Der Tod in Venedig - 5

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Grunde in der Stadt gespeist. Auf dem Wasser war es wohl kühl gewesen;
Tadzio trug eine dunkelblaue Seemanns-Überjacke mit goldenen Knöpfen
und auf dem Kopf eine zugehörige Mütze. Sonne und Seeluft verbrannten
ihn nicht, seine Hautfarbe war marmorhaft gelblich geblieben wie zu
Beginn; doch schien er blässer heute als sonst, sei es infolge der
Kühle oder durch den bleichenden Mondschein der Lampen. Seine
ebenmäßigen Brauen zeichneten sich schärfer ab, seine Augen dunkelten
tief. Er war schöner, als es sich sagen läßt, und Aschenbach empfand
wie schon oftmals mit Schmerzen, daß das Wort die sinnliche Schönheit
nur zu preisen, nicht wiederzugeben vermag.
Er war der teuren Erscheinung nicht gewärtig gewesen, sie kam
unverhofft, er hatte nicht Zeit gehabt, seine Miene zu Ruhe und Würde
zu befestigen. Freude, Überraschung, Bewunderung mochten sich offen
darin malen, als sein Blick dem des Vermißten begegnete,--und in
dieser Sekunde geschah es, daß Tadzio lächelte: ihn anlächelte,
sprechend, vertraut, liebreizend und unverhohlen, mit Lippen, die sich
im Lächeln erst langsam öffneten. Es war das Lächeln des Narziß, der
sich über das spiegelnde Wasser neigt, jenes tiefe, bezauberte,
hingezogene Lächeln, mit dem er nach dem Widerschein der eigenen
Schönheit die Arme streckt,--ein ganz wenig verzerrtes Lächeln,
verzerrt von der Aussichtslosigkeit seines Trachtens, die holden
Lippen seines Schattens zu küssen, kokett, neugierig und leise
gequält, betört und betörend.
Der, welcher dies Lächeln empfangen, enteilte damit wie mit einem
verhängnisvollen Geschenk. Er war so sehr erschüttert, daß er das
Licht der Terrasse, des Vorgartens, zu fliehen gezwungen war und mit
hastigen Schritten das Dunkel des rückwärtigen Parkes suchte.
Sonderbar entrüstete und zärtliche Vermahnungen entrangen sich ihm:
»Du darfst so nicht lächeln! Höre, man darf so niemandem lächeln!« Er
warf sich auf eine Bank, er atmete außer sich den nächtlichen Duft der
Pflanzen. Und zurückgelehnt, mit hängenden Armen, überwältigt und
mehrfach von Schauern überlaufen, flüsterte er die stehende Formel der
Sehnsucht,--unmöglich hier, absurd, verworfen, lächerlich und heilig
doch, ehrwürdig auch hier noch: »Ich liebe dich!«


Fünftes Kapitel

In der vierten Woche seines Aufenthalts auf dem Lido machte Gustav von
Aschenbach einige die Außenwelt betreffende unheimliche Wahrnehmungen.
Erstens schien es ihm, als ob bei steigender Jahreszeit die Frequenz
seines Gasthofes eher ab-als zunähme, und, insbesondere, als ob die
deutsche Sprache um ihn her versiege und verstumme, so daß bei Tisch
und am Strand endlich nur noch fremde Laute sein Ohr trafen. Eines
Tages dann fing er beim Coiffeur, den er jetzt häufig besuchte, im
Gespräche ein Wort auf, das ihn stutzig machte. Der Mann hatte einer
deutschen Familie erwähnt, die soeben nach kurzem Verweilen abgereist
war und setzte plaudernd und schmeichelnd hinzu: »Sie bleiben, mein
Herr; Sie haben keine Furcht vor dem Übel.« Aschenbach sah ihn an.
»Dem Übel?« wiederholte er. Der Schwätzer verstummte, tat beschäftigt,
überhörte die Frage, und als sie dringlicher gestellt ward, erklärte
er, er wisse von nichts und suchte mit verlegener Beredsamkeit
abzulenken.
Das war um Mittag. Nachmittags fuhr Aschenbach bei Windstille und
schwerem Sonnenbrand nach Venedig; denn ihn trieb die Manie, den
polnischen Geschwistern zu folgen, die er mit ihrer Begleiterin den
Weg zur Dampferbrücke hatte einschlagen sehen. Er fand den Abgott
nicht bei San Marco. Aber beim Tee, an seinem eisernen Rundtischchen
auf der Schattenseite des Platzes sitzend, witterte er plötzlich in
der Luft ein eigentümliches Arom, von dem ihm jetzt schien, als habe
es schon seit Tagen, ohne ihm ins Bewußtsein zu dringen, seinen Sinn
berührt,--einen süßlich-offizinellen Geruch, der an Elend und Wunden
und verdächtige Reinlichkeit erinnerte. Er prüfte und erkannte ihn
nachdenklich, beendete seinen Imbiß und verließ den Platz auf der dem
Tempel gegenüberliegenden Seite. In der Enge verstärkte sich der
Geruch. An den Straßenecken hafteten gedruckte Anschläge, durch welche
die Bevölkerung wegen gewisser Erkrankungen des gastrischen Systems,
die bei dieser Witterung an der Tagesordnung seien, vor dem Genusse
von Austern und Muscheln, auch vor dem Wasser der Kanäle
stadtväterlich gewarnt wurde. Die beschönigende Natur des Erlasses war
deutlich. Volksgruppen standen schweigsam auf Brücken und Plätzen
beisammen; und der Fremde stand spürend und grübelnd unter ihnen.
Einen Ladeninhaber, der zwischen Korallenschnüren und falschen
Amethyst-Geschmeiden in der Türe seines Gewölbes lehnte, bat er um
Auskunft über den fatalen Geruch. Der Mann maß ihn mit schweren Augen
und ermunterte sich hastig. »Eine vorbeugende Maßregel, mein Herr!«
antwortete er mit Gebärdenspiel. »Eine Verfügung der Polizei, die man
billigen muß. Diese Witterung drückt, der Scirocco ist der Gesundheit
nicht zuträglich. Kurz, Sie verstehen,--eine vielleicht übertriebene
Vorsicht...« Aschenbach dankte ihm und ging weiter. Auch auf dem
Dampfer, der ihn zum Lido zurücktrug, spürte er jetzt den Geruch des
keimbekämpfenden Mittels.
Ins Hotel zurückgekehrt, begab er sich sogleich in die Halle zum
Zeitungstisch und hielt in den Blättern Umschau. Er fand in den
fremdsprachigen nichts. Die heimatlichen verzeichneten Gerüchte,
führten schwankende Ziffern an, gaben amtliche Ableugnungen wieder und
bezweifelten deren Wahrhaftigkeit. So erklärte sich der Abzug des
deutschen und österreichischen Elementes. Die Angehörigen der übrigen
Nationen wußten offenbar nichts, ahnten nichts, waren noch nicht
beunruhigt. »Man soll schweigen!« dachte Aschenbach erregt, indem er
die Journale auf den Tisch zurückwarf. »Man soll das verschweigen!«
Aber zugleich füllte sein Herz sich mit Genugtuung über das Abenteuer,
in welches die Außenwelt geraten wollte. Denn der Leidenschaft ist,
wie dem Verbrechen, die gesicherte Ordnung und Wohlfahrt des Alltags
nicht gemäß, und jede Lockerung des bürgerlichen Gefüges, jede
Verwirrung und Heimsuchung der Welt muß ihr willkommen sein, weil sie
ihren Vorteil dabei zu finden unbestimmt hoffen kann. So empfand
Aschenbach eine dunkle Zufriedenheit über die obrigkeitlich
bemäntelten Vorgänge in den schmutzigen Gäßchen Venedigs,--dieses
schlimme Geheimnis der Stadt, das mit seinem eigensten Geheimnis
verschmolz, und an dessen Bewahrung auch ihm so sehr gelegen war. Denn
der Verliebte besorgte nichts, als daß Tadzio abreisen könnte und
erkannte nicht ohne Entsetzen, daß er nicht mehr zu leben wissen
werde, wenn das geschähe.
Neuerdings begnügte er sich nicht damit, Nähe und Anblick des Schönen
der Tagesregel und dem Glücke zu danken; er verfolgte ihn, er stellte
ihm nach. Sonntags zum Beispiel erschienen die Polen niemals am
Strande; er erriet, daß sie die Messe in San Marco besuchten, er eilte
dorthin, und aus der Glut des Platzes in die goldene Dämmerung des
Heiligtums eintretend, fand er den Entbehrten, über ein Betpult
gebeugt beim Gottesdienst. Dann stand er im Hintergrunde, auf
zerklüftetem Mosaikboden, inmitten knieenden, murmelnden,
kreuzschlagenden Volkes, und die gedrungene Pracht des
morgenländischen Tempels lastete üppig auf seinen Sinnen. Vorn
wandelte, hantierte und sang der schwergeschmückte Priester, Weihrauch
quoll auf, er umnebelte die kraftlosen Flämmchen der Altarkerzen, und
in den dumpfsüßen Opferduft schien sich leise ein anderer zu mischen:
der Geruch der erkrankten Stadt. Aber durch Dunst und Gefunkel sah
Aschenbach, wie der Schöne dort vorn den Kopf wandte, ihn suchte und
ihn erblickte.
Wenn dann die Menge durch die geöffneten Portale hinausströmte auf den
leuchtenden, von Tauben wimmelnden Platz, verbarg sich der Betörte in
der Vorhalle, er versteckte sich, er legte sich auf die Lauer. Er sah
die Polen die Kirche verlassen, sah, wie die Geschwister sich auf
zeremoniöse Art von der Mutter verabschiedeten und wie diese sich
heimkehrend zur Piazzetta wandte; er stellte fest, daß der Schöne, die
klösterlichen Schwestern und die Gouvernante den Weg zur Rechten durch
das Tor des Uhrturmes und in die Merceria einschlugen, und nachdem er
sie einigen Vorsprung hatte gewinnen lassen, folgte er ihnen, folgte
ihnen verstohlen auf ihrem Spaziergang durch Venedig.
Er mußte stehen bleiben, wenn sie sich verweilten, mußte in Garküchen
und Höfe flüchten, um die Umkehrenden vorüber zu lassen; er verlor
sie, suchte erhitzt und erschöpft nach ihnen über Brücken und in
schmutzigen Sackgassen und erduldete Minuten tödlicher Pein, wenn er
sie plötzlich in enger Passage, wo kein Ausweichen möglich war, sich
entgegenkommen sah. Dennoch kann man nicht sagen, daß er litt. Haupt
und Herz waren ihm trunken, und seine Schritte folgten den Weisungen
des Dämons, dem es Lust ist, des Menschen Vernunft und Würde unter
seine Füße zu treten.
Irgendwo nahmen Tadzio und die Seinen dann wohl eine Gondel, und
Aschenbach, den, während sie einstiegen, ein Vorbau, ein Brunnen
verborgen gehalten hatte, tat, kurz nachdem sie vom Ufer abgestoßen,
ein Gleiches. Er sprach hastig und gedämpft, wenn er den Ruderer,
unter dem Versprechen eines reichlichen Trinkgeldes, anwies, jener
Gondel, die eben dort um die Ecke biege, unauffällig in einigem
Abstand zu folgen; und es überrieselte ihn, wenn der Mensch, mit der
spitzbübischen Erbötigkeit eines Gelegenheitsmachers, ihm in demselben
Tone versicherte, daß er bedient, daß er gewissenhaft bedient werden
solle.
So glitt und schwankte er denn, in weiche, schwarze Kissen gelehnt,
der anderen schwarzen, geschnabelten Barke nach, an deren Spur die
Passion ihn fesselte. Zuweilen entschwand sie ihm: dann fühlte er
Kummer und Unruhe. Aber sein Führer, als sei er in solchen Aufträgen
wohl geübt, wußte ihm stets durch schlaue Manöver, durch rasche
Querfahrten und Abkürzungen das Begehrte wieder vor Augen zu bringen.
Die Luft war still und riechend, schwer brannte die Sonne durch den
Dunst, der den Himmel schieferig färbte. Wasser schlug glucksend gegen
Holz und Stein. Der Ruf des Gondoliers, halb Warnung, halb Gruß, ward
fernher aus der Stille des Labyrinths nach sonderbarer Übereinkunft
beantwortet. Aus kleinen, hochliegenden Gärten hingen Blütendolden,
weiß und purpurn, nach Mandeln duftend, über morsches Gemäuer.
Arabische Fensterumrahmungen bildeten sich im Trüben ab. Die
Marmorstufen einer Kirche stiegen in die Flut; ein Bettler, darauf
kauernd, sein Elend beteuernd, hielt seinen Hut hin und zeigte das
Weiße der Augen, als sei er blind, ein Altertumshändler, vor seiner
Spelunke, lud den Vorüberziehenden mit kriecherischen Gebärden zum
Aufenthalt ein, in der Hoffnung, ihn zu betrügen. Das war Venedig, die
schmeichlerische und verdächtige Schöne,--diese Stadt, halb Märchen,
halb Fremdenfalle, in deren fauliger Luft die Kunst einst
schwelgerisch aufwucherte und welche den Musikern Klänge eingab, die
wiegen und buhlerisch einlullen. Dem Abenteuernden war es, als tränke
sein Auge dergleichen Üppigkeit, als würde sein Ohr von solchen
Melodien umworben; er erinnerte sich auch, daß die Stadt krank sei und
es aus Gewinnsucht verheimliche, und er spähte ungezügelter aus nach
der voranschwebenden Gondel.
So wußte und wollte denn der Verwirrte nichts anderes mehr, als den
Gegenstand, der ihn entzündete, ohne Unterlaß zu verfolgen, von ihm
zu träumen, wenn er abwesend war, und, nach der Weise der Liebenden,
seinem bloßen Schattenbild zärtliche Worte zu geben. Einsamkeit,
Fremde und das Glück eines späten und tiefen Rausches ermutigten und
überredeten ihn, sich auch das Befremdlichste ohne Scheu und Erröten
durchgehen zu lassen, wie es denn vorgekommen war, daß er, spät abends
von Venedig heimkehrend, im ersten Stock des Hotels an des Schönen
Zimmertür Halt gemacht, seine Stirn in völliger Trunkenheit an die
Angel der Tür gelehnt und sich lange von dort nicht zu trennen
vermocht hatte, auf die Gefahr, in einer so wahnsinnigen Lage ertappt
und betroffen zu werden.
Dennoch fehlte es nicht an Augenblicken des Innehaltens und der halben
Besinnung. Auf welchen Wegen! dachte er dann mit Bestürzung. Auf
welchen Wegen! Wie jeder Mann, dem natürliche Verdienste ein
aristokratisches Interesse für seine Abstammung einflößen, war er
gewohnt, bei den Leistungen und Erfolgen seines Lebens der Vorfahren
zu gedenken, sich ihrer Zustimmung, ihrer Genugtuung, ihrer
notgedrungenen Achtung im Geiste zu versichern. Er dachte ihrer auch
jetzt und hier, verstrickt in ein so unstatthaftes Erlebnis, begriffen
in so exotischen Ausschweifungen des Gefühls; gedachte der
haltungsvollen Strenge, der anständigen Männlichkeit ihres Wesens und
lächelte schwermütig. Was würden sie sagen? Aber freilich, was hätten
sie zu seinem ganzen Leben gesagt, das von dem ihren so bis zur
Entartung abgewichen war, zu diesem Leben im Banne der Kunst, über das
er selbst einst, im Bürgersinne der Väter, so spöttische
Jünglingserkenntnisse hatte verlauten lassen und das dem ihren im
Grunde so ähnlich gewesen war! Auch er hatte gedient, auch er sich in
harter Zucht geübt; auch er war Soldat und Kriegsmann gewesen, gleich
manchen von ihnen,--denn die Kunst war ein Krieg, ein aufreibender
Kampf, für welchen man heute nicht lange taugte. Ein Leben der
Selbstüberwindung und des Trotzdem, ein herbes, standhaftes und
enthaltsames Leben, das er zum Sinnbild für einen zarten und
zeitgemäßen Heroismus gestaltet hatte,--wohl durfte er es männlich,
durfte es tapfer nennen, und es wollte ihm scheinen, als sei der Eros,
der sich seiner bemeistert, einem solchen Leben auf irgendeine Weise
besonders gemäß und geneigt. Hatte er nicht bei den tapfersten Völkern
vorzüglich in Ansehen gestanden, ja, hieß es nicht, daß er durch
Tapferkeit in ihren Städten geblüht habe? Zahlreiche Kriegshelden der
Vorzeit hatten willig sein Joch getragen, denn gar keine Erniedrigung
galt, die der Gott verhängte, und Taten, die als Merkmale der Feigheit
wären gescholten worden, wenn sie um anderer Zwecke willen geschehen
wären: Fußfälle, Schwüre, inständige Bitten und sklavisches Wesen,
solche gereichten dem Liebenden nicht zur Schande, sondern er erntete
vielmehr noch Lob dafür.
So war des Betörten Denkweise bestimmt, so suchte er sich zu stützen,
seine Würde zu wahren. Aber zugleich wandte er beständig eine spürende
und eigensinnige Aufmerksamkeit den unsauberen Vorgängen im Innern
Venedigs zu, jenem Abenteuer der Außenwelt, das mit dem seines Herzens
dunkel zusammenfloß und seine Leidenschaft mit unbestimmten,
gesetzlosen Hoffnungen nährte. Versessen darauf, Neues und Sicheres
über Stand oder Fortschritt des Übels zu erfahren, durchstöberte er in
den Kaffeehäusern der Stadt die heimatlichen Blätter, da sie vom
Lesetisch der Hotelhalle seit mehreren Tagen verschwunden waren.
Behauptungen und Widerrufe wechselten darin. Die Zahl der
Erkrankungs-, der Todesfälle sollte sich auf zwanzig, auf vierzig, ja
hundert und mehr belaufen, und gleich darauf wurde jedes Auftreten der
Seuche wenn nicht rundweg in Abrede gestellt, so doch auf völlig
vereinzelte, von außen eingeschleppte Fälle zurückgeführt. Warnende
Bedenken, Proteste gegen das gefährliche Spiel der welschen Behörden
waren eingestreut. Gewißheit war nicht zu erlangen.
Dennoch war sich der Einsame eines besonderen Anrechtes bewußt, an dem
Geheimnis teil zu haben, und, gleichwohl ausgeschlossen, fand er eine
bizarre Genugtuung darin, die Wissenden mit verfänglichen Fragen
anzugehen und sie, die zum Schweigen verbündet waren, zur
ausdrücklichen Lüge zu nötigen. Eines Tages beim Frühstück im großen
Speisesaal stellte er so den Geschäftsführer zur Rede, jenen kleinen,
leise auftretenden Menschen im französischen Gehrock, der sich
grüßend und beaufsichtigend zwischen den Speisenden bewegte und auch
an Aschenbachs Tischchen zu einigen Plauderworten Halt machte. Warum
man denn eigentlich, fragte der Gast in lässiger und beiläufiger
Weise, warum in aller Welt, man seit einiger Zeit Venedig
desinfiziere?--»Es handelt sich«, antwortete der Schleicher, »um eine
Maßnahme der Polizei, bestimmt, allerlei Unzuträglichkeiten oder
Störungen der öffentlichen Gesundheit, welche durch die brütende und
ausnehmend warme Witterung erzeugt werden möchten, pflichtgemäß und
beizeiten hintanzuhalten.«--»Die Polizei ist zu loben«, erwiderte
Aschenbach, und nach Austausch einiger meteorologischer Bemerkungen
empfahl sich der Manager.
Selbigen Tages noch, abends nach dem Diner, geschah es, daß eine
kleine Bande von Straßensängern aus der Stadt sich im Vorgarten des
Gasthofes hören ließ. Sie standen, zwei Männer und zwei Weiber, an dem
eisernen Mast einer Bogenlampe und wandten ihre weißbeschienenen
Gesichter zur großen Terrasse empor, wo die Kurgesellschaft sich bei
Kaffee und kühlenden Getränken die volkstümliche Darbietung gefallen
ließ. Das Hotelpersonal, Liftboys, Kellner und Angestellte der Office,
zeigte sich lauschend an den Türen zur Halle. Die russische Familie,
eifrig und genau im Genuß, hatte sich Rohrstühle in den Garten
hinabstellen lassen, um den Ausübenden näher zu sein, und saß dort
dankbar im Halbkreise. Hinter der Herrschaft, in turbanartigem
Kopftuch, stand ihre alte Sklavin.
Mandoline, Guitarre, Harmonika und eine quinkelierende Geige waren
unter den Händen der Bettelvirtuosen in Tätigkeit. Mit instrumentalen
Durchführungen wechselten Gesangsnummern, wie denn das jüngere der
Weiber, scharf und quäkend von Stimme, sich mit dem süß
falsettierenden Tenor zu einem verlangenden Liebesduett zusammentat.
Aber als das eigentliche Talent und Haupt der Vereinigung zeigte sich
unzweideutig der andere der Männer, Inhaber der Guitarre und im
Charakter eine Art Baryton-Buffo, fast ohne Stimme dabei, aber mimisch
begabt und von bemerkenswerter komischer Energie. Oftmals löste er
sich, sein großes Instrument im Arm, von der Gruppe der anderen los
und drang agierend gegen die Rampe vor, wo man seine Eulenspiegeleien
mit aufmunterndem Lachen belohnte. Namentlich die Russen, in ihrem
Parterre, zeigten sich entzückt über soviel südliche Beweglichkeit und
ermutigten ihn durch Beifall und Zurufe, immer kecker und sicherer aus
sich heraus zu gehen.
Aschenbach saß an der Balustrade und kühlte zuweilen die Lippen mit
einem Gemisch aus Granatapfelsaft und Soda, das vor ihm rubinrot im
Glase funkelte. Seine Nerven nahmen die dudelnden Klänge, die vulgären
und schmachtenden Melodien begierig auf, denn die Leidenschaft lähmt
den wählerischen Sinn und läßt sich allen Ernstes mit Reizen ein,
welche die Nüchternheit humoristisch aufnehmen oder unwillig ablehnen
würde. Seine Züge waren durch die Sprünge des Gauklers zu einem fix
gewordenen und schon schmerzenden Lächeln verrenkt. Er saß lässig da,
während eine äußerste Aufmerksamkeit sein Inneres spannte, denn sechs
Schritte von ihm lehnte Tadzio am Steingeländer.
Er stand dort in dem weißen Gürtelanzug, den er zuweilen zur
Hauptmahlzeit anlegte, in unvermeidlicher und anerschaffener Grazie,
den linken Unterarm auf der Brüstung, die Füße gekreuzt, die rechte
Hand in der tragenden Hüfte, und blickte mit einem Ausdruck, der kaum
ein Lächeln, nur eine entfernte Neugier, ein höfliches Entgegennehmen
war, zu den Bänkelsängern hinab. Manchmal richtete er sich gerade auf
und zog, indem er die Brust dehnte, mit einer schönen Bewegung beider
Arme den weißen Kittel durch den Ledergürtel hinunter. Manchmal aber
auch, und der Alternde gewahrte es mit Triumph, mit einem Taumeln
seiner Vernunft und auch mit Entsetzen, wandte er zögernd und behutsam
oder auch rasch und plötzlich, als gelte es eine Überrumpelung, den
Kopf über die linke Schulter gegen den Platz seines Liebhabers. Er
fand nicht dessen Augen, denn eine schmähliche Besorgnis zwang den
Verwirrten, seine Blicke ängstlich im Zaum zu halten. Im Grund der
Terrasse saßen die Frauen, die Tadzio behüteten, und es war dahin
gekommen, daß der Verliebte fürchten mußte, auffällig geworden und
beargwöhnt zu sein. Ja, mit einer Art von Erstarrung hatte er
mehrmals, am Strande, in der Hotelhalle und auf der Piazza San Marco,
zu bemerken gehabt, daß man Tadzio aus seiner Nähe zurückrief, ihn von
ihm fernzuhalten bedacht war--und eine furchtbare Beleidigung daraus
entnehmen müssen, unter der sein Stolz sich in ungekannten Qualen
wand, und welche von sich zu weisen sein Gewissen ihn hinderte.
Unterdessen hatte der Guitarrist zu eigener Begleitung ein Solo
begonnen, einen mehrstrophigen, eben in ganz Italien florierenden
Gassenhauer, in dessen Kehrreim seine Gesellschaft jedesmal mit
Gesang und sämtlichem Musikzeug einfiel und den er auf eine
plastisch-dramatische Art zum Vortrag zu bringen wußte. Schmächtig
gebaut und auch von Antlitz mager und ausgemergelt, stand er,
abgetrennt von den Seinen, den schäbigen Filz im Nacken, so daß ein
Wulst seines roten Haars unter der Krempe hervorquoll, in einer
Haltung von frecher Bravour auf dem Kies und schleuderte zum Schollern
der Saiten in eindringlichem Sprechgesang seine Späße zur Terrasse
empor, indes vor produzierender Anstrengung die Adern auf seiner
Stirne schwollen. Er schien nicht venezianischen Schlages, vielmehr
von der Rasse der neapolitanischen Komiker, halb Zuhälter, halb
Komödiant, brutal und verwegen, gefährlich und unterhaltend. Sein
Lied, lediglich albern dem Wortlaut nach, gewann in seinem Munde,
durch sein Mienenspiel, seine Körperbewegungen, seine Art, andeutend
zu blinzeln und die Zunge schlüpfrig im Mundwinkel spielen zu lassen,
etwas Zweideutiges, unbestimmt Anstößiges. Dem weichen Kragen des
Sporthemdes, das er zu übrigens städtischer Kleidung trug, entwuchs
sein hagerer Hals mit auffallend groß und nackt wirkendem Adamsapfel.
Sein bleiches, stumpfnäsiges Gesicht, aus dessen bartlosen Zügen
schwer auf sein Alter zu schließen war, schien durchpflügt von
Grimassen und Laster, und sonderbar wollten zum Grinsen seines
beweglichen Mundes die beiden Furchen passen, die trotzig, herrisch,
fast wild zwischen seinen rötlichen Brauen standen. Was jedoch des
Einsamen tiefe Achtsamkeit eigentlich auf ihn lenkte, war die
Bemerkung, daß die verdächtige Figur auch ihre eigene verdächtige
Atmosphäre mit sich zu führen schien. Jedesmal nämlich, wenn der
Refrain wieder einsetzte, unternahm der Sänger unter Faxen und
grüßendem Handschütteln einen grotesken Rundmarsch, der ihn
unmittelbar unter Aschenbachs Platz vorüberführte, und jedesmal, wenn
das geschah, wehte, von seinen Kleidern, seinem Körper ausgehend, ein
Schwaden starken Karbolgeruchs zur Terrasse empor.
Nach geendigtem Couplet begann er, Geld einzuziehen. Er fing bei den
Russen an, die man bereitwillig spenden sah, und kam dann die Stufen
herauf. So frech er sich bei der Produktion benommen, so demütig
zeigte er sich hier oben. Katzbuckelnd, unter Kratzfüßen schlich er
zwischen den Tischen umher, und ein Lächeln tückischer Unterwürfigkeit
entblößte seine starken Zähne, während doch immer noch die beiden
Furchen drohend zwischen seinen roten Brauen standen. Man musterte das
fremdartige, seinen Unterhalt einsammelnde Wesen mit Neugier und
einigem Abscheu, man warf mit spitzen Fingern Münzen in seinen Filz
und hütete sich, ihn zu berühren. Die Aufhebung der physischen Distanz
zwischen dem Komödianten und den Anständigen erzeugt, und war das
Vergnügen noch so groß, stets eine gewisse Verlegenheit. Er fühlte sie
und suchte, sich durch Kriecherei zu entschuldigen. Er kam zu
Aschenbach und mit ihm der Geruch, über den niemand ringsum sich
Gedanken zu machen schien.
»Höre!« sagte der Einsame gedämpft und fast mechanisch. »Man
desinfiziert Venedig. Warum?«--Der Spaßmacher antwortete heiser: »Von
wegen der Polizei! Das ist Vorschrift, mein Herr, bei solcher Hitze
und bei Scirocco. Der Scirocco drückt. Er ist der Gesundheit nicht
zuträglich...« Er sprach wie verwundert darüber, daß man dergleichen
fragen könne und demonstrierte mit der flachen Hand, wie sehr der
Scirocco drücke.--»Es ist also kein Übel in Venedig?« fragte
Aschenbach sehr leise und zwischen den Zähnen.--Die muskulösen Züge
des Possenreißers fielen in eine Grimasse komischer Ratlosigkeit. »Ein
Übel? Aber was für ein Übel? Ist der Scirocco ein Übel? Ist
vielleicht unsere Polizei ein Übel? Sie belieben zu scherzen! Ein
Übel! Warum nicht gar! Eine vorbeugende Maßregel, verstehen Sie doch!
Eine polizeiliche Anordnung gegen die Wirkungen der drückenden
Witterung...« Er gestikulierte.--»Es ist gut«, sagte Aschenbach
wiederum kurz und leise und ließ rasch ein ungebührlich bedeutendes
Geldstück in den Hut fallen. Dann winkte er dem Menschen mit den
Augen, zu gehen. Er gehorchte grinsend, unter Bücklingen; aber er
hatte noch nicht die Treppe erreicht, als zwei Hotelangestellte sich
auf ihn warfen und ihn, ihre Gesichter dicht an dem seinen, in ein
geflüstertes Kreuzverhör nahmen. Er zuckte die Achseln, er gab
Beteuerungen, er schwor, verschwiegen gewesen zu sein; man sah es.
Entlassen, kehrte er in den Garten zurück, und, nach einer kurzen
Verabredung mit den Seinen unter der Bogenlampe, trat er zu einem
Dank-und Abschiedsliede noch einmal vor.
Es war ein Lied, das jemals gehört zu haben der Einsame sich nicht
erinnerte; ein dreister Schlager in unverständlichem Dialekt und
ausgestattet mit einem Lach-Refrain, in den die Bande regelmäßig aus
vollem Halse einfiel. Es hörten hierbei sowohl die Worte wie auch die
Begleitung der Instrumente auf, und nichts blieb übrig als ein
rhythmisch irgendwie geordnetes, aber sehr natürlich behandeltes
Lachen, das namentlich der Solist mit großem Talent zu täuschendster
Lebendigkeit zu gestalten wußte. Er hatte bei wiederhergestelltem
künstlerischen Abstand zwischen ihm und den Herrschaften seine ganze
Frechheit wiedergefunden, und sein Kunstlachen, unverschämt zur
Terrasse emporgesandt, war Hohngelächter. Schon gegen das Ende des
artikulierten Teiles der Strophe schien er mit einem unwiderstehlichen
Kitzel zu kämpfen. Er schluchzte, seine Stimme schwankte, er preßte
die Hand gegen den Mund, er verzog die Schultern, und im gegebenen
Augenblick brach, heulte und platzte das unbändige Lachen aus ihm
hervor, mit solcher Wahrheit, daß es ansteckend wirkte und sich den
Zuhörern mitteilte, daß auch auf der Terrasse eine gegenstandslose und
nur von sich selbst lebende Heiterkeit um sich griff. Dies aber eben
schien des Sängers Ausgelassenheit zu verdoppeln. Er beugte die Knie,
er schlug die Schenkel, er hielt sich die Seiten, er wollte sich
ausschütten, er lachte nicht mehr, er schrie; er wies mit dem Finger
hinauf, als gäbe es nichts Komischeres, als die lachende Gesellschaft
dort oben, und endlich lachte dann alles im Garten und auf der
Veranda, bis zu den Kellnern, Liftboys und Hausdienern in den Türen.
Aschenbach ruhte nicht mehr im Stuhl, er saß aufgerichtet wie zum
Versuche der Abwehr oder der Flucht. Aber das Gelächter, der
heraufwehende Hospitalgeruch und die Nähe des Schönen verwoben sich
ihm zu einem Traumbann, der unzerreißbar und unentrinnbar sein Haupt,
seinen Sinn umfangen hielt. In der allgemeinen Bewegung und
Zerstreuung wagte er es, zu Tadzio hinüberzublicken, und indem er es
tat, durfte er bemerken, daß der Schöne, in Erwiderung seines Blickes
ebenfalls ernst blieb, ganz so, als richte er Verhalten und Miene nach
der des Anderen und als vermöge die allgemeine Stimmung nichts über
ihn, da jener sich ihr entzog. Diese kindliche und beziehungsvolle
Folgsamkeit hatte etwas so Entwaffnendes, Überwältigendes, daß der
Grauhaarige sich mit Mühe enthielt, sein Gesicht in den Händen zu
verbergen. Auch hatte es ihm geschienen, als bedeute Tadzios
gelegentliches Sichaufrichten und Aufatmen ein Seufzen, eine
Beklemmung der Brust. »Er ist kränklich, er wird wahrscheinlich nicht
alt werden«, dachte er wiederum mit jener Sachlichkeit, zu welcher
Rausch und Sehnsucht bisweilen sich sonderbar emanzipieren, und reine
Fürsorge zugleich mit einer ausschweifenden Genugtuung erfüllte sein
Herz.
Die Venezianer unterdessen hatten geendigt und zogen ab. Beifall
begleitete sie, und ihr Anführer versäumte nicht, noch seinen Abgang
mit Spaßen auszuschmücken. Seine Kratzfüße, seine Kußhände wurden
belacht, und er verdoppelte sie daher. Als die Seinen schon draußen
waren, tat er noch, als renne er rückwärts empfindlich gegen einen
Lampenmast und schlich scheinbar krumm vor Schmerzen zur Pforte. Dort
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