Deutsche Freiheit: Ein Weckruf - 1

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Deutsche Freiheit
Ein Weckruf
von
Rudolf Eucken

[Verlagslogo]
1919
Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig


Thesen.

1. Das deutsche Volk hat in der Vergangenheit eine ihm eigentümliche
_geistige_ Freiheit in Religion, Moral, Erkenntnis und Kunst in
unvergleichlicher Weise gezeigt.
2. Bei vielfacher politischer Rückständigkeit droht uns Deutschen
_politische_ Unfreiheit vor allem von seiten einer radikalen Demokratie
und des Sozialismus.
3. Es ist eine Hauptaufgabe der Zukunft, unter voller Wahrung und
Vertiefung der _inneren Freiheit_ echte _politische Freiheit_ in unserem
Vaterlande zu entwickeln.


Über die deutsche Freiheit zu reden, das kann in diesen Tagen gewagt, ja
vermessen dünken, wo Deutschland schwer gelähmt, von übermächtigen
Gegnern unterdrückt und in seiner Kraft durch inneren Zwist gebrochen
darniederliegt; es wäre ein solches Unternehmen in Wahrheit töricht,
hätte der augenblickliche Stand unseres Volkes das entscheidende Urteil
über sein Ergehen und seine Bedeutung zu fällen, und besäße nicht die
deutsche Art und die deutsche Geschichte einen tieferen Gehalt und eine
größere Kraft als unmittelbar vorliegt; nur eine solche Überzeugung läßt
uns Mut, Hoffnung, ja Zuversicht inmitten aller Trübsale schöpfen; sie
gibt uns zugleich das Vertrauen, daß die deutsche Freiheit kein bloßes
Wahnbild ist, ja daß sie nicht nur uns selbst, sondern auch dem Ganzen
der Menschheit unentbehrlich ist. Ist das aber der Fall, so muß und wird
sie sich irgendwie gegen alle Hemmungen durchsetzen, die Menschen aber
müssen ihr bewußt oder unbewußt dienen.
* * * * *
Zunächst sei der Freiheitsgedanke in seinen weltgeschichtlichen
Zusammenhängen kurz gewürdigt; wir werden sehen, daß auch das deutsche
Leben ihm eng verbunden ist. Alles heutige Streben nach Freiheit ist ein
Ausfluß der Bewegung, welche die gesamte Neuzeit durchdringt und sie von
anderen Epochen deutlich abhebt. Galt im Altertum und im Mittelalter
das Weltall mit seinen ewigen Sternen und mit ihm der menschliche
Lebenskreis als ein festbegründetes und geschlossenes Ganzes und schien
dieses Ganze alles Menschliche zu binden und zu lenken, so wird nun zum
leitenden Gedanken ein Reich der Freiheit mit seiner unermeßlichen
Fülle; die Ordnung aber tritt erst an die zweite Stelle. Nunmehr wird
alle Wirklichkeit in Fluß versetzt und zu rastloser Bewegung angehalten;
es verbindet sich damit eng der Gedanke eines unbegrenzten Fortschritts
zu immer weiteren Höhen; so wird nunmehr das Wachstum des Lebens, die
Kraftsteigerung, zum höchsten aller Ziele. Hier heißt es: »Immer möchte
der Mensch, was er erkennt, mehr erkennen, und was er liebt, mehr
lieben, und die ganze Welt genügt ihm nicht, weil sie sein
Wahrheitsverlangen nicht stillt« (Nikolaus von Cues).
Alle Größen und Werte werden dadurch umgewandelt, alle Ruhe wird als
etwas Starres und Totes ausgetrieben. Das Werden und Sichselbstgestalten
erhält eine unbeschreibliche Freude, es scheint alle früheren Zeiten
weitaus durch Kraft, Frische, Wahrheit zu überragen. Solches
Flüssigwerden der ganzen Wirklichkeit erzeugt einen eigentümlichen
Begriff des Modernen und gibt ihm das stolze Gefühl einer unbedingten
Überlegenheit. Diesen Grundcharakter der Neuzeit hat jedes Streben zu
würdigen, das nicht hinter dem Geist der Zeit zurückbleiben und
erfolgreich zu den Zeitgenossen wirken möchte. Wie viele Probleme aber
der Gesamtbegriff der Freiheit enthält, das läßt sich hier nur nebenbei
andeuten.
* * * * *
Eine nähere Betrachtung der Freiheit hat die politische oder nationale
und die geistige Freiheit deutlich voneinander zu scheiden, jene bezieht
sich auf das gesellschaftliche Zusammensein der Menschen, diese auf den
inneren Stand der Seele. Die politische Freiheit verficht die
selbständige Teilnahme der einzelnen Volksgenossen am Ganzen des Staates
und seiner Regierung, die geistige erstrebt eine Selbständigkeit und
Ursprünglichkeit des Lebens im Ganzen der Seele; beides kann weit
auseinandergehen, ein politisch Freier kann geistig gebunden, ein
geistig Freier politisch abhängig sein; daß eine derartige Scheidung
einen schweren Mangel bedeutet, ist ohne weiteres klar.
* * * * *
Die Deutschen hatten so lange kein politisches gemeinsames Leben, als
das alte Reich zerfallen war; Deutschland war damals mehr eine
ethnographische als eine politische Einheit. Erst im 18. Jahrhundert
erwachte ein Streben darnach, aber auch die gewaltige französische
Umwälzung rüttelte hier nicht am überkommenen Stande des Ganzen, sie
hatte überwiegend einen literarischen und privaten Charakter, sie
forderte für das persönliche Empfinden den freiesten Ausdruck und eine
Austreibung alles Zopfes und Zwanges im geselligen Leben, aber
politische und wirtschaftliche Fragen bewegten sie zunächst kaum.
Ein selbständiges nationales und politisches Leben des ganzen
Deutschland erzeugten erst die Befreiungskriege; höher und höher stieg
damals die Hoffnung, die Einheit und die Freiheit Deutschlands in Einem
erreichen zu können; namentlich war die gebildete Jugend mit vielen
Volksgenossen bis 1866 von solchem Streben durchglüht. Als dann aber
schließlich Bismarcks überragendes Genie das neue Deutschland schuf, da
erfolgte eine Scheidung der nationalen und freiheitlichen Bewegung; sie
war unter den gegebenen Verhältnissen wohl zwingend geboten, aber es war
für den Verlauf unserer Entwicklung ein nicht geringer Schaden, daß
jene Bewegungen nebeneinander verliefen, und daß der nationale Aufstieg
nicht durch eine Kräftigung der politischen Freiheit unterstützt wurde.
Die zahlreichen Reformen im einzelnen konnten bei aller Tüchtigkeit
diesen Mangel nicht voll ersetzen; so verblieb die politische Macht in
der Hauptsache dem wohlgeordneten Beamtenstaate, der von oben her zu
regieren und die Staatsbürger mehr als Objekt denn als Subjekt der
Tätigkeit zu behandeln pflegte. Dies Beamtentum hatte unverkennbare
Vorzüge, es war zuverlässig, gewissenhaft, sparsam -- lauter
Eigenschaften, die wir nach den jüngsten Erfahrungen besonders schätzen
müssen --, aber es hatte wenig Unternehmensgeist, es verstand es nicht,
neue und schwierige Verhältnisse zu leiten, sondern nur im gewohnten
Lauf der Dinge seine Pflicht zu üben. Es besaß namentlich nicht die
Gabe, die Gemüter anzuziehen, es konnte leicht den Staat den Bürgern
mehr verleiden als sie ihm gewinnen. Dazu bestand bei den Spitzen des
staatlichen Lebens oft wenig Teilnahme und wenig Kenntnis für die
inneren Forderungen der Zeit, gelegentlich erschien eine erstaunliche
Unkenntnis der Menschen und Dinge, kurz diese Persönlichkeiten waren
nicht geeignet, schwierige und verantwortungsvolle Aufgaben selbständig
zu lösen. Dazu das Hofleben mit seiner dünkelhaften Gespreiztheit und
seiner inneren Leere.
Bei der Gestaltung der Verhältnisse wurden wir im Technischen der
Verwaltung vortrefflich, in der hohen Staatskunst schlecht regiert, wie
die Leistungen unserer meisten Diplomaten handgreiflich erwiesen haben.
Es war ein arges Mißverhältnis, daß ein kraftvolles, frisch
aufstrebendes Volk an derartige Verhältnisse gebunden war, und daß
wichtigste Entscheidungen ohne, ja gegen seinen Wunsch erfolgen konnten.
Viele tüchtige Kräfte blieben bei solchem Stande der Dinge zum Schaden
des Staates ungenutzt; im Gesamtbilde aber schien Deutschland in seinem
inneren Gefüge minder frei als andere Staaten; wohl wurde das in den
Vorstellungen unserer Gegner oft arg übertrieben, und es wurde zugleich
verkannt, wie viel Deutschland an eigenartiger Freiheit besitzt, aber
nach den Meinungen anderer Völker blieb es zurück. Bei solchen Fragen
aber ist auch der Schein eine Macht und eine Gefahr.
* * * * *
Im literarischen Leben und Schaffen entstand über die politischen Fragen
hinaus eine mißmutige und verneinende Denkart, eine Lust, aller
Überlieferung schroff zu widersprechen, daran sowohl eine bittere Satire
als einen kecken Spott zu üben, so in Religion und Moral, so in
Weltanschauung und Sitte. Das ergab eine gewisse geistige Freiheit, aber
diese Freiheit war überwiegend verwerfender und zerstörender Art, sie
konnte weder fruchtbare Schöpfungen erzeugen, noch dem Menschen neue
Bahnen erschließen oder ihn gemäß Schillers Mahnung von der Angst des
Irdischen befreien. Es war eine Freiheit mehr der zersetzenden Reflexion
als einer inneren Erhöhung. Das Ganze unserer Denkart litt dadurch, daß
eine vielseitige und formal gewandte intellektuelle Betätigung ohne ein
Gegengewicht politischen Lebens und Handelns blieb. Für die Seele
unseres Volkes aber, die somit unter sich gegenseitig durchkreuzenden
Antrieben stand, war bei den meisten unserer Staatsmänner sehr geringes
Interesse und Verständnis.
* * * * *
Seinen Schwerpunkt hatte das deutsche Reich in einer glänzenden
technischen und wirtschaftlichen Kultur, es hat in dieser Richtung eine
großartige Arbeit geleistet, welche den ganzen Erdball umspannte und
alles mit ihren Fäden durchwob. Aber diese in ihrer Weise erstaunliche
Kultur war bei all ihrer Weite innerlich begrenzt, sie war an erster
Stelle eine bloße Arbeitskultur, sie war vornehmlich darauf gerichtet,
die Welt um uns in den Dienst des Menschen zu ziehen und emsig daraus
Vorteile für sich selbst zu gewinnen, aber sie bot seinem Innern recht
wenig, sie pflegte die Seele als eine bloße Nebensache zu behandeln und
sich wenig um eine geistige Freiheit zu kümmern. Das Ganze unseres
Volkes geriet durch solche einseitige Gestaltung des Lebens in eine
unerfreuliche Lage; hier hielten keine überlegenen Ziele den ganzen
Menschen aufrecht, hier gab es keine großen Ideale, kein kräftiges
Empfinden. Das geistige Schaffen in Religion, Philosophie, Kunst und
Literatur war dem Grundgehalte nach recht dürftig; so tüchtig die
gelehrte Arbeit war, sie förderte nicht das Gedeihen eines schaffenden
und ursprünglichen Lebens, auch war sie geneigt, ihr eigenes
Selbstbewußtsein stark zu überspannen und Wissen für Leben zu geben; so
hatte das Ganze bei allem rastlosen Eifer und Übereifer keinen
wesenhaften Gehalt, eine innere Leere war bei allem Geschick und bei
allem Aufputz nicht zu verkennen.
* * * * *
Anfang 1914 habe ich eindringlich auf das Mißliche, ja Gefährliche
dieser seelischen Lage hingewiesen und in einer Schrift: »Zur Sammlung
der Geister« (Quelle und Meyer) die Schäden dieser einseitigen
Arbeitskultur mit ihrer Zurückstellung der Seele geschildert; es hat
sich damals eine Anzahl Gleichgesinnter zur gemeinsamen Besprechung in
Darmstadt zusammengefunden, und wir waren einig, die Sache möglichst zu
fördern, bis der Ausbruch des Krieges die Ausführung derartiger Pläne
verhinderte.
* * * * *
Es genügt in Kürze zu erwähnen, was wir alle bewußt oder unbewußt
miterlebten: das weitere und weitere Auseinandergehen von Arbeit und
Seele, deren enge Verbindung früher die Größe und der Stolz der
Deutschen war, das ständige Anwachsen der ausschließlichen
Arbeitskultur, die Gleichgültigkeit des Arbeiters für seine Werke, die
gegenseitige Entfremdung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, --
Entfremdung auf allen Punkten und in allen Schichten, auch in der
Weltanschauung, bis das Ganze in völlig getrennte Lager zerfiel.
Da kam der Weltkrieg. Zuerst führte die gewaltige Aufregung und glühende
Begeisterung zur Einigung aller Parteien und Klassen; das große deutsche
Reich war für einige Zeit einig und erlebte größte Triumphe. Seele und
Arbeit kamen jetzt zu einer vollen Einigung. Aber nach und nach
erlöschte das anfängliche Feuer, die Einigkeit der Gemüter sank mehr und
mehr, bis das Reich dahin kam, wo es jetzt steht, niedergeworfen von
Feinden und mehr noch durch inneren Zwist zerrissen, zerfallen an Leib
und Seele.
* * * * *
Wie aber wird es möglich sein, daß wir uns aus so schweren Nöten
erretten? Die nächste Hoffnung bildet unsere geistige Kraft mit ihrer
Freiheit, aber was haben wir unter einer solchen Freiheit zu verstehen,
und wie können wir sie suchen? Aus der vielfachen Verwirrung retten kann
uns am besten ein Blick auf unsere geistigen Helden, die in leuchtender
Klarheit und mit siegesgewisser Macht vor uns stehen.
Kein anderes modernes Volk hat eine solche Fülle selbstwüchsiger und
schöpferischer Männer wie die Deutschen hervorgebracht, religiöse Führer
wie Eckhart und Luther, Denker wie Leibniz und Kant, Dichter wie Goethe
und Schiller, Tonkünstler wie Bach und Beethoven; diese Männer haben
aus der größten Fülle des Geistes gelebt, sie alle sind unwiderlegliche
Zeugnisse des Geistes und der Kraft für unser gemeinsames Leben. Daß
aber alle diese Männer bei aller Verschiedenheit die geistige Freiheit
als ihr höchstes Gut erklärten, das darf uns als ein erhebendes Zeichen
dafür gelten, daß unser Volk in besonderem Maße das Vermögen
ursprünglicher geistiger Freiheit hat, und daß es sich dadurch auf
weitere Höhen emporheben, sowie sich aus tiefster Not retten kann. Eine
große Offenbarung des Lebens hat sich bei uns vollzogen; halten wir sie
mit voller Kraft fest und schöpfen wir immer neuen Mut aus ihr!
* * * * *
Als den Hauptführer des deutschen Lebens zu einer religiösen Freiheit
dürfen wir Luther betrachten, natürlich unter Fernhalten alles
Zufälligen und bloß Konfessionellen. Was war der Ausgangspunkt seines
Strebens? Es war ein heiliger Ernst um die ewigen Güter und zugleich um
die Rettung der eigenen Seele, es war ein glühender Zorn gegen das, was
ihm als eine Entstellung und Entartung der Wahrheit galt; das trieb ihn
zwingend zum Kampf gegen die ganze von seiner Umgebung geheiligte
kirchliche Ordnung, zugleich aber zur Rettung der geistigen Freiheit.
War es zufällig, daß seine mächtigste Schrift von der Freiheit des
Christenmenschen handelte? Allem Zagen und Bedenken traten hier die
markigen Worte entgegen: »Ärgernis hin, Ärgernis her, Not bricht Eisen
und hat kein Ärgernis. Ich soll der schwachen Gewissen schonen, sofern
es ohne Gefahr meiner Seele geschehen kann. Wo nicht, so soll ich meiner
Seele raten, es ärgere sich daran die ganze oder halbe Welt«. Das
fordert Mut und Freiheit gegenüber den Menschen, es fordert zugleich
eine innere Belebung und Erhöhung des eigenen Wesens, es eröffnet eine
neue Welt. Hier vollzog sich ein geistiges Wunder: das Erscheinen und
Durchbrechen eines in Gott begründeten Lebens, als der Quelle des
persönlichen Lebens; dies Durchbrechen war eine dem Einzelnen weit
überlegene Macht, aber es war ihm zugleich eine eigene Tat und
Entscheidung, es gab ihm zugleich das Bewußtsein einer vollen Freiheit
und Weltüberlegenheit, es ließ ihn vor allem Kirchlichen das Moralische
mit seiner schlichten Größe schätzen. Für Luther war der Gottesgedanke
nicht bloß eine jenseitige, aus überlegener Höhe gebietende Macht,
sondern die Seele seines eigenen Lebens, er gewann bei ihm die
unmittelbarste seelische Nähe, so daß es heißen konnte: »Daß nichts
Gegenwärtigeres und Innerlicheres sein kann in allen Kreaturen denn Gott
selbst«.
Aus der ungeheuren Erschütterung steigt für Luther durch überlegene
Liebe und Gnade eine neue Welt empor; je schwerer früher der Druck des
Feindlichen empfunden war, desto größer wird jetzt der Jubel über die
Befreiung davon, und je peinlicher der Zweifel an der Rettung war, desto
freudiger wird jetzt ihre felsenfeste Gewißheit. Die Frömmigkeit aber
entwindet sich damit aller blinden und gedrückten Devotion, sie gewinnt
einen durchaus mannhaften Charakter. Nur eine derartige Freiheit kann
anerkennen, daß alle Christen wahrhaftig geistigen Standes sind, daß
»ein Christenmensch ein allmächtiger Herr aller Dinge ist«, so daß es
heißen kann: »Es ist ein freies Werk um den Glauben, wozu man niemand
zwingen kann«. Aus solcher Überzeugung heißt es: »Gottes Wort ist unser
Heiligtum und macht alle Dinge heilig«, aus ihr quillt unendliche Kraft
und Frische, denn »das Wort Gottes kommt, die Welt zu verändern und zu
erneuern, so oft es kommt«.
Die Freiheit, welche hier entsteht, hat nichts mit Willkür zu tun, sie
hat eben in der Freiheit oder besser in der Welt der Freiheit einen
unwandelbaren Grund, sie ist nicht eine naturhafte, sondern eine
geistige, eine schaffende Freiheit. Der Kern des ganzen Strebens ist
hier zusammengefaßt in die kurzen Worte: »Frei, christlich, deutsch«.
* * * * *
Diese Freiheit ist mehr als eine bloße Privatsache, sie hat ein Reich
der Innerlichkeit, ein Reich des selbständigen und persönlichen Lebens,
eines weltüberlegenen von Gott erfüllten Lebens bei uns erbaut; sie hat
ein innigeres Verhältnis zu Gott und zugleich zum Ganzen der
Wirklichkeit geoffenbart, sie wirkt mit solcher Art mächtig in die
Seelen der Menschen, keineswegs allein der Deutschen. Sie bekundet sich
so in der Musik eines Bach, auch in der Innigkeit des protestantischen
Kirchenliedes; sie hat sich weiter in unseren großen Dichtern und
Denkern unserer klassischen Kultur verkörpert, sie ist mit ihrer
geistigen Kraft und mit ihrem sittlichen Ernst eine unerschöpfliche
Quelle des gesamten deutschen Lebens. Und diese geistige Freiheit, diese
Kraft, dieses ursprüngliche Leben sollte für die Gegenwart verloren
sein, es sollte aufhören, das gemeinsame Streben zu erhöhen?
* * * * *
Was Luther in der Richtung zur Religion, das hat Kant in der zur Moral
vollzogen: die Erhöhung des Lebens zu einer selbständigen Welt in dem
eigenen Reich der Seele, zu einer Welt echter geistiger Freiheit. Die
Moral ist ihm nicht eine Leistung für den Zustand des Einzelnen, auch
nicht für die menschliche Gesellschaft, auch nicht eine bloße
Unterordnung des Menschen unter Gott als eine äußere Ordnung, sondern
das Beleben des eigenen Wesens zu voller Selbständigkeit. Eine derartige
Moral ist so streng wie nur möglich, aber als aus eigenem Wollen und
Entschließen entsprungen und fortwährend dadurch getragen, ist sie
zugleich ein Werk höchster Freiheit, ist sie die Selbstbestimmung des
vernünftigen Wollens. Auch ist sie nicht eine bloße Summe einzelner
Vorschriften, sondern die Schöpferin einer neuen Ordnung; diese aber ist
es allein, welche dem Leben einen Wert verleiht. Denn sie bewirkt bei
uns eine Befreiung vom Mechanismus der bloßen Natur und gibt uns die
Größe eines Gesetzgebers. Hier gewinnt der Mensch ein unsichtbares
Selbst in seiner Persönlichkeit, er wird zu einer Welt, die »wahre
Unendlichkeit« hat. Zugleich erreicht er eine sichere Überlegenheit
gegen alles Niedere, was an Naturtrieben in ihm liegt, eine
Überlegenheit über allen bloßen Genuß, überhaupt gegen alles
selbstisches Glück; einen unerschütterlichen Halt aber gibt ihm der
Grundbegriff der Pflicht, der freilich dann einen tieferen Sinn und ein
volleres Leben erhält, als ihm eine mehr äußerliche Fassung des Alltages
zu geben pflegt. Der Mensch gewinnt nun als der Träger des sittlichen
Gesetzes eine »Autonomie«, die ihn weit über alle andere Wesen erhebt
und ihm eine unvergleichliche Größe und Würde verleiht.
Diese Selbsttätigkeit der Vernunft bedeutet aber für Kant die letzte
Tiefe der ganzen Wirklichkeit, sie ist nach seiner Überzeugung nicht an
besondere Bedingungen des Menschen geknüpft, sondern sie gilt
gleichmäßig für alle Vernunftwesen; sie ist hier kein besonderes Gebiet
innerhalb einer weiteren Welt, sondern der Ursprung einer neuen Welt.
Sie schafft sich ein eigenes Reich der Freiheit, das sein Recht und
seinen Wert ganz und gar in sich selbst hat und keiner Bestätigung,
keiner Befestigung von außen bedarf; so hindert hier nichts den
Menschen am Besitz einer weltüberlegenen schöpferischen Freiheit.
* * * * *
Diese Grundgedanken sind von Fichte wie von Schiller weiter ausgeführt.
Für Fichte war die Kultur die Übung aller Kräfte für den Zweck der
völligen Freiheit; als die höchste Aufgabe gilt ihm die, daß der Mensch
sich mit Freiheit zu dem bilde, was die Natur bei ihm angelegt hat; alle
Erziehung gilt ihm nur als eine Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit,
zur vollen Mündigkeit; wenn er die Gleichheit alles dessen verlangt, was
Menschengesicht trägt, so verherrlicht er damit keineswegs die bloße
Natur, sondern er begründet solche Schätzung lediglich aus der Vernunft
und dem sittlichen Gesetz; nur von dieser kann es heißen: »vor dem
Sittengesetz ist das Menschenleben überhaupt von gleichem Wert«. -- Der
eifrigste Dichter der Freiheit aber war Schiller; es ist bezeichnend für
unser Volk, daß in der Reclamschen Sammlung die höchste Auflage der
ganzen deutschen Literatur der Wilhelm Tell erhalten hat.
Diesen Männern bedeutet die Befreiung zugleich eine Bindung, aber eine
Bindung, die nicht von außen auferlegt ist, sondern aus dem eigenen
Wollen und Wesen entspringt, und die dem Menschen eine unendliche Kraft
verleiht. Eine derartige Überzeugung entspricht der geistigen Art des
Deutschen; die gewissenhafte, ja strenge Fassung der Pflicht mit ihrer
Erhebung über alles bloßes Belieben und über alle bloße Neigung, auch
über allen bloßen Nutzen, ist ihm unentbehrlich. So zieht sich der
Pflichtgedanke als eine Großmacht durch das ganze deutsche Leben; würde
seine Macht gebrochen, so wäre es um uns und um unsere geistige
Selbsterhaltung geschehen. In dem Grundgedanken der Tätigkeit gehen
aber die leitenden deutschen und die griechischen Denker weit
auseinander. Diese setzen das Handeln in eine Übereinstimmung mit einer
geschlossenen, vom Menschen nur abzubildenden Welt, die Deutschen
dagegen suchen in jenem etwas, das an keine fremde Welt gebunden ist und
lediglich aus seiner eigenen Unendlichkeit schöpft, lediglich auf sich
selbst steht. So übertrifft die deutsche Art augenscheinlich die
griechische in der Fassung und Schätzung der Freiheit.
* * * * *
Die geistige Freiheit deutscher Art erweist sich weiter in einer
eigentümlichen Gestaltung des erkennenden Denkens. Das deutsche Denken
trägt den Charakter der Freiheit, insofern es sich nicht damit begnügt,
eine gegebene Welt festzustellen und zu ordnen, daß es vielmehr die
ganze Wirklichkeit an sich zu ziehen und sie in einen eigenen Besitz zu
verwandeln strebt. Daraus entsprang ein gewaltiges Ringen, die Welt von
innen her zu durchleuchten, hier galt es nicht eine Anzahl der Lehren
aufzustellen, sondern ein Ganzes der Gedankenwelt in schöpferischem
Entwerfen aufzubauen und dadurch alles Empfangene umzuwandeln. Demnach
waren die deutschen Systeme nicht bloße Lehrsysteme, nicht bloß
intellektuelle Leistungen, sondern sie waren Weiterbildungen der
Wirklichkeit, sie waren innere Belebungen dieser Welt. So hat das
deutsche Denken tief auf den Stand des deutschen Lebens gewirkt, es hat
etwas Neues aus dem Menschen gemacht und alle Verzweigungen des Lebens
ergriffen. Ihm wurde das Erkennen aus einem Aufnehmen einer fremden Welt
zu einem Erkennen des eigenen Vermögens und der eigenen Bewegung des
Geistes, zu einem Selbsterkennen größten Stiles. Die leitende Idee des
Ganzen aber war dabei die der Freiheit, sie sollte alles Fremde und
Dunkle vertreiben, alle Wirklichkeit in lichte Klarheit erheben; nur
eine solche schien dem Denken und Leben echte Wahrheit zu geben. Gewiß
war mit dieser Kühnheit des Unternehmens viel Gefahr verbunden, aber in
diesen Dingen alle Gefahren meiden, das heißt auch auf alle Größe
verzichten; so gewiß wir als gute Deutsche auf einem echten und
durchdringenden Erkennen bestehen, so gewiß ein Stück Faustnatur in uns
steckt, so gewiß werden wir mit Hegel ein gebildetes Volk ohne
Metaphysik für einen Tempel ohne Allerheiligstes erklären. -- Die
spekulative Philosophie als Metaphysik ist aber nur der Höhepunkt eines
durchgehenden deutschen Strebens. Dies Streben geht nicht an erster
Stelle auf den Nutzen, den das Wissen und Erkennen dem Menschen gewährt,
sondern es behandelt jenes als einen Selbstzweck, der die vollste Freude
in sich selbst trägt. Mit welchem Eifer und mit welcher Hingebung war
der Deutsche um die Erweiterung des Wissensbereiches bemüht, wie viele
Mühe und Opfer hat er dafür dargebracht! Er erträgt es nicht, die Welt
als etwas Fremdes zu behandeln, er will im Ganzen der Wirklichkeit zu
Hause sein und dadurch geistige Freiheit erringen.
* * * * *
Die deutsche Freiheit erweist sich weiter in der Gestaltung des
künstlerischen Schaffens. Sie will den Menschen nicht nur ergötzen und
angenehm unterhalten, sie gewinnt ihn nicht durch blendende oder
einschmeichelnde Eindrücke, auch nicht durch strenge Formen und Gesetze,
sondern an erster Stelle ist sie bemüht, der Seele neue Quellen des
Lebens zu erschließen, ein Ganzes der Welt von innen heraus zu bauen,
sich rein in die Entfaltung des Lebens zu versetzen und dieses in einen
vollen Aufstieg zu bringen, mehr und mehr verborgene Tiefen aus ihm zu
entdecken. Die deutsche Kunst möchte den Menschen sich selbst innerlich
näher bringen, sie begleitet ihn treulich in alle Probleme und Kämpfe
des Lebens, sie möchte ihm den tiefsten Sinn seines Lebens enthüllen. So
hat vornehmlich die deutsche Musik eine durchdringende innere Befreiung
der Seele vollzogen, sie hat nicht bloß vorhandene oder naheliegende
Gefühlslagen dargestellt, sondern sie hat neue Werte erzeugt, neue
Zusammenhänge gebildet, ein unbegrenztes Vermögen des Vordringens und
des Bewältigens erwiesen. Daher ist die deutsche Musik kein
nebensächlicher Anhang, sondern ein Hauptstück des deutschen Lebens, ein
Hauptweg, die Welt dem Geist und seiner Freiheit zu unterwerfen.
Ebenso wurde auf der Höhe unseres klassischen literarischen Schaffens
die Kunst zum Träger einer Welt der Freiheit, sie strebte dahin, den
Menschen von aller Schwere des Stoffes zu befreien, alle
Mannigfaltigkeit einem Ganzen einzufügen, die Grundgestalten der
Wirklichkeit klar und rein hervorzuheben, in dem allen aber den Geist
als das Herrschende und Durchwaltende zu erweisen. Wie dabei die Kunst
durchgängig der Freiheit dient, so hat namentlich Goethe befreiend zu
den Menschen und den Dingen gewirkt; wenn er selbst sein Lebenswerk in
Eins zusammenfaßte, so hat er es als ein Befreien erklärt, es war ihm
ein Befreien von aller engen Menschlichkeit, von aufdringlicher
Subjektivität, von aller Enge der Parteien und Interessen, es war ihm
ein lauteres Enthüllen der Natur und ein Entdecken ihres innigen
Zusammenhanges mit der Welt. Daraus entsprang die bekannte
»gegenständliche« Art Goethes, sie schiebt kein Fremdes zwischen die
Seele und die Welt, sondern sie läßt beide miteinander vertraut
verkehren, sie versteht es, die Seele in der Welt und die Welt in der
Seele zu finden. So wird die Wahrheit unmittelbar zur geistigen
Freiheit, der ganze Mensch aber wird in ein neues Verhältnis zur Welt
gehoben. Von der Kunst der Musik wie der Poesie strömt aber ein
eigentümliches Leben in das Ganze unseres Volkes ein; wie nahe sich bei
uns Dichtkunst und Musik berühren, das zeigt namentlich das Volkslied
und seine Stellung bei uns.
* * * * *
So gewahren wir eine wunderbare Entwicklung der geistigen Freiheit im
deutschen Leben; verschiedene Arten der inneren Freiheit begegneten uns:
die religiöse des deutschen Glaubens, die moralische der deutschen
Gesinnung, die intellektuelle des deutschen Erkennens, die künstlerische
des deutschen Kunstschaffens; aber durch alle Mannigfaltigkeit geht ein
beherrschender Grundzug: durchgehend ist uns die Freiheit an erster
Stelle nicht eine verneinende, sondern eine bejahende Macht, wir wollen
die Religion nicht nur befreien, sondern sie vertiefen und durch die
Vertiefung im vollen Sinne erst gewinnen, wir wollen die Moral nicht nur
von äußeren Fesseln befreien, sondern sie auf die Höhe voller
Selbständigkeit und Ursprünglichkeit heben, wir wollen das Erkennen
nicht bloß von äußeren Schranken ablösen, sondern es zu einer höheren
Art führen, wir wollen das Kunstschaffen nicht nur nicht an äußere
Hemmungen oder niedere Stufen binden, sondern wir wollen es aus der
innersten Tiefe der Seele beleben.
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