Der Tod in Venedig - 6
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endlich warf er auf einmal die Maske des komischen Pechvogels ab,
richtete sich, ja schnellte elastisch auf, bleckte den Gästen auf der
Terrasse frech die Zunge heraus und schlüpfte ins Dunkel. Die
Badegesellschaft verlor sich; Tadzio stand längst nicht mehr an der
Balustrade. Aber der Einsame saß noch lange, zum Befremden der
Kellner, bei dem Rest seines Granatapfelgetränkes an seinem Tischchen.
Die Nacht schritt vor, die Zeit zerfiel. Im Hause seiner Eltern, vor
vielen Jahren, hatte es eine Sanduhr gegeben,--er sah das gebrechliche
und bedeutende Gerätchen auf einmal wieder, als stünde es vor ihm.
Lautlos und fein rann der rostrot gefärbte Sand durch die gläserne
Enge, und da er in der oberen Höhlung zur Neige ging, hatte sich dort
ein kleiner, reißender Strudel gebildet.
Schon am folgenden Tage, nachmittags, tat der Starrsinnige einen neuen
Schritt zur Versuchung der Außenwelt und diesmal mit allem möglichen
Erfolge. Er trat nämlich vom Markusplatz in das dort gelegene
englische Reisebureau, und nachdem er an der Kasse einiges Geld
gewechselt, richtete er mit der Miene des mißtrauischen Fremden an den
ihn bedienenden Clerk seine fatale Frage. Es war ein wollig
gekleideter Brite, noch jung, mit in der Mitte geteiltem Haar, nahe
bei einander liegenden Augen und von jener gesetzten Loyalität des
Wesens, die im spitzbübisch behenden Süden so fremd, so merkwürdig
anmutet. Er fing an: »Kein Grund zur Besorgnis, Sir. Eine Maßregel
ohne ernste Bedeutung. Solche Anordnungen werden häufig getroffen,
um gesundheitsschädlichen Wirkungen der Hitze und des Scirocco
vorzubeugen...« Aber seine blauen Augen aufschlagend, begegnete er dem
Blicke des Fremden, einem müden und etwas traurigen Blick, der mit
leichter Verachtung auf seine Lippen gerichtet war. Da errötete der
Engländer. »Dies ist«, fuhr er halblaut und in einiger Bewegung fort,
»die amtliche Erklärung, auf der zu bestehen man hier für gut
befindet. Ich werde Ihnen sagen, daß noch etwas anderes dahinter
steckt.« Und dann sagte er in seiner redlichen und bequemen Sprache
die Wahrheit.
Seit mehreren Jahren schon hatte die indische Cholera eine verstärkte
Neigung zur Ausbreitung und Wanderung an den Tag gelegt. Erzeugt aus
den warmen Morästen des Ganges-Deltas, aufgestiegen mit dem
mephitischen Odem jener üppig-untauglichen, von Menschen gemiedenen
Urwelt-und Inselwildnis, in deren Bambusdickichten der Tiger kauert,
hatte die Seuche in ganz Hindustan andauernd und ungewöhnlich heftig
gewütet, hatte östlich nach China, westlich nach Afghanistan und
Persien übergegriffen und, den Hauptstraßen des Karawanenverkehrs
folgend, ihre Schrecken bis Astrachan, ja selbst bis Moskau getragen.
Aber während Europa zitterte, das Gespenst möchte von dort aus und zu
Lande seinen Einzug halten, war es, von syrischen Kauffahrern übers
Meer verschleppt, fast gleichzeitig in mehreren Mittelmeerhäfen
aufgetaucht, hatte in Toulon und Malaga sein Haupt erhoben, in Palermo
und Neapel mehrfach seine Maske gezeigt und schien aus ganz Calabrien
und Apulien nicht mehr weichen zu wollen. Der Norden der Halbinsel war
verschont geblieben. Jedoch Mitte Mai dieses Jahres fand man zu
Venedig an ein und demselben Tage die furchtbaren Vibrionen in den
ausgemergelten, schwärzlichen Leichnamen eines Schifferknechtes und
einer Grünwarenhändlerin. Die Fälle wurden verheimlicht. Aber nach
einer Woche waren es deren zehn, waren es zwanzig, dreißig und zwar in
verschiedenen Quartieren. Ein Mann aus der österreichischen Provinz,
der sich zu seinem Vergnügen einige Tage in Venedig aufgehalten,
starb, in sein Heimatstädtchen zurückgekehrt, unter unzweideutigen
Anzeichen, und so kam es, daß die ersten Gerüchte von der Heimsuchung
der Lagunenstadt in deutsche Tagesblätter gelangten. Venedigs
Obrigkeit ließ antworten, daß die Gesundheitsverhältnisse der Stadt
nie besser gewesen seien und traf die notwendigsten Maßregeln zur
Bekämpfung. Aber wahrscheinlich waren Nahrungsmittel infiziert worden.
Gemüse, Fleisch oder Milch, denn geleugnet und vertuscht, fraß das
Sterben in der Enge der Gäßchen um sich, und die vorzeitig
eingefallene Sommerhitze, welche das Wasser der Kanäle laulich
erwärmte, war der Verbreitung besonders günstig. Ja, es schien, als ob
die Seuche eine Neubelebung ihrer Kräfte erfahren, als ob die
Tenazität und Fruchtbarkeit ihrer Erreger sich verdoppelt hätte. Fälle
der Genesung waren sehr selten; achtzig vom Hundert der Befallenen
starben und zwar auf entsetzliche Weise, denn das Übel trat mit
äußerster Wildheit auf und zeigte häufig jene gefährlichste Form,
welche »die trockene« benannt ist. Hierbei vermochte der Körper das
aus den Blutgefäßen massenhaft abgesonderte Wasser nicht einmal
auszutreiben. Binnen wenigen Stunden verdorrte der Kranke und
erstickte am pechartig zähe gewordenen Blut unter Krämpfen und
heiseren Klagen. Wohl ihm, wenn, was zuweilen geschah, der Ausbruch
nach leichtem Übelbefinden in Gestalt einer tiefen Ohnmacht erfolgte,
aus der er nicht mehr oder kaum noch erwachte. Anfang Juni füllten
sich in der Stille die Isolierbaracken des Ospedale civico, in den
beiden Waisenhäusern begann es an Platz zu mangeln, und ein
schauerlich reger Verkehr herrschte zwischen dem Kai der neuen
Fundamente und San Michele, der Friedhofsinsel. Aber die Furcht vor
allgemeiner Schädigung, die Rücksicht auf die kürzlich eröffnete
Gemäldeausstellung in den öffentlichen Gärten, auf die gewaltigen
Ausfälle, von denen im Falle der Panik und des Verrufes die Hotels,
die Geschäfte, das ganze vielfältige Fremdengewerbe bedroht waren,
zeigte sich mächtiger in der Stadt als Wahrheitsliebe und Achtung vor
internationalen Abmachungen; sie vermochte die Behörde, ihre Politik
des Verschweigens und des Ableugnens hartnäckig aufrecht zu erhalten.
Der oberste Medizinalbeamte Venedigs, ein verdienter Mann, war
entrüstet von seinem Posten zurückgetreten und unter der Hand durch
eine gefügigere Persönlichkeit ersetzt worden. Das Volk wußte das; und
die Korruption der Oberen zusammen mit der herrschenden Unsicherheit,
dem Ausnahmezustand, in welchen der umgehende Tod die Stadt versetzte,
brachte eine gewisse Entsittlichung der unteren Schichten hervor, eine
Ermutigung lichtscheuer und antisozialer Triebe, die sich in
Unmäßigkeit, Schamlosigkeit und wachsender Kriminalität bekundete.
Gegen die Regel bemerkte man abends viele Betrunkene; bösartiges
Gesindel machte, so hieß es, nachts die Straßen unsicher; räuberische
Anfälle und selbst Mordtaten wiederholten sich, denn schon zweimal
hatte sich erwiesen, daß angeblich der Seuche zum Opfer gefallene
Personen vielmehr von ihren eigenen Anverwandten mit Gift aus dem
Leben geräumt worden waren; und die gewerbsmäßige Liederlichkeit nahm
aufdringliche und ausschweifende Formen an, wie sie sonst hier nicht
bekannt und nur im Süden des Landes und im Orient zu Hause gewesen
waren.
Von diesen Dingen sprach der Engländer das Entscheidende aus. »Sie
täten gut«, schloß er, »lieber heute als morgen zu reisen. Länger, als
ein paar Tage noch, kann die Verhängung der Sperre kaum auf sich
warten lassen.«--»Danke Ihnen«, sagte Aschenbach und verließ das Amt.
Der Platz lag in sonnenloser Schwüle. Unwissende Fremde saßen vor den
Cafés oder standen, ganz von Tauben bedeckt, vor der Kirche und sahen
zu, wie die Tiere, wimmelnd, flügelschlagend, einander verdrängend,
nach den in hohlen Händen dargebotenen Maiskörnern pickten. In
fiebriger Erregung, triumphierend im Besitze der Wahrheit, einen
Geschmack von Ekel dabei auf der Zunge und ein phantastisches Grauen
im Herzen, schritt der Einsame die Fliesen des Prachthofes auf und
nieder. Er erwog eine reinigende und anständige Handlung. Er konnte
heute Abend nach dem Diner der perlengeschmückten Frau sich nähern und
zu ihr sprechen, was er wörtlich entwarf: »Gestatten Sie dem Fremden,
Madame, Ihnen mit einem Rat, einer Warnung zu dienen, die der
Eigennutz Ihnen vorenthält. Reisen Sie ab, sogleich, mit Tadzio und
Ihren Töchtern! Venedig ist verseucht.« Er konnte dann dem Werkzeug
einer höhnischen Gottheit zum Abschied die Hand aufs Haupt legen, sich
wegwenden und diesem Sumpfe entfliehen. Aber er fühlte zugleich, daß
er unendlich weit entfernt war, einen solchen Schritt im Ernste zu
wollen. Er würde ihn zurückführen, würde ihn sich selber wiedergeben;
aber wer außer sich ist, verabscheut nichts mehr, als wieder in sich
zu gehen. Er erinnerte sich eines weißen Bauwerks, geschmückt mit
abendlich gleißenden Inschriften, in deren durchscheinender Mystik das
Auge seines Geistes sich verloren hatte; jener seltsamen
Wandrergestalt sodann, die dem Alternden schweifende
Jünglingssehnsucht ins Weite und Fremde erweckt hatte; und der Gedanke
an Heimkehr, an Besonnenheit, Nüchternheit, Mühsal und Meisterschaft,
widerte ihn in solchem Maße, daß sein Gesicht sich zum Ausdruck
physischer Übelkeit verzerrte. »Man soll schweigen!« flüsterte er
heftig. Und: »Ich werde schweigen!« Das Bewußtsein seiner
Mitwisserschaft, seiner Mitschuld berauschte ihn, wie geringe Mengen
Weines ein müdes Hirn berauschen. Das Bild der heimgesuchten und
verwahrlosten Stadt, wüst seinem Geiste vorschwebend, entzündete in
ihm Hoffnungen, unsagbar, die Vernunft überschreitend, und von
ungeheuerlicher Süßigkeit. Was war ihm das zarte Glück, von dem er
vorhin einen Augenblick geträumt, verglichen mit diesen Erwartungen?
Was galt ihm noch Kunst und Tugend gegenüber den Vorteilen des Chaos?
Er schwieg und blieb.
In dieser Nacht hatte er einen furchtbaren Traum,--wenn man als Traum
ein körperhaft-geistiges Erlebnis bezeichnen kann, das ihm zwar im
tiefsten Schlaf und in völligster Unabhängigkeit und sinnlicher
Gegenwart widerfuhr, aber ohne daß er sich außer den Geschehnissen im
Raume wandelnd und anwesend sah; sondern ihr Schauplatz war vielmehr
seine Seele selbst, und sie brachen von außen herein, seinen
Widerstand--einen tiefen und geistigen Widerstand--gewalttätig
niederwerfend, gingen hindurch und ließen seine Existenz, ließen die
Kultur seines Lebens verheert, vernichtet zurück.
Angst war der Anfang, Angst und Lust und eine entsetzte Neugier nach
dem, was kommen wollte. Nacht herrschte, und seine Sinne lauschten;
denn weither näherte sich Getümmel, Getöse, ein Gemisch von Lärm:
Rasseln, Schmettern und dumpfes Donnern, schrilles Jauchzen dazu und
ein bestimmtes Geheul im gezogenen u-Laut, alles durchsetzt und
grauenhaft süß übertönt von tief girrendem, ruchlos beharrlichen
Flötenspiel, welches auf schamlos zudringende Art die Eingeweide
bezauberte. Aber er wußte ein Wort, dunkel, doch das benennend was
kam: »_Der fremde Gott!_« Qualmige Glut glomm auf: da erkannte er
Bergland, ähnlich dem um sein Sommerhaus. Und in zerrissenem Licht,
von bewaldeter Höhe, zwischen Stämmen und moosigen Felstrümmern wälzte
es sich und stürzte wirbelnd herab: Menschen, Tiere, ein Schwarm, eine
tobende Rotte, und überschwemmte die Halde mit Leibern, Flammen,
Tumult und taumelndem Rundtanz. Weiber, strauchelnd über zu
lange Fellgewänder, die ihnen vom Gürtel hingen, schüttelten
Schellentrommeln über ihren stöhnend zurückgeworfenen Häuptern,
schwangen stiebende Fackelbrände und nackte Dolche, hielten züngelnde
Schlangen in der Mitte des Leibes erfaßt oder trugen schreiend ihre
Brüste in beiden Händen. Männer, Hörner über den Stirnen, mit Pelzwerk
geschürzt und zottig von Haut, beugten die Nacken und hoben Arme und
Schenkel, ließen eherne Becken erdröhnen und schlugen wütend auf
Pauken, während glatte Knaben mit umlaubten Stäben Böcke stachelten,
an deren Hörner sie sich klammerten und von deren Sprüngen sie sich
jauchzend schleifen ließen. Und die Begeisterten heulten den Ruf aus
weichen Mitlauten und gezogenem u-Ruf am Ende, süß und wild zugleich,
wie kein jemals erhörter: hier klang er auf, in die Lüfte geröhrt, wie
von Hirschen, und dort gab man ihn wieder, vielstimmig, in wüstem
Triumph, hetzte einander damit zum Tanz und Schleudern der Glieder und
ließ ihn niemals verstummen. Aber alles durchdrang und beherrschte der
tiefe, lockende Flötenton. Lockte er nicht auch ihn, den widerstrebend
Erlebenden, schamlos beharrlich zum Fest und Unmaß des äußersten
Opfers? Groß war sein Abscheu, groß seine Furcht, redlich sein Wille,
bis zuletzt das Seine zu schützen gegen den Fremden, den Feind des
gefaßten und würdigen Geistes. Aber der Lärm, das Geheul, vervielfacht
von hallender Bergwand, wuchs, nahm Überhand, schwoll zu hinreißendem
Wahnsinn. Dünste bedrängten den Sinn, der beizende Ruch der Böcke,
Witterung keuchender Leiber und ein Hauch wie von faulenden Wassern,
dazu ein anderer noch, vertraut: nach Wunden und umlaufender
Krankheit. Mit den Paukenschlägen dröhnte sein Herz, sein Gehirn
kreiste, Wut ergriff ihn, Verblendung, betäubende Wollust, und seine
Seele begehrte, sich anzuschließen dem Reigen des Gottes. Das obszöne
Symbol, riesig, aus Holz, ward enthüllt und erhöht: da heulten sie
zügelloser die Losung. Schaum vor den Lippen tobten sie, reizten
einander mit geilen Gebärden und buhlenden Händen, lachend und
ächzend,--stießen die Stachelstäbe einander ins Fleisch und leckten
das Blut von den Gliedern. Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende
nun und dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren er selbst, als sie
reißend und mordend sich auf die Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen
verschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung
begann, dem Gotte zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und
Raserei des Unterganges.
Aus diesem Traum erwachte der Heimgesuchte entnervt, zerrüttet und
kraftlos dem Dämon verfallen. Er scheute nicht mehr die beobachtenden
Blicke der Menschen; ob er sich ihrem Verdacht aussetze, kümmerte
ihn nicht. Auch flohen sie ja, reisten ab; zahlreiche Strandhütten
standen leer, die Besetzung des Speisesaals wies größere Lücken auf,
und in der Stadt sah man selten noch einen Fremden. Die Wahrheit
schien durchgesickert, die Panik, trotz zähen Zusammenhaltens der
Interessenten, nicht länger hintanzuhalten. Aber die Frau im
Perlenschmuck blieb mit den Ihren, sei es, weil die Gerüchte nicht zu
ihr drangen, oder weil sie zu stolz und furchtlos war, um ihnen zu
weichen: Tadzio blieb; und jenem, in seiner Umfangenheit, war es
zuweilen, als könne Flucht und Tod alles störende Leben in der Runde
entfernen und er allein mit dem Schönen auf dieser Insel
zurückbleiben,--ja, wenn vormittags am Meere sein Blick schwer,
unverantwortlich, unverwandt auf dem Begehrten ruhte, wenn er bei
sinkendem Tage durch Gassen, in denen verheimlichterweise das ekle
Sterben umging, ihm unwürdig nachfolgte, so schien das Ungeheuerliche
ihm aussichtsreich und hinfällig das Sittengesetz.
Wie irgend ein Liebender wünschte er, zu gefallen und empfand bittere
Angst, daß es nicht möglich sein möchte. Er fügte seinem Anzüge
jugendlich aufheiternde Einzelheiten hinzu, er legte Edelsteine an und
benutzte Parfüms, er brauchte mehrmals am Tage viel Zeit für seine
Toilette und kam geschmückt, erregt und gespannt zu Tische. Angesichts
der süßen Jugend, die es ihm angetan, ekelte ihn sein alternder Leib,
der Anblick seines grauen Haares, seiner scharfen Gesichtszüge stürzte
ihn in Scham und Hoffnungslosigkeit. Es trieb ihn, sich körperlich zu
erquicken und wiederherzustellen; er besuchte häufig den Coiffeur des
Hauses.
Im Frisiermantel, unter den pflegenden Händen des Schwätzers im Stuhle
zurückgelehnt, betrachtete er gequälten Blickes sein Spiegelbild.
»Grau«, sagte er mit verzerrtem Munde.
»Ein wenig«, antwortete der Mensch. »Nämlich durch Schuld einer
kleinen Vernachlässigung, einer Indifferenz in äußerlichen Dingen,
die bei bedeutenden Personen begreiflich ist, die man aber doch
nicht unbedingt loben kann und zwar umso weniger, als gerade solchen
Personen Vorurteile in Sachen des Natürlichen oder Künstlichen wenig
angemessen sind. Würde sich die Sittenstrenge gewisser Leute gegenüber
der kosmetischen Kunst logischerweise auch auf ihre Zähne erstrecken,
so würden sie nicht wenig Anstoß erregen. Schließlich sind wir so alt,
wie unser Geist, unser Herz sich fühlen, und graues Haar bedeutet
unter Umständen eine wirklichere Unwahrheit, als die verschmähte
Korrektur bedeuten würde. In Ihrem Falle, mein Herr, hat man ein Recht
auf seine natürliche Haarfarbe. Sie erlauben mir, Ihnen die Ihrige
einfach zurückzugeben?«
»Wie das?« fragte Aschenbach.
Da wusch der Beredte das Haar des Gastes mit zweierlei Wasser, einem
klaren und einem dunklen, und es war schwarz wie in jungen Jahren. Er
bog es hierauf mit der Brennscheere in weiche Lagen, trat rückwärts
und musterte das behandelte Haupt.
»Es wäre nun nur noch«, sagte er, »die Gesichtshaut ein wenig
aufzufrischen.«
Und wie jemand, der nicht enden, sich nicht genug tun kann, ging er
mit immer neu belebter Geschäftigkeit von einer Hantierung zur anderen
über. Aschenbach, bequem ruhend, der Abwehr nicht fähig, hoffnungsvoll
erregt vielmehr von dem, was geschah, sah im Glase seine Brauen sich
entschiedener und ebenmäßiger wölben, den Schnitt seiner Augen sich
verlängern, ihren Glanz durch eine leichte Untermalung des Lides sich
heben, sah weiter unten, wo die Haut bräunlich-ledern gewesen, weich
aufgetragen, ein zartes Karmin erwachen, seine Lippen, blutarm soeben
noch, himbeerfarben schwellen, die Furchen der Wangen, des Mundes, die
Runzeln der Augen unter Crème und Jugendhauch verschwinden,--erblickte
mit Herzklopfen einen blühenden Jüngling. Der Kosmetiker gab sich
endlich zufrieden, indem er nach Art solcher Leute dem, den er bedient
hatte, mit kriechender Höflichkeit dankte. »Eine unbedeutende
Nachhilfe«, sagte er, indem er eine letzte Hand an Aschenbachs Äußeres
legte. »Nun kann der Herr sich unbedenklich verlieben.« Der Berückte
ging, traumglücklich, verwirrt und furchtsam. Seine Krawatte war rot,
sein breitschattender Strohhut mit einem mehrfarbigen Bande umwunden.
Lauwarmer Sturmwind war aufgekommen; es regnete selten und spärlich,
aber die Luft war feucht, dick und von Fäulnisdünsten erfüllt.
Flattern, Klatschen und Sausen umgab das Gehör, und dem unter der
Schminke Fiebernden schienen Windgeister üblen Geschlechts im Raume
ihr Wesen zu treiben, unholdes Gevögel des Meeres, das des
Verurteilten Mahl zerwühlt, zernagt und mit Unrat schändet. Denn die
Schwüle wehrte der Eßlust, und die Vorstellung drängte sich auf, daß
die Speisen mit Ansteckungsstoffen vergiftet seien.
Auf den Spuren des Schönen hatte Aschenbach sich eines Nachmittags in
das innere Gewirr der kranken Stadt vertieft. Mit versagendem
Ortssinn, da die Gäßchen, Gewässer, Brücken und Plätzchen des
Labyrinthes zu sehr einander gleichen, auch der Himmelsgegenden nicht
mehr sicher, war er durchaus darauf bedacht, das sehnlich verfolgte
Bild nicht aus den Augen zu verlieren, und zu schmählicher
Behutsamkeit genötigt, an Mauern gedrückt, hinter dem Rücken
Vorangehender Schutz suchend, ward er sich lange nicht der Müdigkeit,
der Erschöpfung bewußt, welche Gefühl und immerwährende Spannung
seinem Körper, seinem Geiste zugefügt hatten. Tadzio ging hinter den
Seinen, er ließ der Pflegerin und den nonnenähnlichen Schwestern in
der Enge gewöhnlich den Vortritt, und einzeln schlendernd wandte er
zuweilen das Haupt, um sich über die Schulter hinweg der Gefolgschaft
seines Liebhabers mit einem Blick seiner eigentümlich dämmergrauen
Augen zu versichern. Er sah ihn, und er verriet ihn nicht. Berauscht
von dieser Erkenntnis, von diesen Augen vorwärts gelockt, am
Narrenseile geleitet von der Passion, stahl der Verliebte sich seiner
unziemlichen Hoffnung nach--und sah sich schließlich dennoch um ihren
Anblick betrogen. Die Polen hatten eine kurz gewölbte Brücke
überschritten, die Höhe des Bogens verbarg sie dem Nachfolgenden, und
seinerseits hinaufgelangt, entdeckte er sie nicht mehr. Er forschte
nach ihnen in drei Richtungen, geradeaus und nach beiden Seiten den
schmalen und schmutzigen Quai entlang, vergebens. Entnervung,
Hinfälligkeit nötigten ihn endlich, vom Suchen abzulassen.
Sein Kopf brannte, sein Körper war mit klebrigem Schweiß bedeckt, sein
Genick zitterte, ein nicht mehr erträglicher Durst peinigte ihn, er
sah sich nach irgendwelcher, nach augenblicklicher Labung um. Vor
einem kleinen Gemüseladen kaufte er einige Früchte, Erdbeeren,
überreife und weiche Ware und aß im Gehen davon. Ein kleiner Platz,
verlassen, verwunschen anmutend, öffnete sich vor ihm, er erkannte
ihn, es war hier gewesen, wo er vor Wochen den vereitelten Fluchtplan
gefaßt hatte. Auf den Stufen der Zisterne, inmitten des Ortes, ließ er
sich niedersinken und lehnte den Kopf an das steinerne Rund. Es war
still, Gras wuchs zwischen dem Pflaster. Abfälle lagen umher. Unter
den verwitterten, unregelmäßig hohen Häusern in der Runde erschien
eines palastartig, mit Spitzbogenfenstern, hinter denen die Leere
wohnte, und kleinen Löwenbalkonen. Im Erdgeschoß eines anderen befand
sich eine Apotheke. Warme Windstöße brachten zuweilen Karbolgeruch.
Er saß dort, der Meister, der würdig gewordene Künstler, der Autor des
»Elenden«, der in so vorbildlich reiner Form dem Zigeunertum und der
trüben Tiefe abgesagt, dem Abgrunde die Sympathie gekündigt und das
Verworfene verworfen hatte, der Hochgestiegene, der, Überwinder seines
Wissens und aller Ironie entwachsen, in die Verbindlichkeiten des
Massenzutrauens sich gewöhnt hatte, er, dessen Ruhm amtlich, dessen
Name geadelt war und an dessen Styl die Knaben sich zu bilden
angehalten wurden,--er saß dort, seine Lider waren geschlossen, nur
zuweilen glitt, rasch sich wieder verbergend, ein spöttischer und
betretener Blick seitlich darunter hervor, und seine schlaffen Lippen,
kosmetisch aufgehöht, bildeten einzelne Worte aus von dem, was sein
halb schlummerndes Hirn an seltsamer Traumlogik hervorbrachte.
»Denn die Schönheit, Phaidros, merke das wohl! nur die Schönheit ist
göttlich und sichtbar zugleich, und so ist sie denn also des
Sinnlichen Weg, ist, kleiner Phaidros, der Weg des Künstlers zum
Geiste. Glaubst du nun aber, mein Lieber, daß derjenige jemals
Weisheit und wahre Manneswürde gewinnen könne, für den der Weg zum
Geistigen durch die Sinne führt? Oder glaubst du vielmehr (ich stelle
dir die Entscheidung frei), daß dies ein gefährlich-lieblicher Weg
sei, wahrhaft ein Irr-und Sündenweg, der mit Notwendigkeit in die Irre
leitet? Denn du mußt wissen, daß wir Dichter den Weg der Schönheit
nicht gehen können, ohne daß Eros sich zugesellt und sich zum Führer
aufwirft; ja, mögen wir auch Helden auf unsere Art und züchtige
Kriegsleute sein, so sind wir wie Weiber, denn Leidenschaft ist unsere
Erhebung, und unsere Sehnsucht muß Liebe bleiben,--das ist unsere Lust
und unsere Schande. Siehst du nun wohl, daß wir Dichter nicht weise
noch würdig sein können? Daß wir notwendig in die Irre gehen,
notwendig liederlich und Abenteurer des Gefühles bleiben? Die
Meisterhaltung unseres Styls ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und
Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menge zu uns höchst
lächerlich, Volks-und Jugenderziehung durch die Kunst ein gewagtes, zu
verbietendes Unternehmen. Denn wie sollte wohl der zum Erzieher
taugen, dem eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde
eingeboren ist? Wir möchten ihn wohl verleugnen und Würde gewinnen,
aber wie wir uns auch wenden mögen, er zieht uns an. So sagen wir etwa
der auflösenden Erkenntnis ab, denn die Erkenntnis, Phaidros, hat
keine Würde und Strenge: sie ist wissend, verstehend, verzeihend, ohne
Haltung und Form; sie hat Sympathie mit dem Abgrund, sie ist der
Abgrund. Diese also verwerfen wir mit Entschlossenheit, und fortan
gilt unser Trachten einzig der Schönheit, das will sagen der
Einfachheit, Größe und neuen Strenge, der zweiten Unbefangenheit und
der Form. Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch
und zur Begierde, führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem
Gefühlsfrevel, den seine eigene schöne Strenge als infam verwirft,
führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich,
führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir
vermögen nur auszuschweifen. Und nun gehe ich, Phaidros, bleibe du
hier; und erst wenn du mich nicht mehr siehst, so gehe auch du.«
* * * * *
Einige Tage später verließ Gustav von Aschenbach, da er sich leidend
fühlte, das Bäder-Hotel zu späterer Morgenstunde als gewöhnlich. Er
hatte mit gewissen, nur halb körperlichen Schwindelanfällen zu
kämpfen, die von einer heftig aufsteigenden Angst und Ratlosigkeit
begleitet waren, einem Gefühl der Ausweg-und Aussichtslosigkeit, von
dem nicht klar wurde, ob es sich auf die äußere Welt oder auf seine
eigene Existenz bezog. In der Halle bemerkte er eine große Menge zum
Transport bereitliegenden Gepäcks, fragte einen Türhüter, wer es sei,
der reise, und erhielt zur Antwort den polnischen Adelsnamen, dessen
er insgeheim gewärtig gewesen war. Er empfing ihn, ohne daß seine
verfallenen Gesichtszüge sich verändert hätten, mit jener kurzen
Hebung des Kopfes, mit der man etwas, was man nicht zu wissen
brauchte, beiläufig zur Kenntnis nimmt, und fragte noch: »Wann?« Man
antwortete ihm: »Nach dem Lunch.« Er nickte und ging zum Meere.
Es war unwirtlich dort. Über das weite, flache Gewässer, das den
Strand von der ersten gestreckten Sandbank trennte, liefen kräuselnde
Schauer von vorn nach hinten. Herbstlichkeit, Überlebtheit schien über
dem einst so farbig belebten, nun fast verlassenen Lustorte zu liegen,
dessen Sand nicht mehr reinlich gehalten wurde. Ein photographischer
Apparat, scheinbar herrenlos, stand auf seinem dreibeinigen Stativ am
Rande der See, und ein schwarzes Tuch, darüber gebreitet, flatterte
klatschend im kälteren Winde.
Tadzio, mit drei oder vier Gespielen, die ihm geblieben waren, bewegte
sich zur Rechten vor der Hütte der Seinen, und, eine Decke über den
Knieen, etwa in der Mitte zwischen dem Meer und der Reihe der
Strandhütten in seinem Liegestuhl ruhend, sah Aschenbach ihm noch
einmal zu. Das Spiel, das unbeaufsichtigt war, denn die Frauen mochten
mit Reisevorbereitungen beschäftigt sein, schien regellos und artete
aus. Jener Stämmige, im Gürtelanzug und mit schwarzem, pomadisiertem
Haar, der »Jaschu« gerufen wurde, durch einen Sandwurf ins Gesicht
gereizt und geblendet, zwang Tadzio zum Ringkampf, der rasch mit dem
Fall des schwächeren Schönen endete. Aber als ob in der
Abschiedsstunde das dienende Gefühl des Geringeren sich in grausame
Roheit verkehre und für eine lange Sklaverei Rache zu nehmen trachte,
ließ der Sieger auch dann noch nicht von dem Unterlegenen ab, sondern
drückte, auf seinem Rücken knieend, dessen Gesicht so anhaltend in den
Sand, daß Tadzio, ohnedies vom Kampf außer Atem, zu ersticken drohte.
Seine Versuche, den Lastenden abzuschütteln, waren krampfhaft, sie
unterblieben auf Augenblicke ganz und wiederholten sich nur noch als
ein Zucken. Entsetzt wollte Aschenbach zur Rettung aufspringen, als
der Gewalttätige endlich sein Opfer freigab. Tadzio, sehr bleich,
richtete sich zur Hälfte auf und saß, auf einen Arm gestützt, mehrere
Minuten lang unbeweglich, mit verwirrtem Haar und dunkelnden Augen.
Dann stand er vollends auf und entfernte sich langsam. Man rief ihn,
anfänglich munter, dann bänglich und bittend; er hörte nicht. Der
Schwarze, den Reue über seine Ausschreitung sogleich erfaßt haben
mochte, holte ihn ein und suchte ihn zu versöhnen. Eine
Schulterbewegung wies ihn zurück. Tadzio ging schräg hinunter zum
Wasser. Er war barfuß und trug seinen gestreiften Leinenanzug mit
roter Schleife.
Am Rande der Flut verweilte er sich, gesenkten Hauptes mit einer
Fußspitze Figuren im feuchten Sande zeichnend, und ging dann in die
seichte Vorsee, die an ihrer tiefsten Stelle noch nicht seine Knie
benetzte, durchschritt sie, lässig vordringend, und gelangte zur
Sandbank. Dort stand er einen Augenblick, das Gesicht der Weite
zugekehrt, und begann hierauf, die lange und schmale Strecke
entblößten Grundes nach links hin langsam abzuschreiten. Vom
Festlande geschieden durch breite Wasser, geschieden von den
Genossen durch stolze Laune, wandelte er, eine höchst abgesonderte
und verbindungslose Erscheinung, mit flatterndem Haar dort draußen
im Meere, im Winde, vorm Nebelhaft-Grenzenlosen. Abermals blieb er
zur Ausschau stehen. Und plötzlich, wie unter einer Erinnerung, einem
richtete sich, ja schnellte elastisch auf, bleckte den Gästen auf der
Terrasse frech die Zunge heraus und schlüpfte ins Dunkel. Die
Badegesellschaft verlor sich; Tadzio stand längst nicht mehr an der
Balustrade. Aber der Einsame saß noch lange, zum Befremden der
Kellner, bei dem Rest seines Granatapfelgetränkes an seinem Tischchen.
Die Nacht schritt vor, die Zeit zerfiel. Im Hause seiner Eltern, vor
vielen Jahren, hatte es eine Sanduhr gegeben,--er sah das gebrechliche
und bedeutende Gerätchen auf einmal wieder, als stünde es vor ihm.
Lautlos und fein rann der rostrot gefärbte Sand durch die gläserne
Enge, und da er in der oberen Höhlung zur Neige ging, hatte sich dort
ein kleiner, reißender Strudel gebildet.
Schon am folgenden Tage, nachmittags, tat der Starrsinnige einen neuen
Schritt zur Versuchung der Außenwelt und diesmal mit allem möglichen
Erfolge. Er trat nämlich vom Markusplatz in das dort gelegene
englische Reisebureau, und nachdem er an der Kasse einiges Geld
gewechselt, richtete er mit der Miene des mißtrauischen Fremden an den
ihn bedienenden Clerk seine fatale Frage. Es war ein wollig
gekleideter Brite, noch jung, mit in der Mitte geteiltem Haar, nahe
bei einander liegenden Augen und von jener gesetzten Loyalität des
Wesens, die im spitzbübisch behenden Süden so fremd, so merkwürdig
anmutet. Er fing an: »Kein Grund zur Besorgnis, Sir. Eine Maßregel
ohne ernste Bedeutung. Solche Anordnungen werden häufig getroffen,
um gesundheitsschädlichen Wirkungen der Hitze und des Scirocco
vorzubeugen...« Aber seine blauen Augen aufschlagend, begegnete er dem
Blicke des Fremden, einem müden und etwas traurigen Blick, der mit
leichter Verachtung auf seine Lippen gerichtet war. Da errötete der
Engländer. »Dies ist«, fuhr er halblaut und in einiger Bewegung fort,
»die amtliche Erklärung, auf der zu bestehen man hier für gut
befindet. Ich werde Ihnen sagen, daß noch etwas anderes dahinter
steckt.« Und dann sagte er in seiner redlichen und bequemen Sprache
die Wahrheit.
Seit mehreren Jahren schon hatte die indische Cholera eine verstärkte
Neigung zur Ausbreitung und Wanderung an den Tag gelegt. Erzeugt aus
den warmen Morästen des Ganges-Deltas, aufgestiegen mit dem
mephitischen Odem jener üppig-untauglichen, von Menschen gemiedenen
Urwelt-und Inselwildnis, in deren Bambusdickichten der Tiger kauert,
hatte die Seuche in ganz Hindustan andauernd und ungewöhnlich heftig
gewütet, hatte östlich nach China, westlich nach Afghanistan und
Persien übergegriffen und, den Hauptstraßen des Karawanenverkehrs
folgend, ihre Schrecken bis Astrachan, ja selbst bis Moskau getragen.
Aber während Europa zitterte, das Gespenst möchte von dort aus und zu
Lande seinen Einzug halten, war es, von syrischen Kauffahrern übers
Meer verschleppt, fast gleichzeitig in mehreren Mittelmeerhäfen
aufgetaucht, hatte in Toulon und Malaga sein Haupt erhoben, in Palermo
und Neapel mehrfach seine Maske gezeigt und schien aus ganz Calabrien
und Apulien nicht mehr weichen zu wollen. Der Norden der Halbinsel war
verschont geblieben. Jedoch Mitte Mai dieses Jahres fand man zu
Venedig an ein und demselben Tage die furchtbaren Vibrionen in den
ausgemergelten, schwärzlichen Leichnamen eines Schifferknechtes und
einer Grünwarenhändlerin. Die Fälle wurden verheimlicht. Aber nach
einer Woche waren es deren zehn, waren es zwanzig, dreißig und zwar in
verschiedenen Quartieren. Ein Mann aus der österreichischen Provinz,
der sich zu seinem Vergnügen einige Tage in Venedig aufgehalten,
starb, in sein Heimatstädtchen zurückgekehrt, unter unzweideutigen
Anzeichen, und so kam es, daß die ersten Gerüchte von der Heimsuchung
der Lagunenstadt in deutsche Tagesblätter gelangten. Venedigs
Obrigkeit ließ antworten, daß die Gesundheitsverhältnisse der Stadt
nie besser gewesen seien und traf die notwendigsten Maßregeln zur
Bekämpfung. Aber wahrscheinlich waren Nahrungsmittel infiziert worden.
Gemüse, Fleisch oder Milch, denn geleugnet und vertuscht, fraß das
Sterben in der Enge der Gäßchen um sich, und die vorzeitig
eingefallene Sommerhitze, welche das Wasser der Kanäle laulich
erwärmte, war der Verbreitung besonders günstig. Ja, es schien, als ob
die Seuche eine Neubelebung ihrer Kräfte erfahren, als ob die
Tenazität und Fruchtbarkeit ihrer Erreger sich verdoppelt hätte. Fälle
der Genesung waren sehr selten; achtzig vom Hundert der Befallenen
starben und zwar auf entsetzliche Weise, denn das Übel trat mit
äußerster Wildheit auf und zeigte häufig jene gefährlichste Form,
welche »die trockene« benannt ist. Hierbei vermochte der Körper das
aus den Blutgefäßen massenhaft abgesonderte Wasser nicht einmal
auszutreiben. Binnen wenigen Stunden verdorrte der Kranke und
erstickte am pechartig zähe gewordenen Blut unter Krämpfen und
heiseren Klagen. Wohl ihm, wenn, was zuweilen geschah, der Ausbruch
nach leichtem Übelbefinden in Gestalt einer tiefen Ohnmacht erfolgte,
aus der er nicht mehr oder kaum noch erwachte. Anfang Juni füllten
sich in der Stille die Isolierbaracken des Ospedale civico, in den
beiden Waisenhäusern begann es an Platz zu mangeln, und ein
schauerlich reger Verkehr herrschte zwischen dem Kai der neuen
Fundamente und San Michele, der Friedhofsinsel. Aber die Furcht vor
allgemeiner Schädigung, die Rücksicht auf die kürzlich eröffnete
Gemäldeausstellung in den öffentlichen Gärten, auf die gewaltigen
Ausfälle, von denen im Falle der Panik und des Verrufes die Hotels,
die Geschäfte, das ganze vielfältige Fremdengewerbe bedroht waren,
zeigte sich mächtiger in der Stadt als Wahrheitsliebe und Achtung vor
internationalen Abmachungen; sie vermochte die Behörde, ihre Politik
des Verschweigens und des Ableugnens hartnäckig aufrecht zu erhalten.
Der oberste Medizinalbeamte Venedigs, ein verdienter Mann, war
entrüstet von seinem Posten zurückgetreten und unter der Hand durch
eine gefügigere Persönlichkeit ersetzt worden. Das Volk wußte das; und
die Korruption der Oberen zusammen mit der herrschenden Unsicherheit,
dem Ausnahmezustand, in welchen der umgehende Tod die Stadt versetzte,
brachte eine gewisse Entsittlichung der unteren Schichten hervor, eine
Ermutigung lichtscheuer und antisozialer Triebe, die sich in
Unmäßigkeit, Schamlosigkeit und wachsender Kriminalität bekundete.
Gegen die Regel bemerkte man abends viele Betrunkene; bösartiges
Gesindel machte, so hieß es, nachts die Straßen unsicher; räuberische
Anfälle und selbst Mordtaten wiederholten sich, denn schon zweimal
hatte sich erwiesen, daß angeblich der Seuche zum Opfer gefallene
Personen vielmehr von ihren eigenen Anverwandten mit Gift aus dem
Leben geräumt worden waren; und die gewerbsmäßige Liederlichkeit nahm
aufdringliche und ausschweifende Formen an, wie sie sonst hier nicht
bekannt und nur im Süden des Landes und im Orient zu Hause gewesen
waren.
Von diesen Dingen sprach der Engländer das Entscheidende aus. »Sie
täten gut«, schloß er, »lieber heute als morgen zu reisen. Länger, als
ein paar Tage noch, kann die Verhängung der Sperre kaum auf sich
warten lassen.«--»Danke Ihnen«, sagte Aschenbach und verließ das Amt.
Der Platz lag in sonnenloser Schwüle. Unwissende Fremde saßen vor den
Cafés oder standen, ganz von Tauben bedeckt, vor der Kirche und sahen
zu, wie die Tiere, wimmelnd, flügelschlagend, einander verdrängend,
nach den in hohlen Händen dargebotenen Maiskörnern pickten. In
fiebriger Erregung, triumphierend im Besitze der Wahrheit, einen
Geschmack von Ekel dabei auf der Zunge und ein phantastisches Grauen
im Herzen, schritt der Einsame die Fliesen des Prachthofes auf und
nieder. Er erwog eine reinigende und anständige Handlung. Er konnte
heute Abend nach dem Diner der perlengeschmückten Frau sich nähern und
zu ihr sprechen, was er wörtlich entwarf: »Gestatten Sie dem Fremden,
Madame, Ihnen mit einem Rat, einer Warnung zu dienen, die der
Eigennutz Ihnen vorenthält. Reisen Sie ab, sogleich, mit Tadzio und
Ihren Töchtern! Venedig ist verseucht.« Er konnte dann dem Werkzeug
einer höhnischen Gottheit zum Abschied die Hand aufs Haupt legen, sich
wegwenden und diesem Sumpfe entfliehen. Aber er fühlte zugleich, daß
er unendlich weit entfernt war, einen solchen Schritt im Ernste zu
wollen. Er würde ihn zurückführen, würde ihn sich selber wiedergeben;
aber wer außer sich ist, verabscheut nichts mehr, als wieder in sich
zu gehen. Er erinnerte sich eines weißen Bauwerks, geschmückt mit
abendlich gleißenden Inschriften, in deren durchscheinender Mystik das
Auge seines Geistes sich verloren hatte; jener seltsamen
Wandrergestalt sodann, die dem Alternden schweifende
Jünglingssehnsucht ins Weite und Fremde erweckt hatte; und der Gedanke
an Heimkehr, an Besonnenheit, Nüchternheit, Mühsal und Meisterschaft,
widerte ihn in solchem Maße, daß sein Gesicht sich zum Ausdruck
physischer Übelkeit verzerrte. »Man soll schweigen!« flüsterte er
heftig. Und: »Ich werde schweigen!« Das Bewußtsein seiner
Mitwisserschaft, seiner Mitschuld berauschte ihn, wie geringe Mengen
Weines ein müdes Hirn berauschen. Das Bild der heimgesuchten und
verwahrlosten Stadt, wüst seinem Geiste vorschwebend, entzündete in
ihm Hoffnungen, unsagbar, die Vernunft überschreitend, und von
ungeheuerlicher Süßigkeit. Was war ihm das zarte Glück, von dem er
vorhin einen Augenblick geträumt, verglichen mit diesen Erwartungen?
Was galt ihm noch Kunst und Tugend gegenüber den Vorteilen des Chaos?
Er schwieg und blieb.
In dieser Nacht hatte er einen furchtbaren Traum,--wenn man als Traum
ein körperhaft-geistiges Erlebnis bezeichnen kann, das ihm zwar im
tiefsten Schlaf und in völligster Unabhängigkeit und sinnlicher
Gegenwart widerfuhr, aber ohne daß er sich außer den Geschehnissen im
Raume wandelnd und anwesend sah; sondern ihr Schauplatz war vielmehr
seine Seele selbst, und sie brachen von außen herein, seinen
Widerstand--einen tiefen und geistigen Widerstand--gewalttätig
niederwerfend, gingen hindurch und ließen seine Existenz, ließen die
Kultur seines Lebens verheert, vernichtet zurück.
Angst war der Anfang, Angst und Lust und eine entsetzte Neugier nach
dem, was kommen wollte. Nacht herrschte, und seine Sinne lauschten;
denn weither näherte sich Getümmel, Getöse, ein Gemisch von Lärm:
Rasseln, Schmettern und dumpfes Donnern, schrilles Jauchzen dazu und
ein bestimmtes Geheul im gezogenen u-Laut, alles durchsetzt und
grauenhaft süß übertönt von tief girrendem, ruchlos beharrlichen
Flötenspiel, welches auf schamlos zudringende Art die Eingeweide
bezauberte. Aber er wußte ein Wort, dunkel, doch das benennend was
kam: »_Der fremde Gott!_« Qualmige Glut glomm auf: da erkannte er
Bergland, ähnlich dem um sein Sommerhaus. Und in zerrissenem Licht,
von bewaldeter Höhe, zwischen Stämmen und moosigen Felstrümmern wälzte
es sich und stürzte wirbelnd herab: Menschen, Tiere, ein Schwarm, eine
tobende Rotte, und überschwemmte die Halde mit Leibern, Flammen,
Tumult und taumelndem Rundtanz. Weiber, strauchelnd über zu
lange Fellgewänder, die ihnen vom Gürtel hingen, schüttelten
Schellentrommeln über ihren stöhnend zurückgeworfenen Häuptern,
schwangen stiebende Fackelbrände und nackte Dolche, hielten züngelnde
Schlangen in der Mitte des Leibes erfaßt oder trugen schreiend ihre
Brüste in beiden Händen. Männer, Hörner über den Stirnen, mit Pelzwerk
geschürzt und zottig von Haut, beugten die Nacken und hoben Arme und
Schenkel, ließen eherne Becken erdröhnen und schlugen wütend auf
Pauken, während glatte Knaben mit umlaubten Stäben Böcke stachelten,
an deren Hörner sie sich klammerten und von deren Sprüngen sie sich
jauchzend schleifen ließen. Und die Begeisterten heulten den Ruf aus
weichen Mitlauten und gezogenem u-Ruf am Ende, süß und wild zugleich,
wie kein jemals erhörter: hier klang er auf, in die Lüfte geröhrt, wie
von Hirschen, und dort gab man ihn wieder, vielstimmig, in wüstem
Triumph, hetzte einander damit zum Tanz und Schleudern der Glieder und
ließ ihn niemals verstummen. Aber alles durchdrang und beherrschte der
tiefe, lockende Flötenton. Lockte er nicht auch ihn, den widerstrebend
Erlebenden, schamlos beharrlich zum Fest und Unmaß des äußersten
Opfers? Groß war sein Abscheu, groß seine Furcht, redlich sein Wille,
bis zuletzt das Seine zu schützen gegen den Fremden, den Feind des
gefaßten und würdigen Geistes. Aber der Lärm, das Geheul, vervielfacht
von hallender Bergwand, wuchs, nahm Überhand, schwoll zu hinreißendem
Wahnsinn. Dünste bedrängten den Sinn, der beizende Ruch der Böcke,
Witterung keuchender Leiber und ein Hauch wie von faulenden Wassern,
dazu ein anderer noch, vertraut: nach Wunden und umlaufender
Krankheit. Mit den Paukenschlägen dröhnte sein Herz, sein Gehirn
kreiste, Wut ergriff ihn, Verblendung, betäubende Wollust, und seine
Seele begehrte, sich anzuschließen dem Reigen des Gottes. Das obszöne
Symbol, riesig, aus Holz, ward enthüllt und erhöht: da heulten sie
zügelloser die Losung. Schaum vor den Lippen tobten sie, reizten
einander mit geilen Gebärden und buhlenden Händen, lachend und
ächzend,--stießen die Stachelstäbe einander ins Fleisch und leckten
das Blut von den Gliedern. Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende
nun und dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren er selbst, als sie
reißend und mordend sich auf die Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen
verschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung
begann, dem Gotte zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und
Raserei des Unterganges.
Aus diesem Traum erwachte der Heimgesuchte entnervt, zerrüttet und
kraftlos dem Dämon verfallen. Er scheute nicht mehr die beobachtenden
Blicke der Menschen; ob er sich ihrem Verdacht aussetze, kümmerte
ihn nicht. Auch flohen sie ja, reisten ab; zahlreiche Strandhütten
standen leer, die Besetzung des Speisesaals wies größere Lücken auf,
und in der Stadt sah man selten noch einen Fremden. Die Wahrheit
schien durchgesickert, die Panik, trotz zähen Zusammenhaltens der
Interessenten, nicht länger hintanzuhalten. Aber die Frau im
Perlenschmuck blieb mit den Ihren, sei es, weil die Gerüchte nicht zu
ihr drangen, oder weil sie zu stolz und furchtlos war, um ihnen zu
weichen: Tadzio blieb; und jenem, in seiner Umfangenheit, war es
zuweilen, als könne Flucht und Tod alles störende Leben in der Runde
entfernen und er allein mit dem Schönen auf dieser Insel
zurückbleiben,--ja, wenn vormittags am Meere sein Blick schwer,
unverantwortlich, unverwandt auf dem Begehrten ruhte, wenn er bei
sinkendem Tage durch Gassen, in denen verheimlichterweise das ekle
Sterben umging, ihm unwürdig nachfolgte, so schien das Ungeheuerliche
ihm aussichtsreich und hinfällig das Sittengesetz.
Wie irgend ein Liebender wünschte er, zu gefallen und empfand bittere
Angst, daß es nicht möglich sein möchte. Er fügte seinem Anzüge
jugendlich aufheiternde Einzelheiten hinzu, er legte Edelsteine an und
benutzte Parfüms, er brauchte mehrmals am Tage viel Zeit für seine
Toilette und kam geschmückt, erregt und gespannt zu Tische. Angesichts
der süßen Jugend, die es ihm angetan, ekelte ihn sein alternder Leib,
der Anblick seines grauen Haares, seiner scharfen Gesichtszüge stürzte
ihn in Scham und Hoffnungslosigkeit. Es trieb ihn, sich körperlich zu
erquicken und wiederherzustellen; er besuchte häufig den Coiffeur des
Hauses.
Im Frisiermantel, unter den pflegenden Händen des Schwätzers im Stuhle
zurückgelehnt, betrachtete er gequälten Blickes sein Spiegelbild.
»Grau«, sagte er mit verzerrtem Munde.
»Ein wenig«, antwortete der Mensch. »Nämlich durch Schuld einer
kleinen Vernachlässigung, einer Indifferenz in äußerlichen Dingen,
die bei bedeutenden Personen begreiflich ist, die man aber doch
nicht unbedingt loben kann und zwar umso weniger, als gerade solchen
Personen Vorurteile in Sachen des Natürlichen oder Künstlichen wenig
angemessen sind. Würde sich die Sittenstrenge gewisser Leute gegenüber
der kosmetischen Kunst logischerweise auch auf ihre Zähne erstrecken,
so würden sie nicht wenig Anstoß erregen. Schließlich sind wir so alt,
wie unser Geist, unser Herz sich fühlen, und graues Haar bedeutet
unter Umständen eine wirklichere Unwahrheit, als die verschmähte
Korrektur bedeuten würde. In Ihrem Falle, mein Herr, hat man ein Recht
auf seine natürliche Haarfarbe. Sie erlauben mir, Ihnen die Ihrige
einfach zurückzugeben?«
»Wie das?« fragte Aschenbach.
Da wusch der Beredte das Haar des Gastes mit zweierlei Wasser, einem
klaren und einem dunklen, und es war schwarz wie in jungen Jahren. Er
bog es hierauf mit der Brennscheere in weiche Lagen, trat rückwärts
und musterte das behandelte Haupt.
»Es wäre nun nur noch«, sagte er, »die Gesichtshaut ein wenig
aufzufrischen.«
Und wie jemand, der nicht enden, sich nicht genug tun kann, ging er
mit immer neu belebter Geschäftigkeit von einer Hantierung zur anderen
über. Aschenbach, bequem ruhend, der Abwehr nicht fähig, hoffnungsvoll
erregt vielmehr von dem, was geschah, sah im Glase seine Brauen sich
entschiedener und ebenmäßiger wölben, den Schnitt seiner Augen sich
verlängern, ihren Glanz durch eine leichte Untermalung des Lides sich
heben, sah weiter unten, wo die Haut bräunlich-ledern gewesen, weich
aufgetragen, ein zartes Karmin erwachen, seine Lippen, blutarm soeben
noch, himbeerfarben schwellen, die Furchen der Wangen, des Mundes, die
Runzeln der Augen unter Crème und Jugendhauch verschwinden,--erblickte
mit Herzklopfen einen blühenden Jüngling. Der Kosmetiker gab sich
endlich zufrieden, indem er nach Art solcher Leute dem, den er bedient
hatte, mit kriechender Höflichkeit dankte. »Eine unbedeutende
Nachhilfe«, sagte er, indem er eine letzte Hand an Aschenbachs Äußeres
legte. »Nun kann der Herr sich unbedenklich verlieben.« Der Berückte
ging, traumglücklich, verwirrt und furchtsam. Seine Krawatte war rot,
sein breitschattender Strohhut mit einem mehrfarbigen Bande umwunden.
Lauwarmer Sturmwind war aufgekommen; es regnete selten und spärlich,
aber die Luft war feucht, dick und von Fäulnisdünsten erfüllt.
Flattern, Klatschen und Sausen umgab das Gehör, und dem unter der
Schminke Fiebernden schienen Windgeister üblen Geschlechts im Raume
ihr Wesen zu treiben, unholdes Gevögel des Meeres, das des
Verurteilten Mahl zerwühlt, zernagt und mit Unrat schändet. Denn die
Schwüle wehrte der Eßlust, und die Vorstellung drängte sich auf, daß
die Speisen mit Ansteckungsstoffen vergiftet seien.
Auf den Spuren des Schönen hatte Aschenbach sich eines Nachmittags in
das innere Gewirr der kranken Stadt vertieft. Mit versagendem
Ortssinn, da die Gäßchen, Gewässer, Brücken und Plätzchen des
Labyrinthes zu sehr einander gleichen, auch der Himmelsgegenden nicht
mehr sicher, war er durchaus darauf bedacht, das sehnlich verfolgte
Bild nicht aus den Augen zu verlieren, und zu schmählicher
Behutsamkeit genötigt, an Mauern gedrückt, hinter dem Rücken
Vorangehender Schutz suchend, ward er sich lange nicht der Müdigkeit,
der Erschöpfung bewußt, welche Gefühl und immerwährende Spannung
seinem Körper, seinem Geiste zugefügt hatten. Tadzio ging hinter den
Seinen, er ließ der Pflegerin und den nonnenähnlichen Schwestern in
der Enge gewöhnlich den Vortritt, und einzeln schlendernd wandte er
zuweilen das Haupt, um sich über die Schulter hinweg der Gefolgschaft
seines Liebhabers mit einem Blick seiner eigentümlich dämmergrauen
Augen zu versichern. Er sah ihn, und er verriet ihn nicht. Berauscht
von dieser Erkenntnis, von diesen Augen vorwärts gelockt, am
Narrenseile geleitet von der Passion, stahl der Verliebte sich seiner
unziemlichen Hoffnung nach--und sah sich schließlich dennoch um ihren
Anblick betrogen. Die Polen hatten eine kurz gewölbte Brücke
überschritten, die Höhe des Bogens verbarg sie dem Nachfolgenden, und
seinerseits hinaufgelangt, entdeckte er sie nicht mehr. Er forschte
nach ihnen in drei Richtungen, geradeaus und nach beiden Seiten den
schmalen und schmutzigen Quai entlang, vergebens. Entnervung,
Hinfälligkeit nötigten ihn endlich, vom Suchen abzulassen.
Sein Kopf brannte, sein Körper war mit klebrigem Schweiß bedeckt, sein
Genick zitterte, ein nicht mehr erträglicher Durst peinigte ihn, er
sah sich nach irgendwelcher, nach augenblicklicher Labung um. Vor
einem kleinen Gemüseladen kaufte er einige Früchte, Erdbeeren,
überreife und weiche Ware und aß im Gehen davon. Ein kleiner Platz,
verlassen, verwunschen anmutend, öffnete sich vor ihm, er erkannte
ihn, es war hier gewesen, wo er vor Wochen den vereitelten Fluchtplan
gefaßt hatte. Auf den Stufen der Zisterne, inmitten des Ortes, ließ er
sich niedersinken und lehnte den Kopf an das steinerne Rund. Es war
still, Gras wuchs zwischen dem Pflaster. Abfälle lagen umher. Unter
den verwitterten, unregelmäßig hohen Häusern in der Runde erschien
eines palastartig, mit Spitzbogenfenstern, hinter denen die Leere
wohnte, und kleinen Löwenbalkonen. Im Erdgeschoß eines anderen befand
sich eine Apotheke. Warme Windstöße brachten zuweilen Karbolgeruch.
Er saß dort, der Meister, der würdig gewordene Künstler, der Autor des
»Elenden«, der in so vorbildlich reiner Form dem Zigeunertum und der
trüben Tiefe abgesagt, dem Abgrunde die Sympathie gekündigt und das
Verworfene verworfen hatte, der Hochgestiegene, der, Überwinder seines
Wissens und aller Ironie entwachsen, in die Verbindlichkeiten des
Massenzutrauens sich gewöhnt hatte, er, dessen Ruhm amtlich, dessen
Name geadelt war und an dessen Styl die Knaben sich zu bilden
angehalten wurden,--er saß dort, seine Lider waren geschlossen, nur
zuweilen glitt, rasch sich wieder verbergend, ein spöttischer und
betretener Blick seitlich darunter hervor, und seine schlaffen Lippen,
kosmetisch aufgehöht, bildeten einzelne Worte aus von dem, was sein
halb schlummerndes Hirn an seltsamer Traumlogik hervorbrachte.
»Denn die Schönheit, Phaidros, merke das wohl! nur die Schönheit ist
göttlich und sichtbar zugleich, und so ist sie denn also des
Sinnlichen Weg, ist, kleiner Phaidros, der Weg des Künstlers zum
Geiste. Glaubst du nun aber, mein Lieber, daß derjenige jemals
Weisheit und wahre Manneswürde gewinnen könne, für den der Weg zum
Geistigen durch die Sinne führt? Oder glaubst du vielmehr (ich stelle
dir die Entscheidung frei), daß dies ein gefährlich-lieblicher Weg
sei, wahrhaft ein Irr-und Sündenweg, der mit Notwendigkeit in die Irre
leitet? Denn du mußt wissen, daß wir Dichter den Weg der Schönheit
nicht gehen können, ohne daß Eros sich zugesellt und sich zum Führer
aufwirft; ja, mögen wir auch Helden auf unsere Art und züchtige
Kriegsleute sein, so sind wir wie Weiber, denn Leidenschaft ist unsere
Erhebung, und unsere Sehnsucht muß Liebe bleiben,--das ist unsere Lust
und unsere Schande. Siehst du nun wohl, daß wir Dichter nicht weise
noch würdig sein können? Daß wir notwendig in die Irre gehen,
notwendig liederlich und Abenteurer des Gefühles bleiben? Die
Meisterhaltung unseres Styls ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und
Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menge zu uns höchst
lächerlich, Volks-und Jugenderziehung durch die Kunst ein gewagtes, zu
verbietendes Unternehmen. Denn wie sollte wohl der zum Erzieher
taugen, dem eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde
eingeboren ist? Wir möchten ihn wohl verleugnen und Würde gewinnen,
aber wie wir uns auch wenden mögen, er zieht uns an. So sagen wir etwa
der auflösenden Erkenntnis ab, denn die Erkenntnis, Phaidros, hat
keine Würde und Strenge: sie ist wissend, verstehend, verzeihend, ohne
Haltung und Form; sie hat Sympathie mit dem Abgrund, sie ist der
Abgrund. Diese also verwerfen wir mit Entschlossenheit, und fortan
gilt unser Trachten einzig der Schönheit, das will sagen der
Einfachheit, Größe und neuen Strenge, der zweiten Unbefangenheit und
der Form. Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch
und zur Begierde, führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem
Gefühlsfrevel, den seine eigene schöne Strenge als infam verwirft,
führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich,
führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir
vermögen nur auszuschweifen. Und nun gehe ich, Phaidros, bleibe du
hier; und erst wenn du mich nicht mehr siehst, so gehe auch du.«
* * * * *
Einige Tage später verließ Gustav von Aschenbach, da er sich leidend
fühlte, das Bäder-Hotel zu späterer Morgenstunde als gewöhnlich. Er
hatte mit gewissen, nur halb körperlichen Schwindelanfällen zu
kämpfen, die von einer heftig aufsteigenden Angst und Ratlosigkeit
begleitet waren, einem Gefühl der Ausweg-und Aussichtslosigkeit, von
dem nicht klar wurde, ob es sich auf die äußere Welt oder auf seine
eigene Existenz bezog. In der Halle bemerkte er eine große Menge zum
Transport bereitliegenden Gepäcks, fragte einen Türhüter, wer es sei,
der reise, und erhielt zur Antwort den polnischen Adelsnamen, dessen
er insgeheim gewärtig gewesen war. Er empfing ihn, ohne daß seine
verfallenen Gesichtszüge sich verändert hätten, mit jener kurzen
Hebung des Kopfes, mit der man etwas, was man nicht zu wissen
brauchte, beiläufig zur Kenntnis nimmt, und fragte noch: »Wann?« Man
antwortete ihm: »Nach dem Lunch.« Er nickte und ging zum Meere.
Es war unwirtlich dort. Über das weite, flache Gewässer, das den
Strand von der ersten gestreckten Sandbank trennte, liefen kräuselnde
Schauer von vorn nach hinten. Herbstlichkeit, Überlebtheit schien über
dem einst so farbig belebten, nun fast verlassenen Lustorte zu liegen,
dessen Sand nicht mehr reinlich gehalten wurde. Ein photographischer
Apparat, scheinbar herrenlos, stand auf seinem dreibeinigen Stativ am
Rande der See, und ein schwarzes Tuch, darüber gebreitet, flatterte
klatschend im kälteren Winde.
Tadzio, mit drei oder vier Gespielen, die ihm geblieben waren, bewegte
sich zur Rechten vor der Hütte der Seinen, und, eine Decke über den
Knieen, etwa in der Mitte zwischen dem Meer und der Reihe der
Strandhütten in seinem Liegestuhl ruhend, sah Aschenbach ihm noch
einmal zu. Das Spiel, das unbeaufsichtigt war, denn die Frauen mochten
mit Reisevorbereitungen beschäftigt sein, schien regellos und artete
aus. Jener Stämmige, im Gürtelanzug und mit schwarzem, pomadisiertem
Haar, der »Jaschu« gerufen wurde, durch einen Sandwurf ins Gesicht
gereizt und geblendet, zwang Tadzio zum Ringkampf, der rasch mit dem
Fall des schwächeren Schönen endete. Aber als ob in der
Abschiedsstunde das dienende Gefühl des Geringeren sich in grausame
Roheit verkehre und für eine lange Sklaverei Rache zu nehmen trachte,
ließ der Sieger auch dann noch nicht von dem Unterlegenen ab, sondern
drückte, auf seinem Rücken knieend, dessen Gesicht so anhaltend in den
Sand, daß Tadzio, ohnedies vom Kampf außer Atem, zu ersticken drohte.
Seine Versuche, den Lastenden abzuschütteln, waren krampfhaft, sie
unterblieben auf Augenblicke ganz und wiederholten sich nur noch als
ein Zucken. Entsetzt wollte Aschenbach zur Rettung aufspringen, als
der Gewalttätige endlich sein Opfer freigab. Tadzio, sehr bleich,
richtete sich zur Hälfte auf und saß, auf einen Arm gestützt, mehrere
Minuten lang unbeweglich, mit verwirrtem Haar und dunkelnden Augen.
Dann stand er vollends auf und entfernte sich langsam. Man rief ihn,
anfänglich munter, dann bänglich und bittend; er hörte nicht. Der
Schwarze, den Reue über seine Ausschreitung sogleich erfaßt haben
mochte, holte ihn ein und suchte ihn zu versöhnen. Eine
Schulterbewegung wies ihn zurück. Tadzio ging schräg hinunter zum
Wasser. Er war barfuß und trug seinen gestreiften Leinenanzug mit
roter Schleife.
Am Rande der Flut verweilte er sich, gesenkten Hauptes mit einer
Fußspitze Figuren im feuchten Sande zeichnend, und ging dann in die
seichte Vorsee, die an ihrer tiefsten Stelle noch nicht seine Knie
benetzte, durchschritt sie, lässig vordringend, und gelangte zur
Sandbank. Dort stand er einen Augenblick, das Gesicht der Weite
zugekehrt, und begann hierauf, die lange und schmale Strecke
entblößten Grundes nach links hin langsam abzuschreiten. Vom
Festlande geschieden durch breite Wasser, geschieden von den
Genossen durch stolze Laune, wandelte er, eine höchst abgesonderte
und verbindungslose Erscheinung, mit flatterndem Haar dort draußen
im Meere, im Winde, vorm Nebelhaft-Grenzenlosen. Abermals blieb er
zur Ausschau stehen. Und plötzlich, wie unter einer Erinnerung, einem
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