Deutsche Humoristen, 2. Band (von 8) - 10

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bescheidener, schüchterner Charakter, den Mama oft hochgepriesen,
konnte mir unter den Polen beim ersten Aufstande zum schmählichsten
Verderben gereichen. Es gibt Tugenden, die an ihrem Orte zur Sünde,
und Sünden, die zur Tugend werden können. Es ist nicht alles zu allen
Zeiten das gleiche, ungeachtet es das gleiche geblieben.
Als ich durch die hohe Pforte in die sogenannte alte Starostei eintrat,
geriet ich in Verlegenheit, wo mein alter, lieber Freund Burkhardt zu
finden sei. Das Haus war groß. Das Kreischen der verrosteten Türangeln
hallte im ganzen Gebäude wieder; doch veranlaßte das niemanden,
nachzusehen, wer da sei? Ich stieg die breiten Steintreppen mutig
hinauf.
Weil ich links eine Stubentür bemerkte, pochte ich fein höflich an.
Kein Mensch entgegnete mit freundlichem »Herein!« Ich pochte stärker.
Alles stumm. Mein Klopfen weckte den Widerhall im zweiten und dritten
Stocke des Hauses. Ich ward ungeduldig. Ich sehnte mich, endlich dem
lieben Seelenfreunde Burkhardt ans Herz zu sinken, ihn in meine Arme
zu schließen. Ich öffnete die Stubentür, trat hinein und sah mitten im
Zimmer einen Sarg. Der Tote, der darin lag, konnte mir freilich kein
freundliches Herein zurufen.
Ich bin von Natur gegen die Lebendigen sehr höflich, noch weit mehr
gegen die Toten. So leise als möglich wollte ich mich zurückziehen,
als ich plötzlich bemerkte, der Schläfer im Sarge sei kein anderer,
denn der Obersteuereinnehmer Burkhardt, von welchem nun selbst der Tod
die letzte Steuer eingezogen. Da lag er, unbekümmert um Weinglas und
Karten, so ernst und feierlich, daß ich mich kaum unterstand, an seine
Lieblingsfreuden zu denken. In seiner Miene lag etwas dem menschlichen
Leben so Fremdes, als hätte er nie mit demselben zu schaffen gehabt.
Ich glaube wohl, wenn eine unbekannte allmächtige Hand den Schleier
des Jenseits lüpft, das äußere Auge bricht und das innere hellsehend
wird, da mag das irdische Leben winzig genug erscheinen, und alle
Aufmerksamkeit nur dorthin streben.
Betroffen schlich ich aus der Totenstube, in den finstern, einsamen
Hausgang zurück. Jetzt erst überfiel mich ein solches Grausen vor dem
Toten, daß ich kaum begreifen konnte, woher ich den Mut genommen, dem
Leichnam so lange ins Antlitz zu schauen. Zu gleicher Zeit erschrak ich
vor meiner eigenen Verlassenheit, in der ich nun lebte. Denn da stand
ich hundert Meilen weit von meiner teuern Vaterstadt, vom mütterlichen
Hause, in einer Stadt, deren Namen ich nie gehört hatte, bis ich ihr
Justizkommissar werden sollte, um sie zu entpolacken. Mein einziger
Bekannter und kaum erst von mir adoptierter Herzensfreund hatte sich im
vollen Sinne des Wortes aus dem Staube gemacht, und mich ohne Rat und
Trost mir selbst überlassen. Die Frage war: wohin soll ich mein Haupt
legen? wo hat mir der Tote die Wohnung bestellt?
Indem kreischten die rostigen Türangeln der Hauspforte so
durchdringend, daß mir der Klang fast alle Nerven zerriß. Ein windiger,
flüchtiger Kerl in Bedientenlivree sprang die Treppe herauf, gaffte
mich verwundert an und richtete endlich das Wort an mich. Mir zitterten
die Kniee. Ich ließ den Kerl nach Herzenslust reden; aber der Schreck
hatte mir in den ersten Minuten zum Antworten die Sprache genommen.
Ohnehin hatte ich auch schon vorher die Sprache nicht gekonnt, die
dieser Bursche redete, denn es war die polnische.
Als er mich ohne Zeichen der Erwiderung vor sich stehen sah, und sich
nun ins Deutsche übersetzte, welches er so geläufig, wie ein Berliner,
sprach, gewann ich Kraft, nannte meinen Namen, Stand, Beruf und alle
Abenteuer seit meinem Einzuge in die verwünschte Stadt, an deren Namen
ich noch immer erstickte. Plötzlich ward er freundlich, zog den Hut ab
und erzählte mir mit vielen Umständen, was hiernach in löblicher Kürze
folgt:
Nämlich er, der Erzähler, heiße Lebrecht; sei des seligen Herrn
Obersteuereinnehmers Dolmetsch und treuester Diener gewesen bis
gestern Nacht, da es dem Himmel gefallen, den vortrefflichen Herrn
Obersteuereinnehmer aus dieser Zeitlichkeit in ein besseres Sein zu
befördern. Die Beförderung wäre freilich ganz gegen die Neigung des
Seligen gewesen, der lieber bei seinem Einnehmerposten geblieben wäre.
Allein als er sich gestern mit einigen polnischen Edelleuten ins
Spiel eingelassen, und beim Glase Wein in ihm der preußische Stolz
und in den Polen der sarmatische Patriotismus wach geworden, hätte es
anfangs einen lebhaften Wort-, dann Ohrfeigenwechsel gesetzt, worauf
einer der Sarmaten dem seligen Herrn drei bis vier Messerstiche ins
Herz gegeben, ungeachtet schon einer derselben zum Tode hinreichend
gewesen wäre. Um allen Verdrießlichkeiten der neuostpreußischen Justiz
auszuweichen, hätten sich die Sieger noch in derselben Nacht, man wisse
nicht wohin, entfernt. Der Selige habe noch kurz vor seinem Hintritt in
die bessere Welt für den erwarteten Justizkommissar, nämlich für mich,
einige Zimmer gemietet, eingerichtet, Hausrat aller Art gekauft, sogar
eine wohlerfahrene deutsche Köchin gedungen, die jeden Augenblick in
den Dienst eintreten könne, so daß ich wohl versorgt sei. Beiläufig
bemerkte der Erzähler Lebrecht, daß die Polen geschworene Feinde der
Preußen wären, und ich daher an Kleinigkeiten mich gewöhnen müsse, wie
diejenige gewesen, welche mir die stumme Beredsamkeit der Dame unterm
Tor ausgedrückt habe. Er erklärte zwar den Peter für einen albernen
Tropf, der mir ohne Zweifel nur den Tod des Herrn Obersteuereinnehmers
habe anzeigen wollen, wofür ihm ein hinlänglicher Vorrat an Worten
gefehlt; daher möge ein beiderseitiges Mißverständnis entstanden sein:
doch wolle er, der Erzähler, mir nichtsdestoweniger geraten haben,
vorsichtig zu sein, weil die Polen in einer wahrhaft stillen Wut wären.
Er selber, der Lebrecht, sei fest entschlossen, sich sogleich nach
Beerdigung seines unglücklichen Herrn aus der Stadt zu entfernen.
Nach diesem Berichte führte er mich die breite steinerne Treppe hinab,
um mir meine neue Wohnung anzuweisen. Durch eine Reihe großer, hoher,
öder Zimmer brachte er mich in einen geräumigen Saal; darin stand ein
aufgeschlagenes Bett, von gelben damastenen alten Umhängen beschattet;
ein alter Tisch mit halbvergoldeten Füßen; ein halbes Dutzend staubiger
Sessel. Ein ungeheuerer, mit goldenem Schnörkelwerk umzogener,
blinder Spiegel hing an der Wand, deren gewirkte, bunte Tapeten, auf
welchen die schönsten Geschichten des Alten Testamentes prangten,
halbvermodert, an manchen Stellen nur noch in Fetzen herabhingen. König
Salomo auf dem Throne, um zu richten, hatte den Kopf verloren, und dem
lüsternen Greise in Susannens Bade waren die verbrecherischen Hände
abgefault.
Es schien mir in dieser Einöde durchaus nicht heimisch. Ich hätte
lieber ein Wirtshaus zum Aufenthalt gewählt, und -- hätte ich's nur
getan! Aber teils aus Schüchternheit, teils um zu zeigen, daß ich mich
vor der Nähe des Toten nicht fürchtete, schwieg ich. Denn ich zweifelte
nicht daran, daß Lebrecht und wahrscheinlich auch die wohlerfahrene
Köchin mir die Nacht Gesellschaft leisten würden. Lebrecht zündete
behende zwei Kerzen an, die auf dem goldfüßigen Tische bereit standen;
schon fing es an zu dunkeln. Dann empfahl er sich, um mir kalte Küche
zum Nachtessen, Wein und andere Bedürfnisse herbeizuschaffen, meinen
Koffer vom Posthause holen zu lassen und der wohlerfahrnen Köchin von
meiner Ankunft und ihren Pflichten Anzeige zu machen. Der Koffer kam,
das Nachtessen desgleichen. Lebrecht aber, sobald er sein ausgelegtes
Geld von mir empfangen, wünschte mir gute Nacht und ging.
Ich verstand ihn erst, als er verschwunden war, so schnell machte sich
der Kerl, nach eingestrichener Zahlung, davon. Ich sprang erschrocken
auf, ihm nachzugehen, ihn zu bitten, mich nicht zu verlassen. Aber
Scham hielt mich wieder zurück. Sollte ich den elenden Menschen zum
Zeugen meiner Furchtsamkeit machen? Ich zweifelte nicht, daß er in
irgend einem Zimmer seines ermordeten Herrn übernachten werde. Aber
da hörte ich die Angeln der Hauspforte kreischen. Es drang mir durch
Mark und Bein. Ich eilte ans Fenster und sah den Burschen über die
Gasse fliegen, als verfolgte ihn der Tod. Bald war er im Finstern
verschwunden; ich mit dem Leichnam in der alten Starostei allein.

3.
Die Schildwache.
Ich glaube an keine Gespenster; des Nachts aber fürchte ich sie. Sehr
natürlich. Wer wollte auch alles mögliche glauben? Aber man hofft und
fürchtet leicht alles mögliche.
Die Totenstille, die alten, zerlumpten Tapeten in dem großen Saal, das
Unheimliche und Fremde, der Tote über meinem Haupte -- der Nationalhaß
der Polacken -- alles trug dazu bei, mich zu verstimmen. Ich mochte
nicht essen, ungeachtet mich hungerte; ich mochte nicht schlafen,
so ermüdet ich auch war. Ich ging ans Fenster, um zu versuchen, ob
ich im Notfalle auf diesem Wege die Straße gewinnen könne; denn ich
fürchtete, mich in dem gewaltigen Hause und in dem Labyrinth von Gängen
und Zimmern zu verirren, ehe ich den Hausflur erreichte. Allein starke
Eisenstäbe verrammelten den Ausweg.
In dem Augenblicke ward alles in der Starostei lebendig; ich hörte
Türen auf- und zugehen, Tritte nah und fern schallen, Stimmen
dumpf ertönen. Ich begriff nicht, woher plötzlich dies rege Leben
und Treiben. Aber eben das Unbegreifliche versteht man immer am
schnellsten. Eine innere Stimme warnte mich und sprach: »Es gilt dir!
Der dumme Peter hatte die Mordanschläge der Polacken verraten --
rette dich!« Ein kalter Fieberschauer ergoß sich durch meine Nerven.
Ich sah die Blutdürstigen, wie sie untereinander die Art meines Todes
verabredeten. Ich hörte sie näher und näher kommen. Ich hörte sie
schon in den Vorzimmern, die zu meinem Saale führten. Ihre Stimmen
flüsterten leiser. Ich sprang auf, verriegelte die Tür, und in
demselben Augenblicke versuchte man, die Tür von außen zu öffnen. Ich
wagte kaum zu atmen, um mich nicht durch das Geräusch meines Atemzuges
zu verraten. An der Sprache der Flüsternden vernahm ich, daß es Polen
waren. Zum Unglück hatte ich gleich nach Empfang meiner Berufung zum
Justizkommissariat so viel polnische Worte gelernt, daß ich ungefähr
auch verstand, man spreche von Blut, Tod und Preußen. Meine Kniee
bebten; kalter Schweiß rann mir von der Stirn. Noch einmal ward von
außen der Versuch gemacht, die Tür meines Saals zu öffnen, aber es
schien, als fürchte man, Geräusch zu machen. Ich hörte die Menschen
sich wieder entfernen, oder vielmehr davon schleichen.
Sei es, daß die Polacken es auf mein Leben, oder nur auf mein Geld
abgesehen hatten; sei es, daß sie ihre Anschläge ohne Lärmen ausführen,
oder den Versuch auf andere Weise erneuern wollten; ich beschloß
sogleich, mein Licht auszulöschen, damit sie es nicht von der Straße
erblicken und mich daran erkennen möchten. Wer stand mir gut dafür, daß
nicht einer der Kerle, wenn er mich wahrnahm, durchs Fenster schoß?
Die Nacht ist keines Menschen Freundin, darum ist der Mensch ein
angeborener Feind der Finsternis, und selbst Kinder, die noch nie von
Geistererscheinungen und Gespenstern gehört haben, scheuen sich im
Dunkeln vor etwas, was sie nicht kennen. Kaum saß ich im Finstern da,
die ferneren Schicksale dieser Nacht einsam erwartend, so stiegen vor
meiner erschrockenen Einbildung die abscheulichsten Möglichkeiten auf.
Ein Feind oder ein Unglück, das man sehen kann, sind nicht halb so
entsetzlich, als solche, denen man sich blindlings überliefern muß,
ohne sie zu kennen. Umsonst suchte ich mich zu zerstreuen; umsonst
beschloß ich, mich auf das Bett zu werfen und den Schlaf zu suchen.
Ich konnte nirgends ausdauern. Das Bett hatte den widerlichen Geruch
von Leichenmoder; und saß ich im Zimmer, so erschreckte mich von Zeit
zu Zeit ein Knistern in meiner Nähe, wie von einem lebenden Wesen. Am
meisten schwebte mir die Gestalt des ermordeten Obersteuereinnehmers
vor. Seine kalten, steifen Gesichtszüge erschienen mir so grausenhaft
beredt, daß ich endlich alle meine beweglichen Güter darum gegeben
hätte, wäre ich nur im Freien, oder bei guten, freundlichen Leuten
gewesen.
Die Geisterstunde schlug. Jeder Schlag der Turmuhr erschütterte mich
bis ins Innerste. Zwar schalt ich mich selbst einen abergläubischen
Narren, einen furchtsamen Hasen, aber mein Schelten besserte mich
nicht. Endlich, sei es aus Verzweiflung oder Heroismus, denn diesen
qualvollen Zustand konnte ich nicht länger ertragen, sprang ich auf,
tappte durch die Finsternis den Saal entlang zur Tür, riegelte sie auf,
und war entschlossen, sollte es auch mein Leben kosten, ins Freie zu
gelangen.
Als die Tür aber aufging -- Himmel, welch ein Anblick! Ich taumelte
erschrocken zurück, denn solch eine Schildwache hatte ich da nicht
erwartet.

4.
Die Todesangst.
Beim dunkeln Scheine einer alten Lampe, die seitwärts auf einem
Tischchen stand, sah ich mitten im Vorzimmer den ermordeten
Obersteuereinnehmer im Sarge, wie ich ihn den Abend vorher oben gesehen
hatte; und diesmal noch dazu deutlich mit den Blutflecken im Hemde, die
das erste Mal von einem Leichentuche verdeckt gewesen waren. Ich suchte
mich zu fassen; mir einzureden, diese Erscheinung sei Gaukelei meiner
Phantasie; ich trat näher. Aber als mein Fuß an den Sarg am Boden
stieß, daß es dumpf tönte, und es schien, als rege sich die Leiche,
als versuche sie, die Augen aufzuschlagen, da schwand mir fast alles
Bewußtsein. Ich floh mit Entsetzen in meinen Saal zurück und stürzte
rücklings auf das Bett nieder.
Indem entstand am Sarge ein lautes Gepolter. Ich mußte beinahe glauben,
der Obersteuereinnehmer sei vom Tode erwacht; denn es war ein Geräusch
eines sich mühsam Erhebenden. Ich vernahm ein dumpfes Stöhnen. Ich sah
bald darauf im Dunkeln die Gestalt des Ermordeten mitten in der Tür
meines Saales stehen, sich an den Pfosten haltend, langsam in den Saal
hineinschwanken oder taumeln, und im Dunkeln verschwinden. Während
mein Unglaube noch einmal versuchte, alles zu leugnen, was ich gehört
und gesehen hatte, widerlegte ihn das Gespenst, oder der Tote, oder
Lebendiggewordene schauderhaft genug. Denn dieser, so lang, breit und
schwer er war, lagerte sich auf mein Bett, und zwar über meinen Leib,
mit seinem kalten Rücken über mein Gesicht, so daß mir kaum Luft genug
zum Atmen blieb.
Ich begreife noch zur Stunde nicht, wie ich mit dem Leben davon kam.
Denn mein Schreck war wohl ein tödlicher zu nennen. Auch muß ich
in einer langen Ohnmacht gelegen haben. Denn als ich unter meiner
fürchterlichen Last wieder die Glocke schlagen hörte und meinte,
es werde ein Uhr sein, das erwünschte Ende der Geisterstunde, der
Augenblick meiner Erlösung -- da war es zwei Uhr.
Jeder denke sich meine gräßliche Lage. Rings um mich Moderduft,
und der Leichnam auf mir atmend, erwärmt, röchelnd, wie zu einem
zweiten Sterben; -- ich selbst halb erstarrt, teils vor Schrecken
und Entkräftung, teils unter der zentnerschweren Last. Alles Elend
in Dantes Hölle ist Kleinigkeit gegen einen Zustand, wie diesen. Ich
hatte nicht die Kraft, mich unter dem Leichnam hervorzuarbeiten, der
zum andern Mal auf mir sterben wollte; und hätte ich die Kraft gehabt,
vielleicht hätte mir der Mut gefehlt, es zu tun, denn ich spürte
deutlich, daß der Unglückliche, welcher nach der ersten Verblutung
seiner Wunden vermutlich nur eine schwere Ohnmacht bekommen hatte,
dann für tot gehalten und auf gut polnisch in einen Sarg geworfen
worden war, erst jetzt mit dem wahren Tode rang. Er schien sich
nicht ermannen, nicht leben, nicht sterben zu können. Und das mußte
ich auf mir selbst geschehen lassen! ich mußte das Sterbekissen des
Steuereinnehmers sein!
Manchmal war ich geneigt, alles seit meiner Ankunft in Brczwezmcisl
Vorgefallene für einen Teufelstraum zu halten, wenn ich mir meiner
Not in ihrer großen Mannigfaltigkeit nur nicht allzu deutlich bewußt
gewesen wäre. Und doch würde ich mich zuletzt überredet haben, die
ganze Schreckensnacht mit ihren Erscheinungen sei Traum und nichts
als Traum, wenn nicht ein neues Ereignis, ein empfindlicheres, als
jedes der vorhergehenden, mich von der Wahrheit meines vollen Wachens
überzeugt hätte.

5.
Tageslicht.
Es war nämlich schon Tag -- ich konnte es zwar nicht sehen, denn
der sterbende Freund drückte mir mit seinen Schulterblättern die
Augen fest zu -- aber ich konnte es am Geräusche der Gehenden und
Fahrenden auf der Straße erraten -- da hörte ich Menschentritte und
Menschenstimmen in dem Zimmer. Ich verstand nicht, was man redete; denn
es war polnisch. Aber ich bemerkte wohl, daß man sich mit dem Sarge
beschäftigte. »Ohne Zweifel,« dachte ich, »werden sie den Toten suchen
und mich erlösen.« -- So geschah es auch, aber auf eine Weise, die ich
nicht vermuten konnte.
Einer der Suchenden schlug nämlich mit einem spanischen Rohr so
unbarmherzig auf den Verstorbenen oder Sterbenden los, daß derselbe
plötzlich aufsprang und auf geraden Beinen vor dem Bette stand.
Auch auf meine Wenigkeit waren vom Übermaß des spanischen Rohrs
so viel Hiebe abgefallen, daß ich mich nicht enthalten konnte,
laut aufzuschreien und schnurgerade hinter dem Toten zu stehen.
Diese altpolnische und neuostpreußische Methode, Leute vom Tode
aufzuerwecken, war zwar bewährt -- dagegen ließ sich nichts einwenden,
denn die Erfahrung sprach laut dafür; allein auch so derb, daß man fast
das Sterben dem Leben vorgezogen hätte.
Als ich mich aber beim Tageslicht recht umsah, bemerkte ich, daß
das Zimmer voll Menschen war, meistens Polen. Die Hiebe hatte ein
Polizeikommissar ausgeteilt, der beauftragt war, die Leiche des
Fremdlings beerdigen zu lassen. Der Steuereinnehmer lag noch immer
tot im Sarge, und zwar im Vorzimmer, wohin ihn die betrunkenen
Polacken gestellt hatten, weil es ihnen befohlen worden war, den Sarg
in das ehemalige Pförtnerstübchen zu tragen. Sie hatten aber mein
Vorzimmer anstatt des Pförtnerstübchens gewählt, und einen ihrer
betrunkenen Kameraden als Wache bei der Leiche gelassen, der vermutlich
eingeschlafen, von meinem Geräusch in der Nacht erweckt, instinktmäßig
zu meinem Bett gekommen war und da seinen Branntweinrausch
ausgeschlafen hatte.
Mich hatte die gottlose Geschichte so arg mitgenommen, daß ich in ein
hitziges Fieber verfiel, in welchem ich die Geschichte der einzigen
schrecklichen Nacht sieben Wochen lang träumte. Noch jetzt -- Dank
sei der polnischen Insurrektion! ich bin nicht mehr Justizkommissar
von Brczwezmcisl -- kann ich an das neuostpreußische Abenteuer kaum
ohne Schaudern denken. Doch erzähle ich's gern; teils mag es manchen
vergnügen, teils manchen belehren. Es ist nicht gut, daß man das
fürchtet, was man doch nicht glaubt.


Hausbücherei
der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung.

_Bis Dezember 1904 sind erschienen folgende Bände:_
Bd. 1. =Heinrich von Kleist=: Michael Kohlhaas. Mit Bildnis Kleists,
7 Vollbildern von Ernst Liebermann und Einleitung von Dr. Ernst
Schultze. Preis gebunden 90 Pfg. _6.-10. Tausend._
Bd. 2. =Goethe=: Götz von Berlichingen. Mit Bildnis Goethes von Lips
und Einleitung von Dr. Wilhelm Bode. Preis gebunden 80 Pfg.
Bd. 3. =Deutsche Humoristen.= _Erster Band_: Ausgewählte
humoristische Erzählungen von Peter Rosegger, Wilhelm Raabe, Fritz
Reuter und Albert Roderich. 221 Seiten stark. Preis gebunden 1
Mark. _6.-10. Tausend._
Bd. 4. =Deutsche Humoristen.= _Zweiter Band_: Clemens Brentano, E.
Th. A. Hoffmann, Heinrich Zschokke. 222 Seiten. Preis gebunden 1
Mark. _6.-10. Tausend._
Bd. 5. =Deutsche Humoristen.= _Dritter Band_: Hans Hoffmann, Otto
Ernst, Max Eyth, Helene Böhlau. 196 Seiten. Preis gebunden 1 Mark.
_6.-10. Tausend._
Bd. 6/7. =Balladenbuch.= _Erster Band_: Neuere Dichter. 495 Seiten.
Preis gebunden 2 Mark.
Bd. 8. =Hermann Kurz=: Der Weihnachtsfund. Eine Volkserzählung. Mit
Einleitung von Prof. Sulger-Gebing. 209 Seiten. Preis gebunden 1
Mark.
Bd. 9. =Novellenbuch.= _Erster Band_: C. F. Meyer, Ernst von
Wildenbruch, Friedrich Spielhagen, Detlev von Liliencron. 194
Seiten. Preis gebunden 1 Mark.
Bd. 10. =Novellenbuch.= _Zweiter Band_ (Dorfgeschichten): Ernst
Wichert, Heinrich Sohnrey, Wilhelm von Polenz, Rudolf Greinz. 199
Seiten. Preis gebunden 1 Mark.

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder gegen vorherige Einsendung
des Betrages oder Nachnahme durch die Kanzlei der Deutschen
Dichter-Gedächtnis-Stiftung in Hamburg-Großborstel (für Mitglieder
-- s. folgende Seite -- portofrei).


[Illustration]
Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung.
(Goldene Medaille der Weltausstellung St. Louis 1904.)

Die Stiftung, deren =Zweck= es ist, »hervorragenden Dichtern durch
Verbreitung ihrer Werke ein Denkmal im Herzen des deutschen Volkes
zu setzen«, begann ihre =Tätigkeit= i. J. 1903 damit, daß sie an
500 Volksbibliotheken je 20 Bände verteilte, unter denen sich z. B.
Fontanes »Grete Minde« -- M. v. Ebner-Eschenbachs »Gemeindekind« --
eine Auswahl der »Deutschen Sagen« der Brüder Grimm -- Roseggers »Als
ich noch der Waldbauernbub' war« -- ferner die umstehend genannten 3
ersten Bände der »Hausbücherei« befanden. Im J. 1904 wurden 40 Werke
(23 Bände) in je 750 Exemplaren zum gleichen Zwecke angekauft.
Abzüge des =Werbeblatts=, des =Aufrufs=, der Satzungen, des
Jahresberichts u. s. w. werden von der Kanzlei der Deutschen
Dichter-Gedächtnis-Stiftung in Hamburg-Großborstel gern übersandt.
Die Stiftung erbittet besonders jährliche, aber auch einmalige
Beiträge; erstere sollen nicht zum Kapital geschlagen, sondern
fortlaufend mit den Kapitalzinsen ausgegeben werden. =Für jährliche
Beiträge von mindestens 2 Mk.= oder einmalige von mindestens 20 Mk.
gewährt die Stiftung durch Übersendung einer ihrer eigenen Ausgaben
(nicht der angekauften Werke) Gegenleistung. Wer 25 Mark Jahresbeitrag
zahlt, erhält auf Wunsch alle im gleichen Jahre erscheinenden Bände der
»Hausbücherei«.
Die =Beiträge= werden in jeder Höhe entgegengenommen von der Deutschen
Bank und ihren sämtlichen Zweiganstalten und Depositenkassen
-- der k. k. Postsparkasse, Wien, auf Konto Nr. 859112 -- der
Schweizerischen Volksbank, Bern, und ihren sämtlichen Zweiganstalten
und Depositenkassen -- dem Kassenwart der Stiftung, Dr. Ernst Schultze,
Hamburg-Großborstel.
Alle =Briefe=, =Anfragen= u. s. w. werden an den Genannten oder mit der
Aufschrift »Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung, Hamburg-Großborstel«
erbeten.
* * * * *
Druck von Grimme & Trömel in Leipzig.


Weitere Anmerkungen zur Transkription

Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend
korrigiert.
Die als Trennung verwendeten Verlagssignets und verzierten Linien
wurden entfernt.
Korrekturen:
S. 5 (Inhaltsverzeichnis): _Brczwczmcisl_ zu _Brczwezmcisl_:
Die Nacht in _Brczwezmcisl_
S. 13: _auf_ zu _aus_:
wie einen Weck aus dem Laden,
S. 60: _nnd_ zu _und_:
... der ganzen Hütte ihren Grund _und_ Boden gab.
S. 65: _«_ ergänzt (» auf S. 52):
Daß es mir nicht überlauf'.««
S. 80: _dir_ zu _die_:
Gendarmen, _die_ mir auf die Spur kamen;
S. 88: _Gesellchaft_ zu _Gesellschaft_:
daß er seit gestern in ihrer _Gesellschaft_ sei ...
S. 92: _nud_ zu _und_:
Nanny _und_ Lindpeindler so viel Interessantes erzählten,
S. 125: _vielleichst_ zu _vielleicht_:
in der du _vielleicht_ schwebst,
S. 140: _wollen_ zu _Wollen_:
Wollen wohl vornehme Leute vorstellen?
S. 148: _Namen_ zu _Name_:
... die unchristlichen Wörter, aus denen der _Name_ besteht,
S. 174: _das_ zu _daß_:
_daß_ Fräulein Ännchen wohl erraten konnte,
S. 175: _dimantnen_ zu _diamantnen_:
mit _diamantnen_ und goldnen Ketten und Ringen geschmückt,
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