancher der Denksteine ist ein
Marterl. Wenn ich nun so sitze und träume,
ziehen Hunderte und Tausende von Menschen an
meiner Seele vorüber. Ihnen allen bin ich einmal
begegnet, bin ein Stücklein mit ihnen gewandert.
Aber die meisten schauen mich so fremd an,
als hätte ich sie nie gesehen: alle die, die mir
gleichgültig waren und alle die, die mir einmal
wehe taten. Sie hat mein Herz vergessen. Die
aber, die mir etwas Liebes, Gutes erwiesen,
reichen mir alle die Hand, und ihre Stimme klingt
mir wie die eines Freundes von gestern.
Und wenn sie kommt, die gute Fee meiner
Kinderzeit, schlägt mir auch heute noch das Herz
in Liebe für sie; ich hasche nach ihrer weißen Hand
und küsse die Hand und lege sie auf meine Stirn.
Dann wehen ihre blonden Haare im Wind, und
ihre Augen sind schön und lieb wie in alten
Tagen. Und sie nimmt meine Seele mit sich und
führt sie in

die heilige Stadt.
Da stand ein kleiner Tempel. In dem Tempel
war eine Figur des Heilands, die war so weiß
wie Schnee. Vor dem Heiland stand ein Knabe,
und über der Gruppe waren in goldenen Lettern
zwei Sprüche in die Wand geschrieben:
»Dieses Kind wird der Größte sein im Himmelreich!«
und:
»Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so
werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen!«
Der Knabe aber, der vor dem Heiland stand,
war Heinrichs Bruder Ludwig, der frühzeitig aus
dem Leben geschieden war.
Als Ludwig starb, war ein solches Herzeleid
auch über uns Kinder gekommen, daß ich mit
Heinrich nach der Insel ging, um unsere schöne
Stadt Heinrichsburg niederzureißen.
»Wenn Ludwig nicht mehr bei uns ist,« sagten
wir zueinander, »so macht uns die Stadt keine
Freude mehr.«
Wir stiegen in bitteren Schmerzen auf die
Adlerkoppe. Noch einmal schaute ich über den
Aussichtsturm hinaus ins weite Land, dann löste
ich ihn aus der Erde und nahm ihn unter den
Arm. Heinrich packte den Bahnhof in seine Mütze,
und eben wollten wir den Alpenjäger und die
Gemse von der Felskuppe holen, als Heinrichs
Mutter uns nachkam. Ihr Gesicht war weiß, und
sie ging ganz langsam; aber sie lächelte doch, als
sie uns über die Köpfe strich und sprach:
»Laßt nur eure Stadt stehen; Ludwig hat jetzt
eine viel schönere Stadt als ihr!«
Da nahm Heinrich den Bahnhof wieder aus
der Mütze, und ich trug den Turm wieder auf den
Berg, richtete ihn dort auf und überzeugte mich,
daß die Aussicht über ihn hinweg wieder ganz
herrlich schön sei.
Dann gingen wir drei nach Hause. Wir
sprachen nicht. Es war gegen Abend, und der erste
Stern tauchte auf am Himmel. Da holte Heinrich
tief Atem und fragte mit stockender Stimme:
»Was für eine Stadt hat Ludwig?«
Die Mutter zog ihn an sich und sagte:
»Der liebe Gott kann ihm eine Stadt aufbauen
aus lauter Gold.«
»Und hat er auch einen Berg und einen Turm
darauf?« fragte ich beklommen.
»Er steht auf einem Berg, der höher ist als
alle Berge, und er kann von da über die ganze
Welt sehen.«
»Bis Berlin zum Kaiser?« fragte Heinrich
verwundert.
»Bis Berlin zum Kaiser,« sagte die Mutter,
»und -- bis zu uns dreien.«
»Sieht er uns jetzt gehen?«
»Ja, ich glaube, er sieht uns gehen.«
Da blies der Abendwind übers Feld, und ich
fror.
* * * * *
»Dieser ist der Größte im Himmelreich!«
Der goldene Spruch stand über Ludwigs
Marmorbild, das vor dem Heiland stand. Mit
scheuer Ehrfurcht dachten wir an den Spielkameraden,
der mit einem Kranz weißer Rosen
um die Stirn in jenes ferne Land gewandert
und nun dort ein Fürst und Herrscher war. Da
habe ich oft auf der Adlerkoppe neben dem Aussichtsturm
gelegen und hinaufgeschaut in das
ewige blaue Land und im tiefsten Herzen gewünscht,
daß ich auch einmal den Weg finden
möge dorthin.

Oft pilgerten wir nach der heiligen Stadt. Ja,
selbst der Förster kam manchmal mit; er stand
dann ganz still und hielt seinen grünen Hut in
der Hand. Meist war unsere gute Fee mit uns
dort. Ich habe sie nie weinen sehen um ihr
totes Kind. Ein ruhiges Leuchten war immer
in ihren Augen. Und sie ging mit uns aus der
heiligen Stadt freundlich nach Heinrichsburg,
nach Ameisenfeld und zu der Donarseiche, und
sprach mit friedlicher, fröhlicher Seele mit uns
von allen wichtigen Dingen, die im Walde zu
sehen waren.
Sie war selbst wie die Kinder, und darum hatte
sie schon hier auf Erden ein Himmelreich im
Herzen.
Meinem Freunde Heinrich und mir aber ist
durch unser ganzes Leben der goldene Spruch
aus der Heiligen Stadt nachgegangen:
»Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so
werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen!«

Der kleine General.

Die Szene spielt am Weihnachtsabend in einem vornehm
ausgestatteten Zimmer. Der kleine Hans liegt schwer krank
im Bette. Die Mutter wacht bei ihm. Im Nebenzimmer
steht der Christbaum. Eine rote Lampe verbreitet ein traumhaftes
Licht. Auf dem Nachttischchen stehen zwölf Bleisoldaten.
=Hans= (richtet sich matt auf):
Mutter, ich möchte den Christbaum noch einmal
sehen.
=Die Mutter=:
Wird dich nicht wieder das viele Licht stören,
Hans?
=Hans=:
Ach, nein ... ich möchte ihn sehen. Zünde
doch die Lichter noch einmal an, Mutter ... ja?
=Die Mutter=:
Gewiß, mein Kind, wie du willst ...
Sie geht ins Nebenzimmer und zündet die Weihnachtskerzen
an. Es wird lichter im Gemach. Hans schaut mit großen,
fiebernden Augen der Mutter zu. Die Mutter kommt zurück.
=Die Mutter=:
Gefällt dir der Baum, mein Goldjunge?
=Hans=:
Er ist schön ... er ist sehr schön! ... Es ist
wohl viel Marzipan dran? ... Ich kann keines
essen ... es schmeckt mir bitter ... Aber die
Krone und der Engel! -- -- -- -- Ach, Mutter,
mir tun die Augen weh ... lösch die Lichter
aus ... bitte, bitte, lösch die Lichter wieder aus!
Die Mutter geht seufzend ins Nebenzimmer zurück und löscht
die Weihnachtslichter aus.
=Hans=:
Ach, ist das schade! Die schönen, funkelnden
Lichter! ... Nun ist er ganz finster, der
Baum ...
=Die Mutter= (zurückkommend):
Ist es so gut?
=Hans=:
Ja, es ist gut so ... Ich freu' mich so über die
Soldatensachen, Mutter.
=Die Mutter=:
Mein lieber Junge!
=Hans=:
Bring mir doch den Säbel und den Helm!
Und einen Spiegel ... ja? Ich will mich gern
sehen ...
=Die Mutter=:
Ja, ich hole sie! (Pause.) So, mein guter Hans,
hier sind die Sachen!
=Hans=:
Stütz' mir den Rücken, ja ... ich will mich
setzen, daß ich den Helm aufsetzen kann ...
So ... ah, es geht schwer ... und jetzt ... jetzt
den Säbel ... halt' mich fest, Mutter, fest ...
ja so! ... Und jetzt noch den Spiegel ... Oh,
oh, ... wie seh ich denn aus? ... Das bin ich
doch nicht! Das ist ja ein ganz ... altes ...
häßliches Gesicht!
=Die Mutter= (mit unterdrücktem Schluchzen):
Du wirst bald besser aussehen, lieber Hans!
=Hans= (mit tiefem, schmerzlichem Erstaunen):
Bin ich das wirklich?!
=Die Mutter= (tröstend):
Sieh doch den Helm ... er steht dir so schön ...
mein kleiner, lieber Held ...
=Hans=:
Oh ... ich sehe aus ... wie der Tod ...
=Die Mutter= (läßt den Spiegel fallen):
Hans! ... Sprich nicht so, Hans ... das
darfst du nicht ... das ist böse von dir ...
entsetzlich böse ...
=Hans= (sinkt erschöpft zurück; ganz leise und matt):
Ich will nicht böse sein ... ich will gut sein ...
und ich will auch nicht gern ... zum Tode ...
ich möchte bei dir bleiben, Mutter ... bei dir ist's
so schön ...
(Die Mutter setzt sich langsam am Bette nieder. Lange Pause.)
=Hans=:
Ich glaube ... daß ich heute sterben soll ...
=Die Mutter=:
Du sollst ja nicht so sprechen ... du wirst nicht
sterben, Hans ... ich laß dich ja nicht sterben ...
ganz bestimmt nicht ... ich verspreche es dir ...
du weißt, ich halte immer, was ich verspreche ...
ich lasse dich nicht sterben, mein Junge, mein
Junge!
=Hans= (langsam):
Aber der Vater ist ja auch gestorben und der
Großvater auch.
=Die Mutter=:
Sie waren älter als du, aber so ein Knabe
stirbt nicht, nein, der stirbt nicht!
=Hans=:
Setz' dich auf den Stuhl, Mutter ... erzähl'
mir vom Großvater ... wie es war, ehe er
starb, ja?
=Die Mutter=:
Nein, nein, heute nicht, ein anderes Mal will
ich dir's erzählen ...
=Hans=:
Heute, Mutter, heute! ... Wo gehst du
hin? ...
=Die Mutter=:
Die Anna soll nach dem Arzt; ich warte schon
so ...
=Hans=:
Er hat Einbescherung zu Hause; laß ihn, er
hat jetzt nicht Zeit für mich.
=Die Mutter=:
Ich will doch schicken, ich komme gleich
wieder ... Der Arzt kommt bestimmt ...
(Sie geht hinaus.)
=Hans= (schaut ihr scheu nach, dann wendet er sich
an die Bleisoldaten):
Paßt auf, ihr blauen Jungen, paßt auf ... ich
will euch was sagen ... Ich bin euer General ...
Seht ihr meinen Degen und meinen Helm? ...
Ich kommandier' euch! ... Jawohl! ... Und
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