Deutsche Humoristen, 2. Band (von 8) - 1

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Hausbücherei
der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
Vierter Band
[Illustration]
6. bis 10. Tausend
Hamburg-Großborstel Verlag der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
1905


Deutsche Humoristen
Zweiter Band
Clemens Brentano
E. Th. A. Hoffmann
Heinrich Zschokke
[Illustration]
6. bis 10.
Tausend

Hamburg-Großborstel
Verlag der Deutschen Dichter-Gedächtnis-Stiftung
1905


Inhaltsverzeichnis
zum 1. Bande der
»Deutschen Humoristen«
(Hausbücherei Band 3).

Vorwort.
=Vischer=, Friedr. Theodor: Humor. Gedicht.
=Rosegger=, Peter: Als ich das erste Mal auf dem Dampfwagen saß.
=Rosegger=, Peter: Wie wir die Gürtelsprenge haben gehalten.
=Raabe=, Wilhelm: Der Marsch nach Hause.
=Reuter=, Fritz: Woans ick tau 'ne Fru kamm.
=Roderich=, Albert: Nemesis.


Inhaltsverzeichnis
zum 3. Bande der
»Deutschen Humoristen«
(Hausbücherei Band 5).

=Hoffmann=, Hans: Eistrug.
=Ernst=, Otto: Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben.
=Eyth=, Max: Der blinde Passagier.
=Böhlau=, Helene (Madame al Raschid Bey): Die Ratsmädel gehen
einem Spuk zu Leibe.


Inhaltsverzeichnis
zum 2. Bande der »Deutschen Humoristen«.

Vorwort 7
=Brentano, Clemens=: Die mehreren
Wehmüller oder ungarische Nationalgesichter 9--98
=Hoffmann, E. Th. A.=: Die Königsbraut.
Ein nach der Natur entworfenes
Märchen 99--191
=Zschokke, Heinrich=: Die Nacht in
Brczwezmcisl 193--222


Vorwort.

Der 3. Band der »Hausbücherei« (Deutsche Humoristen 1. Band) hat so
überaus großen Anklang gefunden, daß kaum drei Monate nach Erscheinen
die erste Auflage von 5000 Exemplaren auf die Neige ging, die
Herstellung einer zweiten Auflage mithin sofort notwendig wurde. So
hat denn die Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung beschlossen, aus
der deutschen humoristischen Literatur noch weitere Schätze in ihre
»Hausbücherei« aufzunehmen und die Sammlung »Deutsche Humoristen«
zunächst um zwei weitere Bände zu vermehren.
Der vorliegende 2. Band zieht drei schöne Stücke aus der Literatur des
beginnenden 19. Jahrhunderts hervor, der 3. Band ist zeitgenössischen
Dichtern gewidmet.
=Hamburg=,
15. Juli 1904.
=Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung.=


Clemens Brentano:
Die mehreren Wehmüller oder ungarische Nationalgesichter.

=Clemens Brentano= wurde am 8. September 1778 in Ehrenbreitstein
geboren, sollte wider Willen Kaufmann werden, besuchte später eine
höhere Schule und führte von 1797 an ein Leben, das ihn unstät durch
viele deutsche Lande trieb. Er starb am 28. Juli 1842 in Aschaffenburg.
Reiche dichterische Begabung, lebhafte Einbildungskraft, Gefühlstiefe
verleihen seinen Werken einen eigenen Reiz, der nur zuweilen durch
den Mangel an Beharrlichkeit beeinträchtigt wird, der manches schön
Begonnene verflachen oder zerfließen läßt. Sein schönstes Werk ist die
»Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl«, ein Vorbote
unserer Dorfgeschichten. Auch das reizende Märchen »Gockel, Hinkel und
Gackeleia« wird noch heute gern gelesen. Um die deutsche Literatur
hat sich Brentano durch die gemeinschaftlich mit Achim von Arnim
unternommene Herausgabe von »Des Knaben Wunderhorn«, einer Sammlung
der schönsten deutschen Volkslieder (1806, seitdem vielfach gedruckt),
unsterbliche Verdienste erworben.
Seine Erzählung »Die mehreren Wehmüller« zeigt den sprühenden Witz, den
die Zeitgenossen an ihm bewunderten. Die Lebhaftigkeit der Zeichnung
wird durch den Reichtum lustiger Einfälle erhöht; aber auch die
Vorliebe für das Seltsame, die alle Romantiker kennzeichnet, tritt
stark hervor.
E. S.


Die mehreren Wehmüller oder ungarische Nationalgesichter.

Gegen Ende des Sommers, während der Pest in Kroatien, hatte Herr
Wehmüller, ein reisender Maler, von Wien aus einen Freund besucht,
der in dieser österreichischen Provinz als Erzieher auf dem Schlosse
eines Grafen Giulowitsch lebte. Die Zeit, welche ihm seine Geschäfte
zu dem Besuch erlaubten, war vorüber. Er hatte von seiner jungen
Frau, welche ihm nach Siebenbürgen vorausgereist war, einen Brief
aus Stuhlweißenburg erhalten, daß er sie nicht mehr länger allein
lassen möge; es erwarte ihn das Offizier-Korps des dort liegenden
hochlöblichen ungarischen Grenadier- und Husaren-Regiments sehnsüchtig,
um von seiner Meisterhand gemalt sich in dem Andenken mannigfaltiger
schöner Freundinnen zu erhalten, da ein naher Garnisonswechsel
manches engverknüpfte Liebes- und Freundschaftsband zu zerreißen
drohte. Dieser Brief brachte den Herrn Wehmüller in große Unruhe,
denn er war viermal so lange unterwegs geblieben als gewöhnlich, und
dermaßen durch die Quarantaine zerstochen und durchräuchert worden,
daß er die ohnedies nicht allzuleserliche Hand seiner guten Frau,
die mit oft gewässerter Tinte geschrieben hatte, nur mit Mühe lesen
konnte. Er eilte in die Stube seines Freundes Lury und sagte zu ihm:
»Ich muß gleich auf der Stelle fort nach Stuhlweißenburg, denn die
hochlöblichen Grenadier- und Husaren-Regimenter sind im Begriffe von
dort abzuziehen; lesen Sie, der Brief ist an fünf Wochen alt.« Der
Freund verstand ihn nicht, nahm aber den Brief und las. Wehmüller lief
sogleich zur Stube hinaus und die Treppe hinab in die Hauskapelle, um
zu sehen, ob er die neununddreißig Nationalgesichter, welche er in
Öl gemalt und dort zum Trocknen aufgehängt hatte, schon ohne große
Gefahr des Verwischens zusammenrollen könne. Ihre Trockenheit übertraf
alle seine Erwartung, denn er malte mit Terpentinfirnis, welcher
trocken wird, ehe man sich umsieht. Was übrigens diese neununddreißig
Nationalgesichter betrifft, hatte es mit ihnen folgende Bewandtnis:
sie waren nichts mehr und nichts weniger als neununddreißig Porträts
von Ungarn, welche Herr Wehmüller gemalt hatte, ehe er sie gesehen. Er
pflegte solcher Nationalgesichter immer ein halb Hundert fertig bei
sich zu führen. Kam er in einer Stadt an, wo er Gewinn durch seine
Kunst erwartete, so pflegte er öffentlich ausschellen oder austrommeln
zu lassen: der bekannte Künstler, Herr Wehmüller, sei mit einem reich
assortierten Lager wohlgetroffener Nationalgesichter angelangt und
lade diejenigen unter einem hochedlen Publikum, welche ihr Porträt
wünschten, untertänigst ein, sich dasselbe, Stück vor Stück zu einem
Dukaten in Gold, selbst auszusuchen. Er fügte sodann noch, durch wenige
Meisterstriche einige persönliche Züge und Ehrennarben, oder die
Individualität des Schnurrbarts des Käufers unentgeltlich bei, für die
Uniform aber, welche er immer ausgelassen hatte, mußte nach Maßgabe
ihres Reichtumes nachgezahlt werden.
Er hatte diese Verfahrungsart auf seinen Kunstreisen als die
befriedigendste für sich und die Käufer gefunden. Er malte die Leute
nach Belieben im Winter mit aller Bequemlichkeit zu Haus, und brachte
sie in der schönen Jahreszeit zu Markte. So genoß er des großen
Trostes, daß keiner über Unähnlichkeit oder langes Sitzen klagen
konnte, weil sich jeder sein Bildnis fertig nach bestimmtem Preise,
wie einen Weck aus dem Laden, selbst aussuchte. Wehmüller hatte
seine Gattin vorausgeschickt, um seine Ankunft in Stuhlweißenburg
vorzubereiten, während er seinen Vorrat von Porträts bei seinem Freunde
Lury zu der gehörigen Menge brachte. Er mußte diesmal in vollem Glanze
auftreten, weil er in einer Zeitung gelesen: ein Maler Froschhauer
aus Klagenfurt habe dieselbe Kunstreise vor. Dieser aber war bisher
sein Antagonist und Nebenbuhler gewesen, wenn sie sich gleich nicht
kannten, denn Froschhauer war von der entgegengesetzten Schule; er
hatte nämlich immer alle Uniformen voraus fertig, und ließ sich für die
Gesichter extra bezahlen. -- Schon hatte Wehmüller die neununddreißig
Nationalgesichter zusammengerollt, in eine große weite Blechbüchse
gesteckt, in welcher auch seine Farben und Pinsel, ein paar Hemden,
ein Paar gelbe Stiefelstulpen und eine Haarlocke seiner Frau Platz
fanden; schon schnallte er sich diese Büchse mit zwei Riemen, wie einen
Tornister, auf den Rücken, als sein Freund Lury hereintrat und ihm
den Brief mit den Worten zurückgab: »Du kannst nicht reisen, soeben
hat ein Bauer hier auf dem Hofe erzählt, daß er vor einigen Tagen
einen Fußreisenden begleitet habe, und daß dieser der letzte Mensch
gewesen sei, der über die Grenze gekommen, denn auf seinem Rückwege
hierher habe er, der Bote, schon alle Wege vom Pest-Cordon besetzt
gefunden.« Wehmüller aber ließ sich nicht mehr zurückhalten. Er schob
seine Palette unter den Wachstuchüberzug auf seinen runden Hut, wie
die Bäcker in den Zipfel ihrer gestrickten spitzen Mützen eine Semmel
zu stecken pflegen, und begann seinen Reisestab zusammen zu richten,
der ein wahres Wunder der Mechanik, wenn ich mich nicht irre, von
der Erfindung des Mechanikus Eckler in Berlin war, denn er enthielt
erstens: sich selbst, nämlich einen Reisestock; zweitens: nochmals
sich selbst, einen Malerstock; drittens: nochmals sich selbst, einen
Meßstock; viertens: nochmals sich selbst, ein Richtscheit; fünftens:
nochmals sich selbst, ein Blaserohr; sechstens: nochmals sich selbst,
ein Tabakspfeifenrohr; siebentens: nochmals sich selbst, einen
Angelstock; darin aber waren noch ein Stiefelknecht, ein Barometer,
ein Thermometer, ein Perspektiv, ein Zeichenstuhl, ein chemisches
Feuerzeug, ein Reißzeug, ein Bleistift und das Brauchbarste von allem:
eine approbierte hölzerne Hühneraugenfeile angebracht; das Ganze
aber war so eingerichtet, daß man die Masse des Inhaltes, durch den
Druck einer Feder, aus diesem Stocke wie aus einer Windbüchse seinem
Feind auf den Leib schießen konnte. Während Wehmüller diesen Stock
zusammenrichtete, machte Lury ihm die lebhaftesten Vorstellungen
wegen der Gefahr seiner Reise, aber er ließ sich nicht halten. »So
rede wenigstens mit dem Bauer selbst,« sprach Lury. Das war Wehmüller
zufrieden und ging, ganz zum Abmarsche fertig, hinab. Kaum aber waren
sie in die Schenke getreten, als der Bauer zu ihm trat und ihm den
Ärmel küssend sagte: »Nu, gnädiger Herr, wie kommen wir schon wieder
zusammen? Sie hatten ja eine solche Eile nach Stuhlweißenburg, daß ich
glaubte, Euer Gnaden müßten bald dort sein.« Wehmüller verstand den
Bauer nicht, der ihm versicherte: daß er ihn mit derselben blechernen
Büchse auf dem Rücken, und demselben langen Stocke in der Hand, nach
der ungarischen Grenze geführt habe, und zwar zu rechter Zeit, weil
kurz nachher der Weg vom Pest-Cordon geschlossen worden sei, wobei
der Mann ihm eine Menge einzelne Vorfälle der Reise erzählte, von
welchen, wie vom Ganzen, Wehmüller nichts begriff. Da aber endlich der
Bauer ein kleines Bild hervorzog mit den Worten: »Haben Euer Gnaden
mir dieses Bildchen, daß in Ihrer Büchse keinen Platz fand, nicht zu
tragen gegeben, und haben es Euer Gnaden nicht in der Eile der Reise
vergessen?« ergriff Wehmüller das Bild mit Heftigkeit. Es war das Bild
seiner Frau, ganz wie von ihm selbst gemalt, ja, der Name Wehmüller
war unterzeichnet. Er wußte nicht, wo ihm der Kopf stand. Bald sah er
den Bauer, bald Lury, bald das Bild an. »Wer gab dir das Bild?« fuhr
er den Bauer an. »Euer Gnaden selbst,« sagte dieser. »Sie wollten
nach Stuhlweißenburg zu Ihrer Liebsten, sagten Euer Gnaden, und den
Botenlohn sind mir Euer Gnaden auch schuldig geblieben.«
»Das ist erlogen!« schrie Wehmüller. »Es ist die Wahrheit!« sagte der
Bauer. »Es ist nicht die Wahrheit!« sagte Lury, »denn dieser Herr ist
seit vier Wochen nicht hier weggekommen und hat mit mir in einer Stube
geschlafen.« Der Bauer aber wollte von seiner Behauptung nicht abgehen
und drang auf die Bezahlung des Botenlohns oder die Rückgabe des
Porträts, welches sein Pfand sei, und dem er, wenn er nicht bezahle,
einen Schimpf antun wolle. Wehmüller ward außer sich. »Was?« schrie
er, »ich soll für einen andern den Botenlohn zahlen oder das Porträt
meiner Frau beschimpfen lassen, das ist entsetzlich!« Lury machte
endlich den Schiedsrichter und sagte zu dem Bauer: »Habt ihr diesen
Herrn über die Grenze gebracht?« »Ja!« sagte der Bauer. -- »Wie kommt
er denn wieder hierher, und wie war er die ganze Zeit hier?« erwiderte
Lury. »Ihr müßt ihn daher nicht recht tüchtig hinüber gebracht haben,
und könnt für so schlechte Arbeit keinen Botenlohn begehren. Bringt ihn
heute nochmals hinüber, aber dermaßen, daß auch kein Stümpfchen hier
in Kroatien bleibt, und laßt euch doppelt bezahlen.« Der Bauer sagte:
»Ich bin es zufrieden, aber es ist doch eine sehr heillose Sache; wer
von den beiden ist nun der Teufel, dieser gnädige Herr oder der andre?
Es könnte mich dieser, der viel widerspenstiger scheint, vielleicht gar
mit über die Grenze holen; auch ist der Weg jetzt gesperrt, und der
andre war der letzte. Ich glaube doch, er muß der Teufel gewesen sein,
der bei der Pest zu tun hat.« -- »Was,« schrie Wehmüller, »der Teufel
mit dem Porträt meiner Frau? Ich werde verrückt! Gesperrt oder nicht
gesperrt, ich muß fort, der scheußlichste Betrug muß entdeckt werden.
Ach, meine arme Frau, wie kann sie getäuscht werden! Adieu, Lury, ich
brauche keinen Boten, ich will schon allein finden.« Und somit lief er
zum offenen Hoftore mit solcher Schnelligkeit hinaus, daß ihn weder der
nachlaufende Bauer, noch das Geschrei Lurys einholen konnte.
Nach dieser Scene trat der Graf Giulowitsch, der Prinzipal Lurys, aus
dem Schloß, um auf seinen Finkenherd zu fahren. Lury erzählte ihm die
Geschichte, und der Graf, neugierig, mehr von der Sache zu hören,
bestieg seinen Wurstwagen und fuhr dem Maler in vollem Trabe nach. Das
leichte Fuhrwerk, mit zwei raschen Pferden bespannt, flog über die
Stoppelfelder, welche einen festeren Boden als die moorichte Landstraße
darboten. Bald war der Maler eingeholt. Der Graf bat ihn aufzusitzen
mit dem Anerbieten, ihn einige Meilen bis an die Grenze seiner Güter zu
bringen, wo er noch eine halbe Stunde nach dem letzten Grenzdorf habe.
Wehmüller der schon viel Grund und Boden an seinen Stiefeln hängen
hatte, nahm den Vorschlag mit untertänigstem Dank an. Er mußte einige
Züge alten Slibowitz aus des Grafen Jagdflasche tun, und fand dadurch
schon etwas mehr Mut, sich selbst auf der eignen Fährte zu seiner Frau
nachzueilen. Der Graf fragte ihn: »Ob er denn niemand kenne, der ihm
so ähnlich sei, und so malen könne wie er?« Wehmüller sagte: »Nein!«
und das Porträt ängstige ihn am meisten, denn dadurch zeige sich eine
Beziehung des falschen Wehmüllers auf seine Frau, welche ihm besonders
fatal werden könne. Der Graf sagte ihm: »Der falsche Wehmüller sei
wohl nur eine Strafe Gottes für den echten Wehmüller, weil dieser alle
Ungarn über einen Leisten male. So gäbe es jetzt auch mehrere Wehmüller
über einen Leisten.« Wehmüller meinte: »Alles sei ihm einerlei, aber
seine Frau, seine Frau, wenn sie sich nur nicht irre.« Der Graf stellte
ihm nochmals vor, er möge lieber mit ihm auf seinen Finkenherd und dann
zurückfahren; er gefährde, wenn er auch höchst unwahrscheinlich den
Pest-Cordon durchschleichen sollte, jenseits an der Pest zu sterben.
Wehmüller aber meinte: »Ein zweiter Wehmüller, der zu meiner Frau
reist, ist auch eine Pest, an der man sterben kann, und er wolle so
wenig als die Schneegänse, welche schreiend über ihnen hinstrichen, den
Pest-Cordon respektieren, er habe keine Ruhe, bis er bei seiner Tonerl
sei.« So kamen sie bis auf die Grenze der Giulowitschschen Güter, und
der Graf schenkte Wehmüllern noch eine Flasche Tokaier mit den Worten:
»Wenn Sie diese ausstechen, lieber Wehmüller, werden Sie sich nicht
wundern, daß man Sie doppelt gesehen, denn Sie selbst werden alles
doppelt sehen. Geben Sie uns so bald als möglich Bericht von Ihrem
Abenteuer, und möge Ihre Gemahlin anders sehen, als der Bauer gesehen
hat. Leben Sie wohl!«
Nun eilte Wehmüller, so schnell er konnte, nach dem nächsten Dorf, und
kaum war er in die kleine dumpfigte Schenke eingetreten, als die alte
Wirtin, in Husaren-Uniform, ihm entgegenschrie: »Ha, ha! da sind der
Herr wieder zurück, ich hab es gleich gesagt, daß Sie nicht durch den
Cordon würden hinüber gelassen werden.« Wehmüller sagte: daß er hier
niemals gewesen und daß er gleich jetzt erst versuchen wolle, durch den
Cordon zu kommen. Da lachte Frau Tschermack und ihr Gesinde ihm ins
Angesicht, und behaupteten steif und fest: er sei vor einigen Tagen
hier durchpassiert, von einem Giulowitscher Bauern begleitet, dem er
den Botenlohn zu zahlen vergessen; er habe ja hier gefrühstückt und
erzählt: daß er nach Stuhlweißenburg zu seiner Frau Tonerl wolle, um
dort das hochlöbliche Offizier-Korps zu malen. Wehmüller kam durch die
neue Bestätigung, daß er doppelt in der Welt herum reise, beinahe in
Verzweiflung. Er sagte der Wirtin mit kurzen Worten seine ganze Lage;
sie wußte nicht, was sie glauben sollte, und sah ihn sehr kurios an.
Es war ihr nicht allzu heimlich bei ihm. Aber er wartete alle ihre
Skrupel nicht ab, und lief wie toll und blind zum Dorfe hinaus und dem
Pest-Cordon zu.
Als er eine Viertelmeile auf der Landstraße gelaufen war, sah er
auf dem Stoppelfeld eine Reihe von Rauchsäulen aufsteigen, und ein
angenehmer Wachholdergeruch dampfte ihm entgegen. Er sah bald eine
Reihe von Erdhütten und Soldaten, welche kochten und sangen; es war ein
Hauptbiwak des Pest-Cordons. Als er sich der Schildwache näherte, rief
sie ihm ein schreckliches: »Halt!« entgegen und schlug zugleich ihr
Gewehr auf ihn an. -- Wehmüller stand wie angewurzelt. Die Schildwache
rief den Unteroffizier und nach einigen Minuten sprengte ein Szekler
Husar gegen ihn heran und schrie aus der Ferne: »Wos willstu, +quid
vis+? Wo kommst her, +unde venis+? An welchen Ort willst du, +ad quem
locum vis+? Bist du nicht vorige Woche hier durchpassiert, +es tu non
altera hebdomada hic perpassatus+?« Er fragte ihn so auf Deutsch und
Husarenlateinisch zugleich, weil er nicht wußte, ob er ein Deutscher
oder ein Ungar sei. Wehmüller mußte aus den letzten Worten des Husaren
abermals hören, daß er hier schon durchgereist sei, welche Nachricht
ihm eiskalt über den Rücken lief. Er schrie sich beinah' die Kehle
aus, daß er gerade von dem Grafen Giulowitsch komme, daß er in seinem
Leben nicht hier gewesen. Der Husar aber lachte und sprach: »Du lügst,
+mentiris+! Hast du nicht dem Herrn Chirurg sein Bild gegeben, +non
dedidisti Domino Chirurgo suam imaginem+? Daß er durch die Finger
gesehen und dich passieren lassen, +ut vidit per digitos et te fecit
passare+? Du bist zurückgekehrt aus den Pest-Örtern, +es returnatus ex
pestiferatis locis+!« Wehmüller sank auf die Kniee nieder und bat, man
möge den Chirurgen doch herbeirufen. Während dieses Gespräches waren
mehrere Soldaten um den Husaren herum getreten, zuzuhören; endlich
kam der Chirurg auch, und nachdem er Wehmüllers Klagen angehört, der
sich die Lunge fast weggeschrieen, befahl er ihm, sich einem der Feuer
von Wachholderholz zu nähern, so daß es zwischen ihnen beiden sei,
dann wolle er mit ihm reden. Wehmüller tat dies, und erzählte ihm die
ganze Aussage über einen zweiten Wehmüller, der hier durchgereist
sei, und seine große Sorge, daß ihn dieser um all sein Glück betrügen
könne, und bot dem Chirurgen alles an, was er besitze, er möge ihm
nur durchhelfen. Der Chirurg holte nun eine Rolle Wachsleinwand aus
seiner Erdhütte, und Wehmüller erblickte auf derselben eines der
ungarischen Nationalgesichter, gerade, wie er sie selbst zu malen
pflegte, auch sein Name stand drunter, und da der Chirurg sagte: »Ob
er dies Bild nicht gemalt und ihm neulich geschenkt habe, weil er ihn
passieren lassen?« gestand Wehmüller: »Er würde nie dies Bild von den
seinigen unterscheiden können, aber durchpassiert sei er hier nie, und
habe nie die Gelegenheit gehabt, den Herrn Chirurgen zu sprechen.« Da
sagte der Chirurg: »Hatten Sie nicht heftiges Zahnweh, habe ich Ihnen
nicht noch einen Zahn ausgezogen für das Bild?« »Nein, Herr Chirurg,«
erwiderte Wehmüller, »ich habe alle meine Zähne frisch und gesund, wenn
Sie zuschauen wollen.« Nun faßte der Feldscher einigen Mut; Wehmüller
sperrte das Maul auf, er sah nach und gestand ihm zu, daß er ganz
ein anderer Mensch sei; denn jetzt, da er ihn weder aus der Ferne,
noch von Rauch getrübt ansehe, müsse er ihm gestehen, daß der andere
Wehmüller viel glatter und auch etwas fetter sei, ja, daß sie beide,
wenn sie nebeneinander ständen, kaum verwechselt werden könnten; aber
durchpassieren lassen könne er ihn jetzt doch nicht. Es habe zuviel
Aufsehens bei der Wache gemacht, und er könne Verdruß haben. Morgen
früh werde aber der Cordon-Kommandant mit einer Patrouille bei der
Visitation hierher kommen, und da ließe sich sehen, was er für ihn
tun könne. Er möge bis dahin nach der Schenke des Dorfes zurückkehren,
er wolle ihn rufen lassen, wenn es Zeit sei. Er solle auch das Bild
mitnehmen und ihm den Schnauzbart etwas spitzer malen, damit es ganz
ähnlich werde. Wehmüller bat: in seiner Erdhütte einen Brief an sein
Tonerl schreiben zu dürfen, und ihm den Brief hinüber zu besorgen. Der
Chirurg war es zufrieden. Wehmüller schrieb seiner Frau, erzählte ihr
sein Unglück, bat sie um Gotteswillen, nicht den falschen Wehmüller
mit ihm zu verwechseln und lieber sogleich ihm entgegen zu reisen. Der
Chirurg besorgte den Brief und gab Wehmüllern noch ein Attestat, daß
seine Person eine ganz andere sei, als die des ersten Wehmüllers, und
nun kehrte unser Maler, durchgeräuchert wie ein Quarantaine-Brief, nach
der Dorfschenke zurück.
Hier war die Gesellschaft vermehrt. Die Erzählung von dem
doppelten Wehmüller hatte sich im Dorf und auf einem benachbarten
Edelhof ausgebreitet, und es waren allerlei Leute bei der Wirtin
zusammengekommen, um sich wegen der Geschichte zu befragen. Unter
dieser Gesellschaft waren ein alter invalider Feuerwerker und ein
Franzose die Hauptpersonen. Der Feuerwerker, ein Venetianer von
Geburt, hieß Baciochi, und war ein Alles in Allem bei dem Edelmanne,
der einen Büchsenschuß von dem Dorfe wohnte. Der Franzose war ein
Monsieur Devillier, der, von einer alten reichen Ungarin gefesselt,
in Ungarn sitzen geblieben war; seine Gönnerin starb und hinterließ
ihm ein kleines Gütchen, auf welchem er lebte, und sich bei seinen
Nachbarn umher mit der Jagd und allerlei Liebeshändeln die Zeit
vertrieb. Er hatte gerade eine Kammerjungfer auf dem Edelhofe besucht,
der er Sprachunterricht gab, und diese hatte ihn mit dem Hofmeister
des jungen Edelmanns auf seinem Rückweg in die Schenke begleitet, um
ihrer Herrschaft von dem doppelten Wehmüller Bericht zu erstatten. Die
Kammerjungfer hieß Nanny und der Hofmeister war ein geborener Wiener,
mit Namen Lindpeindler, ein zartfühlender Dichter, der oft verkannt
worden ist. Die berühmteste Person von allen war aber der Violinspieler
Michaly, ein Zigeuner von etwa dreißig Jahren, von eigentümlicher
Schönheit und Kühnheit, der, wegen seines großen Talents, alle
möglichen Tänze ununterbrochen auf seiner Violine zu erfinden und zu
variieren, bei allen großen Hochzeiten im Lande allein spielen mußte.
Er war hierher gereist, um seine Schwester zu erwarten, die bis jetzt
bei einer verstorbenen Großmutter gelebt und nun auf der Reise zu ihm
durch den Pest-Cordon von ihm getrennt war.
Zu diesen Personen fügte sich noch ein alter kroatischer Edelmann,
der einen einsamen Hof in der Nähe der türkischen Grenze besaß; er
übernachtete hier, von einem Kreistage zurückkehrend. Ein tiroler
Teppichkrämer und sein Reisegeselle, ein Savoyardenjunge, dem sein
Murmeltier gestorben war, und der sich nach Hause bettelte, machten die
Gesellschaft voll, außer der alten Wirtin, die Tabak rauchte und in
ihrer Jugend als Amazone unter den Wurmserschen Husaren gedient hatte.
Sie trug noch den Dolman und die Mütze, die Haare in einem Zopf am
Nacken und zwei kleine Zöpfe an den Schläfen geknüpft, und hatte hinter
ihrem Spinnrad ein martialisches Ansehen. Diese bunte Versammlung
saß in der Stube, welche zugleich die Küche und der Stall für zwei
Büffelkühe war, um den lodernden niedern Feuerherd, und war im vollen
Gespräch über den doppelten Wehmüller, als dieser in der Dämmerung
an der verschlossenen Haustüre pochte. Die Wirtin fragte zum Fenster
hinaus, und als sie Wehmüller sah, rief sie: »Gott steh' uns bei! Da
ist noch ein dritter Wehmüller; ich mache die Tür nicht eher auf, bis
sie alle drei zusammen kommen!« Ein lautes Gelächter und Geschrei des
Verwunderns aus der Stube unterbrach des armen Malers Bitte um Einlaß.
Er nahte sich dem Fenster und hörte eine lebhafte Beratschlagung über
sich an. Der kroatische Edelmann behauptete: er könne sehr leicht
ein Vampir sein oder die Leiche des ersten an der Pest verstorbenen
Wehmüllers, die hier den Leuten das Blut aussaugen wolle. Der
Feuerwerker meinte: er könne die Pest bringen, er habe wahrscheinlich
den Cordon überschritten und sei wieder zurückgeschlichen. Der Tiroler
bewies: er würde niemand fressen. Die Kammerjungfer verkroch sich
hinter dem Franzosen, der, nebst dem Hofmeister, die Gastfreiheit und
Menschlichkeit verteidigte. Devillier sagte: er könne nicht erwarten,
daß eine so auserwählte Gesellschaft wie die, in der er sich befinde,
jemals aus Furcht und Aberglauben die Rechte der Menschheit so sehr
verletzen werde, einen Fremden wegen einer bloßen Grille auszusperren;
er wolle mit dem Manne reden. Der Zigeuner aber ergriff in dem
allgemeinen, ziemlich lauten Wortwechsel seine Violine und machte ein
wunderbares Schariwari dazu, und da die ungarischen Bauern nicht leicht
eine Fiedel hören, ohne den Tanzkrampf in den Füßen zu fühlen, so
versammelte sich bald Horia und Klotzka vor der Schenke, -- was so viel
heißt: als Hinz und Kunz bei uns zu Lande, -- die Mädchen wurden aus
den Betten getrieben und vor die Schenke gezogen, und sie begannen zu
jauchzen und zu tanzen.
Durch den Lärm ward der Vizegespann, des Orts Obrigkeit, herbeigelockt,
und Wehmüller brachte ihm seine Klagen und das Attestat des Chirurgen
vor, versprach ihm auch, sein Porträt unter den Nationalgesichtern
sich aussuchen zu lassen, wenn er ihm ein ruhiges Nachtquartier
verschaffe und seine Persönlichkeit in der Schenke attestiere. Der
Vizegespann ließ sich nun die Schenke öffnen und las drinnen das
Attestat des Herrn Chirurgen, das er allen Anwesenden zur Beruhigung
mitteilte. Durch seine Autorität brachte er es dahin, daß Wehmüller
endlich hereingelassen wurde, und er nahm, um der Sache mehr Ansehen zu
geben, ein Protokoll über ihn auf, an dem nichts merkwürdig war, als
daß es mit dem Worte »Sondern« anfing. Indessen hatten die Bauern den
musikalischen Zigeuner herausgezerrt und waren mit ihm unter die Linde
des Dorfes gezogen, der Tiroler zog hinterdrein und jodelte aus der
Fistel, der Savoyarde gurgelte sein »Escoutta Gianetta« und klapperte
mit dem Deckel seines leeren Kastens den Takt dazu bis unter die Linde.
Monsieur Devillier forderte die Kammerjungfer zu einem Tänzchen auf,
und Herr Lindpeindler gab der schönen Herbstnacht und dem romantischen
Eindrucke nach. So war die Stube ziemlich leer geworden. Wehmüller
holte seine Nationalgesichter aus der Blechbüchse, und der Vizegespann
hatte bald sein Porträt gefunden, versprach auch dem Maler ins Ohr:
daß er ihm morgen über den Cordon helfen wolle, wenn er ihm heute
Nacht noch eine Reihe Knöpfe mehr auf die Jacke male. Wehmüller dankte
ihm herzlich und begann sogleich bei einer Kienfackel seine Arbeit.
Der Feuerwerker und der kroatische Edelmann rückten zu dem Tisch, auf
welchem Wehmüller seine Flasche Tokaier Preis gab. Die Herren drehten
sich die Schnauzbärte, steckten sich die Pfeifen an und ließen es sich
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