Die fünf Waldstädte: Ein Buch für Menschen, die jung sind - 1

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Die fünf Waldstädte


Die fünf Waldstädte
Ein Buch für Menschen, die jung sind
von
Paul Keller
Mit Bildern von G. Holstein und
Reinhold Pfaehler von Othegraven
32. bis 42. Auflage.
[Illustration]
Bergstadtverlag Wilh. Gottl. Korn
Breslau
Leipzig Wien


Inhalt

Seite
Die fünf Waldstädte Ameisenfeld -- Eichenhofen --
Der Geistergrund -- Heinrichsburg -- Die heilige Stadt 5
Der kleine General 53
Der Schatz in der Waldmühle 63
Der angebundene Kirchturm 101
Das Abenteuer auf der Themse 111
Die Ferienkolonisten 123
Gedeon 133
Hotel Laubhaus 157
Mein Roß und ich 167
Die Räuber aus dem Riesengebirge 177


Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
~Copyright 1915 by~
Bergstadtverlag Wilh. Gottl. Korn, Breslau.


Die fünf Waldstädte.

Von den fünf Waldstädten will ich erzählen, in
denen ich als Kind oft glücklich gewesen bin.
Wir waren ihrer drei: meine beiden Freunde
Ludwig, Heinrich und ich. Als Ludwig in jungen
Jahren starb, waren Heinrich und ich die fast
unumschränkten Herren der fünf Waldstädte.
Da war in der Gegend zwischen Frankreich und
Rußland ein Wald, der war so groß, daß ein
lahmer Mann an die dreiviertel Stunden brauchte,
ehe er um ihn herum war. In diesem Walde lagen
die fünf Waldstädte: Ameisenfeld, Eichenhofen,
Geistergrund, Heinrichsburg und die heilige Stadt.
Alle fünf Städte waren von seltener Pracht und
Herrlichkeit, und es gab Wunder über Wunder in
ihnen zu sehen, obwohl gar keine großen, steinernen
Häuser in ihnen standen und unsere Städte
nach Meinung dummer Knechte und alberner
Mägde nur »ganz gewöhnlicher Busch« waren.
Wir aber wußten sicher, daß es Städte waren,
und Heinrichs Mutter wußte es auch. An allen
Frühlings- und Sommertagen, aber auch zur
wilden Sturmzeit im Herbst reiste ich mit
meinem Freunde durch das Gebiet der fünf
Städte, und wenn einer etwas Neues entdeckte,
dann war er glücklich, es unserer »lieben Fee«
zu sagen. Das war Heinrichs schöne Mutter.
Die ging oft mit uns durch die fünf Waldstädte,
und was wir selbst nicht sahen und fanden, das
sah sie und fand sie und zeigte es uns. Sie erzählte
und sang Lieder vom heiligen, deutschen
Wald und machte ihn uns lieb und vertraut.
* * * * *
Da war also zunächst die Stadt

Ameisenfeld.
Sie war 90 Quadratmeter groß und hatte nach
der letzten Volkszählung 567319 Einwohner.
Deshalb zählte sich Ameisenfeld mit Recht zu den
Großstädten. Die Bewohner von Ameisenfeld
waren berühmt durch ihren Fleiß und ihre Betriebsamkeit.
Sie beschäftigten sich damit, sich zu
ernähren und Eier zu legen. In ihren freien
Stunden prügelten sie sich. Ob dieser Eigenschaften
galten die Ameisenfelder im ganzen Lande nicht
nur als sehr fleißig, sondern auch als sehr intelligent.
Man erzählte sogar, daß ein großer Prophet
unter ihnen erstanden sei, der folgende tiefsinnigen
Lehren aufgestellt hatte:
»Wenn dir ein Hölzlein zu schwer zu tragen ist,
nimm dir jemand zu Hilfe!«

»Wenn dir eine Blattlaus süßen Saft gibt,
der dir sehr wohlschmeckt, dann beiße sie nicht tot.«
»Wenn dir jemand irgendwie nicht paßt, so
bespritze ihn mit einem ätzenden Saft, damit er
schnell Reißaus nehme.«
Das waren die Grundsätze, nach denen die
Ameisenfelder fortan lebten. --
Es geschah aber, daß eines Tages ein Igel durch
das Stadttor von Ameisenfeld, das durch die
Blätter einer großen Schwarzwurz gebildet wurde,
einzog und Quartier begehrte. Der Bürgermeister
der Stadt ließ sich schnell von seinen
sieben Stadträten die Fühler abputzen und ging
dem großen Gaste entgegen. Als er ihn sah,
knickte er vor lauter Ehrfurcht mit allen sechs
Beinen vor ihm ein: und sagte:
»Hoher Herr, dir unsere Gefühle ob deines Einzugs
in unsere Stadt auch nur annähernd zu
schildern, geht leider über meine Kraft. Was
uns vor allem bewegt, ist tiefe Beschämung.
Denn siehe, Ameisenfeld ist nur eine Fabrikstadt.
Unsere Straßen sind bestreut mit dem Schutt der
Arbeit. Anlagen haben wir keine, außer einer
Distelplantage und einem kleinen Gundermannwäldchen.
In deren Schatten würdest du dich
nicht wohlfühlen. Und es fehlt uns leider auch
an einem geeigneten Palast für dich.«
Der Igel zog die Stirn in Falten und sagte:
»Ich bin ein Forschungsreisender. Ehe ich
nicht Ameisenfeld in- und auswendig kenne, kann
ich nicht weiterziehen. Vor allen Dingen will ich
hier einen wissenschaftlichen Vortrag halten.«
Der Bürgermeister legte über dieses Anerbieten
eine gezwungene Freude an den Tag und ließ den
Vortrag für abends 6 Uhr ansagen. Da kein Eintrittsgeld
erhoben wurde, erschien die ganze
Stadt. Der Igel hub nun an zu reden von
den schweren Gefahren, die dem Ameisenvolke
drohten. In Südamerika lebe ein Tier, das trotz
seines schlichten Namens ~Myrmecophaga jubata~
doch eine scheußliche Bestie sei. Es habe einen
spitzen Rüssel und eine ellenlange, mit Leim
bedeckte Zunge. Den Rüssel und die Zunge
stecke es nun in die Ameisenhäuser und fange und
morde, was es nur erwischen könne. Wenn man
dagegen ihn, den Igel, betrachte, müsse man einsehen,
daß er weder eine spitze Schnauze noch eine
klebrige Zunge habe.
Die Ameisenfelder hatten der Erzählung
zitternd zugehört. Als der Igel geendet hatte,
brachte der Bürgermeister ein Hoch auf ihn aus,
wobei er sich auf den Rücken legte, damit er bei
dem Hoch alle sechs Beine in die Höhe strecken
konnte. Der Igel nickte befriedigt und sagte:
wenn sich also die Ameisenfelder über seine Ankunft
so freuten, so wolle er gern das Opfer bringen
und etwas bei ihnen bleiben.
Darauf aber erhob sich ein kecker Ameisenjüngling,
welcher sagte:
»Was geht uns das Tier aus Südamerika an,
wo doch unsere Waldstadt gar nicht in Südamerika
liegt?«
Der Igel zog seine Stirnrunzeln bis zur Nase
herab und rief:
»Habt ihr je solchen Unverstand gehört? Kann
sich nicht alle Tage ein ~Myrmecophaga jubata~ auf
einem Schiff ohne Paß einschmuggeln und zu uns
kommen? Sind nicht auf solche Weise alle ausländischen
Tiere zu uns gekommen?«
Die Menge nickte Beifall, sah voll Mißbilligung
auf den naseweisen Ameisling, und der Bürgermeister
meinte: »Er muß streng bestraft werden!«
»Das muß er!« nickte der Igel, »und um mich
euch gefällig zu erweisen, werde ich ihn hinrichten!«
Darauf fraß der Igel den Ameisenjüngling.
Wie von ungefähr erwischte er auch noch dreißig
Verwandte des Jünglings, die in dessen Nähe
standen.
Darüber erschrak das Volk; der Bürgermeister
aber zwinkerte ihm beruhigend zu: über so einen
kleinen Fehlgriff eines großen Herrn dürfe man
keinen Lärm machen.
So blieb der Igel in Ameisenfeld, bis sich das
Volk allgemach um 90 Prozent vermindert hatte.
Da endlich versammelte der Bürgermeister eines
Nachts heimlich die wenigen Überlebenden, und
sie beschlossen, gemeinsam über den mörderischen
Igel herzufallen und ihn zu töten.
Mit dem Heldenmute, der den Ameisenfeldern
eigen und der im ganzen Lande berühmt ist, zogen
sie aus.
Sie fanden den Igel tot. Er hatte sich den
Magen überfressen und war an Ameisensäurevergiftung
gestorben.
Der Bürgermeister atmete auf, trat auf seine
Leiche und hielt eine Rede:
»Bürger, da liegt unser Feind! Tot! Er hat
unserer Macht nicht zu widerstehen vermocht. An
der starken inneren Kraft der Ameisenfelder ist
er zugrunde gegangen. Der Ruhm unserer Stadt
ist und bleibt unsterblich!«
Das Volk trampelte mit allen sechs Beinen
Beifall und winkte mit den Fühlern.
Darauf wurde ein großes Freudenfest gehalten.
Alle Bürger zogen auf die grüne Alm, die in der
Nähe von Ameisenfeld war. Dort wurde die
große Fingerhutglocke geläutet. Dann wurden die
Blattläuse gemolken. Alles Volk trank sich ein
Räuschlein an, und schließlich sprach man mit
einer gewissen Liebe und Achtung von dem Igel,
dem allein dieses fröhliche Fest zu verdanken war.

Eichenhofen.
Der große Baum, der Eichenhofen seinen
Namen gab, war so schön und gewaltig, daß mein
Freund Heinrich behauptete, das sei dieselbe Eiche,
die Bonifacius einst bei den alten Hessen umgehauen
habe. Ich glaubte dies eine Zeitlang,
dann aber kam mir der Gedanke, unsere Eiche
werde vielleicht doch nur der Sohn von jener berühmten
Donarseiche sein. »Nein,« sagte Heinrich,
»Sohn ist viel zu jung; wenn sie es nicht selbst ist,
dann ist sie ihr Vater!«
Dabei blieb es, und das war nun historisch.
Eine grimmige Feindschaft hegten wir gegen
vier Waldarbeiter, die einst, um uns zu verspotten,
sich die Hände reichten und einen gemütlichen
Tanz um unsere Eiche ausführten, wo wir doch
bestimmt festgestellt hatten, daß der Baum von
sieben Männern nicht zu umspannen sei. Wir
setzten uns über das höchst ärgerliche Vorkommnis
nur dadurch hinweg, daß wir uns sagten, die
Arbeiter seien betrunken gewesen und darum
»gelte« ihr Tanz nicht.
Eichenhofen war rings von Brombeer- und
Himbeerhecken eingefaßt; auch viele wilde Rosen
blühten an seinen Grenzen. Da dachten wir oft
an Dornröschens Schloß, und jeder brach gern
und kühn durch die Dornenhecke, zumal zur Spätsommerzeit,
wenn die Beeren reiften. --
Die »Traumstadt« nannten wir Eichenhofen
auch manchmal. Da gab es einen Moosplatz,
auf dem die Käferlein stolzierten und eitel ihre
funkelnden Röcke zeigten, eine Rosenstraße, wo
unter lauter lieblichen Heckenröslein sich das Volk
der haftenden Bienen und der sammetröckigen,
vornehmen Hummeln tummelte, eine Hirschstraße,
die tief ins Dunkel des Waldes ging und auf der
wir einmal zu seinem und unserem Schrecken
dem König des Waldes begegneten.

In Eichenhofen ersann ich mein erstes Märlein,
dort klangen die ersten Verse in meiner Seele.
Ich erfand eine Geschichte von dem Brünnlein,
dessen Wasser im Mondschein zu goldgelbem Wein
wird, von dem die Gnomen ihr Schöpplein
trinken, und wenn Heinrich und ich fortan aus
dem Brünnlein tranken, sahen wir uns oft an
und sagten: es schmeckt wirklich wie Wein. Ich
konnte das um so eher sagen, als ich damals noch
nie einen richtigen Tropfen Wein getrunken hatte.
Einmal, als ich ein Gedicht gemacht hatte, das
ich Heinrichs Mutter, unserer »Fee«, vorlas, küßte
sie mich auf die Stirn, flocht einen Eichenkranz,
setzte ihn mir auf den Kopf und sagte: »Gott
segne dich!« Da war es wirklich, als ob ein tiefer
Segenstrom von dem grünen Kranz aus durch
meine Seele ränne; ich stand ganz still da und
ging dann bald nach Hause. Dort hängte ich
das Kränzlein über mein Bett, rund um das
kleine Kreuz herum, das dort war, und wenn ich
fortan mein Abendgebet sprach und den Kranz sah,
betete ich immer einen Satz mit: »Lieber Gott,
laß mich ein Dichter werden.« Ich sprach aber
die Worte nie aus, ich dachte sie nur; ich schämte
mich, sie zu sprechen.
Heinrich war mein treuer Freund. Er neidete
mir meinen Kranz nicht; aber er sehnte sich danach,
auch einen zu erhalten. Er bekam ihn erst,
als er sich ihn verdient hatte. Ehrlich verdient!
Er hatte ein kleines Mädchen mit Gefahr
seines eigenen Lebens aus dem Wasser gezogen.
Damals hatte die Fee wohl ihren glücklichsten
Tag, als sie ihrem Jungen den Eichenkranz
flocht. --
Sonst war es mit unserer Tapferkeit nicht
übermäßig gut bestellt; ja, es gab Fälle, wo wir
eine traurige Rolle spielten.
Einmal machten wir einen schauerlichen Fund.
Wir entdeckten im Dorngestrüpp die Leiche eines
Eichkätzchens. Erschüttert betrachteten wir das
herrliche Tier, seufzten laut und lange und zergrübelten
uns die Köpfe, was seinem jungen,
lustigen Leben ein so jähes Ende bereitet haben
könne.
»Vielleicht hat es der Marder gefressen,« sagte
Heinrich tiefsinnig.
»Oder eine Eule hat es fortgeschleppt,« meinte
ich bedächtig.
Darauf war eine Pause. Plötzlich machte ich
ein spöttisches Gesicht und sagte: »Wie kann es
dein Marder gefressen haben, wenn es doch noch
hier liegt?« Worauf sich Heinrich höhnisch an die
Stirn tippte und sprach: »Kann es wohl deine
Eule weggetragen haben, wenn es noch hier
liegt?«
So machten wir uns gegenseitig unsere Überlegenheit
klar, und einer ärgerte sich über die
Dummheit des anderen. Endlich glaubte ich es zu
haben: »Es ist jedenfalls fehlgetreten, heruntergestürzt
und hat den Hals gebrochen.«
»Nein,« sagte Heinrich, »der Hals ist noch ganz.
Es hat gewiß einen giftigen Pilz gefressen.«
Da schrie ich: »Nein, siehst du, es ist totgeschossen!«
Das Eichkätzchen war wirklich erschossen; wir
sahen nun deutlich die Schußwunde.
Heinrich erbleichte.
»Das ist ein Wilddieb gewesen,« sagte er.
Ich sah ihn an, nickte mit dem Kopfe und rannte
ohne weiteres davon. Und er rannte hinterher.
Wir rannten so lange, bis wir in der Nähe von
Feldarbeitern waren, und blieben dann mutig
stehen.
»Wir müssen den Mörder fangen,« sagte
Heinrich ganz laut.
»Ja, wir müssen ihn fangen,« rief ich und ballte
die Faust. Daran beschlossen wir, zum Förster zu
gehen und ihm die verbrecherische Tat zu melden.
Wir rieten, wo der Förster zu dieser Stunde sein
könne, und fanden die größte Wahrscheinlichkeit
schließlich darin, daß er in der Schenke sei. Und
so war es auch. Er hörte unseren fast atemlosen
Bericht an und machte ein bitterernstes Gesicht.
»Der Wilddieb muß augenblicklich gefangen
werden,« meinte er zornig, spielte mit zwei
anderen Männern noch eine halbe Stunde lang
Karten und ging dann mit uns.
Ganz in der Nähe hatte Heinrich seine Vogelflinte
und ich meine Armbrust aufbewahrt. Diese
Waffen holten wir, nahmen sie schußbereit unter
den Arm und folgten dem Förster, der sagte,
nun sei ihm vor dem Wilddieb weiter nicht bange.
Ich für meinen Teil gestehe, daß ich diese
lobende Anerkennung meiner Männlichkeit und
Tapferkeit nur mit gemischten Gefühlen aufnahm.
Eine Armbrust einem mörderischen
Wilddieb gegenüber ist immer so eine eigene
Sache. Man muß aufs Auge oder vielleicht
auch auf die Schläfe zielen, wenn man einen
Erfolg haben will. Aber ich war nun einmal
eine Person, auf die sich der Förster in seinem
schweren Beruf verließ, und so wollte ich in der
Stunde der Gefahr nicht kneifen.
Wir durchsuchten den ganzen Busch. Ein paarmal
entdeckten wir Fußspuren, den Wilddieb aber
fanden wir nicht. Von Minute zu Minute wuchs
unser Mut, und in großer Tollkühnheit riefen
wir laut, er solle nur zum Vorschein kommen, der
elende, feige Kerl. Er kam nicht, und schließlich
sagte der Förster: »Wahrscheinlich ist der Wilddieb
mal auf einen Augenblick weggegangen. So'n
Mann hat ja auch mal was anderes vor.«
Das bedauerten wir sehr, und wir verachteten
den Wilddieb, der nicht auf seinem Posten geblieben
war. Der Förster machte den Vorschlag,
wir könnten ja unterdes das Eichhorn beerdigen.
Darauf gingen wir mit Freuden ein. Das tote
Tierchen wurde in eine Erdgrube gelegt, und wir
drei standen mit feierlichen Angesichtern an seinem
Grabe. Der Förster befahl mir, mit meiner Armbrust
den Trauersalut zu schießen. Darauf schoß
ich meinen Rohrpfeil über das Grab hinweg, und
der Förster machte mit seinem Munde »Plaff!«
dazu. Das veranlaßte mich, ihn scharf anzusehen,
ob er die ganze Sache auch ernst nehme.
Er nahm sie aber sehr ernst. Mit geradezu
verbissenem Gesicht stand er da, und mit dumpfer
Stimme sprach er:
»Heinrich, halte eine Leichenrede! Aber vergiß
das ›Amen!‹ nicht.« Heinrich und ich waren beide
ausgezeichnete Redner. So war es kein Wunder,
daß Heinrich, ohne sich's erst lange zu überlegen,
folgende schöne Rede hielt:
»Liebes Eichhörnchen, du bist leider tot. Von
wegen eines Schuftes! Er hat jetzt gerade etwas
anderes zu tun, sonst täten wir ihn erschießen.
Liebes Eichhörnchen, du warst das schönste Tier
auf der ganzen Welt. Du hast so niedliche Pfoten.
Jedes Jahr zu Weihnachten werde ich dir drei
große, vergoldete Nüsse in dein Grab stecken.
Amen.«
Der Förster drückte die Augen zu, dann wies
er auf mich.
»Jetzt halte du eine Leichenrede!«
Ich hustete, bis ich rot wurde, dann sagte ich:
»Liebes Eichhörnchen, du bist leider tot. Von
wegen eines Schuftes!«
»Du leierst ja wieder dasselbe her!« fuhr mir
der Förster dazwischen. Ich sagte verlegen, es
komme schon noch, hustete noch einmal lange und
inbrünstig und sagte dann: »Liebes Eichhörnchen,
du warst das allernützlichste Tier. Hoch auf der
Eiche hast du dein Haus gehabt, und es hatte immer
die Tür dort, wo kein Wind ging. Und, und
im Winter hast du geschlafen. Und, und du
konntest so fix turnen. Und du hattest einen
schönen Schwanz und vier schöne, weiße Nagezähne.
Amen.«
Nun hustete der Förster, stützte sich auf seine
Büchse und sprach:
»Jetzt werde ich eine Leichenrede halten!«
»Liebes Eichhörnchen, du warst also sozusagen
das allerschönste und allernützlichste Tier. Wenn
ein Vogelnest auf der Eiche war, dann bist du
gleich fix angeturnt gekommen. Da hast du mit
deinen niedlichen Pfoten die Eierchen genommen
und hast sie ausgesoffen. Und dann, liebes Eichhörnchen,
wenn kleine Vögelchen im Neste waren,
dann hast du sie mit deinen schönen, weißen
Nagezähnen zerbissen und gefressen. Wenn ein
Baum im Frühjahr frische Sprossen trieb, hast
du sie hübsch zierlich abgenagt, du liebes Eichhörnchen,
du! Und darum ist ein ›Wilddieb‹ gekommen
und hat dich tot geschossen, du Rabenvieh,
du Kanaille! Und der Wilddieb war ich selbst,
und ich habe das alles gemacht, um mal zwei
Schafsköpfen eine Lehre zu geben. Amen.«
Damit machte er Kehrt und stapfte davon.
Heinrich und ich standen mit offenen Mäulern
da. Ich fand zuerst die Sprache wieder und sagte:
»Das ist eine Gemeinheit.« Heinrich aber meinte:
»Er hat was von zwei Schafsköpfen gesagt!«
»Damit sind wir gemeint,« sagte ich zornig.
»Und er hat das Eichhörnchen selbst erschossen.«
Heinrichs Stirn zog sich in Falten.
»Wenn ich mal unser Gut erbe,« sagte er, »setze
ich ihn ab.«
»Das tue aber bestimmt,« rief ich, »er hat es
verdient!«
Von fernher scholl das fröhliche Lachen des
Försters.

Der Geistergrund.
Der Geistergrund war der einzige Ort im Gebiet
der fünf Waldstädte, von dem die Leute im Dorfe
etwas Genaueres wußten. Während so ein
Bauer achtlos durch Ameisenfeld stapfte und
dort nicht einmal den Bürgermeister kannte,
während er an der tausendjährigen Donarseiche
dumm und achtlos vorüberging, ja selbst nach
den Herrlichkeiten von Heinrichsburg kaum hinüberschielte,
ging sein träges Herz sofort rascher,
wenn er in die Nähe von Geistergrund kam.
Was spielten auch dort für schauerliche Geschichten
an dem dunklen Moor und dem Graben mit dem
schwarzen Wasser, Geschichten, die Hunderte von
Jahren alt waren und an den Winterabenden
beim flackernden Kienspanfeuer erzählt wurden,
bis alle Wangen rot und alle Herzen bange waren.
Da war die Geschichte von der Bäuerin, die
ihren Mann umgebracht hatte, indem sie ihm ein
Mahl von giftigen Pilzen bereitete. Noch am
gleichen Tage kam die schwere Übeltat ans
Tageslicht, und am anderen Morgen errichtete
die Obrigkeit einen Galgen und hängte die
Bäuerin auf. Aber ihr Leichnam verschwand, und
auch der Leichnam des Mannes verschwand, und
lange Zeit wußte niemand, wohin beide gekommen
seien, bis eine Frau im Geistergrund
einen großen giftigen Pilz sah, der den Hut vor
ihr abnahm und sagte: »Erbarme dich meiner,
erbarme dich meiner!« Als die Frau sich vor
Schreck nicht rühren konnte, kam eine Schlange
gekrochen und wickelte sich dem Pilz ums Bein.
Und die Schlange sprach: »Ich fresse den Pilz;
ich fresse den häßlichen, geizigen Pilz!« Sie
funkelte dabei mit den Augen.
Da ist die Frau schreiend davongelaufen und
hat im Dorfe alles erzählt, und es hat sich lange
Zeit niemand an den Geistergrund herangewagt.
Als aber einmal der Schuster Humpel erzählte,
er habe nun die beiden auch gesehen, nur hätte
diesmal der Pilz die Schlange gefressen, glaubte
ihm niemand; denn die Leute waren sehr aufgeklärt,
und Humpel war oft betrunken. -- -- --
Da war die andere Geschichte von dem Müller
Eisert. Der war in der Zeit, da der alte Fritz
Krieg führte, ins Lager der Russen übergegangen
und war ein so schlechter Kerl geworden, daß er
gegen seinen eigenen König kämpfte. Eisert besiegte
auch den alten Fritz in der Schlacht bei
Cunnersdorf und zog dann mit seinen Russen als
ein prahlender Kriegsheld bis vor sein Heimatsdorf.
Dort ließ er Kanonen auffahren und alles
zusammenschießen und in Brand stecken. Dann
ritt er auf einem pechschwarzen Roß durch das
brennende Dorf und verhöhnte die Leute und
zwang sie: »Gnädiger Herr!« und »Euer Wohlgeboren!«
zu ihm zu sagen. Für diese Missetat
wurde er bestraft. Als er wieder fortritt, begann
auf dem Turme die Glocke zu läuten. Den Turm
und die Kirche hatten die Russen, weil sie Christen
sind, verschont.
O, wie drang der Ton der Heimatglocke dem
argen Sünder so anklagend ins Ohr! Sie dröhnte
ihm in die Seele wie Posaunenton des jüngsten
Gerichts und versetzte sein Herz in eine ganz
schreckliche Angst. Und plötzlich wandte sich das
Roß, jagte zurück auf das Dorf zu, warf den
bösen Mann am Eingang des Dorfes auf die
Erde und galoppierte ganz allein in die finstere
Nacht hinaus.
Der Müller schlich sich an den Turm, um zu
sehen, wer da so schrecklich an der Glocke zöge.
Da sah er, daß niemand in dem Turm war, daß
die Glocke ganz von selber läutete. Darüber wurde
er ganz unsinnig vor Angst. Schreiend und
winselnd lief er um das Dorf herum, fand auf
dem Wege einen Strick und erhängte sich in der
Verzweiflung seines Herzens im Geistergrund, wie
sich Judas erhängte, als er den Herrn Jesus verraten
hatte.
Jetzt noch stand die Weide im Geistergrund, an
der der Verräter sein elendes Leben selbst beendet
hatte. -- --
Das waren unfreundliche Geschichten. Und
da war noch eine Geschichte, von der wir Kinder
etwas gehört hatten, ohne sie recht zu verstehen.
Und eben, weil ich sie nicht verstand,
machte ich ein Gedicht darüber. Das Gedicht
aber war so:

Das Mädchen.
Weil sie so schwer gesündigt hat,
Da wurd' sie in den Sumpf gesenkt,
Nun wohnt sie in der Geisterstadt,
Wo niemand ihrer denkt.
Sie hatte ein so weißes Kleid,
Doch einen schwarzen Fleck darauf;
Da steht sie um die Sternenzeit
Oft aus dem Modergrabe auf
Und wäscht mit heißer Tränen Flut
Sich aus dem Kleid den schwarzen Fleck;
Paßt auf, Ihr Leute, Gott ist gut:
Das Kleid wird weiß, der Fleck geht weg!
Das war das Gedicht, für das mir unsere gute
Fee drüben in Eichenhofen den Kranz schenkte. --
Es gab Zeiten, wo Heinrich und ich uns sehr
vor dem Geistergrund fürchteten. Um die
Dämmerzeit wären wir nicht hingegangen, und
auch wenn die Nebelmänner zwischen den Erlen
hin- und herkrochen, wagten wir uns nicht in diese
Gegend. Heinrich machte sogar einmal den Vorschlag,
den Geistergrund abzusetzen. Was ihm
nicht paßte, wollte er immer »absetzen«: den
Förster, den Geistergrund, die Kreuzottern und
die lateinische Grammatik. Es ist aber leider alles
bestehen geblieben.
Unsere Fee hatte im allgemeinen nichts dagegen,
wenn wir uns mal etwas fürchteten. Wenn
wir sie fragten, ob es Räuber gebe, sagte sie »Ja!«,
und wenn wir wissen wollten, ob wohl die
Räuber je in unsere Gegend kommen könnten,
sagte sie auch »Ja«! Dann bekamen wir allemal
knallrote Backen, und unsere Stimmen wurden
weniger krähend, als sie sonst waren. --

Einmal, als wir mit dem Förster zufällig
wieder auf freundschaftlichem Fuße lebten, hätten
wir ihm gar zu gern eine zahme Dohle abgebettelt,
die er in seinem Forsthause hielt. Er
machte eine geheimnisvolle Miene und sagte:
»Die kann ich euch nicht geben. Die ist ein ganz
seltsamer Vogel. Ich habe sie auf der Judasweide
gefangen. Dort hatte sie ihr Nest. Und sie ist
eine verwunschene Prinzessin.«
Wir Jungen versuchten, ein ungläubiges Gelächter
anzuschlagen, aber es klang ganz meckrig,
und wir sahen mit Unbehagen auf den Vogel,
der plötzlich auf uns zukam, so daß wir
einige Schritte zurückwichen. Die Dohle funkelte
uns mit ihren Äuglein an, schlug mit den beschnittenen
Flügeln und schrie: »Beatrice!
Beatrice!«
Da sagten wir schnell: »Guten Abend« und
gingen davon. Der Förster kam uns nach.
»Ich sehe es ja ein, daß ihr die Dohle durchaus
haben wollt,« sagte er; »aber es würde euch nichts
nützen, wenn ich sie euch schenkte, denn sie würde
euch trotz ihrer beschnittenen Flügel entwischen.
Wollt ihr die Dohle haben und behalten, so müßt
ihr in die Judasweide abends in der Dämmerung
einen Nagel einschlagen. Einer muß den Nagel
halten, der andere muß hämmern.«
Darauf sagten wir, wir hätten es uns überlegt:
eigentlich wüßten wir gar nicht recht, was
wir mit einer Dohle anfangen sollten. Er, der
Förster, brauche eigentlich einen solchen Vogel
viel notwendiger als wir.
Der Förster spuckte auf den Boden, uns gerade
dicht vor die Zehen, und sagte: »Wenn ich nicht
wüßte, was ihr für mutige und kluge Kerle seid,
würde ich denken, ihr fürchtet euch. Aber damit
habt ihr recht, daß ich den Vogel notwendig
brauche.«
»Wozu brauchst du ihn denn?« fragte ich neugierig.
»Zum Geschichtenerzählen.«
»Zum Geschichtenerzählen? Ei, wieso?«
»Hm. Wenn ich abends müde aus dem Walde
komme, ziehe ich mir die Stiefel aus, sperre die
Hunde aus der Stube hinaus, setze mich in den
Lehnstuhl und dann sag' ich zu der Dohle:
Beatrice, leg' los!«
»Und -- und dann legt sie los?«
»Legt sie los! Jawohl! Sie erzählt famos.
Aber leider bloß lauter Räuber-, Gespenster- und
Indianergeschichten. Andere weiß sie nicht. Alles
zum Gruseln.«
Räuber-, Gespenster- und Indianergeschichten!
Das hielten Heinrich und ich damals für das
Schönste auf der ganzen Welt. Wir hatten uns
heimlich solche Bücher geliehen und einige davon
gelesen, bis es die Fee erfuhr und uns sagte:
sie hätte uns nicht mehr lieb, wenn wir so etwas
wieder täten, denn solche Geschichten seien schlecht
und dumm und erlogen. Da hatten wir es aus
Liebe zur Fee unterlassen. Aber wenn wir nun
eine Dohle hätten, die so etwas erzählen könnte,
das wäre doch etwas anderes, denn eine Dohle
ist doch kein Buch. Und man käme dann auf
ehrliche Weise zu interessanten Geschichten.
»Ja,« sagte der Förster, »meine Großmutter
hört auch mit zu.« Des Försters Großmutter
war 92 Jahre alt.
»Borg' uns einen Hammer und einen Nagel!«
rief Heinrich; »wir gehen jetzt gleich zur Judasweide!
Nimm deine Büchse und deinen Hirschfänger
und geh mit.«
»Wäre noch besser,« meinte der Förster; »allein
müßt ihr gehen, und morgen abend ist die richtige
Zeit; morgen ist Neumond.« --
Der nächste Abend war trübe und regnerisch.
Den ganzen Tag hatten Heinrich und ich in schrecklicher
Aufregung zugebracht. Kein Essen hatte
uns geschmeckt, kein Spiel hatte uns gefallen und
die Fee hatte uns ein paarmal ganz eigentümlich
forschend angesehen. Schwache Augenblicke kamen,
wo uns die ganze Sache leid wurde; aber dann
dachten wir an die verzauberte Dohle, die Räubergeschichten
erzählen konnte, und ein Fieberschauer
von Glück, einen solch wundersamen Vogel
besitzen, packte uns.
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