Deutsche Humoristen, 6. Band (von 8) - 6

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ist nichts, ist Märchen; nein, der starre Blick sagt dem Vieh nur, daß
der Mensch wacht, auf seiner Hut ist, und Blick gegen Blick, gleich
fix gespannt, lauert es denn, ob er sich einen Augenblick vergesse.
So lauert alles Objekt, Bleistift, Feder, Tintenfaß, Papier, Zigarre,
Glas, Lampe -- alles, alles auf den Augenblick, wo man nicht acht
gibt. Aber um Gottes willen, wer kann's durchführen? Wer hat Zeit?
Und wie der Tiger im ersten Moment, wo er sich unbeobachtet sieht,
mit Wutsprung auf den Unglücklichen stürzt, so das verfluchte Objekt;
plumper oder feiner, wie es kommt, diabolisch fein zum Beispiel das
Eisenfeilstäubchen, das mir ins Auge flog am Morgen, als ich eine
Fußreise antreten wollte, auf die ich mich lange gefreut, und das mich
ums Auge zu bringen drohte -- o, überhaupt: glauben Sie, wenn ein
ordentlicher Mensch reisen will, halten die Teufel ein ökumenisches
Konzil -- Vorschläge -- Anträge -- Amendements -- zum Exempel:
Antrag: Hühnerauge, Amendement: unter dem Nagel; oder Antrag: Grimmen
auf der Eisenbahn, Amendement: in Gesellschaft einer Dame; Antrag:
schlecht Wetter, Amendement: zerrissene Schuhe und die neuen zu eng.
Doch nicht immer waltet aggressive Form. Das Objekt liebt in seinem
Teufelshumor namentlich das Verschlupfspiel. Wie die gute, sorgende,
schützende Natur einige Tiere dem Boden gleich färbt, bildet, auf
dem sie leben, sich nähren, damit sie der Feind schwerer entdecke
-- Raupe, Schmetterling der Baumrinde, dem Baumblatt, Hase der Erde
gleich -- so verfahren auch gern die Dämonen: zum Beispiel rotbraunes
Brillenfutteral versteckt sich auf rotbraunem Möbel; doch Haupttücke
des Objekts ist, an den Rand kriechen und sich da von der Höhe
fallen lassen, aus der Hand gleiten -- du vergissest dich kaum einen
Augenblick und ratsch --«
Wir hörten in diesem Augenblick ein kleines Geräusch von der Seite des
dritten Gastes her, sahen ihn hastig unter den Tisch fahren und mit
einem Körper in der Hand wieder auftauchen, den er mit großem Schrecken
und darauf folgender tiefer Wehmut betrachtete. Es war sein zuerst
mit Butter, dann mit Honig ebenso korrekt gestrichenes als korrekt
geschnittenes Brot, und dasselbe war -- »natürlich« würde A. E. sagen
-- auf die gestrichene Seite gefallen.
Ich unterdrückte nur notdürftig einen mächtigen Lachreiz, denn es war
doch auch gerade, als ob das »Ratsch« und das Fallen des Brotes in
einem geisterhaften Kausalitätsverhältnis gestanden wären. A. E. sah
ganz ernst hinüber und nickte sanft mit dem Kopfe, ohne einen Zug des
Spottes, ja eher mit einem Zug der Teilnahme, als wollte er sagen:
das kennen wir armen Sterblichen. Der Fremde schoß jetzt nicht nur
einen, sondern eine Batterie von Blicken, grimmigen, auf uns herüber
und machte sich höchst verdrießlich an das Geschäft, dem unheilbaren
Schnitten einen entsprechenden Nachfolger hervorzubringen.
A. E. fuhr ruhig fort: »Dann ist es überhaupt so eine Sache mit
dem Ding da, den zwei Dingen, was Kant die reinen apriorischen
Anschauungsformen nannte.«
»Raum und Zeit?«
»Eben. Was ist der Raum denn andres, als die unverschämte Einrichtung,
vermöge deren ich, um den Körper ~a~ hierherzusetzen (-- er zeigte es
an Tassen, Kannen, Körbchen, Flaschen, Gläsern, die etwas dicht auf dem
Tische standen --), vorher ~b~ dort weg, um Platz, für b zu bekommen,
wieder ~c~ da hinwegstellen muß und so mit Grazie ~in infinitum~ --?
Und die Zeit? Das ist dasjenige, was man dazu doch nicht hat. Denn
Donnerwetter und alle tausend Teufel, leben wir dazu, um zehn Griffe
nötig zu haben zu dem, was kaum eines Griffs wert ist!«
Der Unbekannte bewegte jetzt stärker und ärgerlich lachend den Kopf hin
und her und eine sichtbare Unruhe kam ihm in die Beine.
A. E. war nun gut im Zuge. »Ein andermal«, fuhr er fort, »sind die
Nickel unverschämt in entgegengesetzter Richtung. Jetzt will zusammen,
was nicht zusammengehört. Kennen Sie eine der verfluchtesten Formen:
das Mitgehen? Wenn so ein liebenswürdiges Blatt, das zum Aktenstoß Y
gehört, beim Ordnen, Aufbewahren zu unterst an Faszikel Z hinkriecht
und mit hinein in das Schubfach schlüpft und sich über Tag, Woche
oder Jahr nicht finden, sich suchen läßt unter Verzweiflung, Wut,
Rennen bis zum Wahnsinn? Dagegen ist so was, wie das bekannte, ewige
Unterschlüpfen der Damenkleider unter den Stuhlfuß des Nachbars nur
ein kleiner, zierlich pikanter Spaß des teufelbesessenen Objekts,
doch interessant als allein schon hinreichend, unsre dumme Physik zu
stürzen, denn wer könnte so etwas mechanisch erklären?«
Jetzt fuhr der Fremde auf mit dem Ruf: »Es wird zuviel!« stieg mit
straffen Schritten auf uns los, pflanzte sich vor A. E. auf und
mit Zornblick rief er: »Mein Herr! Wissen Sie, ich bin Professor
der Physik! Sie haben mir aber auch gleichsam mein Butterbrot
hinuntergeworfen!«
A. E. verweilte auf dem Mann mit einem ganz gelassenen, ganz
kontemplativen Blick und schwieg. Was werden sollte, wer konnte es
wissen? Plötzlich stieg ihm eine flammende Röte ins Gesicht, seine
Augen funkelten, er fuhr auf, und ich, da ich meinen Mann eben doch
noch nicht so ganz kannte, wurde schon für den Frieden besorgt, als
er mit Sturmschritten, ja mit Sätzen wie ein Panther quer über das
Zimmer nach einer Ecke schoß, wo das oben zart erwähnte Gerät stand,
und nun ging ein Husten, Niesen mit untermischtem Schlucken, seltsamen,
wilden Gurgel- und Schnapptönen, ein so schreckliches Glucksen,
Kollern, Fauchen, Raspeln, Schnarren, Stöhnen, schußartiges Bellen los,
als hörte man die rasende Musik eines Chors von Höllengeistern. Es
dauerte ziemlich lange, bis diese furchtbare Naturerscheinung vorüber
war, dann richtete sich der leidende Mann matt in die Höhe, griff
nach Hut, Tasche, Stab und sagte im Abgehen zu mir mit jammernswert
fistulierender Stimme: »Bitte, haben Sie die Güte, den Herrn zu
beruhigen! Guten Tag beiderseits.«
Der Herr war im Schrecken zur Seite getaumelt, als A. E. so jäh in die
Höhe fuhr; dann sah und hörte er mit starrem Staunen den Evolutionen
des erschrecklichen Gewitters zu und schickte dem Abgehenden einen
langen, verwirrten Blick nach. Endlich wandte er sich gegen mich,
zwinkerte mich mit den Augen an und deutete mit dem Finger auf seine
Stirn. Ich zuckte die Achseln. Er schien dies für volle Bejahung zu
nehmen, war nun wirklich beruhigt und schritt mit frischem Eifer an die
Erneuerung seines Frühstückwerks.
Ich mochte dem Vorangegangenen nicht so schnell folgen; es hätte
scheinen können, als wolle ich mich aufdrängen. Ich war doch etwas
ungehalten, daß er so rücksichtslos davongelaufen; indem ich mich
besann, was ich beginnen solle, um meinen Abmarsch ein halbes Stündchen
noch hinzuziehen, fiel mir ein: Halt, gefunden! Grobian, deine Strafe
soll nicht ausbleiben, du sollst beschrieben werden! Ich ging gleich
an die Vorarbeit, machte mir eine Reihe von Notizen in mein Tagebuch
und brach auf, als ich annehmen konnte, mein wunderlicher Held habe nun
genügenden Vorsprung.
[Illustration]


[Illustration]


Adolph Bayersdorfer:
Die militärpflichtige Tante.

Der einzige Mensch, den ich noch mit einem Haarbeutel gesehen habe,
mit einem solchen nämlich, wie man sie vor Zeiten außen am Kopfe
trug, war mein alter Großoheim, welcher vordem beim deutschen
Reichs-Kammergericht in Wetzlar angestellt gewesen und zugleich mit
diesem berühmten Institut in eine wohlverdiente Pension gegangen war.
In dem komplizierten Räderwerk des obersten deutschen Gerichtshofes
hatte er ein ganz kleines Federchen, Rädchen oder Kettchen
vorgestellt als ein versteckter Unterbeamter einer untergeordneten
Registraturskanzlei, welche ihrerseits wieder die Unterabteilung
einer anderen war. Wenn ich nun meines Großoheims ganzen Titel
herschreiben wollte -- eine einzige monströse Namen-Kumulation, welche
in pünktlicher Fixierung die Titulaturen aller Stellen von oben herab
gewissenhaft mit einschloß, bis sie bei seinem bescheidenen Posten
angelangt war -- so müßte ich mindestens einmal dazwischen frisch
Tinte schöpfen, gleichwie die Leute, die so viel Zeit hatten, ihn bei
seinem ganzen Titel rufen zu können, einmal Atem holen mußten unter der
Absagung dieses einzigen Wortes.
Der gesegnete Träger dieser Titelschleppe, deren Länge, wie
herkömmlich, im umgekehrten Verhältnisse zum Gehalte ihres Eigentümers
stand, war ein hagerer, schweigsamer Mann mit knochigem Gesichte,
der gleich der verkörperten Theorie immer ganz grau und altväterlich
gekleidet einherging, bis an den Hals zugeknöpft. Pedanterie in
allen Dingen war wohl seine einzige Passion. Er fand einen Genuß in
der Pünktlichkeit, mit welcher er jeden Tag zu den gleichen Stunden
das Gleiche tat, und auf seinen Spaziergängen, die den größten Teil
seiner Mußestunden (er hatte deren täglich vierundzwanzig) in Anspruch
nahmen, sah man ihn immer mit denselben Glockenschlägen um dieselben
Ecken biegen. Der Spaßmacher des Städtchens richtete solange seine Uhr
scherzweise nach meines Großoheims Spaziergängen, bis er endlich für
gut fand, diese Art der Zeitregulierung in vollem Ernste beizubehalten.
In der mediatisierten Reichsstadt, woselbst er seine Pension verzehrte,
war er zur Zeit meiner Schuljahre, wie gesagt, der einzige Mensch mit
einem Haarbeutel und deswegen für uns reichsstädtische Jugend eine
besonders interessante Gestalt, welche wir gleich einer Reliquie
halb mit ehrwürdiger Scheu, halb mit dem aufkeimenden Spotte eines
zweifelnden Gemütes, das sich der verderblichen Aufklärung zuneigt,
anzustaunen gewohnt waren.
Mein Großoheim war mit meiner Großtante verheiratet, ein Umstand,
dessen Zufälligkeit mir als Kind viel zu denken gab. Die Großtante war
eine altmodische Frau und hatte ihrem Manne drei Töchter beschert,
welche auch nie recht in die Mode kommen wollten. Die dritte, welche
fast zwei Jahrzehnte jünger war als ihre Schwestern, hatte den seltenen
Namen Mauritia und war als meine Tante bei allen Wendepunkten meines
jungen Lebens, von der Taufe angefangen bis zur Erlangung der ~Toga
virilis~, mein religiöser Beistand. In ihren späteren Tagen bekam sie
dasselbe verblichene Kanzlei-Aussehen, wie es ihr Vater gehabt hatte,
und glich ihm überhaupt mehr, als ihrer Weiblichkeit gut stand.
Das mochte mit den ersten Eindrücken zusammenhängen, welche sie in
ihrer Jugend erfahren hatte, denn die Geburt meiner Tante fiel in die
wüsten Kriegsjahre am Anfange unseres Jahrhunderts, und Trommeln und
Schießen war ihren kleinen Ohren geläufiger geworden, als Wiegenlieder.
So war sie denn unter dem Zeichen des Mars zur Welt gekommen und
konnte sich diesem planetarischen Einflusse so wenig entziehen, daß sie
sogar in ihrem einundzwanzigsten Jahre konskribiert wurde.
Das kam aber so. Als sie ungefähr drei Jahre alt war, nahm der
schreckliche Kriegslärm, der mit Feuer und Schwert über die Länder
gezogen war und wie manche Gegend, so auch meines Großoheims Wohnsitz
doppelt und dreifach heimgesucht hatte, ein ersehntes Ende, und
ein zaghafter Friede, an den niemand recht glaubte, kam schüchtern
ins Land geschritten. Mit ihm aber auch eine Anzahl kaiserlicher,
königlicher, kurfürstlicher und anderer Kommissäre, welche die vielen
Gemeinde- und Kirchenbücher, Taufregister und Steuerlisten, die von
der Kriegsfurie waren vernichtet oder verschleudert worden, so gut es
eben gehen wollte, mit oder gegen den Willen der geliebten Untertanen
wiederherstellen sollten.
Von dem ersten und wichtigsten Punkte nun, dem der Steuern, abgesehen,
lag es den huldreichen Landesvätern am Herzen, durch eine sorgfältige
Aufnahme des Familienstandes ihrer Landeskinder die verloren
gegangenen Standesregister zu ersetzen, um in späteren Jahren nicht
der langen Konskriptionslisten entbehren zu müssen und so um die
schönen blankgeputzten Soldaten betrogen zu werden, die so herrlich
»Präsentiert's Gewehr« machen können. Die Leute aber hatten in ihrer
Untertanentreue den väterlichen Kunstgriff bald losbekommen und
verleugneten ihre männliche Nachkommenschaft, wo und wie sie nur immer
konnten. Und weil hie und da einer auf dem Betruge ertappt wurde,
so wurden die mit diesem Geschäfte betrauten Regierungs-Kommissare
immer strenger und mißtrauischer, kontrollierten ihre Bezirke öfter
und schrieben manchen zweimal auf, der später nur einmal konskribiert
werden konnte.
Eines Tages nun erschien ein solcher Regierungsbeamter in Begleitung
eines Schreibers in der Wohnung meines Großoheims, der eben in einem
alten vergessenen Buche über ein altes vergessenes Rechtsverfahren las
und die eintretende Gesellschaft nicht eher bemerkte, als bis ihn das
plötzliche Stillstehen der schnurrenden Spinnräder seiner Frau und
Töchter aus dem träumenden Nachdenken weckte. Er klappte also bedächtig
das Buch zu, nachdem er vorsichtigerweise durch ein eingebogenes
Eselsohr die Stelle bezeichnet hatte, wo er in einem endlosen
Fiskalatsprozeß die interessante Lektüre hatte unterbrechen müssen, und
fragte die Herren nach ihrem Begehr. Die Frau und die beiden Töchter
standen wie bei jedem Besuche, der in den Hafen ihrer Häuslichkeit
verschlagen wurde, verlegen und mit überflüssigen Gesichtern in den
Ecken, als ob sie sich selbst im Wege wären, während sich die kleine
Mauritia, in der Familie herkömmlich »Moritz« geheißen, hinter die
geöffnete Tür des Schlafzimmers geflüchtet hatte.
Der Herr Kommissarius nun, der eine Uniform anhatte und für andere
Leute streng, für sich selbst aber selbstgefällig schlau aussehen
wollte und aufs Haar einem Narren glich, fragte mit geheimnisvoller
Weitschweifigkeit vorerst den Familienvater um seinen Namen und
Stand, dann um Frau und Kinder, worauf ihm der Großoheim die beiden
Töchter vorstellte. Diese traten, nicht eben reizende Gestalten, mit
plastischer Unweltläufigkeit, linkisch und hocherrötend, vor und
hatten ein Ansehen, als erwarteten sie mit schuldbewußten Mienen,
aber heroisch gefaßt, einen grausigen Urteilsspruch. Doch es wurden
bloß ihre Namen in die Liste geschrieben, gleichwie vorher die Namen
von Vater und Mutter. »Habt ihr sonst keine Kinder?« fragte nun der
fremde Mann sehr strenge. »Doch noch ein kleines«, antwortete die Frau,
welche ihrem Manne zuvorkommen wollte, »aber Sie werden entschuldigen,
es ist noch gar nicht gewaschen und ordentlich angezogen.« -- »Das
hat nichts zu sagen,« erwiderte der Mann mit wunderbarer Mischung von
Herablassung und Strenge. Die kleine Mauritia mußte also vorgestellt
werden, und während die Großtante rief: »Moritz, Moritz wo bist du
denn, komm einmal her und gib dem Herrn Vetter die Hand,« stürzten die
beiden Töchter mit Häscherschritten hinter die Tür, zogen Fräulein
Mauritia, die sofort ihr Kriegsgeheul anstimmte, ziemlich gewalttätig
hervor, putzten ihr mit einer Schürze die Nase und sahen sie drohend
und grimmig an, froh, daß das unbekannte Verhängnis über ihre eigenen
Häupter hinweggezogen. Tantchen Moritz aber, in dem beneidenswerten
Stadium der Erscheinung sich befindend, in dem es auch dem geprüftesten
Kenner nicht möglich wird, sei es aus der Gesichtsbildung, sei es aus
der Tracht einen Schluß zu ziehen auf das Geschlecht, dem ein kleiner
Weltbürger künftig angehören solle -- konzertierte ruhig weiter,
während der Großoheim dem Beamten Zeit und Ort der Geburt des kleinen
Schreihalses gewissenhaft angab. Schließlich schrieb dieser strenge
Mann eigenhändig noch eine Bemerkung in die von seinem Schreiber
ausgefüllte Liste und empfahl sich. Der Oheim setzte sich wieder
an seinen Prozeß, nachdem er noch für seine Frau und Töchter die
erklärenden Worte hatte vernehmen lassen: »Das waren die Herren von der
neuen Volkszählung,« und Frau und Töchter setzten sich wieder an ihre
Spinnräder, und der kleine Moritz schluchzte sich in einem Winkel in
großen Pausen langsam in den Schlaf.
Nach Verlauf von achtzehn Jahren hatte sich manches geändert. Meine
Großtante hatte das zeitliche gesegnet, und eine ihrer unmodischen
Töchter, die gewiß zeitlebens eine reine Jungfrau gewesen, war ihr
nachgefolgt und als grobknochiger Engel und gute Seele zum Himmel
aufgeflogen. Die andere war bei ihrem alten Vater geblieben, welcher,
wie es schien, so lange leben wollte, bis die Haarbeutel wieder
in die Mode kämen. Durch seine geringe Pension allein ließ sich
wenigstens sein hohes Alter nicht zureichend erklären. Noch jahrelang
sah man seine melancholische Figur als ungestorbenes Gespenst um den
Stadtgraben spazieren gehen.
Tante Moritz, »das Jüngste«, war schon mit ihrem zwanzigsten Jahre
in die Residenzstadt ihres bundespflichtigen Großstaates und engeren
Vaterlandes gekommen. Durch des Schicksals Gunst war sie die Erzieherin
der ungezogenen Backfische eines befreundeten Land-Adeligen geworden,
der infolge einer unerwarteten und unverdienten Erbschaft in die
Stadt und in die Nähe des Hofes übergesiedelt war, wo er sich und
seine Söhne in der höheren Kutscherei ausbilden konnte. Da erschien
nun eines Tages bei meinem Großonkel ein Magistratsbote mit einer
geschriebenen Aufforderung, daß der militärpflichtige Moritz N., Sohn
des Reichskammergerichts- usw. usw.-Registraturs-Kanzlisten N.,
mit 11 Gulden 29 Kreuzern und 2 Pfennigen Strafgeld für versäumte
Konskriptions-Anmeldung auf dem Bureau Nr. ~X~ zu erscheinen habe.
Der alte Mann betrachtete kopfschüttelnd das Papier, zog dann seinen
längsten grauen Rock an, auf dessen hohem Kummetkragen sich der
Haarbeutel ein fettiges Widerlager zurechtgewetzt hatte, und ging
ganz gegen seine gewohnte Stundenordnung auf das Amt. Nachdem er dort
infolge des vorschriftsmäßigen Schreibversehens in der Vorladung aus
einigen Zimmern hinaus- und in andere hineingebrüllt worden war, kam
er, der dieses Verfahren aus eigener Praxis kannte und deshalb ohne
Nebengedanken hinnahm, endlich zu dem richtigen Eisenfresser, dem seine
Angelegenheit zustand. Mein Großonkel, dem auf dem Wege ein Licht über
dem Dunkel aufgegangen war, legte nun Rätsel und Auflösung zugleich
vor, indem er die Vermutung begründete, daß seine Tochter Mauritia
weiland durch irgendein Versehen als Knabe möchte in die Familienliste
eingetragen worden sein. Doch er fand sehr ungnädiges Gehör und die
ungläubige Miene eines unduldsamen Besserwissers. Hatte mein Großonkel
einen Haarbeutel, so hatte der Beamte einen mächtigen Zopf. Mit
beleidigender Genauigkeit ließ dieser seine Aussagen zu Protokoll
nehmen und gab ihm nicht undeutlich zu verstehen, daß er ihn für den
Mitwisser eines abgekarteten Betruges halte. So wurde er fürs erste mit
Unheil verkündender Kälte entlassen. Der Mann mit dem Zopf war schnell
hinter der Sache her. Noch ehe mein Großonkel seine Tochter von dem
Vorfalle in Kenntnis gesetzt hatte, bekam diese in der Residenz eine
Vorladung auf die Polizei. Sie wußte freilich nicht, was sie dort zu
schaffen haben sollte; weil aber mit dem hochlöblichen Institute nicht
zu spaßen ist, so setzte sie ihren Sonntagshut auf, sah noch einmal in
den Spiegel und ging befriedigt über ihr Äußeres -- sie die einzige,
die es je war -- nach dem Polizeiamte. Man sagt zwar: »Jung ist der
Teufel schön«, aber Tante Moritz machte die zu jeder Regel gehörige
Ausnahme und war auch jung nicht schön. Sie war groß, knochig und mager
und sah ihrem Vater ähnlich bis zur Lächerlichkeit. Dieser aber hatte
nie wie ein Frauenzimmer ausgesehen. In dieser wenig einnehmenden
Außenhülle barg sie aber eine zarte weibliche Seele, verletzbar und
scheu, die noch wenig die bittere Gelegenheit gehabt hatte, sich im
stoßenden, drängenden Weltgetriebe abzustumpfen. Eine emanzipiert
klingende Altstimme, die ihr bis in ihr hohes Alter verblieb und
dann der alten Dame besonders würdevoll stand, bildete in ihrer
Jugend einzig einen angenehmen Gegensatz zu ihrer frauenzimmerlichen
Häßlichkeit, aber leider nicht zu ihrem männlichen Aussehen.
Als sie das richtige Bureau gefunden hatte, trat sie schüchtern
ein und blieb erwartend an der Tür stehen. Kaum hatte sie auf die
ergangene Frage ihren Namen genannt und die Vorladung gezeigt, als
der Polizeikommissär und sein Schreiber einen schnellen Blick der
Aufforderung wechselten und dann eine peinliche Pause lang die Gestalt
an der Tür fixierten. Wieder begegneten sich verständnisinnig und
mit triumphierendem Ausdrucke ihre Augen; ihr scharfer Beamtenblick
hatte untrüglich den Simulanten erkannt. In diesem Falle glaubte der
Kommissär kurz angebunden sein zu müssen und eröffnete das Verhör:
»Sie werden sich denken können, weshalb Sie vorgeladen sind?«
»Nein, leider nicht.«
»Wenn ich Ihnen aber sage, daß dieses das Bureau für
Konskriptionsangelegenheiten ist.«
»Ich bedaure, daß mir die Sache dadurch nur um so rätselhafter
erscheint.«
»So muß ich Ihnen denn kurzweg sagen, daß Sie im Verdachte stehen,
sich durch fortgesetzte Simulation, das heißt, indem Sie weibliche
Verkleidung tragen und sich seit Ihrem Hiersein durchaus als
Frauenzimmer geberden, Ihrer Konskriptionspflicht entzogen zu haben,
respektive noch entziehen zu wollen.«
Versteinerungspause. --
»Auch muß ich Ihnen gestehen, das Ihr Äußeres diesem Verdachte nur
Vorschub leisten kann.«
Fortsetzung der Pause und anhebende Versenkungsgefühle.
Welche echte Weiblichkeit hätte auch nicht zu sprachlosem Erstaunen
erstarren müssen bei der Zumutung, sich als renitenten Rekruten zu
bekennen. Wie Lots Weib nach der Salifizierung stand die Ärmste an der
Türe. Der Beamte kannte aber diese Kniffe schon und fuhr unerschüttert
fort:
»Also, gestehen Sie, oder nicht?«
Die Tante schnappte etwas nach Luft und Bewußtsein und stammelte einige
undeutliche Worte, die zwar keinen Sinn gaben, aber unzweideutig den
Charakter der Ablehnung trugen, womit sie eine solch ungeheuerliche
Insinuation von sich wies.
»Wenn Sie bei Ihrer Leugnung verharren, so muß ich Sie auf einige
Augenblicke in das Zimmer des Gerichtsarztes weisen lassen.«
Er rief einen Boten.
»Bringen Sie diesen Simul--, diese Dame will ich sagen, ins ärztliche
Bureau, geben Sie dem Doktor diesen Akt, er weiß schon von der Sache,
und warten Sie vor der Tür.«
Die Tante war vollständig vergeistert und wurde willenlos abgeführt.
Für sie war gerade Weltuntergang, und der letzte Rest von
Zurechnungsfähigkeit war von ihr gewichen. Als sie aber mit ihrem
ungebetenen Beschützer beim Gerichtsarzt eintrat, fand sie dort
außer diesem Herrn noch die Gerichtsärztin, seine Frau, die, einen
Koketterie-Marktkorb am Arme, ihrem Manne geschwind den neuesten
Klatsch mitteilen mußte. Denn dieser hatte sich bei ihr seit dem
Frühstück in so ungebührlicher Weise aufgestaut, daß sie es unmöglich
länger allein tragen konnte.
Die geschwätzige rundliche Dame erschien meiner Tante wie dem
Ertrinkenden eine rettende Fee, die aus geöffnetem Himmel
herniederschwebt; hier freilich mit einem Gewicht von anderthalb
Zentnern. Die Erstarrung wich von ihr und machte einer vollständigen
Auflösung alles geistigen Vermögens in überquellende Schmerzgefühle
Platz. Noch ehe ein Wort gesprochen worden war, sank sie mit krampfhaft
losbrechendem Schluchzen der neugierigen Dame, die schon eine monströse
Neuigkeit witterte und die Tore ihrer fünf Sinne sperrangelweit
geöffnet hielt, in die fetten Arme. Einer solchen Appellation an
ihre Menschlichkeit und Souveränität konnte die Gerichtsärztin
nicht widerstehen. Hatte sie doch nie das eheliche Szepter aus den
Händen gegeben und auch schon verschiedene Male im Amtszimmer ihr
Regiment ausgeübt. Sofort machte sie sich zum Herrn der Situation
und hatte ihrem Manne, der während dieser Szene zur vollständigen
Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpft war und aller Amtswürde bar
dastand, als wäre er der Simulant, in wenigen Augenblicken die saubere
Geschichte abgehorcht. Ihr weiblicher Instinkt war hier nicht im
geringsten Zweifel und stand weit über der Wissenschaft ihres Mannes.
Unter Androhung der höchsten ehelichen Strafen erteilte sie ihm den
gemessenen Befehl, die gekränkte Dame in Frieden zu entlassen und
dafür zu sorgen, daß dieses auch von anderer Seite geschehe. Hier
hieß es gehorchen. Mit einer bedauernden Geberde wandte sich der
arme Leibeigene, dem der Gerichtsarzt ganz abhanden gekommen war, zu
der fremden Dame und stotterte verbindlichst, er habe überhaupt nie
gezweifelt --
Ein gebieterischer Blick seiner Frau schnitt ihm die zweite Hälfte des
Satzes vor dem Munde ab.
Unter Redensarten und Tränen löste sich allmählich die Gruppe auf,
und während die Gerichtsärztin, erfüllt von der geleisteten Heldentat
und voll brennenden Verlangens nach mündlicher Erleichterung, in
das Menschengewoge der Stadt hinausstürzte, führte ihr Mann dem
erhaltenen Befehle gemäß die weinende Tante unter entschuldigenden
Beschwichtigungen in das Bureau des Kommissärs zurück, sprach noch
einige begütigende Worte und empfahl sich hastig, es dem Kommissär
überlassend, sich aus seinem Gebahren den richtigen Schluß zu ziehen.
Bei seinem Eintreten hatten dieser und sein Schreiber, als sie die
höflichen Redensarten des verwirrt dreinblickenden Doktors vernahmen,
wieder einen raschen Blick gewechselt, diesmal aber mit einer
trostlosen Jammer- und Schreckensmiene. Sie waren aus dem siebenten
Himmel ihrer Beamtenweisheit heruntergestürzt, und es blieb von ihnen
nichts mehr übrig als der gebrechliche Mensch, behaftet mit dem
Aussatze des Irrtums. Der Schreiber faßte sich schnell; was ging es
ihn an, wenn sein Vorgesetzter eine Dummheit machte? Mit der brutalen
Rücksichtslosigkeit eines verantwortungsfreien Subalternbeamten vergrub
er sich in seine Akten, mit vielem Geräusch rechnend und blätternd,
und schien über seinem plötzlich eingebrochenen Geschäftseifer alles
um sich her vergessen zu haben. Treulos im Stiche gelassen, stand
der Kommissär vor dem still fortweinenden Mädchen. Er nahm einige
Male einen Anlauf zu wohlgesetzten Entschuldigungen. Sie gerannen
ihm wie schlechte Milch, noch ehe er sie vollendete. Er wollte sich
fassen, sein Herz verhärten und sich kaltblütig hinter seine Pflicht
verschanzen. Es gelang ihm nicht; er stand noch zu sehr unter der
Wirkung der Überraschung. Jeder Versuch, etwas zu sagen, erweckte
nur ein vernehmlicheres Schluchzen der Unglücklichen. In heller
Verzweiflung ließ der entwurzelte Beamte gleich einem gefangenen
Wilden seine Blicke an den Wänden herumlaufen, wobei sie auch einen
wütenden Abstecher nach dem fleißigen Schreiber machten. Aber an den
staubigen Aktenstellagen wollte sich kein rettendes Wunder ereignen;
keine Öffnung ließ sich dort hineinblicken, durch welche eine gequälte
Bureaukratenseele hätte entweichen können. Und doch kam ihm von dort
her ein Lichtstrahl. Woher könnte auch sonst einem braven Beamten eine
Erleuchtung kommen! »Warten Sie,« sagte er und zog aus einem der Fächer
ein Formular hervor, füllte es aus und stempelte es geschäftsmäßig ab.
Mit dieser gewohnten Hantierung hatte er seine Fassung wieder errungen.
Er faltete den Bogen nicht ohne Feierlichkeit zusammen, näherte sich
der Dame und sprach: »So, nehmen Sie das, das wird gut tun«, mit einem
so milden und begütigenden Ausdruck, wie ihn nur der Arzt haben kann,
der dem stöhnenden Verwundeten den lindernden Verband anlegt.
Mechanisch hatte der weinende Rekrut den papiernen Trost ergriffen
und schwamm nun in Tränen nach Hause. Kaum fand sich Tante Moritz
dort in Sicht eines soliden Sofas, als sie auch sofort in die lange
zurückgehaltene, aber offenbar zur Sache gehörige Ohnmacht fiel unter
so viel nachfolgenden Krämpfen, als ihrer weiblichen Ehre unumgänglich
notwendig schienen. Bald hatte sie das ganze Haus auf die Beine
gebracht. Die jungen Gräfinnen weinten in ihrer Unerfahrenheit, und
die jungen Grafen standen mit Bereiterstiefeln und Reitpeitschen um
den Fall herum und machten stehengebliebene Gesichter. Am liebsten
hätten sie auch geweint, wenn das nicht gegen die Stiefel gewesen wäre.
Die alte Gräfin und ein Stubenmädchen bemühten sich mit erprobten
Hausmitteln um die Kranke, und der alte Herr Graf nahm der bewußtlos
Daliegenden ein zerknittertes Papier aus der Hand, entfaltete es und
las: »Militär-Entlassungsschein«. In diesem Denkmal polizeilicher
Konsterniertheit wurde der Moritz N. aus der Altersklasse 1801, Tochter
des weiland Reichskammergerichts- usw. usw. -Registraturskanzlisten,
wegen allgemeiner Untauglichkeit seiner Militärdienstpflicht los- und
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